Die verdrängte Dekade, Teil 2: Auf tönernen Füßen

Teil 0 mit einleitenden Bemerkungen und Teil 1 mit einer Betrachtung der außenpolitischen Rolle der USA gingen diesem Artikel voraus.

Hellsichtige Beobachtende hatten bereits 2006 vor der sich zusammenbrauenden Katastrophe im US-Immobilienmarkt gewarnt. Aber die Verlockungen dieser Blase waren zu groß. Invrestor*innen aus aller Welt steckten Billionen und Aberbillionen in den Markt. Wie die Akteure rund um den berühmten „Big Short“ bald feststellen mussten genügte es auch nicht, diese Analyse zu treffen und gegen den blinden Markt zu wetten, denn die großen Player der Finanzindustrie waren mächtig genug, die Marktkräfte außer Kraft zu setzen und das Spiel teils durch Lobbying, teils durch illegale Geschäftspraktiken noch länger aufrechtzuerhalten. 2007 aber war das Spiel aus. Die lange Finanzkrise begann.

Ich sage lange Finanzkrise, weil, ähnlich wie bei der Weltwirtschaftskrise 1929 auch, die Jahre danach in der Betrachtung allzugerne vergessen werden. Verdrängt, gewissermaßen. Dabei ist sie das zentrale Ereignis des frühen 21. Jahrhunderts und hat ein Erdbeben ausgelöst, dessen Folgen wir heute noch spüren. Gleichzeitig gilt sie seit 2009 üblicherweise als überwunden – eine Perspektive, die ebenso falsch wie gefährlich ist.

Ich will im Folgenden nicht ausführlich auf die Mechanismen der Krise selbst eingehen. Es gibt hier Übersichten, die das besser vollbracht haben (deutsch) als ich es mit meinen begrenzten Fachkenntnissen könnte und auf die ich mich hier auch beziehe. Stattdessen soll es hier vor allem auf die Folgen der Krise und um die Krisenreaktionen gehen.

Wichtig für das Verständnis dessen, was in der Dekade nach 2006/2007 passiert ist, ist eine zentrale Erkenntnis: Die Bankensysteme praktisch aller Staaten weltweit sind miteinander zu einem Weltfinanzsystem verwoben und verknüpft. Eine Lokalisierung von Trends, Krisen und Transaktionen ist daher praktisch unmöglich. Wir nennen dieses Phänomen „Globalisierung“. Ich betone es deswegen, weil die Globalisierung als Konzept einen merkwürdigen Abstieg durchgemacht hat. Um 2004 herum, als unsere Geschichte beginnt, war sie in aller Munde. Es gab eine kleine, aber entschlossene und lautstarke Minderheit, die gegen die Globalisierung antrat. Diese „Globalisierungsgegner*innen“ oder „Globalisierungsgegner*innen“ waren links und hatten ihre Machtbasis in einigen Gewerkschaften, in attac und in den linken Flügeln der sozialdemokratischen Parteien. Einen Einfluss auf die Politik hatten sie dagegen praktisch überhaupt nicht.

Die Politik dagegen wurde von dem dominiert, was seinerzeit unter dem Begriff „neoliberal“ firmierte, ein Begriff, der mittlerweile als Kampfbegriff ungefähr jene Trennschärfe erreicht hat, die auch „Identitätspolitik“ auszeichnet und der als Analyseinstrument beinahe unbrauchbar geworden ist. Als beschreibende Kategorie mag er dagegen noch soweit taugen, dass wir zumindest wissen, was gemeint ist: ein weltweiter Konsens zur Deregulierung und Transnationalisierung der Weltwirtschaft und einem Primat der Finanzmärkte. Die Idee dahinter ist in ihren Grundzügen vergleichsweise einfach zu verstehen. Da die Weltwirtschaft global ist, entzieht sie sich der Kontrolle nationalstaatlicher Strukturen. Da solche aber der Versuchung nicht widerstehen können, sich trotzdem an Eingriffen zu versuchen, muss die Wirtschaft durch ein weltweites Regelsystem so weit wie möglich der Kontrolle der flatterhaften und den Volkslaunen unterworfenen Regierungen entzogen und einem weltweiten Regelwerk unterstellt werden. Das Regelwerk selbst kam zum einen durch zahlreiche Vertragswerke und Kontrollinstrumente (für die Finanzwirtschaft etwa Basel I), andererseits durch die 1995 gegründete Welthandelsorganisation.

Die vorherrschende Idee war, dass die Finanzmärkte eine Art (wenngleich unvollständiger und unperfekter) Repräsentation der Weltwirtschaft darstellten und die Staaten „disziplinierten“. Die praktisch unvorstellbaren Summen, die sie tagtäglich umsetzten, die fantastischen Gehälter und Boni, die sie auszahlten, und die globale Natur ihrer Elite und ihrer Tätigkeiten hatte sie zu einer Art abgekapselten Elite gemacht, die (wenngleich extrem unvollständig) die Rolle einer Weltregierung übernahm, wo finanzielle Fragen betroffen waren. Das alles ist nicht neu; dieselbe Idee hatte bereits im ersten liberalen Zeitalter geherrscht. Sie ist auch in sich durchaus schlüssig.

Ich verweile an dieser Idee einer liberalen Weltordnung deswegen etwas länger, weil diese Weltordnung um 2004 unangefochten zu regieren schien. Die wenigen Globalisierungskritiker*innen, die dagegen aufbegehrten, waren – wie erwähnt – ohne jeden Einfluss. Selbst ihre eigentlichen Mutterparteien, von SPD zu Democrats zu New Labour, hatten sich alle emphatisch zu dieser liberalen Weltordnung bekannt. Das soll hier nicht als Kritik verstanden werden. Es ist nur wichtig zu verstehen, dass diese Ansicht auf der Welt absolut dominant war.

