Putins Wasserträger und Springers Narrenreigen

Die Furcht vor einem Atomkrieg erreicht derzeit Höchststände, wie seit Mitte der 1980er Jahre nicht mehr gesehen wurden. Hamsterkäufe von Notfallvorräten werden unternommen, und die Fensterscheiben wackeln, weil Alarmrotten der Bundeswehr über Wohnvierteln die Schallmauer durchbrechen. Würden sie funktionieren, hätten wir vermutlich auch einen Test der Notfallsirenen gehört. Der illegale Angriffskrieg Putins auf die Ukraine hat, je nach Sichtweise, entweder Illusionen über die Welt zerstört oder eine Zeitenwende der internationalen Beziehungen eingeleitet. Eine ganze Reihe von früheren Wasserträgern Putins sieht inzwischen ziemlich blöd aus – was diese leider nicht davon abhält, weiter Unsinn zu reden -, während sich auf der anderen Seite ein Narrenreigen formiert, der am liebsten sofort auf dem grünen Tisch die Leopard Kampfpanzer auf die ukrainische Steppe befehligen würde.

Der Narrenreigen

Der Journalist Frank Lübberding greift zur Erklärung des Phänomens zum maximal möglichen Vergleich mit der Kubakrise¹. Soweit sind wir glücklicherweise noch nicht, auch wenn das Kennedy-Zitat „keine Regierung und kein Gesellschaftssystem sind so schlecht, dass man den unter ihnen lebenden Menschen jede Tugend absprechen muss“ reichlich zeitgemäß ist. Anders allerdings als in der aufgeheizten Stimmung des Kalten Kriegs, die der Kubakrise vorausging, müssen sich die westlichen Regierungen allerdings an dieser rhetorischen Eskalation, anders als Lübberding insinuiert, keiner Schuld bewusst sein. Nicht sie sind es, die Putin als „Irren“ abstempeln oder dazu aufrufen. Stattdessen haben Joe Biden, Emmanuel Macron, Annalena Baerbock² und Olaf Scholz (Pars pro Toto) von Anfang an in ihren Äußerungen sehr, sehr bedacht eine deutliche Grenze zwischen Putin, dem Diktator, und dem russischen Volk, ja, sogar dem russischen Staat ziehen.

Unzweifelhaft aber gibt es genug Leute, die gerade in einer blau-gelben Besoffenheit versinken, in der jegliche Maßstäbe abhanden kommen und die eine durchaus gefährliche Stimmung erzeugen können. Die Politik hält sich glücklicherweise weitgehend zurück; Ausnahmen wären hier so etwas wie die Forderungen zur nuklearen Abschreckung von Ruprecht Polenz, der aber nicht eben zur ersten Reihe aktiver Politiker*innen zählt. In anderen Ländern sind die Leute leider weniger zurückhaltend, ob Analysten oder Republicans wie Lindsay Graham, die schon mal eine Flugverbotszone (!) oder die Ermordung Putins durch die CIA (!!) fordern.

Anders dagegen sieht es leider im rechtsbürgerlichen Medienspektrum aus. Gerade Lübberdings eigener Arbeitgeber, der Springer-Konzern, steht da ganz vorne dabei.

So etwa Matthias Döpfner. Der Konzernchef persönlich fordert in einem BILD-Leitartikel den Einmarsch der NATO in Kiew. Soldaten des Bündnisses sollen die Stadt gegen anrückende russische Truppen verteidigen. Das ist eine Narretei, die ihresgleichen sucht, bei der sogar die NZZ Schnappatmung bekommt. Der Hausberichterstatter von der Front, BILD-Reporter Julian Röpcke, entschuldigt schon mal vorab Kriegsverbrechen: „jeder sollte sich fragen, was er in so einer Situation machen würde“. Dieses Imaginieren in die Rolle (natürlich männlicher) Widerstandskämpfer gegen die Horden aus dem Osten ist dabei kein Prärogativ der Springer-Leute, sondern geistert durch die kompletten sozialen Netzwerke. Der falsch verstandene Überschwung reicht auch gerne soweit wie im Falle von Stern-Redakteuren, die zu Straftaten aufrufen, natürlich alles im Geiste der guten Sache. Als wäre digitale Sabotage russischer Server dasselbe wie die Blockade eines Castortransports in Deutschland.

Die Heroisierung des Abwehrkampfs der Ukraine nimmt dabei groteske Formen an. Er wird als klares Statement gegen den Genderstern gesehen (natürlich), als Gegenbild zu einer eingebildeten „Dekadenz“ des Westens (dem Lieblingsnarrativ der Rechten mindestens seit Oswald Spengler), als Wiederaneignung einer Männlichkeitsvorstellung, die in westlichen Gesellschaften zurecht im Orkus der Geschichte verschwand. Kommentierende überschlagen sich mit Betonungen darüber, wie „hart“ man nun sein müsse, erfreuen sich am Verschwinden von „Illusionen“, beschreiben in großem Duktus die „Realitäten“ der Welt. Gleichzeitig wird der ukrainische Präsident Selensky als Verteidiger wahlweise der Demokratie, der Freiheit, der westlichen Kultur oder allem zusammen gefeiert, wird noch der letzte mit drei Tagen „Ausbildung“ ohne Ausrüstung in den Kampf geworfene neu Wehrpflichtige als Held stilisiert, anstatt dass man auch in diesem Menschen die Opfer eines furchtbaren Verbrechens sieht, die sie sind. Dazu kommt der allgegenwärtige Rassismus und Sexismus gegen Flüchtende.

Aber diese Idiotien, gegen die etwa Carolin Emcke und Hedwig Richter wortgewaltig anschreiben, sind vermutlich mit einer sehr geringen Halbwertszeit ausgestattet und dürften, sobald die erste Welle der Besoffenheit abgeklungen ist, bald vorüber sind. In einem Monat wird sich an diesen Narrenreigen aller Wahrscheinlichkeit nach niemand mehr erinnern. Wesentlich bedenklicher bleiben die Wasserträger Putins, denn sie waren für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte willige Helfer des russischen Diktators und sind es in allzuvielen Fällen auch weiterhin. Und da sind wir noch nicht einmal bei dem aktiven Einfluss, den russische Propagandstellen auf den Westen ausübten und ausüben.

Das Büro für kulturelle Angelegenheiten³

Denn der ist massiv und wurde in den letzten Jahren permanent unterschätzt. Die russischen Geheimdienste arbeiteten Hand in Hand mit Hackerzentren, Söldnertruppen und Propagandast*innen. Schon 2014, ein Jahr, bevor Pegida das Wort richtig salonfähig machte, beschimpften Mietmäuler des Kreml die Medien als „Lügenpresse“, weil diese es wagten, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim als solche zu kritisieren. Etwas über ein Jahr später waren sie mittendrin, als im Zuge der Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof der große Backlash gegen die „Willkommenskultur“ als Hasswelle gegen Geflüchtete über Deutschland hereinbrach. Der „Fall Lisa“ sorgte in den sozialen Medien für Furore. Das 11jährige Mädchen, vergewaltigt von barbarischen Muslimen, passte voll in den Zeitgeist. Der Haken war, dass die Geschichte eine Erfindung russischer Propagandisten war, um die deutsche Gesellschaft zu spalten – nicht, dass diese noch großen Anschubs bedurft hätte.

