Teil 0 mit einleitenden Bemerkungen ging diesem Artikel voraus.
Im Jahr 1997 gründeten Dick Cheney, Robert Kagan und Bill Kristol den Thinktank „Project for a new American Century“. Die Denkfabrik, die schnell auf eine prominente Mitgliederliste verweisen konnte, die zahlreiche spätere Mitglieder der Bush-Regierung sowie viele ehemalige Reaganites enthielt, formulierte in einem „statement of principles„:
As the 20th century draws to a close, the United States stands as the world’s preeminent power. Having led the West to victory in the Cold War, America faces an opportunity and a challenge: Does the United States have the vision to build upon the achievements of past decades? Does the United States have the resolve to shape a new century favorable to American principles and interests? […] We seem to have forgotten the essential elements of the Reagan Administration’s success: a military that is strong and ready to meet both present and future challenges; a foreign policy that boldly and purposefully promotes American principles abroad; and national leadership that accepts the United States‘ global responsibilities.
Bereits 2006 wurde die Denkfabrik wieder aufgelöst, nicht ohne sich den berechtigten Ruf erarbeitet zu haben, eine der einflussreichsten Lobbyorganisationen aller Zeiten gewesen zu sein. Spätestens mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten 2016, der eine Strategie des „America First“ und eine völlige Ablehnung wertebasierter Außenpolitik formulierte, war diese Theorie am Ende. Das „neue amerikanische Jahrhundert“ hatte also kaum zwei Jahrzehnte geschafft. Das war mehr als das tausendjährige Reich zustandebekommen hatte, zugegeben.
Aber da die USA nicht einen Weltkrieg entfesselt und verloren hatten, stellt sich durchaus die Frage, was hier passiert ist. Warum wurde das kraftstrotzende Amerika, das in den 1990er Jahren eine Stellung als „Weltpolizist“ beanspruchte und eine „unipolare Weltordnung“ durchzusetzen gedachte, innerhalb zweier Dekaden zu einer Macht, die erst ihr Heil in einem neuen Multilateralismus zu finden hoffte und dann einen radikalen Schwung zum Nationalismus hinlegte?
Die erste Ursache liegt sicherlich im „War on Terror“ begründet. Nach dem Angriff auf das World Trade Center 2001 genoss Amerika eine Welle internationaler Sympathie und Solidarität, die sich sogar auf globale Rivalen wie Russland erstreckte. In schneller Folge wurde Afghanistan angegriffen, wo man die Herrschaft der Taliban beendete, die Osama bin Laden und seiner Al Qaida Unterschlupf gewährt hatten.
Dieses Kapital verschwendete die Regierung allerdings schnell, als sie mit aller Gewalt auf Krieg gegen den Irak drängte. Ohne Chance auf ein UN-Mandat entschied sich die Bush-Administration, den Völkerrechtsbruch stattdessen als Tugend zu verkaufen und sich als hemdsärmelig handelnder Weltpolizist mit einer „Koalition der Willigen“ allein an den „regime change“ zu machen. Das Ziel war ambitioniert: der Irak sollte befreit und in eine liberale Demokratie verwandelt werden, ein Modell für die Umgestaltung der gesamten Region.
Wo der Afghanistankrieg noch als Verteidigung hatte gerechtfertigt werden können (man denke an Peter Strucks berühmte Worte, Deutschland werde „auch am Hindukusch verteidigt“), war der Irakkrieg ein klar aggressiver Akt, der dazu diente, eine Nation nach dem Willen ihrer Eroberer umzuformen. Hierfür konnten die USA nicht einmal ihre Verbündeten zuverlässig mobilisieren. Frankreich und Deutschland versagten ihm die Gefolgschaft, wenngleich die Rekrutierung besonders Osteuropas aber bereits auf deutliche Defizite in der europäischen Integrationskraft hindeutete (mehr dazu in Teil 4).
Der Versuch, die fehlende Unterstützung mit umso markigerem Auftreten zu kaschieren, zerschlug weltweit eine Menge Porzellan. Das positive Image der USA erhielt innerhalb weniger Monate einen Schlag, von dem es sich bis heute nicht erholen konnte. Der Anti-Amerikanismus feierte weltweit fröhliche Urständ; 2002 sollte Gerhard Schröder damit eine Wahl gewinnen, eine Leistung, die er 2005 beinahe wiederholt hätte („Wer Frieden will, muss standhaft sein“, plakatierte die SPD seinerzeit). Es war, als hätte sich die Nation eine Maske vom Gesicht gerissen. Der „hässliche Amerikaner“ (ugly American) stand vor aller Welt als Kriegstreiber dar, wie es seit den Vietnamprotesten der 1960er Jahre nicht mehr gesehen worden war. Immerhin blieb uns eine Solidaritätswelle mit Saddam Husseins Regime erspart.