Wir werden uns mit den außenpolitischen Implikationen dieses liberalen Konsens‘ noch im nächsten Teil beschäfigen. Hier sei nur der Verweis gestattet, dass zu Beginn der 2000er Jahre die allgemeine Annahme war, dass dieser Konsens auch die „emerging markets“ erfassen würde, also etwa Brasilien und Indien, und dass Russland einerseits und China andererseits in dieses weltweite Regelsystem integriert würden und dadurch zuerst in der Wirtschaft, dann aber auch gesellschaftlich eine Liberalisierung und Angleichung an den Westen durchlaufen würden. Warum diese Prognosen nicht eintrafen, werden wir in Teil 3 genauer beleuchten.

Doch der Konsens ist heutzutage auch bei seinen einstigen Proponenten nicht mehr zu finden. Die Vorrangstellung es Freihandels und die Vorstellung, dass der Abbau von „Handelshemmnissen“ in Form von Regulierungen der Weg vorwärts sei, ist heute, höflich gesagt, nicht mehr so en vogue. Der Grund dafür liegt an der Finanzkrise.

Ich habe bisher einen essenziellen Machtfaktor dieses internationalen liberalen Konsens‘ außenvorgelassen: die Zentralbanken. Ihnen kommt in diesem System eine entscheidende Rolle zu. Denn wenn die Finanzmärke ein weltweit geltendes Regelsystem durchsetzen sollten, dann brauchte es dafür eine entsprechende Institution. Die Zentralbanken verstanden in dieser Zeit ihre Rolle entsprechend. In Europa atmete die neu gegründete EZB den Geist der alten Bundesbank, sehr zum Leidwesen von Paris, und besaß ein ausschließlich der Geldwertstabilität verpflichtetes Mandat.

Die Idee dahinter ist im Endeffekt dieselbe wie früher beim Goldstandard: dadurch, dass den einzelnen Staaten de facto die geldpolitische Zuständigkeit entzogen war, waren die Parameter des Systems stabil. Die WTO-Regeln verhinderten Enteignungen und andere politische Einflüsse (man denke hier nur an die Schiedsgerichte, die im Zentrum linker Kritik stehen), während die Zentralbanken dafür sorgen, dass das Geld und die Wechselkurse in einem berechenbaren Rahmen bleiben. Die Sphäre der Wirtschaft ist damit den Staaten weitgehend entzogen, weil viele Regelungen global und damit aus den Händen der nationalen Parlamente sind und das System der Finanzierung dafür sorgt, dass die Staaten nur dann Kredite bekommen, wenn die zugrundeliegende Basis nach den Maßstäben des liberalen Konsens stabil ist.

Die direkte Folge sind enge Handlungsspielräume bei der Staatsfinanzierung. Eine unkontrollierte Schuldenaufnahme ist nicht möglich, ein Weginflationieren der Schulden genausowenig. Das System zwingt zu einer staatlichen Selbstbeschränkung, zum internationalen Standortwettbewerb und zum Rückbau des Interventions- und Wohlfahrtsstaats, der als marktstörender Faktor wahrgenommen wird.

Zumindest in der Theorie. In der Praxis waren die Finanzmärkte nur zu bereit, unsichere Kantonsiten wie Griechenland mit sehr günstigen Krediten zu versorgen. Auf dem Papier funktionierte das auch; der griechische Haushalt war in den 2000er Jahren dank eines Booms nachhaltig – gerade so und mit etwas Zahlenmassage. Spielräume aber besaß die griechische Regierung keine; der kleinste Einbruch der Konjunktur würde bereits die Katastrophe bringen. Und was über die Welt hereinbrach, war kein kleiner Einbruch der Konjunktur. Aber wir werden uns mit Griechenland noch im vierten Teil beschäftigen.

Als die Finanzkrise ausbrach, war die Annahme der meisten Wirtschaftswissenschaftler*innen, dass ein inflationärer Druck auf den Dollar entstehen würde, weil die (souveräne) US-Regierung, sich in ihrer eigenen Währung verschuldend, über die Fed zusätzliche Dollar ins System spülen würde (ein Weg, der der EZB in ihrem ordliberal inspirierten Aufbau explizit nicht offenstand). Das geschah aber nicht. Als die Krise begann, stieg der Wert des Dollars, anstatt zu fallen.

Die Verwirrung darüber hielt jedoch glücklicherweise nur kurz an. Was die Notenbanker*innen der Fed schnell erkannten war, dass die globale Natur der Finanzkrise für einen Nachfrage-, nicht Angebotsschub bei Dollar sorgte. Das Problem waren nicht zu viele Dollar im System. Das Problem waren zu wenige.

Das lag an der internationalen Struktur des Systems. Billionen über Billionen an Investments waren durch ausländische Banken im amerikanischen Finanzsektor getätigt worden. Die Banken, die darin verstrickt waren, brauchten für die kurzfristige Refinanzierung der langfristigen Investments, die sie getätigt hatten, Dollar, die sie nicht sebst emittieren konnten. Das war ein Problem, denn die Fed stellte zwar amerikanischen Banken Dollar zur Verfügung, aber nicht denen anderer Nationen. Dafür war der amerikanische Finanzmarkt zuständig. Der allerdings befand sich in einer Kernschmelze.

Diese Kernschmelze war zu einem guten Teil unausweichlich, wurde aber durch eine politische Fehlkalkulation der Bush-Regierung massiv befeuert: den Bankrott von Lehmann Brothers. Das Lehmann-Brothers-Managment hatte in völliger Verkennung der Situation versucht, von der US-Regierung einen mögloichst großzügigen Bailout zu erpressen. Stattdessen ließ die Regierung sie fallen. Dadurch injizierten sie das tödlichste Gift in das Finanzsystem, das dieses haben konnte: Unsicherheit.

Keine Bank vertraute mehr der anderen. Der interne Handel kam praktisch zum Erliegen, ein Bankrun und damit ein Totalzusammenbruch des Bankensystems wie 1931 schien nur noch eine Frage der Zeit, von Tagen, vielleicht gar Stunden. In dieser Situation intervenierte die Fed. Über das bereits im Vorjahr geschaffene System der so genannten „Swap Lines“ erlaubte sie ausgewählten nationalen Zentralbanken, direkt Dollar zu beziehen und an ihre eigenen Banken auszugeben und hielt somit den Finanzfluss aufrecht. Diese Entscheidung der Fed kann in ihrer Dramatik nicht überschätzt werden. Ohne die Swap Lines wäre die Weltwirtschaft gecrasht. Der Dollar war die Leitwährung der Welt. Und die USA nahmen ihre Verantwortung für das Ganze wahr und blieben nicht in ihrer nationalen Blase.