Im selben Jahr verbreiteten die Dienste massive Desinformationen und Hetze in Großbritannien und leisteten ihren Beitrag zum Ausgang des Brexit-Votums. Nur kurz darauf gelang ihnen der größte Coup, als sie den „Freund des Hauses“ Donald Trump ins Weiße Haus hieven halfen. 2017 war die Einflussnahme des russischen Geheimdiensts in den Wahlen in Frankreich und Deutschland bereits Wahlkampfthema. Es profitierten Marine Le Pen und die AfD. Beide verloren glücklicherweise.

Doch der Einfluss russischer Geheimdienste wurde, vielleicht auch gerade wegen der Trendwende 2017, weiter unterschätzt. Bei den amerikanischen Wahlen 2020 und den deutschen 2021 war das Thema Covid allgegenwärtig; die Hoffnung auf eine Erneuerung des identitätspolitischen Kulturkampfs von 2016 erfüllte sich nicht. Doch auch so hatte die russische Einflussnahme neue Tiefen erreicht: während der Pandemie streuten die russischen Stellen, von plumper Propaganda über den Wunderimpfstoff Sputnik V abgesehen, Desinformation in gewaltigem Maßstab. Niemand dürfte als einzelner Akteur so viel Einfluss auf die Entstehung des Querdenker-Milieus gehabt haben wie Russland, das von Lügen über die Gefährlichkeit von Masken zu Warnungen vor den Impfungen von Biontech, AstraZeneca und Johnson alles im Programm hatte. Das Netz der Lügen, das sich während der Covid-Krise über die westlichen Länder spannte, ist gigantisch.

Es brauchte wohl den Angriff auf die Ukraine, um dieses Problem endlich ins Zentraum zu rücken. Aber leider ist der russische Geheimdienst gar nicht notwendig, um im Westen Putins Positionen zu vertreten. Der Mann kann sich auf eine ganze Reihe von Wasserträgern stützen, die sein Geschäft auch ohne hilfreiches kompromat4 erledigen.

Die linkshändigen Wasserträger

Seit 1917 eine verlässliche Quelle solcher Schützenhilfe ist die radikale Linke, die in Russland stets die missverstandene Alternative zu erkennen glaubte, und wenn auch noch so viele Eier für das sozialistische Omlett zerschlagen werden mussten. Nicht dass Putins Regime irgendetwas mit linken Idealen zu tun hätte; hier regiert einerseits eine Nostalgie nach den politischen Frontlinien des Kalten Krieges und, vor allem, ein solides „der Feind meines Feindes ist mein Freund“-Denken. Und das war noch immer der zuverlässigste Schalter für das Verhindern jeglichen kritischen Denkens.

Der Feind steht für die Linke seit langer Zeit jenseits des Atlantiks. Als ein Mutterland des Kapitalismus und des Liberalismus einerseits und als Gegner der Sowjetunion andererseits waren die USA stets eine willkommene Projektionsfläche mit großem Andockpotenzial an den ohnehin stets vorhandenen, mindestens latenten, oft genug virulenten Anti-Amerikanismus der Deutschen. Diese Tradition, die sich wenig um irgendwelche Theorie scherte, half der LINKEn lange Zeit zu ihrer Ausnahmestellung in Ostdeutschland. 25 Jahre lang pflegte sie Ressentiments, die dabei im Kern nie so progressiv waren, wie sich manche wohl eingebildet hatten. Der Kater nach dem massenhaften Überlaufen der stets Unzufriedenen ins Lager der AfD lässt sich jedenfalls kaum anders als durch das Platzen dieser Illusion erklären.

Man sollte nicht glauben, dieses Phänomen sei nur auf die LINKE beschränkt. Die trieb ihr Kalter-Krieg-Reenactment zwar in ihrer Pflege des ostdeutschen Ressentiments und westdeutscher K-Gruppen-Nostalgie auf die Spitze, aber auch in der SPD findet sich genug von diesem Blödsinn, vor allem in einem geradezu grotesken Missverständnis der Ostpolitik. Case in point: Der ehemalige SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck schrieb jüngst ein Buch „Wir brauchen eine neue Ostpolitik“ mit dem Untertitel „Russland als Partner“. Mit vulgärpazifistischen Parolen schoss den Vogel erwartungsgemäß der nie um einen rhetorischen Fehlgriff verlegene Ralf Stegner ab:

Nicht nur, dass Kriege durchaus auch militärische Opfer haben, gräbt Stegner auch noch  das ausgelutschte Narrativ aus, dass (natürlich) der Kapitalismus irgendwie Schuld ist. Vermutlich hat Lockheed Martin irgendwie Putin zu diesem Angriff bewegt, man weiß es nicht. Eine unrühmliche Rolle spielt auch mein persönliches idiosynkratisches Konstrukt, Die PARTEI. Ich lehne diesen Haufen mit jeder Faser ab, und dass unter den 637 Abgeordneten im Europäischen Parlament, die den Angriff auf die Ukraine verurteilten, nicht Martin Sonneborn zu finden war, ist nur die letzte unter den permanenten intellektuellen Bankrotterklärungen dieses Haufens.

Doch dieser Anti-Amerikanismus und die Aufgeschlossenheit gegenüber Russland findet sich nicht nur in der politisch organisierten LINKEn, sondern auch in den freundlich verbundenen Medienformaten. Ob Monitor oder Thilo Jung – der hatte im Rahmen des „kritischen“ Denkens auch den einen oder anderen Nebelkerzenwerfer bei sich sitzen -, ob „Neues aus der Anstalt“ oder die NachDenkSeiten, „kritisch“ war man zwar gerne gegenüber den USA (und, es sei fairerweise gesagt, oft genug ja auch zurecht), aber nicht, wenn es um Russland ging. Da war man stets verständnisvoll.

Auch im Ausland finden sich diese Mechaniken. So etwa Jill Stein in den USA, die zum Glück weiterhin politisch keine Rolle spielt, die radikale Linke findet sich treu an Putins Seite. Dasselbe gilt, genauso wie in Deutschland, für allzu viele sich kritisch gebende „Journalisten“ und Comedians. Da wäre natürlich Glenn fucking Greenwald, der gegenüber Putin mittlerweile offiziell weniger kritisch ist als die Taliban, oder der stets abstoßende Bill Maher.

Aber das ist alles ist nichts Neues; wie gesagt, solche Neigungen verspürt die radikale Linke seit 1917. Viel schwieriger zu erklären ist die Affäre der politischen Rechten mit Russland.