Militärisch und machtpolitisch dagegen schien sich der Zug auszuzahlen. Noch 2003 konnte George W. Bush, sich als „Kriegspräsident“ inszenierend, in Fliegermontur auf einem Flugzeugträger unter einem riesigen Banner verkünden, dass die Mission abgeschlossen sei („mission accomplished„). Selten war die Haut des Bären so offenkundig verkauft worden, bevor man ihn erlegt hatte. Zwar war das morsche Hussein-Regime unter dem Hammerschlag des geradezu lächerlich überlegenen US-Militärs schnell in sich zusammengefallen, Hussein selbst bald gefangen und hingerichtet, aber die versprochene Demokratisierung wollte sich nicht einstellen. Stattdessen begann im Irak ein Bürgerkrieg, der bis heute noch nicht abgeschlossen ist und der ohne Intervention anderer Mächte wohl längst zur Auflösung des Landes geführt hätte.
Damals aber galt immer noch die Devise, dass man gegen den weltweiten Terrorismus kämpfe. Wen auch immer amerikanische Militär im Irak tötete, war genauso per Definition ein Al-Qaida-Terrorist wie in Vietnam beim bodycount nur Vietcong gezählt wurden. Diese Fiktion, die Bush 2004 noch einen klaren Wahlsieg ermöglichte, brach nur Wochen später zusammen. In der „zweiten Schlacht von Falludjah“ im Dezember 2004 kämpften die USA in den „heftigsten Stadtkämpfen seit der Schlacht um Hué 1968“, dem blutigsten Einzelgefecht des ganzen Krieges, bereits vollständig gegen Aufständische, die nichts mehr mit dem Ba’ath-Regime oder Al-Qaida zu tun hatten. Die Fiktion, dass das Land in einem überschaubaren Zeitraum befriedet werden könnte, endete für viele Beobachter*innen auf den Schlachtfeldern der Stadt.
Der Irakkrieg blieb jedoch durch die ganze Bush-Regierung hindurch ein Dauerthema. 2006 wurde die Zahl der US-Truppen massiv aufgestockt (die „surge„), wodurch die Gewalt kurzfristig ein wenig zurückging. Den Neocons gilt die „surge“ seither als Beweis, dass der Irakkrieg hätte gewonnen werden können. Im Wahlkampf 2008 versuchte John McCain, einer der stärksten Proponenten dieser Politik, damit Punkte zu machen, konnte aber bereits gegen Obamas Ablehnung des Krieges und seiner Ankündigung, im Fall seiner Wahl die Truppen aus dem Irak abzuziehen, bereits nicht mehr ausrichten. Im Wahlkampf 2012 vermied Mitt Romney das Thema bereits, während Donald Trump 2015 seinen Konkurrenten Jeb Bush offen damit angreifen konnte, den Krieg unterstützt zu haben. Das ist ein massiver Meinungsumschwung innerhalb einer sehr kurzen Zeit.
Dieser Meinungsumschwung betraf nicht nur den Irak. Die Rechtfertigung des Krieges als Projekt des „regime change„, dem Gestalten einer ganzen Region nach amerikanischen Prinzipien, wurde damit ein tödlicher Stoß versetzt. Das „neue amerikanische Jahrhundert“ war bereits 2006/2007 am Ende. Das Töten und Sterben im Irak ging weiter und zieht sich bis heute fort, wenngleich unter ständig wechselnden Vorzeichen. Aber der Legitimitätsverlust, den die Intervention mit sich brachte, zeigte bereits kurze Zeit später deutliche Konsequenzen.
Als 2011 im Rahmen des beginnenden „Arabischen Frühling“ ein Aufstand gegen den lybischen Diktator Gaddafi ausbrach, hielten sich die USA bereits merklich zurück. Obama, der die Devise des „leading from behind“ ausgegeben hatte, drängte die europäischen Verbündeten, diesen Konflikt selbst zu regeln. Dies schlug spektakulär fehl (siehe Teil 4). Anstatt beim Schutz Benghasis zu bleiben, der durch ein UN-Mandat geregelt war, setzten sich innerhalb der US-Administration aber diejenigen Kräfte durch, die eine Maximallösung begrüßten.
Der folgende Luftkrieg beseitigte zwar Gaddafi. Er schürte aber gleichzeitig neues, weltweites Misstrauen (siehe Teil 3) und fachte einen Bürgerkrieg in Libyen an, der bis heute nicht abgeschlossen ist und der das Land in einen Tummelplatz von Stellvertreterkriegen gemacht hat. Von der Türkei über Russland zu Italien haben zahlreiche Regionalmächte irgendwelche bevorzugten Milizen und verschleppen jede Auflösung des Konflikts ins Unendliche.