Diese Entscheidungen traf die Fed dabei im Wesentlichen, ohne ein politisches Mandat zu besitzen oder auch nur groß Rücksprache mit dem Weißen Haus oder dem Kongress zu halten. Sie legte ihr Mandat damit vergleichsweise weit aus. Die Linie der Fed war effektiv: „Wenn das weltweite Finanzsystem kollabiert, ist der Dollar nicht mehr stabil; um den Dollar stabil zu halten, müssen wir also das Weltfinanzsystem stützen.“ Das war natürlich sinnvoll und die richtige Entscheidung. Wir werden in Teil 4 sehen, welche katastrophalen Folgen das Nicht-Anerkennen dieses Umstands durch die EZB in der Eurozone haben würde.

In den USA gab es allerdings, genauso wie in Deutschland, wütende Proteste gegen diese Politik der Fed. Die Koch Brothers machten zig Millionen Dollar locker und gründeten praktisch im Alleingang die „Tea Party“, die in der republikanischen Welle des Jahres 2010 über 80 Abgeordnete in den Kongress spülte.

In der Post-Trump-Ära vergisst man leicht, dass der Extremismus der GOP und ihr offener Rassismus nicht am Beginn dieses Weges stand, sondern eine Evolution darstellt. Der Beginn war der Aufstand der republikanischen Basis gegen die Krisenpolitik der Regierung. Das bemerkenswerte ist, dass dieser Aufstand bereits begann, BEVOR Obama zum Präsidenten gewählt wurde. Die Tea Party begann als Rebellion gegen die GOP, als Kriegserklärung der Koch Brothers und ihrer Verbündeten gegen Bush und die das eigene Parteiestablishment.

Dieser Aufstand begann 2007 gegen das TARP-Projekt der Bush-Regierung, die Rettung des amerikanischen Bankensystems. Nur das erste der mit diesen Rettungen verbundenen Pakete konnte noch auf geeinte GOP-Unterstützung im Kongress bauen. Bereits bei den weiteren Paketen stimmten mehr Republicans als oppositionelle Democrats gegen die Rettung der Finanzwirtschaft und damit der US-Wirtschaft als Ganzem, ein düsterer Vorbote dessen, was bald kommen sollte. Als John McCain im Wahlkampf 2008 stand, war er gezwungen, gegen das Weiße Haus wahlzukämpfen – während Obama und die Democrats im Kongress mit Bush zusammenarbeiteten, als wären sie bereits die Regierungspartei! Seinen Höhepunkt fand dieser Irrsinn, als McCain dem Druck seiner rapide in den Populismus abgleitender Basis nachgab und sich gegen alle Rettungsprogramme aussprach, eine Konferenz in Washington mit dem Weißen Haus, Obama und der Fed verlangte, diese bekam und dann – nichts sagte. Das absurde Meeting wurde in vielen Quellen ausführlich besprochen, aber die völlige Konfusion der Anwesenden, als McCain, der das Treffen verlangt hatte, auf direkte Ansprache beharrlich schwieg, war mit Händen zu greifen. Spätestens hier war der Wallstreet klar, dass die Hoffnung auf ihr Überleben auf der politischen Linken lag, nicht der politischen Rechten. Dieser absurde Seitenwechsel wird uns in diesem Artikel noch öfter beschäftigen, aber er fußte auf dem tief eingegrabenen Gefühl staatspolitischer Verantwortung bei den sozialdemokratischen Parteien – und der praktisch völligen Abwesenheit desselben bei den Rechtspopulisten, die in den USA rapide die Republicans zu übernehmen begannen, ein Prozess, der sich in Großbritannien in den 2010er Jahren bei den Tories wiederholen sollte und der glücklicherweise in Deutschland bisher weitgehend vermieden werden konnte.

Das heißt nicht, dass es gegen die Bankenrettung und die folgende Krisenpolitik nicht auch linke Opposition gegeben hätte, far from it. Sie war nur unorganisiert und politisch heimatlos. Nirgendwo zeigte sich das so deutlich wie bei der Occupy-Wallstreet-Bewegung. Diese entstand fast zeitgleich mit der Tea Party und kanalisierte den linken Unmut gegen die Bankenrettung. Anders als die Tea Party war sie aber komplett von jeglichen größeren Finanzierungsströmungen oder der Unterstützung politischer Akteure abgeschnitten. Kein demokratischer Funktionär, der irgendeine Hoffnung auf eine Karriere hatte, kam auch nur in die Nähe der Gruppe. Die Ängste, dass hier ein Aufstand der Massen stattfinden würde, zerstoben schnell. Die Polizei knüppelte mit bewährter Routine die friedlichen Demonstrationen nieder, und die Bewegung selbst wandte sich mit ebenso bewährter Routine dem liebsten Pläsier aller Linken zu: dem Sektierertum und inneren Richtungskampf. Innerhalb weniger Monate war Occupy auf einen winzigen harten Kern zusammengeschmolzen, der im Endeffekt in einem einfachen, wenig beachteten Polizeieinsatz beseitigt werden konnte. Das war letztlich das Ende dieses Widerstands.

Den euroäischen Ablegern von Occupy erging es nicht anders. Der deutsche Versuch Occupy Frankfurt war so armselig, dass nicht einmal die Springer-Presse oder das Handelsblatt es schafften, sie ernsthaft als Bedrohung von irgendetwas darzustellen (wenngleich es im April 2009 eine kurze, intensive Gespensterdebatte über „soziale Unruhen“ in Deutschland gab). Etwas größere Erfolge konnten in den südeuropäischen Hauptstädten verzeichnet werden, aber auch hier behielt das Establishment das Heft des Handelns in der Hand und die Proteste sich liefen schnell von sich aus tot. Eine bemerkenswerte Ausnahme, die aber gleichzeitig indikativ für das Geschehen steht, war die deutsche Debatte im Feuilleton der FAZ, wo Frank Schirrmacher, der Gottvater des Feuilletons der 2000er und frühen 2010er Jahre, eine grandiose Serie zum Kapitalismus hostete, in der unter anderem Sahra Wagenknecht (die damals mit demselben untrüglichen Sinn für Bestsellermaterial wie heute ihr Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ veröffentlichte und den Mantel Ludwig Erhardts (!) zu ergreifen suchte) eine intellektuell stimulierende Debatte in Gang setzte.