Die rechtshändigen Wasserträger

Während des gesamten Kalten Kriegs war für die politische Rechte, von ihren demokratischen Vertretern in CDU und FDP bis zu den extremistischsten Ausläufern der NPD, eine Sache klar: der Feind stand östlich des Eisernen Vorhangs, und man musste ihm mit unerbittlicher Härte begegnen. Der Vorwurf, zu nachgiebig gegenüber Russland zu sein, war dieseits wie jenseits des Atlantiks seit 1919 ein Dauerbrenner. Was hat sich geändert, dass plötzlich beide radikale Enden des Spektrums ihre Freundschaft zum Kreml entdecken?

Ein Teil der Antwort ist auch hier Anti-Amerikanismus. Dieser ist genauso auf der Rechten vertreten wie auf der Linken; er hat auf der (deutschen) Rechten sogar eine längere Traditionslinie als in der Linken. Der Kalte Krieg überdeckte diese Antipathie nur mit einem Zweckbündnis gegen den „gottlosen Kommunismus“, aber er machte die Rechten nicht zu liberaleren Freiheitsfreunden als vor 1945. Die Abneigung gegen die Sowjetunion speiste sich aus derselben Quelle wie die Sympathie der Linken: sie war anti-klerikal, sie war anti-kapitalistisch, sie war anti-liberal, sie war anti-westlich. Für das ganze Spektrum gab es in diesem Fundus genügend zu finden.

Die zugrundeliegende Logik des Wandels im Russlandbild seit 1991, vor allem aber seit den späten 2000er Jahren, ist dieselbe wie auch bei der Linken: der Feind meines Feindes ist mein Freund. In dem Maße, in dem die politische Rechte ihre kulturelle Vorherrschaft schwinden sah, betrachtete der radikale Rand Russland mit immer verklärterem Blick. Hier war ein Land, in dem Homosexualität offen verurteilt, ja kriminalisiert wurde, ein Land, das sich dem klassischen Ideal von hart arbeitenden, männlichen Männern und sanft-weiblichen, Kinder erziehenden und Haushalt schmeißenden Frauen verschrieb (das natürlich in der Realität genauso wenig existierte wie in der mythischen Vergangenheit, auf den sich die Konservativen so gerne beziehen). Hier war ein Land, das sich ostentativ christlich gab, in dem der Staatschef keinen Hehl daraus machte, fremde Einflüsse abzulehnen.

Entlang dieser Linien können wir auch die Unterstützung bestimmter Kreise nachvollziehen. Große Teile des evangelikalen Spektrums etwa, das im Kalten Krieg zu den fanatischsten Gegnern der Sowjetunion gehört hatte, unterstützt jetzt genauso fanatisch Putin. Es gibt zwar nur sehr wenig Evangelikale in Deutschland, aber die sind voll dabei. Auch radikale Katholiken stehen nicht hinten an; der Vatikan etwa war voll des Lobes für den „praktizierenden Christen“ Putin, und die katholische Tagespost befand schon 2014, dass Putin als Verfechter der traditionellen Familie ein wertvoller Verbündeter gegen westliche Werte sei.

Neben der LINKEn findet sich keine so putintreue Partei in Deutschland wie die AfD; seit den jüngsten Vorkommnissen haben die Rechtsextremen die LINKE sogar deutlich überholt. Während die LINKE sich (natürlich) in der Frage spaltet, wie damit umzugehen sei, ist für die AfD klar, dass Putin hier gegen westliche Aggression vorgeht. Der Grund dafür liegt recht prosaisch in der Wählendenschaft:

Die AfD rekrutiert ihre Wählenden aus einem völlig anderen Pool als die anderen fünf Parteien. Diese Leute bilden ein eigenes, ausgeklinktes Milieu, das für die Wahrnehmung der Welt der anderen 90% überhaupt nicht mehr zugänglich ist.

Auch in der demokratischen Politik findet sich dieses merkwürdige Putinverständnis, wenngleich glücklicherweise in wesentlich abgeschwächterer Form als bei diesen Extremisten. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, sowohl während der Corona-Pandemie als auch in der gesamten Ukrainekrise stets ein zuverlässiger Bothsider nach Russland, fordert „Maß und Mitte“ bei den Sanktionen. Er bildet gerade ein neues Hufeisen mit Sahra Wagneknecht. Aber die fühlt sich auch wortgleich mit Max Otte wohl. Auch Laschet fiel im Wahlkampf mit russlandpolitischen Positionen auf, gegenüber denen die Grünen (!) wie Falken aus dem Kalten Krieg aussahen. Hubert Aiwanger und Wolfgang Kubicki waren 2014 auch sehr verständnisbereit.

Die merkwürdigen Allianzen dieser Haltung umfassen auch Alice Schwarzer, die in den vergangenen Jahren bei allen Streitfragen zuverlässig nach Rechts rückte, ob es um Geflüchtete, Transmenschen oder die Ukraine geht. Und dann haben wir natürlich die Querdenker. Wie bereits seit 2020 offensichtlich haben diese nicht nur eine gewaltigen Schnittmenge mit dem Rechtsextremismus, sondern auch mit Putin. Das kann nicht verwundern. Wer der Überzeugung ist, dass die ARD einer Weltverschwörung zur Verbreitung tödlicher Impfstoffe angehört, wird auch der Berichterstattung über die Ukraine nicht glauben, und wer seine Nachrichten in der Pandemie aus Kreml-Propaganda bezog, wird damit nicht im Krieg aufhören. Vielleicht sorgt diese Situation aber wenigstens dafür, dass dieses Milieu endlich als das gesehen wird, was es ist.

Der Blick über die Grenze

Natürlich sind das alles keine rein deutschen Phänomen. In Italien etwa kuschelte Berlusconi stets mit Putin, und Salvini ist noch wesentlich offener in seiner Liebe für Putin. Auch der ungarische Autokrat Victor Orban ist ein Bewunderer des russischen Diktators und versucht, sein Land nach dessen Vorbild auszurichten. Marine Le Pen versucht gerade, die Verbreitung eines bereits gedruckten pro-russischen Pamphlets zu verhindern, das angesichts der Ukrainekrise nicht mehr komplett dem Zeitgeist entspricht, um es milde auszudrücken. Boris Johnson ist ebenfalls nicht gerade scheu gewesen, wenn es um die Beschwichtigung Putins ging, und man spricht nicht umsonst von Londongrad, wenn es um die englische Finanzindustrie geht, die reichlich tonedeaf auch mit dem Volumen des russischen Geldes angibt, das in der Stadt umgesetzt wird.

Am auffälligsten aber ist die Putinfreundschaft der Rechten in den USA. Dieser Umschwung kam quasi über Nacht. Noch 2012 versuchte Mitt Romney, gegen Obama Punkte im Wahlkampf zu machen, indem er diesem vorwarf, zu nachgiebig gegenüber Russland zu sein. Doch 2016 kam der Putin-Aktivposten Donald Trump an die Macht. Die republikanische Partei legte einen Richtungswandel wenn nicht von 180°, dann so doch zumindest eines deutlich stumpfen Winkels hin. Wer so möchte, kann zumindest für Trumps Freundschaft zum Kreml-Herrscher genügend Verschwörungstheorien finden, von Verbindungen zur Russen-Mafia über Pissvideos hin zu Immobiliendeals in Moskau, einer verheimlichten Insolvenz Trumps und dem Aufkauf seiner Schulden. So wie ich den orangenen Paten kenne, ist davon auch ein guter Teil wahr.