Das Libyen-Desaster führte zu einer endgültigen Abkehr von großen Interventionen, die sich dann 2012 in Syrien zeigte: Obwohl der syrische Diktator die „roten Linien“ der US-Regierung überschritt und in brutalen Massenmorden gegen die eigene Bevölkerung vorging, fand sich in den USA keine Mehrheit mehr für eine Intervention. Bemerkenswert ist, dass selbst die Republicans, die noch kaum sechs Jahre vorher mit Begeisterung zehntausende Soldaten in die Region mobilisierten, nun kein Problem hatten, jede Intervention zu verurteilen – ein Sinneswandel, den Kandidaten wie Jeb Bush 2015 völlig übersahen und der die Türe für Trump öffnen half.
Militärisch waren die USA immer noch die unangefochten stärkste Nation der Welt. Aber der Glaube an die Kapazitäten dieser Armee war schwer erschüttert, die Grenzen amerikanischer Militärmacht deutlich aufgezeigt. Seither ist ein klarer Strategiewechsel auszumachen .Es geht mehr um Verteidigung der eigenen Interessen, um das Eindämmen möglicher und aktueller Rivalen und das Abschrecken von Konflikten. Zwar feuert man noch den einen oder anderen Marschflugkörper in Bürgerkriege hinein, aber „boots on the ground“ finden sich dort nicht mehr.
Diese Krise des amerikanischen Selbstvertrauens (oder seine Gesundschrumpfung, je nach Sichtweise) erstreckte sich aber nicht nur auf den militärischen Bereich. 2005 tobte der Hurrikan Katrina über der amerikanischen Südostküste und verheerte besonders die Metropole New Orleans in Louisiana, einem der ärmsten US-Bundesstaaten. Dass die noch nie sonderlich funktionsfähige Infrastruktur des Bundesstaates zusammenbrechen würde, konnte niemanden überraschen. Sehr wohl dagegen die katastrophale Reaktion der Bundesbehörden.
Nicht erst seit 9/11 waren diese mit einer gewaltigen Machtfülle ausgestattet worden, die innerhalb der USA für zahlreiche Proteste gesorgt hatte. Unter Bush war eine komplett neue Mega-Behörde, das „Department of Homeland Security„, entstanden. Doch während die massiven Gelder dort der Abwehr echter oder eingebildeter terroristischer Bedrohungen investiert wurden, wurden die Budgets anderer Behörden im Einklang mit der Ideologie der Konservativen massiv zusammengestrichen – unter anderem das der Katastrophenschutzbehörde FEMA.
Der Zusammenbruch dieser Infrastruktur und die anarchischen Zustände im Katastrophengebiet enthüllten deutlich die innere Verfasstheit der USA, die eher einem Entwicklungsland als einer Supermacht angemessen schien. Ohne die Katastrophe überbewerten zu wollen zeigte sich aber exemplarisch, wie wenig die Kompetenz Amerikas dem oftmals propagierten Leitbild entsprach.
Die größten Langzeitfolgen für die Position der USA dürfte aber das fast gleichzeitige Scheitern der Handelsabkommen TTIP und TPP haben.
Das „Trans-Atlantic Trade and Investment Partnership“ sollte ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA sein, das Handelshemmnisse zwischen den beiden größten Wirtschaftsräumen der Erde abbauen und die wirtschaftliche Integration stärken sollte. Dieses Abkommen stieß zunehmend auf höhere Hürden politischer Natur. Die Institution der Schiedsgerichte sorgte für Kritik, aber wesentlich stärker nahmen sich populistisch-reißerische Attacken der Boulevardpresse aus. In Deutschland besonders prominent pushte die BILD das „Chlor-Hühnchen“ und das Grünen-nahe Alternativenmileu die Ablehnung genetisch modifizierter Landwirtschaftsprodukte. Auch in den USA wurde mit solchen Ängsten Kapital geschlagen.
Die Verabschiedung des Abkommens, das durch ständig neue Verhandlungsrunden modifiziert wurde, verzögerte sich eins ums andere Jahr. Am Ende stand zunehmend in Zweifel, ob die Ratifizierung in allen EU-Staaten würde gelingen können; mehrere Regierungen waren wenigstens unsichere Kandidaten. Auch in den USA verlor es zunehmend Unterstützer*innen. Als Trump Präsident wurde, war das Abkommen dann auch klinisch tot.