Allein, diese Debatte war zwar spannend, führte aber letztlich zu nichts. Nicht nur der Kapitalismus, auch die Linke stand in diesen Jahren auf mehr als tönernen Füßen. Wir haben uns heute daran gewöhnt, aber die natürliche Erwartungshaltung war, dass die Linke der große Gewinner einer weltweiten Finanzkrise sein musste. Hatte sie nicht jahrelang gegen die Globalisierung gewettert, Gipfel um Gipfel belagert, die geeinte Ablehnung der auf Linie gebürsteten Presselandschaft erfahren, war von der Macht praktisch komplett ausgeschlossen gewesen? Alles wahr, sicherlich. Aber die Realität beugt sich solchen Narrativen nicht. Es gibt keine Belohnung dafür, Recht gehabt zu haben. Und die Linke besaß keine Antwort auf die gewaltige Verunsicherung, die die Krise gerissen hatte.

Es ist dies die große Ironie der ganzen Finanzkrise und ihren Auswirkungen. Die Linke tat und tut sich schwer damit, sich vom liberalen Projekt zu distanzieren, weil, im Gegensatz zur Rechten, mittlerweile so viel Überlapp besteht. Es ist ein Erbe des sozialdemokratischen Zeitalters.Die sozialdemokratischen Parteien Europas und Nordamerikas hatten die liberale Botschaft aufgenommen und sich zu eigen gemacht. Sie hatten den liberalen Konsens maßgeblich mitgestaltet, waren ein elementarer Teil geworden. Ob Schröder, ob Blair, ob Clinton, diese Sozialdemokratie konnte kaum glaubhafte Alternativen anbieten, zumal sie selbst an der Regierung war! In Deutschland regierte die SPD in der Großen Koalition (wirklich noch groß in jenen Jahren) und stellte mit Peer Steinbrück den Finanzminister. In den USA waren sie mit Obama und seiner Supermehrheit an der Macht. In Großbritannien regierte Labour unter Gordon Brown. Alle drei dieser Parteien waren überzeugt, dass der liberale Konsens richtig war und dass er gerettet werden musste. In Großbritannien und den USA gab es keine, in Deutschland nur eine kleine linksradikalere Alternative.

Dazu kommt, dass Linksradikalismus für die breite Mehrheit der Bevölkerung unattraktiv ist. Deswegen gewinnen diese Parteien auch in der Krise nicht. Die Umfragewerte der LINKEn etwa bewegten sich durch die gesamte Krise hindurch kaum nennenswert. Stattdessen richteten sich die Hoffnungen auf den Erhalt des Status Quo.

Diese Hoffnungen erfüllten sich für die Reichen und Mächtigen. Die Banken wurden gerettet, das Weltfinanzsystem stabilisiert. Große Unternehmen erhielten Bailouts. In Deutschland war die Politik dank dem Einfluss der SPD insgesamt ausgeglichener; gerade das Kurzarbeitergeld, das 2009 breitflächig genutzt wurde, rettete viele Existenzen in der Mittelschicht und wirkte als zuverlässiger Dämpfer für jede mögliche Radikalisierung.

Anders war die Lage in den USA, wo die scharf ansteigende Arbeitslosigkeit und das Platzen der Immobilienkredite für unermessliches menschliches Leid sorgten. Nach der unbeliebten Rettung der Banken glaubte die Obama-Regierung nicht, die Stimmen für einen Bailout der in Not geratenen Heimbesitzenden zu haben. Stattdessen rollte eine Welle von hunderttausenden von Zwangsräumungen wertlos gewordener Immobilien durch das Land, das zahlreiche Menschen das Heim kostete. Für sie tat die Regierung nichts.

Doch auch diese himmelschreiende Ungerechtigkeit beförderte nicht eine Renaissance der Linken und sorgte auf der Linken für keine nachhaltige Radikalisierung. Der Fehler, den man daraus nicht machen sollte – und der allerdings in den letzten Jahren gemacht wurde – ist anzunehmen, dass das bedeutet, dass diese Phase der Rettungspolitik praktisch abgewickelt wurde. Doch der Unmut über die Situation im Allgemeinen, der Zorn über die Eliten, der Zweifel am liberalen Konsens – er fraß sich tief in das Bewusstsein der ganzen Welt. Der liberale Konsens hatte eine tödliche Verwundung erlitten, doch wie im Schock sollte er noch einige Jahre tapfer weitermarschieren. Seine Herausforderung kam dann nicht von links, sondern, gänzlich unerwartet, von rechts.

Bevor wir uns allerdings im fünften Teil damit beschäftigen, warum es die Rechtsradikalen waren, die von einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise profitierten, wo die Linken doch eigentlich die scheinbar natürlichen Erben eines solchen Zusammenbruchs gewesen wären, müssen wir den Blick auf diejenigen Länder werfen, die von der Finanzkrise mittelbar betroffen waren und die den liberalen Konsens bestenfalls halbherzig und opportunistisch unterstützt hatten – und die nun als dezidiert antiliberale Länder die Weltordnung herausforderten.

Weiter geht es in Teil 3.

{ 33 comments… add one }
  • Erwin Gabriel 29. April 2021, 09:31

    @ Stefan Sasse

    Ich finde es immer wieder beachtlich, wie Du verschiedene Ströme in einen derart verständlichen Zusammenhang bringst.
    Da Finanssystem zu den Dingen gehören, wo ich mich nicht auskenne, kann ich zu einer fachlichen Diskussion nichts beitragen.