Aber es ist nicht notwendig, sich Gedanken über Putins Trump-kompromat zu machen. Putin mag das Ekel aus der 5th Avenue in der Tasche haben, aber sicherlich nicht alle evangelikalen oder republikanischen Leitfiguren. Die brauchen unabhängig von Trump Gründe für ihre Putinbegeisterung. Und Gründe gibt es genug.

Tucker Carlson, der Julius Streicher von FOX News, fragte 2019, wie man nicht Russlands Seite einnehmen könne. Schließlich kämpfe Putin den guten Kampf gegen Wokeness. Eine weitere Begründung? Putin habe ihn nie einen Rassisten genannt. Der Feind meines Feindes, er ist mein Freund. Im Delirium des Kulturkampfs pusht Carlson auch noch den größten Blödsinn, etwa die Verschwörungstheorie, dass die Biden-Regierung den Konflikt anheize, um erneuerbare Energien zu fördern. Kein Wunder, dass FOX News regelmäßig in den russischen Staatsmedien zitiert wird.

Viele republikanische Politiker*innen blasen in dasselbe Horn. Da wäre Senatskandidatin Lauren Witzke aus Delaware, die erklärt, dass sie „mehr mit Putins christlichen Werten verbinde als mit Joe Biden“. Da wäre Monica Crowly, die in der republikanischen Prawda erklärt, dass Russland „gecancelt“5 werde. Douglas MacGregor, der stellvertretende Verteidigungsminister unter Trump, erklärte, dass die russischen Truppen „zu sanft“ seien und er „nichts Heroisches in Selensky erkennen“ könne. Die Arizona-Senatorin Wendy Rogers verkündete auf einer Veranstaltung von Neo-Nazis, dass Selensky „eine Marionette von George Soros und den Globalisten“ sei, also: dem internationalen Judentum. Die Liste geht schier endlos weiter.

Der evangelikale Prediger Pat Robertson erklärt indessen, Gott habe Putin befohlen, die Ukraine anzugreifen. Wo früher Gottes Wille noch GIs in den Irak sandte, schickt er jetzt Speznaz nach Kiew. The lord works in mysterious ways. Da wird auch die Grenze zum Landesverrat fließend. So liegt ein Zerstörer seit Wochen untätig im Hafen, weil die Navy dem Kapitän nicht traut (!) und ein von Präsident Bush ernannter Richter6 die Abberufung des Kapitäns verhindert. All das passiert natürlich im Sinne des größeren Ganzen:

Ich will nicht mit zu breitem Pinsel malen. Wie Kaleigh Rogers für 538 hilfreich herausgearbeitet ist, „the GOP Is Still Largely Skeptical Of Putin — For Now“. Aber Rogers erklärt im Artikel selbst, dass die unermüdliche Propaganda durch FOX News und das Vorbild der GOP-Politiker*innen vermutlich bald einen Wandel mit sich bringen wird. Das war schließlich auch die letzten Male so.

Ausblick

Ich weiß nicht, inwiefern der Ukrainekrieg diese Haltungen durcheinanderwirbeln wird. Für den Moment haben Selensky und die Seinen den Kampf um die stets flüchtige Meinungshoheit gewonnen, und in Frankreich geben die Wählenden den Ukrainekrieg als zweitwichtigstes Thema an. Ob das so bleibt, und ob Konsequenzen daraus folgen, bleibt abzuwarten. Ich sehe keine Bewegung bei AfD und Republicans; deren Wählende sind zu sehr abgeschottet und isoliert, als dass sie sich von „öffentlicher Meinung“ noch beeindrucken ließen. Wie die Menschen in Russland selbst sind sie in einem Propagandanetzwerk gefangen, in das von außen nichts hineindringt.

Etwas gefährlicher ist die Lage für die LINKE, die den Einzug in den Bundestag nur dank der Direktmandate im Osten schaffte. Bleibt sie in der Frage zu Russland weiter zerrissen, gibt sie gar die traditionelle Feindschaft zur NATO auf (wie ein Antrag von Susanne Hennig-Wellsof fordert), so mag durchaus ihr parlamentarisches Aus im Bundestag drohen. Jetzt rächt sich, dass dieses Verhältnis drei Dekaden lang nicht geklärt wurde, dass man sich hinter Nostalgie und Parolen versteckte und den nötigen Konflikt mit der Realität scheute. Mit der AfD ist eine wesentlich zur Schaffung einer eigenen Realität entschlossenere – und fähigere – Partei aufgetreten. Nicht auszudenken, wäre diese Partei gerade an der Bundesregierung beteiligt.

Indessen müssen wir demokratisch gesinnten Menschen aufpassen, nicht der Propaganda der Feinde der Freiheit zu verfallen, aber im Gegenzug auch nicht in einen kollektiven Rausch verfallen. Die Situation der Ukraine ist katastrophal, und sie hat weiterhin – oder sogar noch mehr – das Potenzial, zu eskalieren und uns alle zu bedrohen. Wir müssen entsprechend umsichtig sein. Unser Glück ist, dass der Westen von Joe Biden, Olaf Scholz und Emanuel Macron regiert wird – und nicht von Donald Trump, Armin Laschet oder Marine Le Pen.


¹ Lübberding idealisiert die Ära des Kalten Krieges in seinem Artikel auch viel zu sehr, aber solche Übertreibungen sind das stilistische Vorrecht des Jounalismus.

² An der Stelle noch ein Shout-Out für Annalena Baerbock. Sie besteht gerade als Außenministerin eine ungeheure Feuerprobe mit Bravour und beweist sich als herausragende Besetzung für das Amt. Für mich echt die größte Überraschung des Kabinetts.

³ Wer seine Kalter-Krieg-Referenzen nicht beisammen hat: der KGB bezeichnete sich in Botschaften als „Büro für kulturelle Angelegenheiten“.

4 Russischer Begriff für belastendes Material, mit dem der KGB Leute erpresste.

5 Was im Übrigen auch wieder schön zeigt, wie sinnentleert dieser Begriff ist. Es ist eine reine Kampfvokabel ohne jeden Inhalt.

6 Bush Senior, wohlgemerkt. Der Mann ist seit 1991 im Amt; diese lebenslangen politischen Ernennungen sind einfach nur lächerlich. Und dieser Präsident wird mittlerweile von der GOP als Verräter gesehen! Man bekommt Albträume wenn man sich vorstellt, was die nächsten Jahrzehnte (!) mit den von Trump ernannten Richter*innen abgehen wird.