Wesentlich einseitiger verlief dagegen die Entwicklung der „Trans Pacific Partnership“, die so disparate Partner wie Australien, Vietnam und Südkorea mit den USA in eine gemeinsame Freihandelszone bringen sollte. TPP war integraler Bestandteil von Obamas „pivot to Asia„, einer strategischen Neuausrichtung der USA auf den pazifischen Raum und, vor allem, der Eindämmung Chinas. Die betroffenen Staaten waren aus diesen geopolitischen Erwägungen heraus mehr als daran interessiert, sich stärker in die amerikanische Sphäre zu integrieren.
Trump zog nach seiner Wahl auch hier den Stecker. Die Tatsache, dass die anderen Staaten auch ohne die USA das Abkommen zu Ende brachten zeigt, dass – anders als bei TTIP – die TPP ein rein amerikanischer Rückzug war. Ob Biden die USA in das Abkommen zurückführen wird bleibt offen. Die Eindämmung Chinas jedenfalls ist ein Fixpunkt amerikanischer Außenpolitik seit der Obama-Ära, wird aber bislang ohne eine kohärente Strategie verfolgt. Das Bekenntnis der Supermacht zum Pazifik aber geht stets einher mit einem Rückzug aus Europa und dem Nahen Osten. Der globale Führunganspruch, der globale Machtanspruch, wie ihn noch George W. Bush mit Selbstvertrauen und Selbstverständlichkeit vertreten hatten, war bereits unter Obama einem Realismus der eigenen beschränkten Möglichkeiten gewichen.
Das Scheitern der beiden Handelsabkommen aber sollte für die USA eher Baustein des liberalen Gebäudes sein, unter dem die amerikanische Politik bis dahin selbstverständlich gehandelt hatte. Dieses Gebäude wurde 2007 von einem Erdbeben erschüttert, das es zum Einsturz bringen sollte. Von den USA als Epizentrum breitete sich zum zweiten Mal innerhalb von 80 Jahren eine Weltwirtschaftskrise über den Globus aus, die die liberale Weltordnung in ihren Grundfesten erschütterte.
Weiter geht es in Teil 2.
@ STEFAN SASSE on 26. APRIL 2021
Vielen Dank für den spannenden Überblick!
… und sich als hemdsärmelig handelnder Weltpolizist mit einer „Koalition der Willigen“ allein an den „regime change“ zu machen.
…
war der Irakkrieg ein klar aggressiver Akt, der dazu diente, eine Nation nach dem Willen ihrer Eroberer umzuformen.
Vielleicht hatte ich das damals missverstanden, aber war nicht das explizite bzw. ausschließliche Kriegsziel, Saddam Hussein zu vernichten; war „Nation Building“ im Irak nicht etwas, auf dass man sich unter keinen Umständen einlassen wollte?
Ansonsten, ganz grundsätzlich, halte ich 9/11 für einen wichtigen Punkt im Niedergang. Es mag nicht der Moment der Bombenexplosion gewesen sein, aber der Moment, wo die Zündschnur Feuer fing. Die USA haben sich übernommen, weil die Entscheidungen der Bush-Administration durch Wunschdenken bestimmt wurden. „Katharina“ hat sicherlich viel stärker nach innen gewirkt, Irak und Syrien sicherlich stärker nach außen. Aber genauso, wie Deutschland sich wer weiß was für Wunderdinge auf den eigenen funktionierenden Staat eingebildet hat und durch die Corona-Krise eines Besseren belehrt wurde, so zeigte die Realität auch den Amerikanern ihre durch Unterlassungen eng gewordenen Grenzen auf.
PS: Ich verstehe jetzt besser als in der Ankündigung, warum Du nicht bei 9/11 anfangen willst, und rücke Dir da gedanklich etwas näher. Aber Vieles nach diesem Datum folgte Zwangsläufigkeiten, die sich aus der gefährlichen Mischung von militärischer Stärke und dem Gefühl von Ohnmacht, aber auch aus den handelnden Personen ergaben.
Das war mission creep. Zu Beginn ging es nur um die Vernichtung der WMDs. Als es keine gab, war es regime change. Dann wurde die weitere Präsenz mit nation building begründet („winning the hearts and minds of the Iraqi people“, wie die Phrase lautet, musst du ja nicht wenn du nicht vorhast da nation building zu betreiben).
Stimme dir bei der Bedeutung von 9/11 für die beschriebenen Ereignisse völlig zu! Nur kann man kaum behaupten, dass 9/11 ein verdrängtes Ereignis wäre. Die Schlacht von Falludja dagegen?
@ Stefan Sasse
Zustimmung.
Aber nur aus Neugier: was ändert das Verdrängen von Falludja an der Bedeutung? Die Welt verstand, wie man die Amerikaner dran kriegen kann, und die Amerikaner verstanden das auch. Das Ergebnis ist in den Köpfen, selbst wenn der Anlass verdrängt wurde.