    Aber vielen Dank! Bei Dir hätte ich gerne die Schuklbank gedrückt (und tue es ja hier immer wieder mal)! 🙂

  • Marc Schanz 29. April 2021, 10:11

    Über das bereits im Vorjahr geschaffene System der so genannten „Swap Lines“ erlaubte sie ausgewählten nationalen Zentralbanken, direkt Dollar zu beziehen und an ihre eigenen Banken auszugeben und hielt somit den Finanzfluss aufrecht. Diese Entscheidung der Fed kann in ihrer Dramatik nicht überschätzt werden. Ohne die Swap Lines wäre die Weltwirtschaft gecrasht.

    Diesen Aspekt der Finanzkrise kannte ich nicht. Aus geldtheoretischer Sicht ist das echt spannend. Zentralbanken emittieren normalerweise Zentralbankgeld, eine Vorstufe des Geldes, erst Geschäftsbanken schöpfen durch Kreditvergabe echtes Geld. Hier ist es noch eine Stufe extremer. Die Fed ermöglicht mit diesem Trick, dass fremde Zentralbanken über einen Dollargeldschöpfungsmechanismus verfügen. Das ist echt dramatisch und ich stimme zu, ohne das wirklich unkonventionelle Vorgehen hätte der Sturz von Lehmann Brothers eine atomare Kettenreaktion im Finanzsystem ausgelöst. Die Folgen wären exponentiell schlimmer als Corona gewesen!

    P.S: Wo sind bei den Swap Lines die staatlichen Steuern? Da müssen doch Steuern sein! Ansonsten wäre doch MMT nur Bullshit!

    • CitizenK 29. April 2021, 11:00

      Finde den großen Bogen auch spannend. Respekt.
      Auch mir war die Bedeutung dieser „Swap Lines“ damals nicht bewusst.
      Die Rolle der Koch-Brüder verstehe ich allerdings noch immer nicht ganz.

      • Stefan Sasse 29. April 2021, 11:28

        Die Kochs (pars pro toto) haben die Protestbewegung finanziert, aus der dann die Tea Party entstand. Ohne die Kochs keine Tea Party, keine Radikalisierung der GOP, keine Sarah Palin.

    • Stefan Sasse 29. April 2021, 11:27

      Ich kenne mich zu wenig aus um das mit MMT zu analysieren, sorry.

      Aber die amerikanische Krisenpolitik ist generell wenig bekannt. Sie war um Längen besser und verantwortungsvoller als die europäische und führte ja auch zu einer viel schnelleren wirtschaftlichen Erholung. Und genau das mag der Grund sein, warum da so ungern drüber geredet wird. Es gab mal vor einer Weile ein Panel zwischen Tooze und Steinbrück, das war…erhellend, was die Lebenslügen deutscher Politik angeht.

  • Stefan Pietsch 29. April 2021, 11:35

    Wie immer ein interessanter Geschichtsartikel. Man merkt, was Du gelernt hat. Danke, das ist eine Bereicherung für jeden Leser.

    Leider passieren Dir jedoch immer wieder grobe Schnitzer, wenn Deine politische Meinung ins Spiel kommt.

    Die Sphäre der Wirtschaft ist damit den Staaten weitgehend entzogen, weil viele Regelungen global und damit aus den Händen der nationalen Parlamente sind und das System der Finanzierung dafür sorgt, dass die Staaten nur dann Kredite bekommen, wenn die zugrundeliegende Basis nach den Maßstäben des liberalen Konsens stabil ist.

    Die direkte Folge sind enge Handlungsspielräume bei der Staatsfinanzierung. Eine unkontrollierte Schuldenaufnahme ist nicht möglich, ein Weginflationieren der Schulden genausowenig. Das System zwingt zu einer staatlichen Selbstbeschränkung, zum internationalen Standortwettbewerb und zum Rückbau des Interventions- und Wohlfahrtsstaats, der als marktstörender Faktor wahrgenommen wird.

    Mit den Fakten hat das nichts zu tun. Die Schulden der OECD-Länder mehr als verdoppelten sich in den Nullerjahren, während sie in der Dekade zuvor „nur“ um 89% wuchsen. Besonders negativ fielen hier die großen Nationen USA (+166% zu +40%), Japan und die ohnehin zuvor bereits hoch verschuldeten Länder Frankreich, Italien, Spanien und Portugal heraus. Auch hier zeigt sich: viele Schulden führen zu noch mehr Schulden, eine Spirale nach oben. Deutschland hielt übrigens mit der Verdopplung seiner Staatsschulden das Tempo.

    Behauptung passt nicht zu den Fakten.

    Zweiter Schnitzer:

    Anders war die Lage in den USA, wo die scharf ansteigende Arbeitslosigkeit und das Platzen der Immobilienkredite für unermessliches menschliches Leid sorgten. Nach der unbeliebten Rettung der Banken glaubte die Obama-Regierung nicht, die Stimmen für einen Bailout der in Not geratenen Heimbesitzenden zu haben. Stattdessen rollte eine Welle von hunderttausenden von Zwangsräumungen wertlos gewordener Immobilien durch das Land, das zahlreiche Menschen das Heim kostete. Für sie tat die Regierung nichts.

    Doch auch diese himmelschreiende Ungerechtigkeit (..).

    Gut, das kann man ohne Kenntnisse des amerikanischen Immobilien- und Insolvenzrechts nicht anders wissen. Die in den Boomjahren erworbenen Häuser waren i.d.R. allein durch Schulden finanziert. Dazu konnten sich die Besitzer durch die buchhalterische Wertsteigerung „ihrer“ Immobilie weiter verschulden, so dass nicht selten weiter mehr als 100% der ursprünglichen Kaufsumme als Kredite auf Haus und Grundstück lagen. Die Riesenblase, an der Hausbesitzer kräftig mitgeblasen hatten.

    Wer in den USA die Kredite für sein Haus nicht mehr tragen kann (oder angibt, sie nicht tragen zu können), muss natürlich den Schlüssel abgeben. Meist führt die zu Zwangsversteigerungen, soweit gewöhnlich. Anders als in Ländern jedoch, wo römisches Zivilrecht gilt, muss der gescheiterte Immobilienkäufer jedoch nicht die Differenz zwischen Verkaufspreis bei der Zwangsversteigerung und Kreditsumme tragen. Er ist schuldenfrei. In Deutschland dagegen trägt mancher den Rest seines Lebens an einem solchen falschen Investment.