{ 60 comments… add one }
  • Tim 11. März 2022, 09:21

    Doch der Einfluss russischer Geheimdienste wurde, vielleicht auch gerade wegen der Trendwende 2017, weiter unterschätzt.

    Das ist wohl das, was manche Journalisten „Geraune“ nennen. Der „Einfluss russischer Geheimdienste“ ist vor allem eines: völlig unklar. Es gibt überhaupt keine belastbare Schätzung, in welchem Maß er bei der Wahl Trumps oder beim Brexit beteiligt war.

    Was ist eigentlich so schlimm daran anzunehmen, dass sowohl Trump als auch die Brexiteers einfach die Stimmung ihrer Wähler gut getroffen haben? Trump wollte das politische Washington zerstören, die Brexiteers wollten die Kontrolle zurück nach Westminster holen. Beides waren sehr beliebte und ganz offen vertretene Positionen, darum hat beides viele Wähler gefunden. Ganz einfach. Da braucht man keinen ominösen Einfluss russischer Dienste.

    Aber offenbar gibt es viele Menschen, die das nicht akzeptieren können oder wollen. Wähler haben ernsthaft unappetitliche Forderungen, die ordentliche Staatsbürger niemals vertreten würden? Bäh, das kann ja wohl nicht sein! Also lieber her mit dem Geheimdienstgespenst.

    Erinnerst Du Dich noch an den Cambridge-Analytics-„Skandal“? Fiese Facebook-Technologie hat den Brexit herbeigezaubert, furchtbar! Niemand, wirklich niemand ist damals auf die Idee gekommen, dass es nicht das Microtargeting war, welches die Leute überzeugte, sondern die Werbebotschaft selbst: „Take back control“.

    Es wäre für den demokratischen Diskurs sehr hilfreich, wenn man auch den gegnerischen Wähler ernst nimmt und ihn nicht für einen sehr leicht beeinflussbaren Trottel hält. Wäre er das, wäre es ja wohl auch sehr leicht, ihn für die gute Seite zurückzugewinnen.

    Es ist wirklich schwer zu akzeptieren, aber Trump-Wähler und Brexiteers meinen das wirklich so. Ganz ohne russische Spione.

    • CitizenK 11. März 2022, 18:57

      Warum dann die Lüge mit den 300 Mio. für den NHS?

    • Thorsten Haupts 13. März 2022, 14:58

      Weil mir das zu spät auffiel, hier noch ein zusätzlicher Zusammenhang: Der Einfluss russischer Geheimdienste auf westliche Wahlen ist äquivalent zu dem der sogenannten „Bots“ auf westliche Wahlen. Bei den Bots wissen wir inzwischen, dass sie die geniale Erfindung wahlweise dummer oder betrügerischer Social media Experten waren und sind. Bei den russischen Geheimdiensten ist das schwerer zu widerlegen, aber mein Verdacht ist schon lange, dass sie die Ausrede verzweifelter Liberaler sind, die sich ihre Wahlniederlagen bzw. den Aufstieg von Rechtspopulisten nicht anders erklären können.

      Wahrscheinlich ein reiner Mythos, ein sehr bequemer allerdings.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

      • Stefan Sasse 14. März 2022, 11:40

        Nur dass ich die Wahlniederlagen damit nicht monokausal erkläre.

        • Thorsten Haupts 14. März 2022, 13:53

          Ich hatte damit auch nicht auf Sie gezielt, sonst hätte ich das so geschrieben.

          • Stefan Sasse 14. März 2022, 18:30

            Das ging daraus nicht hervor, ganz so eindeutig schreibst du nämlich bei aller Liebe nicht 😉

            • Thorsten Haupts 14. März 2022, 20:54

              Danke für den Hinweis, werde das verbessern.

              • Stefan Sasse 14. März 2022, 23:18

                Kein Thema, das ist eine Kommentarspalte, kein wissenschaftlicher Aufsatz 🙂

  • sol1 11. März 2022, 11:56

    „Die merkwürdigen Allianzen dieser Haltung umfassen auch Alice Schwarzer, die in den vergangenen Jahren bei allen Streitfragen zuverlässig nach Rechts rückte, ob es um Geflüchtete, Transmenschen oder die Ukraine geht.“

    Alice Schwarzer pflegte schon immer jenen Diskussionsstil, den man heute mit rechten Trollen assoziiert. Schau dir mal ihre Fernsehdebatte mit Esther Vilar von 1975 an.

  • Thorsten Haupts 11. März 2022, 12:08

    Es ist wirklich schwer zu akzeptieren, aber Trump-Wähler und Brexiteers meinen das wirklich so. Ganz ohne russische Spione.

    Ja, das erinnert mich an die verlorenen Referenden über eine EU-Verfassung. Am nächsten Tag war das Thema dann nicht, wie man den klaren Wählerwillen umsetzt – sondern nur noch, wie man möglichst viel aus der EU-Verfassung in Verträge rettet, bei denen der Wähler Gott sei Dank nicht gefragt wurden.

    Ich bin da ganz bei dem damaligen (und heutigen) Populisten Nigel Farage: Was genau habt Ihr an dem „Nein“ nicht verstanden? Die wirklich völlig unbegründete Arroganz der europäischen Funktionseliten gegenüber ihren Wählern – ohne besser ausgebildet, intelligenter oder besser informiert zu sein – hat mich früher mal geärgert, mittlerweile amüsiert sie mich nur noch. Ich warte dann immer auf die nächste „überraschende“ Populistenbewegung.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Tim 11. März 2022, 12:15

      @ Thorsten Haupts

      In der Tat, Populismus ist immer der Populismus der anderen. 🙂

    • derwaechter 12. März 2022, 10:38

      Das „Nein“ war überhaupt nicht zu verstehen, da es nicht klar definiert war. Vorher nicht und nachher, das hat man ja bei der Umsetzung gemerkt, immer noch nicht.
      Man denke nur an Mays „Brexit means Brexit“ 🙂

  • cimourdain 11. März 2022, 23:39

    du solltest noch einen dritten Typus mitberücksichtigen: Den Heimatfront-Heuchler. Hier ein besonders unschönes Exemplar:
    https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_91805068/joachim-gauck-wir-koennen-auch-mal-frieren-fuer-die-freiheit-.html

  • Ariane 12. März 2022, 02:11

    Um Cimos Beitrag noch zu ergänzen, das ist ja sowieso wieder die Zeit, in der jeder Durchgeknallte nochmal hervorkommt und nochmal besonders schlau und wirr daherredet (ehrlich, ich hab mir heute schon gewünscht, dass mir einen neuen Lockdown haben, nur damit die nicht mehr über den Krieg reden.

    Augstein:
    https://www.freitag.de/autoren/jaugstein/gigantisches-ruestungspaket-ist-gefaehrlicher-irrweg

    Precht:
    https://twitter.com/EchteFreiheit/status/1502322379611062272

    Döpfner und Wagenknecht hat Stefan ja schon erwähnt. Und es gilt, was ich auch schon zu Coronazeiten gesagt habe: wenn die immer von vierter Gewalt reden, sollten sie auch die Verantwortung, die damit einhergeht, wahrnehmen und nicht davon fantasieren, den dritten Weltkrieg zu beginnen, um den dritten Weltkrieg zu verhindern (Döpfner).