Ich hoffe, diese Frage am Ende des Artikels beantwortet zu haben. Noch ein wenig Geduld!
Ok 🙂
erwartungsvolle Grüße
E.G.
Oh, der Druck der Erwartungshaltung! 😀
Vielleicht hatte ich das damals missverstanden, aber war nicht das explizite bzw. ausschließliche Kriegsziel, Saddam Hussein zu vernichten; war „Nation Building“ im Irak nicht etwas, auf dass man sich unter keinen Umständen einlassen wollte?
Es gab damals zwei Strömungen, eine im Pentagon und die andere im State Department. Im Pentagon gab es durchaus eine vage Vorstellung über eine Demokratisierung des Nahen Ostens, auch wenn da natürlich eine schöne Fassade zur Übertünchung von knallharten realpolitischen Interessen dabei war – so hätte auch der ideologisch versierteste „Neoconservative“ keinesfalls einen „regime change“ in z.B. Saudi-Arabien oder Aegypten unterstützt.
Bush selber war außenpolitisch vor seiner Präsidentsschaft ein eher unbeschriebenes Blatt, zeitweise neigte er dann zu den Neokonservativen, davor und danach aber auch zu den Realisten im State Department. Interessant ist, sich heute Videos aus Bushs Wahlkampf von 2000 anzusehen. Dort äußerte er sich sehr verächtlich über das „Nation Building“-Konzept. Ich habe ja die Theorie, dass Bushs Außenpolitik vor 9/11 gar nicht mal so unähnlich zu Trump war: beide waren extrem skeptisch gegenüber internationalen Organisationen und Multilateralismus, beide wollten sich nur militärisch engagieren, wenn amerikanische Interessen betroffen sind (America First!), beiden wollten die Grenze zu Mexiko verstärken, sich aus dem Nahost-Friedensprozess zurückziehen (von Bush kam die Aussage, dass er anders als Clinton nicht plant, Camp David als Hotel zu nutzen), Sanktionen gegenüber Kuba aufrecht erhalten (Trump hat sie prompt wieder eingeführt). Und anders als sein Vater sah Bush II. China mehr als Feind denn als Wettbewerber. Vielleicht war die kurze Phase der „Neocons“ eben nur eine Episode.
Ja, das ist nicht falsch. Vor 2001 war Bush außenpolitisch komplett uninteressiert. Auch, wenn das heute – wait for it! – verdrängt ist, trat Bush 2000 mit einem rein innenpolitischen Programm zum Wahlkampf an. Er versprach WENIGER Interventionen und außenpolitisches Engagement als Clinton! Ironie der Geschichte. (Hat er auch mit Johnson gemeinsam, witzigerweise.)
Die Idee eines neuen Jahrhunderts Amerikanischer Werte erscheint aus der Rückschau einfach nur lächerlich. Schon im Kalten Krieg gewannen sie ja die Herzen der Bevölkerungen nur in Ländern, die sie entweder militärisch besiegt hatten (BRD, Japan), von ihnen extrem militärisch abhängig waren (Südkorea) oder Irland heißen. Der Vietnam-Krieg war ein einziges Desaster. In Indonesien und Südamerika stützten sie Putschisten, unter denen „amerikanische Werte“ so viel galten wie auf Tomas Jeffersons Zuckerrohrfeldern.
Werte sind stark durch historische Erfahrungen geprägt. Die sind halt in verschiedenen Ländern unterschiedlich.
Die modernen Freihandelsverträge haben ein strukturellles Problem: Im Rahmen des GATT und später in der WTO wurde der Welthandel schon sehr stark dereguliert. Man stößt da an Grenzen:
– Das deutsche Reinheitsgebot beim Bier ist eigentlich auch eine nicht-tarifäre Handelsbarriere, stellt aber natürlich gleichzeitig einen unschätzbaren kulturellen Wert dar.
– Für den Erfolg solcher Gespräche stellt Diskretion eine wichtige Bedingung dar. Wenn die deutsche Verhandlungsdelegation etwa bereit wäre das Reinheitsgebot zu kippen, würden die Bierbrauer-Lobby heiss laufen, um ein solches Verhandlungsergebnis zu verhindern. Das konterkariert aber die steigenden Bedürfnisse der Öffentlichkeit nach Transparenz.
– Global agierende Konzerne erhalten durch eigene Schiedsgerichts-Verfahren im Falle von Konflikten über Investititionen noch mehr Macht. Aus Sicht vieler Bürger besitzen diese Konzerne aber über sowieso schon zu viel Macht.