    Der Verlust landete demgemäß bei den Banken, die hohe Abschreibungen vornehmen mussten. Viele, weit mehr als in Europa, drückte das in den Bankrott. Wer das weiß – also nicht viele – versteht eher, warum manche Institute so hart mit säumigen Kreditnehmern umgehen. Die können sich nämlich im Zweifel einen schlanken Fuß machen.

    Weiterhin liegt der Anteil jener Amerikaner, die im eigenen Haus wohnen, mit knapp 70% hoch. Das gilt auch für die 20% niedrigsten Einkommensbezieher, von denen über die Hälfte unter dem selbst finanzierten Dach lebt (in Deutschland gerade 38%). Die Zahlen sind dabei ziemlich unverändert zur Situation vor der Finanzkrise. Der persönliche, vor allem wirtschaftliche Schaden für die 2008 gescheiterten Immobilienkäufer ist damit gesellschaftspolitisch höchst überschaubar.

    Solche Ungerechtigkeiten möchte ich gerne in Deutschland.

    • Marc Schanz 29. April 2021, 12:38

      Dazu konnten sich die Besitzer durch die buchhalterische Wertsteigerung „ihrer“ Immobilie weiter verschulden, so dass nicht selten weiter mehr als 100% der ursprünglichen Kaufsumme als Kredite auf Haus und Grundstück lagen. Die Riesenblase, an der Hausbesitzer kräftig mitgeblasen hatten.

      Die schiere Einfachheit ökonomischer Zusammenhänge können überfordernd sein, ich weiß. Es gibt in diesem Szenario zwei Akteure: den Hausbesitzer und die Bank. Einer der Akteure hat als Profession die Risikobewertung ökonomischer Geschäfte. Klar, es besteht eine 50:50 Chance, hier die richtigen Verantwortlichkeiten zuzuordnen. Eine schwierige Aufgabe, die nicht immer gelingt.
      Die richtige Lösung lautet daher: Nicht der Hausbesitzer überrumpelte die naive Bank. Es waren die Banken selbst, die unsichere Geschäfte am Fließband abwickelten und somit die Blase vergrößerten, bis sie platzte.

      • Stefan Pietsch 29. April 2021, 12:46

        Die schiere Einfachheit ökonomischer Zusammenhänge können überfordernd sein, ich weiß.

        Scherzkeks. Den einfachen Sachverhalt bestreiten Sie gar nicht. Niemand hat bestritten, dass die Banken so locker das Geld verteilt haben, wie sie es bekommen haben. Nur haben sich die Immobilienkäufer genauso locker verhalten. Ach, jemand gibt mir 150% Kredit auf mein Haus, weil das jetzt im Wert 200% Wert ist? Her damit! Könnte selbst Lieschen Müller verstehen, dass das Quatsch ist. Aber die ist ja in Verruf geraten.

        Nur sind halt Stefans Riesentränen („Ungerechtigkeit!“ „Der Staat ist nicht beigesprungen!“) fehl am Platz. Das ist das, worum es geht. Aber manchen überfordern eben schon einfachste Sachverhalte.

        • Marc Schanz 29. April 2021, 13:24

          Nur haben sich die Immobilienkäufer genauso locker verhalten.

          Nein, nicht genauso! Es besteht hier ein erhebliches Informationsungleichgewicht. Der Hausbesitzer hat üblicherweise keinen Überblick über den Hauskreditmarkt, die Bank muss ihn haben. Der Hausbesitzer hat daher der Expertise der vertraut, dass es eben kein lockeres Geschäft ist.

          Die Ungerechtigkeit ist, dass den Verantwortlichen für die Blase geholfen wird und den anderen Betroffenen nicht.

          • Stefan Pietsch 29. April 2021, 13:29

            Schön, wie Sie immer alle zu Volldeppen erklären. Dass man etwas normalerweise nicht höher beleihen kann als es gekostet hat, sollte eigentlich Allgemeingut sein. Wer nimmt ja auch schon an Kaffeefahrten teil?

            Der gescheiterte Immobilienbesitzer hat jedenfalls in der Regel keinen (nennenswerten) Verlust erlitten. Er hat höchstens für sein Wohnrecht einen (Miet-) Zins bezahlt, mehr ist wirtschaftlich nicht passiert. Warum sollte man ihm helfen? Das Recht ist günstig für ihn. Den Banken hat man meistenteils auch nicht geholfen, die sind reihenweise pleite gegangen.

            • Marc Schanz 29. April 2021, 13:42

              Dass man etwas normalerweise nicht höher beleihen kann als es gekostet hat, sollte eigentlich Allgemeingut sein. Wer nimmt ja auch schon an Kaffeefahrten teil?

              Wenn das so ein eklatanter Unsinn ist, warum haben dann die Banken mit gemacht? Und warum gibt es keine staatliche Regulierung, die einen solchen Quark verhindert?

              Der gescheiterte Immobilienbesitzer hat jedenfalls in der Regel keinen (nennenswerten) Verlust erlitten.

              Die Zwangsversteigerungen waren ein Symptom der Notlage, nicht der Auslöser. Sie mussten Zwangsversteigern, weil sie die finanzielle Last nicht mehr tragen konnten. Und die Ursache der Notlage war das Platzen der Blase.

              • Stefan Pietsch 29. April 2021, 14:45

                Ökonomen verächtlich machen, aber selbst nichts von Wirtschaft verstehen.

                Die US-GAAP (das ist in den USA Bundesrecht) sehen vor, dass Wirtschaftsgüter zu Marktpreisen zu bewerten sind. Deswegen kann eine Immobilie, die vor 5 Jahren eine halbe Million gekostet hat, heute durchaus eine Million Euro wert sein. Eine Geldgeber interessieren zwei Dinge: verfügt der Schuldner über genügend Einnahmen, um zumindest die Zinsen zu leisten. Und, deckt der Marktwert die verliehene Summe mindestens ab. Wenn die Immobilie einen Wert von 1 Million Dollar hat, warum soll man darauf nicht 750.000 Dollar Kredit geben?