    Was im Übrigen und besonders auch für den ÖR gilt, der nichts lieber hat als Krawallnudeln mit null Plan, aber ner steilen These. Ehrlich, da brauchen wir keine fünfte Kolonne, wenn der ÖR die ständig anschleppt. Jaja, Klicks und Zuschauer und so, aber vielleicht hat man zumindest mal die Selbsterkenntnis, dass das alles nicht besonders verantwortungsvoll ist?

    Ganz allgemein: dieses Springen zwischen den Extremen macht mich verrückt. Reicht ja, dass die militärische Lage undurchsichtig ist und Russland entweder die große Dampfwalze oder kurz vor der Kapitulation, man weiß es nicht. Hier übrigens großes Lob an die Ukraine & Co. für ihre exzellente Medienkampagne. Es ist ja ganz erstaunlich, dass man (naja, Twitteruser) jeden Farmer kennt, der jemals einen Panzer geborgt hat, aber wirklich null Plan über die Ukraine hat (was im Übrigen auch für die westlichen Geheimdienste gilt).

    Ähm ja, also die Extreme: entweder will man alles reinhauen was geht, Öl-Embargo, Jets (breiten wir über diese bekloppte Nummer lieber mal den Mantel des Schweigens), No-Fly-Zone. Oder anderes Extrem wie Precht und dieser Varwick (oder wie er heißt): die gar nichts machen wollen und der Ukraine den guten Rat geben, die Waffen zu strecken und die EU sollte sich am besten noch bei Russland entschuldigen, wofür auch immer. (als wenn die Ukrainer dann einfach glückliche Russen sind!)
    Gar nicht erst zu reden von Leuten, die gleichzeitig ein Öl/Gas-Embargo fordern und weinend Selfies vor Tankstellen machen (??)

    Ich bin sehr froh, dass wir gerade besonnene, aber doch klare Leute in den wichtigen politischen Positionen haben, das ganze zwei Jahre früher mag ich mir gar nicht ausmalen.

    • Stefan Sasse 12. März 2022, 10:00

      So, so sehr bei dir! Hatte seit Tagen überlegt das als Artikel zu schreiben, aber der Kommentar reicht da schon fast…

    • Thorsten Haupts 12. März 2022, 11:46

      Ich kann das hier gut beschriebene Gefühl zwar nachvollziehen, aber nicht vollständig. Ich bin noch in einer Zeit politisch sozialisiert worden, in der es völlig wurscht war, ob und was irgendwelche Semi-Prominenten wie Precht zu einer existentiellen Krise sagten, weil ihnen niemand ernsthaft zugehört hätte.

      Wann genau hat sich das geändert?

      Gruss,
      Thorsten Haupts

      • Ariane 12. März 2022, 13:48

        Mich dünkt, es waren damals vielleicht nur andere Semiprominente und vermutlich hatten sie zumindest keine Podcasts. Ich glaube aber nicht, dass irgendwann in ferner oder näherer Vergangenheit nur besonnene Leute mit vernünftigen Ansichten zu Wort kamen. Steile Thesen vermutlich keine Erfindung der Neuzeit, obwohl das tatsächlich inflationär geworden ist.

        Und es geht gar nicht um das ernstnehmen, klar wir hier (vermutlich!) wissen, dass der Precht schon seit Längerem viel Quatsch erzählt und Döpfner (der btw kein Semiprominenter ist, sondern der Präsident des Verlegerverbandes und Springerchef!) nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Aber es kann doch eigentlich nicht sein, dass im Angesicht existenzieller Krisen wie Corona oder eben Krieg in der Ukraine (bei dem es erhöhten Infobedarf gibt und auch Ängste getriggert werden), professionelle Schreiberlinge (!) mit einer enormen Zuhörer/leser/hörerschaft losrennen und ihren Sermon völlig unreflektiert loswerden. Wir reden hier nicht von Leuten wie mir mit Twitteraccount und einer Kommentarspalte! Sorry, aber ich finde es echt nicht zuviel verlangt, durchaus auch von den Verbreitern ein gewisses Maß an Verantwortung zu fordern. Nein, das ist nicht die Aufgabe irgendwelcher unschuldiger Rentner*innen, die halt gerne ihre Tageszeitung lesen und abends die tägliche Talkshow, zu erkennen, dass da Leute mit unverantwortlichen Thesen sitzen.

        Natürlich hat das Auswirkungen. Ich hatte neulich auf Twitter eine Diskussion quasi kleine Selbsthilfegruppe, dass diejenigen, die schon vor zwei Wochen meinten, man sollte nicht zuviel Verständnis mit Putin haben und Waffenlieferungen wären ne brauchbare Idee als kriegsgeil hingestellt wurden und jetzt durch die Gegend laufen und den Leuten erzählen, dass ne No-Fly-Zone doch recht nah am dritten Weltkrieg ist. Das ist genau so ein Ding, irgendwer droppt das in der Presse, ist ja schnell gefordert und klingt so schön. Als wenn man einfach ein Schild mit „hier no-fly-zone“ aufstellt und fertig. Die „Aufklärungsarbeit“, dass das heißt, dass NATO-Jets direkt russische Jets, Flugabwehr und Flugplätze bombardieren können dann ja wieder andere machen, Carlo Masala der zumindest noch die Sendungsreichweite hat oder Leute mit mehr Medienkonsumerfahrung wie ich. Dann hat der NoFlyZone-Fan Zeit, den Leuten zu erklären, dass man ja wohl mal ein bisschen frieren kann für den Frieden. Oder der Varwick (der btw auch kein Semiprominenter ist, sondern irgendein Professor für Osteuropa!) der erzählt, man wisse nicht, was Putin denkt, aber er wirft zur Not bestimmt eine Atombombe und deswegen sollten wir die Ukraine zum Aufgeben ermutigen.

        Nein, nein, nein. Wir müssen echt mal aufhören mit diesem Quatsch, existenzielle Krisen als etwas zu sehen, was man durch individuellen Kram (zu wissen, wer Quatsch erzählt, 100 auf der Autobahn fahren und frieren) mal fix lösen kann. Was ja nicht heißt, dass das nicht auch Auswirkungen hat, nur ist es Putin halt sehr egal, ob ich mit 100 oder 160 über die Autobahn fahre und fatal, auch nur so zu tun, als hätte man damit Zugriffsmöglichkeiten auf eine Invasion.

        • Ariane 12. März 2022, 13:59
        • Thorsten Haupts 12. März 2022, 14:16

          Natürlich hat das Auswirkungen.