Heute wird über die „neoliberale“ Perspektive auf Freihandelsverhandlungen sehr hart geurteilt. Man kann sich vielleicht mit Gewinn einmal darüber informieren, wieso Menschen diese entwickelten. Bhagwati, Protectionism wird für nicht mal 2 Hand voll Euros auf der Webseite des bekannten Buchhändlers verramscht.
@ Lemmy Caution 26. April 2021, 16:59
Grundsätzlich alles richtig. Aber ich denke, dass der Bericht hauptsächlich aus unserer „westlichen“ Werte-Warte verfasst wurde, und es passt für die Betrachtung ganz gut. Dass die großen USA-Fans weder in Rußland noch in China sitzen, war vorher so, und wird jetzt erst recht so bleiben. Aber die westliche Welt hatte früher eine Führung, und die ging verloren. Für uns macht es den Unterschied.
Ich denke, du urteilst zu harsch. Die amerikanischen Werte haben eine gewaltige Anziehungskraft besessen, die die USA selbst als reichlich heuchlerisch auftretender Akteur vielleicht nicht für sich verbuchen konnten. Aber große Teile der Weltbevölkerung wollten (und wollen!) zumindest in Teilen so sein wie die Amerikaner. Ihr Wohlstand, ihr Lebensstandard war und ist der Traum von Milliarden. Das war eben lange Zeit generell mit „amerikanischen Werten“ verknüpft und ist es mit Ausnahme Chinas immer noch. Als der Eiserne Vorhang fiel, wollten die Osteuropäer nicht Deutsche werden, sondern Amerikaner (aber dazu mehr in Teil 4!). Gleiches gilt für die meisten Entwicklungs- und Schwellenländer. Es ist nicht ohne Grund, dass die antikapitalistischen Bewegungen immer Splittergruppen blieben, die Alternativen sowieso.
Alles richtig IMHO, was amerikanische Werte betrifft.
Zitat
„Das war eben lange Zeit generell mit „amerikanischen Werten“ verknüpft “
Nicht nur verknüpft, meine ich, vielmehr war eigentlich beim Normalbürger außerhalb der politischen Klasse NUR das gemeint – was ja nichts Falsches und nichts Böses ist – und das weltweit, denn dieser Wert ist mit allen sonstigen Traditionen kompatibel.
Alles etwaige „Philisophische“ drüben stammt eh aus Europa, aber in Europa wiederum, namentlich in Deutschland, war Antiamerikanismus stets eine konservative Domäne: Zu platt, zu oberflächlich, zu ungebildet und so weiter sei da drüben alles; es fehle das Tiefe, Eigentliche, die „wahren Werte“.
Von links und namentlich 68er-mäßig war das gar nicht so viel anders; lange Geschichte. Es ist in dieser Sache im Übrigen kein weiter Weg zwischen verhasst und auch-haben-wollen; nicht unbedingt logisch, aber in der Politik liegt eh nicht viel Logik.
Zitat:
„und ist es mit Ausnahme Chinas immer noch.“
Wieso Ausnahme ? Machtsicherung durch Konsumerismus war Deng Xiaopings Konzept. Eigentlich hätten diese Option alle Oberhäupter – insoweit man pragmatisch denkt – weltweit gerne, denn dann hat man „oben“ seine Ruhe.
Und die Irak/Afghanistan-Sache: Im Gunde Vietnam bzw. Great Game reloaded. Irgendwie ist halt alles zyklisch, hienieden.
Es ist halt bezeichnend, wie wenig attraktiv Anti-Konsumerismus immer war und bleibt, nicht? ^^
In Lateinamerika wollen sehr viele Menschen nicht US-Amerikaner werden. Gegenüber realen Chilenen verteidige ich die USA erstaunlich oft.
Großes Vorbild sind dort „Los países nordicos“ (Skandinavien) und in letzter Zeit von völlig unterschiedlichen Leute eine tiefe Zuneigung zu Deusche Welle. Schon der christdemokratische Präsident Eduardo Frei tat in den 60ern Jahren alles, um die massive Unterstützung seitens der Kennedy und Johnson Regierungen zu verdecken. Nach dem Putsch wurde die Wahrnehmung der USA eher negativer.
Polen bewundern vielleicht die USA, die Balten brauchen die für ihre Existenz, aber andere Ost-Europäer sehen das schon wieder anders.
Vincent Bevins „The Jakarta Method“ hat aktuell 432 fast nur 5 Sterne Bewertungen beim bekannten Buchhändler…
@Lemmy Caution
Die meisten Chilenen, wäre meine Vermutung, hatten nach langen, harten Jahren durch den Wahlsieg Allendes zum ersten Mal Hoffnung auf ein besseres und würdevolleres Leben. Diese Hoffnung wurde von den Amerikanern brutal zerstört. Sie platzierten mit Pinochet eine extrem repressive Diktatur.