                Wenn es danach ginge, dass Banken zu prüfen hätten, ob ein Schuldner ganz sicher über Jahrzehnte ein Darlehen bedienen kann, dann gäbe es keine Immobilienkredite. Das ist immer das Risiko, das der Kreditnehmer tragen muss.

                Und nein, Banken prüfen nicht, welchen tatsächlichen Wert eine Immobilie in fünf Jahren haben könnte. Das ist weder ihr Job noch können sie das. Das muss im Zweifel der Kreditnehmer schon selber.

                Einfache Regel: Kaufe nichts, das Du nicht verstehst. Denn dann brauchst Du es meist ohnehin nicht.

                Nochmal: ich verstehe das Problem nicht. Den Kreditnehmern ist in den USA weniger passiert, als ihnen in Deutschland passieren würde. Sie haben zu hohe Darlehen aufgenommen, meist davon gut gelebt und müssen nicht einmal die gesamte Rechnung bezahlen. Das tat die Bank für sie. Sie mussten nur den Haustürschlüssel abgeben, konnten aber schon wieder nach ein, zwei Jahren eine neue Immobilie erwerben – auf Kredit.

                Es gibt Schlimmeres.

                • CitizenK 29. April 2021, 15:29

                  Wenn man vom Wohnen im Auto oder im Zelt oder im Camper absieht. Aber die Amis lieben ja das Abenteuer. Besonders Kindern hat das bestimmt gut gefallen.

          • Erwin Gabriel 29. April 2021, 17:34

            @ Marc Schanz 29. April 2021, 13:24

            Es besteht hier ein erhebliches Informationsungleichgewicht. Der Hausbesitzer hat üblicherweise keinen Überblick über den Hauskreditmarkt, die Bank muss ihn haben.

            Hierzulande kauft niemand ein Haus, ohne sich zumindest ansatzweise über Möglichkeiten der Kreditaufnahme informiert zu haben. Ich muss das Geschäft nicht so gut wie ein Banker begriffen haben, um zu verstehen, dass ein Haus sich nicht selbst bezahlt.

            Wenn ich hier ein Haus für 300.000 Euro kaufe und soll das mit 1.000 Euro im Monat abstottern, weiß ich, woran ich bin. Wenn nun die Immobilienpreise steigen und mein Haus nach einem Jahr 400.000 Euro wert ist, muss ich dennoch mit 1.000 Euro im Monat die ursprünglich 300.000 Euro abstottern, das Gleiche, wenn es ein weiteres jahr sdpäter 500.000 Euro wert ist.

            Keinesfalls würde ich mein Haus nach dem ersten Jahr mit 100.000 Euro zusätzlich beleihen, um mir eine Porsche zu kaufen, und nach einem weiteren Jahr nochmal 100.000 aufnehmen, um schön Urlaub machen zu können.

            • Stefan Sasse 29. April 2021, 18:39

              Ich hab ein Haus gekauft, und hatte keinen Überblick über den Kreditmarkt. Klar hab ich zig verschiedene Angebote eingeholt und verhandelt, aber Überblick über den Markt hatte ich keinen. Was die Banken übrigens weidlich ausnutzen. Die Frechheit, mit der mancher von denen mich lächelnd über den Tisch zu ziehen versuchten war atemberaubend.

              • Stefan Pietsch 29. April 2021, 18:52

                Denkst Du, dass Du den Wert des Hauses und Deine Möglichkeiten, den Kredit besser abschätzen kannst oder Deine Bank? Bin gespannt. Marc meint: Deine Bank.

                • Stefan Sasse 29. April 2021, 19:28

                  Den Wert des Hauses kann ich überhaupt nicht schätzen. Meine Möglichkeiten den Kredit abzubezahlen kann ich denke ich gut schätzen.

                  • CitizenK 29. April 2021, 20:53

                    Hier ist eine üblich Zinsfestschreibung für 5, 10, sogar bis 15 Jahre. So viel ich weiß, ist das in den USA nicht so. Schon das macht die Einschätzung unsicher.

    • Stefan Sasse 29. April 2021, 15:47

      Schnitzer 1 beschreibt nicht den realen Zustand, sondern das dahinterliegende Ideengebäude. Ich beschreibe den liberalen Konsens. Der wurde so nie umgesetzt; das hätte ich im Artikel deutlicher machen sollen. Ich werde das für die Gesamtversion korrigieren.

      Schnitzer 2: Mir sind diese Mechaniken durchaus bekannt, nur ist das für Leute, die obdachlos werden, kein Trost. Die politischen Folgen – um die es mir ja geht – waren verheerend. Die Regierung hatte Billionen für die überschuldeten Banken, aber nicht einen Cent für überschuldete Eigenheimbesitzer*innen. Warum werden die einene gerettet und die anderen nicht? Das ist ungerecht. Für die Ungerechtigkeit gab und gibt es gute Gründe, aber zu erwarten, dass die der gebeutelten Mittelschicht einleuchten, die gerade ihren Mittelschichtenstatus verliert und in existenzielle Armut rutscht (bzw. dieses Szenario vor Augen hat) ist etwas viel verlangt, um nicht zu sagen: rettungslos naiv, wenn man es positiv sehen will, und nachgerade zynisch und empathielos, wenn man es negativ sehen will. Ich denke naiv 😉

      • Sebastian 29. April 2021, 16:15

        Syntheseversuch bez. Schnitzer 1: Evtl. haben die Finanzmärkte einfach im Einzelfall staatliche Kreditaufnahme anders als erwartet bewertet. Das ist ja die neue Kritik an Reinhardt/Rogoff bzw. ein Einwand gegen die Generalisierbarkeit: Die US-Schuldenlast steigt immer weiter, aber die Verzinsung der Staatsanleihen steigt nicht mit.

        Syntheseversuch bez. Schnitzer 2: Einerseits etwas elitistisch, was da immer noch „dem kleinen Mann bzw. der kleinen Frau“ an ökonomischer Rationalität unterstellt wird. Andererseits eben auch eine Art der Risikoteilung.