          Das bezweifle ich ernsthaft. Zu diesem Schluss bin ich (für Deutschland) über die Beobachtung gelangt, dass die inneren deutschen Machtzirkel (Minister/Kanzler/Parteivorsitzende und deren Berater) in gewichtigen Krisen gegen den Scheiss seit nunmehr vielen Jahren immun zu sein scheinen. Mit anderen Worten – der Einfluss der Idioten wird völlig überschätzt (und über twitter natürlich auch künstlich aufgeblasen).

          Gruss,
          Thorsten Haupts

          • Ariane 12. März 2022, 15:30

            Ja ok, wenn du so fragst 😀 Dass Scholz & Baerbock sich davon beeinflussen lassen, glaube ich auch nicht. Aber es hat natürlich Auswirkungen auf die öffentliche Meinung und auf Leute mit Informationsbedarf, die stattdessen mehr steile Thesen bekommen statt substanzielles, auf dem man aufbauen kann.

        • Dobkeratops 12. März 2022, 15:43

          Und es geht gar nicht um das ernstnehmen, klar wir hier (vermutlich!) wissen, dass der Precht schon seit Längerem viel Quatsch erzählt und Döpfner […] nicht mehr alle Tassen im Schrank hat.

          Döpfner ist ja eigentlich schon seit seinen wirren Einlassungen zu Halle untragbar und hat sich seitdem offenbar nur noch weiter radikalisiert. Ich finde es extrem krass, wieviel Angst alle vor ihm zu haben scheinen. Dass der BDZV eher bereit ist, den Austritt der ganzen Funke-Gruppe hinzunehmen als sich gegen ihn zu stellen, spricht ja Bände.

          Insofern ist Döpfner da ein bisschen ein Spezialfall, weil er sich im Gegensatz zu Precht und Co einfach jederzeit selbst zu einem Gastkommentar einladen kann, wann immer er ein Mitteilungsbedürfnis verspürt.

          • Ariane 12. März 2022, 15:52

            Immerhin diesmal nur Bild und nicht Welt und Augstein auch nur im Freitag und nicht mehr bei Spiegel (Augstein kann sich ja auch quasi selbst einladen). Also die Top-Adressen scheinen da auch nicht mehr so scharf drauf zu sein (und ich will hier auch durchaus lobend erwähnen, dass viele Medien/schaffende gerade exzellente Arbeit machen!). Dafür auch kein Pay-Artikel mehr.

      • Stefan Sasse 12. März 2022, 14:04

        Denen wurde auch früher zugehört, die wurden zu ihrem Glück nur von der Geschichte vergessen.

        • Thorsten Haupts 12. März 2022, 14:41

          Möglich. Und meine Erinnerung ist natürlich auch menschlich unzuverlässig.

          Nur nicht sehr wahrscheinlich – Kohl z.B. hat nie auf irgendeinen HotTake irgendeines Idioten reagiert.

          Gruss,
          Thorsten Haupts

        • cimourdain 12. März 2022, 23:32

          Würde ich nicht so sagen. Böll oder Habermaß waren auch in ihrer Zeit ‚Medienintellektuelle‘, die sich auch mit radikal vom Mainstream abweichenden politischen Meinungsäußerungen hervortaten. Vergessen sind sie heute nicht gerade. (außer dass ersterer hochtourig in seinem Grab rotiert angesichts dessen, was eine nach ihm benannte Stiftung verbreitet)

          • Stefan Sasse 13. März 2022, 11:39

            Ja, nur lagen sie halt nicht komplett falsch 😉

          • Thorsten Haupts 14. März 2022, 17:30

            Habermas, obwohl ich persönlich nicht viel von ihm halte, ist erkennbar ein völlig anderes Kaliber als der Dampfplauderer Precht :-).

    • Lemmy Caution 12. März 2022, 14:46

      Der sofortige Stopp sämtlicher Erdgas und Erdöllieferung ist für mich common sense und keine extreme Position.

      Eine gemässigte Position wäre: Die EU Rußlandpolitik wird für die nächsten 60 Jahre von einer Person bestimmt, die die Bürger der unmittelbaren EU-Nachbarn Rußlands per Volksabstimmung alle 5 Jahre wählen.

      Eine radikale Position wäre: Alle Russen, die nach ihrer Niederlage nicht nachweisen können, dass sie opositionell aktiv geworden sind, haben sich in Arbeitslagern in der Ukraine einzufinden und müssen die gesamte zerstörte Infrastruktur, Fabriken und Wohngebäude wieder aufbauen. Als Werkzeug ist Plastik-Spielzeug aus der Kinder-Abteilung erlaubt. Nichts anderes.

      Was die da abziehen ist lupenreiner Faschismus.

      • Ariane 12. März 2022, 15:41

        Der sofortige Stopp sämtlicher Erdgas und Erdöllieferung ist für mich common sense und keine extreme Position.

        Ich kann mir auch vorstellen, dass es so kommt, nur ist das halt einfach im warmen Studio zu fordern. Das ZDF(?) hatte ja auch eine Umfrage dazu.
        Nur ich persönlich hab keine Ahnung, ob das so einfach geht. Bzw konzentrieren wir uns mal auf Gas, Öl & Strom ist ja leichter ersetzbar, aber Gas eben nicht.
        Und die BuReg hat halt schon die Verantwortung dafür zu sorgen, dass die Firmen und Leute nicht komplett ohne Gas dasitzen, so schwer das auch ist. Da gibts ja nicht mal Reserven, der größte deutsche Gastank in Deutschland ist gerade quasi leer. (Nur nach Gefühl würde ich auch Jets, Panzer und alles hinschicken, was geht)

        Ich hab diese Aussagen der Leopoldina dazu überflogen und das hat mich nicht sehr optimistisch gestimmt. Fands bisschen komisch, dass da oft nur trendete, dass Deutschland das machen könnte.
        Aber nur, wenn wir jetzt sofort ganz ganz viel Gas kaufen, damit die Speicher voll sind (von Putin, weil woher sonst), und der Winter nicht so hart wird. Das klang für mich eben nicht nur danach, als wäre das mit etwas höheren Preisen zu lösen. (mal btw dass es ein großer Unterschied ist, ob man dieses höhere Preise mal so stemmen kann oder eben nicht)

  • Thorsten Haupts 12. März 2022, 15:20

    Was die da abziehen ist lupenreiner Faschismus.

    Sorry, aber das ist einfach Unsinn. Was die da abziehen ist jahrtausendealte, bewährte, brutale und schmutzige Kriegführung. Ceterum censeo Cartharginem esse delendam, wie Cicero das so schön prägnant zusammenfasste (Karthago wurde nach der militärischen Niederlage komplett zerstört, die Männer getötet und die Frauen und Kinder versklavt). Putin setzt nur eine Art der Kriegführung fort, die mit den Assyrern und Römern, den Hunnen und Mongolen, den europäischen Kreuzfahrern und Tamerlans Horden eine lange historische Tradition hat. Genuin faschistisch ist daran nichts.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Lemmy Caution 12. März 2022, 16:51

      Hinter der Politik steckt eine lupenreine faschistische Ideologie. Sonst wäre dieser Krieg so gegen ein mit Russland eng verbundenes Volk gar nicht möglich.
      https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Geljewitsch_Dugin#Einfluss

      • Stefan Sasse 12. März 2022, 19:34

        Blödsinn.