Hätte mich von deren Lebensstil auch nicht so überzeugt.
@Erwin Gabriel,
ist off-topic, aber Du bist hier ein wenig das Opfer von Anti-Imp-Propaganda.
Die Dinge sind viel komplizierter. Hier meine Kurz-Version:
1964 bis 1970 stellten die Christdemokraten den Präsidenten. Die chilenischen Christdemokraten sind linker als die deutsche CDU. Sie führten eine Menge Sozialreformen wie z.B. die massivste Landreform der lateinamerikanischen Geschichte durch.
In Chile wird Allende auch von vielen Linken viel kritischer gesehen. Seine Wirtschaftspolitik war ein typisches und sogar extremes Beispiel des Lateinamerikanischen Populismus, d.h. 15 Monate läuft alles prima und dann mündet Staatsverschuldung & Inflation in einer tiefen Wirtschaftskrise.
Es ist zwar richtig, dass eine durch die Niederlage im Vietnamkrieg wenig besonnene US-Regierung Kreditlinien strich, oppositionelle Medien unterstützte und Streik-Kassen auffüllte, allerdings erklärt dies die zunehmend chaotischeren Verhältnisse in Chile nur eben sehr teilweise. Allende hatte zwar viel Unterstützung in der Bevölkerung aber zu keiner Zeit wirklich eine Mehrheit, was durch Wahlergebnisse belegt ist.
Pinochet wurde auch nicht von den USA „plaziert“. Bereits unmittelbar nach der Wahl bildeten sich unter den Militärs Kreise, die gemeinsam an dem Sturz der Allende-Regierung arbeiteten. Die USA war teilweise über die Pläne informiert, steuerten diese aber in keinster Weise. Gegen den Putsch gab es dann aus der Bevölkerung keinen massiven Widerstand, zumal die gegen die professionellen Militärs ohnehin keine Chance hatten. Innerhalb der Militärs gab es eine starke pro-putsch Haltung, so dass die verfassungstreuen Kräfte spätestens im Süd-Winter 1973 aus Machtpositionen verdrängt waren.
Dies alles rechtfertigt weder die brutalsten Folterungen und Morde nach dem Putsch noch die hohe Toleranz weiter Teile der US Regierung für dieses Vorgehen, die sich damit auch für einen Anspruch auf moralische Weltführung disqualifizieren. Aber Allende sollte man durchaus auch kritisch sehen.
Nicht wenige Chilenen übertreiben heute aus meiner Sicht das Gewicht der USA in den Ereignissen.
Lebensverhältnisse einer Gesellschaft verbessern sich nicht, indem sie von einem messianischen Vogel befreit wird sondern in einem langen und komplexen historischen Prozess. In Chile verbesserte sich zwischen 1985 und 2002 die Lage für viele sehr deutlich, danach nur noch ein wenig.
Heute liegen die Chancen in anderen Bereichen, die von der aktuellen Elite nicht wirklich gesehen werden. Mein realistischer happy case für die nächsten Jahre wäre, dass moderate Kräfte auf Seiten der Rechten und Linken auch auf Druck der Straße die notwendigen Reformen umsetzen. Its a long and winding road. Und sie muss von der chilenischen Gesellschaft selbst beschritten werden. Der Glaube, dass da eine Laterne US-amerikanischer Werte eine Orientierung geben könnte, halte ich für absolut ahistorisch, asoziologisch und damit für aberwitzig.
Danke für den Kontext. Erinnert mich an den Sturz Diems 1964. Man hat den Putsch nicht aktiv betrieben, aber davon gewusst und es geschehen lassen, in der Hoffnung, die neue Regierung möge besser sein.
Ok. Die CIA versuchte zunächst den Amtsamtritt Allendes durch eine tödliche Entführung des Armee-Chefs verhindern. Die Operation scheiterte aber.
Es gibt noch die rätselhafte Ermordung des eher konservativen Christdemokraten und ex-Innenminister Edmundo Pérez Zujovic durch eine kuriose linke Gruppe 1971, der wichtig für den Bruch der Christdemokraten mit der Unidad Popular war. Manche halten es für möglich, dass dies eine false flag Operation der CIA war. Gibt dafür aber absolut null Beweise, was die Theorie allein angesichts der vielen declassified Dokumenten unwahrscheinlich macht. Zwischen 1964 und 1973 herrschte ein Klima einer extremen und meist sehr radikalen Politisierung der Gesellschaft. Es gab damals viele dieser kuriosen und oft auch zumindest verbal gewaltbereiten linken Gruppen.