        • Stefan Sasse 29. April 2021, 18:38

          Ist auch noch ein relevanter Punkt, ja. Die ökonomischen Modelle über Staatsverschuldung waren offensichtlich nicht richtig. (Was nicht heißt, dass sie unbedenklich wäre, nur, dass die liberale Ansicht falsch lag).

          Wahr.

        • Stefan Pietsch 29. April 2021, 19:27

          Die Korrektur kam nach 2008. Aufgrund von Fakten. Nur, die Staaten fingen da an, zum eigenen Vorteil zu manipulieren. Trotz Abstürze der Bonitätsnoten und nach auftretenden Finanzierungsproblemen schickten sie die Notenbanken los. Die lieferten und drückten trotz historisch hoher Schulden weltweit die Zinsen teilweise in den Minusbereich. Kann man machen, funktioniert auch eine unbestimmte Zeit, nur irgendwann nicht.

          Nicht ohne Grund ist die Entschuldung der Staaten das heiße Thema bei Notenbankern, Finanzwirtschaftlern und Kassenwarten. Die Frage scheint nicht mehr das ob, sondern nur noch, wie man es den Bürgern beibringt.

          Der „kleine Mann“ versteht oft mehr von Ökonomie als manch linker Ökonom.

      • Stefan Pietsch 29. April 2021, 19:15

        Dieser Konsens betrifft 70 – 80 Prozent der Ökonomen auf der Welt. Tatsächlich haben die Staaten sich immer ihre eigenen Regeln geschaffen und im Zweifel ihre Bürger ärmer gemacht. Frag‘ nach in Buenos Aires.

        Fakt ist, Immobilienschuldner sind im amerikanischen Recht wesentlich besser gestellt, wenn die Sache schief geht als Immobilienschuldner in Deutschland. Auch ein Grund, warum selbst ärmere Schichten dort eher ins Risiko gehen als hierzulande. Das ist Dir keine Silbe wert, nur, wenn die Sache nicht funktioniert. Wir Deutschen freuen uns halt klammheimlich lieber darüber, dass jemand hinfällt, als das etwas gelingt.

        Wir brauchen nicht darüber zu reden, dass die Einkommensungleichheit in den USA größer ist und das soziale Netz grobmaschiger. Denn das war nicht Dein Punkt.

        In den USA wurden die Banken größtenteils eben nicht gerettet und die verbliebenen stärker als in der EU reguliert. Gerade Du als Amerika-Kenner solltest nicht diese ganzen Vorurteile verbreiten. Da ist zwar immer was dran, aber das ist auch immer nur ein Teil der Wahrheit.

        Fannie And Freddie
        Der Staat pumpte 187 Milliarden Dollar in diese Kapitalsammelstellen. Am Ende stand ein Profit von 31 Milliarden Dollar für den Staat.

        AIG
        Der Versicherer erhielt eine Kapitalspritze, welche 2012 mit 5 Milliarden Dollar Gewinn versilbert werden konnte.

        General Motors
        Allein, um eine Ikone der amerikanischen Automobilindustrie und großen Arbeitgeber zu retten, engagierte sich der Staat mit über 60 Millarden Dollar. Es wurde nicht gedankt, der Dinosaurier kostete netto 13 Milliarden Dollar.

        900 Milliarden Dollar Paket
        Hauptempfänger waren Bank of America Corp and Citigroup Inc., die jeweils 45 Milliarden Dollar erhielten. Sie zahlten es zurück mit Dividenden zurück. Insgesamt erbrachte das Paket dem Steuerzahler einen Gewinn von 23 Milliarden Dollar.

        Der Staat investierte rund 3 Billionen Dollar in die Rettung der Finanzindustrie. Bis heute erhielt er nicht nur das Geld zurück, sondern erzielte auch noch ein Plus von über 46 Billionen Dollar. Mit anderen Worten: ein wirklich gutes Geschäft für den Treasurer.

        Wenn jemand überschuldet ist, hilft es nichts, im mit mehr Krediten solvent halten zu wollen. Das Loch wird nur größer. Doch genau das war das Problem der Immobilienbesitzer: sie waren schlicht überschuldet, weil sie sich sehr häufig übernommen hatten. Meinen Freunden ist das nicht passiert, die haben noch ihre Häuser.

        • Stefan Sasse 29. April 2021, 19:30

          Ich hab das hier zugefügt bezüglich des Konsens‘:
          „In der Praxis hat sich das natürlich nie so umsetzen lassen. Jede Regierung, die mit einem solchen Programm angetreten ist, scheiterte an der Demokratie, denn diese Idee ist vor allem eines: unglaublich unpopulär. Wann immer also tatsächlich gefordert war, das alles umzusetzen, scheiterte es an den geliebten Besitzständen und den Realitäten des Wählendenwillens.“

          • Stefan Pietsch 29. April 2021, 19:41

            🙂

            • Stefan Sasse 29. April 2021, 22:13

              Passt das dann für dich?

              • Stefan Pietsch 29. April 2021, 22:29

                Lieber Stefan, ich kritisiere Deine Texte nicht, dass Du sie nachher korrigieren musst. Dafür ist mein Respekt vor Dir dann doch viel zu groß. Denn jetzt fühle ich mich mies das so thematisiert zu haben.

                Jede Formulierung ist in Ordnung, wirklich.

                Es gibt sehr lange Linien der Politik und Brüche sind eher selten. Das gilt insbesondere für Schuldenstrategien der demokratischen Staaten. Neoliberalismus hin, Keynesianismus her. Wichtiger als die Formulierung ist daher irgendwann mal der Punkt: wollen wir diese Linie eigentlich ewig? Und gibt es Beispiele, dass die Geschichte auch ein gutes Ende finden kann?

                Alles gut. Meine heftige Kritik tut mir leid.

                • Stefan Sasse 30. April 2021, 07:49

                  Oh nein, danke für die netten Worte, aber an der Stelle unnötig! Ich will ja das bestmögliche Argument bringen, und wenn du missverstehst, was ich sagen will, dann hab ich versagt. Deswegen wollte ich wissen ob so verständlicher ist worauf ich raus will.

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