        • Lemmy Caution 12. März 2022, 22:06

          Dugin ist kein Faschist?
          Gegenüber Putin war Stalin harmlos.
          Der normale Russe sieht seine „tiefe“ Kultur durch die massiven Kriegsverbrechen in der Ukraine verteidigt.
          Wenn es wie Faschismus aussieht, ist es Faschismus.

          • Stefan Sasse 13. März 2022, 11:38

            Klar ist der Typ Faschist. Der Rest deiner These ist Unfug ^^

            • Lemmy Caution 13. März 2022, 13:09

              Was? Die Russen stehen mehrheitlich hinter Putin.
              Meine herzensgute Oma mit einem wirklich tiefen Gerechtigkeitsverständnis war zumindest 1933 bis 1938 Hitler-Anhängerin und somit Faschistin. Sie war immer gegen „das mit dem Juden“ – Breslau hatte viele Juden – und mit der Übermahme der – in ihren Worten – Tschechei wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Die Frau ist 1918 geboren.Die Überzeugung, dass große Teile von Gesellschaften faschistisch werden können, ist NICHT rusophob. Falls jemand das denkt. Es ist eine Lehre aus der deutschen Geschichte. Hab in mein en späten Teens übrigens Dostoyevsky verschlungen und das hatte einen sehr hohen Einfluss auf meine politische Meinungsbildung.

    • Stefan Sasse 12. März 2022, 19:33

      Stimmt.

      • sol1 12. März 2022, 22:39

        Stimmt nicht.

        In der Moderne ist „brutale und schmutzige Kriegführung“ begründungsbedürftig. Sogar die Nazis erfanden einen Vorwand (den „Überfall“ auf den Sender Gleiwitz), um den Überfall auf Polen als „Gegenwehr“ zu verkaufen. Die Assyrer und Timur-Leng kannten weder Massenpropaganda, noch hätten sie welche benötigt.

        • Thorsten Haupts 12. März 2022, 23:35

          In der Moderne ist „brutale und schmutzige Kriegführung“ begründungsbedürftig.

          Schön. Was hat das mit der Frage zu tun, ob ein schmutzig geführter Krieg „faschistisch“ ist?

          Gruss,
          Thorsten Haupts

        • Thorsten Haupts 12. März 2022, 23:41

          Wenn ich mal höflich davon absehe, die a-historische Behauptung, (nur) In der Moderne ist „brutale und schmutzige Kriegführung“ begründungsbedürftig. näher zu untersuchen.

          • sol1 13. März 2022, 00:17

            Tu dir keinen Zwang an.

        • Stefan Sasse 13. März 2022, 11:38

          Selbstverständlich kannten sie die. Die Assyrer haben ihre Propaganda als gigantische Reliefs auf die Mauern angebracht. Die kann man heute noch anschauen.

          • sol1 13. März 2022, 13:09

            Klar, aber das sind Post-Hoc-Darstellungen. Mir geht es um Propaganda, die *vor* einem Krieg einsetzt, um ihn zu ermöglichen.

            • Stefan Sasse 14. März 2022, 11:39

              Verstehe was du meinst, aber ich würde diese Dinger nicht so ernst nehmen wie das, was aus dem Kreml kommt.

        • cimourdain 13. März 2022, 12:19

          Sargon II hat sich auf die Götter Assur (dessen oberster Priester er auch war) und Marduk in seinen Kriegen berufen.

          Timur hatte sich aus propagandistischen Gründen in die Nachkommenschaft Dschingis Khans eingeheiratet.

  • Stefan Sasse 12. März 2022, 19:34

    Zu der ganzen Diskussion mit Leopoldina und den Schätzungen, wie möglich/teuer ein Importstopp aus Russland ist, siehe hier:
    https://adamtooze.substack.com/p/chartbook-97-is-boycotting-russian?s=w

    • Lemmy Caution 13. März 2022, 01:19

      angesichts solcher Diskussionen im staatlichen russischen Samstag-Abend-Fernsehen find ich 4-5% BIP keinen hohen Preis.
      https://twitter.com/visegrad24/status/1502791999417724935

      • Stefan Sasse 13. März 2022, 11:40

        Der Vorsitzende des BDVZ und Chef des Springerkonzerns fordert hier einen Einmarsch der NATO in Kiew. Journalist*innen, die über die Stränge schlagen, sind kein russisches Alleinstellungsmerkmal.

        • Lemmy Caution 13. März 2022, 12:30

          Kann ich nicht nachvollziehen.
          Ich bin gegen einen Einmarsch von NATO-Truppen in die Ukraine.
          Nur halte ich es für einen gewaltigen Unterschied, ob man in ein Land einmarschiert, in dem die Bevölkerung vehement gegen den Einmarsch wäre oder in eins, in dem die Bevölkerung diesen Einmarsch begrüssen würde. Somit sehe ich einen gewaltigen Unterschied zwischen den Diskussionen im Russischen Staatsfernsehen und den Überlegungen eines Leiters der Bild Zeitung.
          Russen bekommen nach Tagen der Besetzung von Kherson keine pro-russische Abstimmung zustande.
          https://twitter.com/EuromaidanPress/status/1502968064157097986

        • Dobkeratops 13. März 2022, 14:15

          Kleine Korrektur: Döpfner ist Vorsitzender des BDZV. Der Presserat hingegen ist jene Institution, deren zahlreiche Rügen von Springers Organ der Niedertracht stets geflissentlich ignoriert werden.

  • Enno 15. März 2022, 13:06

    „Aber das ist alles ist nichts Neues; wie gesagt, solche Neigungen verspürt die radikale Linke seit 1917. Viel schwieriger zu erklären ist die Affäre der politischen Rechten mit Russland.“

    Eigentlich ist es doch umgekehrt. Die Rechte findet Putin immer sympathischer, da ihre Werte vertreten werden, während man sich bei der Linken mit ihrer Sympathie seit 1991 darüber hinwegsehen, dass russische Regierungen in keiner Weise noch irgendwelche linken Ideale vertritt – weder aktuelle noch die vergangener Zeiten –, sondern im Gegenteil den Kapitalismus-Turbo angeworfen hat. Putin wird ja sogar nachgesagt, Anfang der 1990er Jahre auf einer Tagung mit deutschen Unternehmer*innen eine Diktatur nach dem Vorbild Pinochets für Russland gutzuheißen.

    • Stefan Sasse 15. März 2022, 13:40

      Ich weiß, was du meinst, aber: „nichts Neues“ ist im Kontext dieses Blogs, weil ich das Phänomen schon öfter beschrieben und erklärt habe, während das für die rechte Begeisterung mit Putin nicht gilt.

Leave a Comment

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.