Die US-Gelder an die Zeitung El Mercurio beliefen sich im einstelligen Millionen-Bereich, die Hilfen an die Streikenden im Transportsektor auch. Letztere waren oft Einzel-Unternehmer. Ich kannte mal die Tochter von einem der damals Streikenden. Die ganze Familie war echt schon ziemlich rechts, aber der Mann fühlte sich auch wirklich micromanaged durch die ihm sowieso verhaßte. Hab mit dem länger darüber geredet. Die Regierung gab die Preise sehr genau vor und berücksichtigte zu wenig die Reperatur-Kosten, Leerfahrten, Risiken von Unfällen auf den damals ziemlich schlechten Straßen auch im Kontext der gallopierenden Inflation.
Die Phase ist von ausgezeichneten chilenischen Zeithistorikern unglaublich detailliert und anhand vieler Interviews durchleuchtet.
Danke!
@ Lemmy Caution 27. April 2021, 09:50
Hallo Lemmy,
ich hatte mir noch verkniffen zu schreiben, dass man wohl nur spekulieren könne, wie Allendes Politik ausgegangen wäre, wenn er sie hätte umsetzen können, aber ich wollte niemandem von den Anwesenden auf die Füße treten. 🙂
So kurz der Überblick von Dir auch sein mag, so steht doch an Zusammenhängen mehr drin, als ich je von anderer Seite erfahren habe.
Ich werde das nächste mal zurückhaltender sein, wenn ich „nur“ Hörensagen-Meinungen habe (andererseits habe ich eine Antwort bekommen, die mich klüger macht …).
In jedem Falle: DANKE!
Wenn Du so informationsdicht schreiben kannst, mach doch auch mal ein Thema, etwa zur Politik in Chile / Südamerika? Den Stil würde ich gerne lesen.
Wollte ich auch schon fragen.
meld mich im Mai/Juni, wenn mich die Erwerbsarbeit weniger aufsaugt.
Danke!
Alles gut.
Es existiert sowas wie eine populäre mentale mind map der Weltkarte. Der Putsch 1973 war ein Ereignis, das die Weltöffentlichkeit beschäftigt hat. So ein Thema wird dann irgendwann abgehakt mit eine paar Bullet-Points. Es ist völlig normal, dass Deutsche da nicht weiter über die Geschichte eines 11.000 km entfernten Landes nachgrübeln.
Ich bin aber aus persönlichen Gründen mit dem Land verbunden, habe ein hohes Interesse an Geschichte und bin deshalb immer wieder in das Kaninchen-Loch gestiegen, um diese Ereignisse mir selber verständlich zu machen. Zu diesem Thema habe ich mir selber einen tiefen Hintergrund verschafft. Bis heute erscheinen in Chile immer wieder Bücher, die den Putsch als eins ihrer wichtigen Themen haben. Eigentlich begegne ich da immer neuen überraschenden Aspekte.
Wie alle Spezialisten rede ich gerne über „mein“ Feld.
Aus der anderen Perspektive ist das nicht anders. Chilenen haben Überzeugungen über bestimmte deutsche Phänomene wie als Beispiel Immigranten aus islamischen Ländern und deren Lebensbedingungen und Verhaltensweisen, Angela Merkel oder zuletzt in einer größeren Diskussion über paritätische Mitbestimmung, die mich zu einer Kommentierung motivieren.
Its not about winning an argument on the internet. Ich will nicht klugscheißermässig rüberkommen.
Wie gesagt, die USA selbst – als Land, als Nation – sind reichlich unbeliebt. Die amerikanischen Werte dagegen sind es nicht so sehr. Lateinamerika hat allen Grund, die USA nicht zu mögen. Chile sowieso. Aber Starbucks und McDonalds sind doch willkommen.
Burger sind nicht so verbreitet.
Beim Fastfood dominieren Empanadas (gefüllte Teigtaschen) und entsetzliche „Completos“ (hotdog mit z.T. Avocada-Soße und extrem viel majo)
Sehr beliebt sind allerdings Netflix und Hollywood.
Und Studien Aufenthalte im fortgeschritteneren Alter bei US-Universitäten seitens der mitte-linken und linken Inteligentia (Fernando Paulsen, meine Eiskönigin Alejandra Matús).
Sonst ist echt vieles auf Europa fixiert. Unter den Rechten fasziniert AFD oder Vox viel stärker als etwa Trump. Allenfalls punktet noch National Rifle Association.
Du weißt ja, was ich meine. McDonalds war halt früher mal so ein Riesensymbol. Der Fraß ist ja zum Glück auf dem absteigenden Ast.
Gute Idee, die Serie mit PNAC zu beginnen.
Sehr unwahrscheinlich allerdings der Gedanke, TTIP wäre an einer erbärmlichen Geschichte der ‚Bild‘-‚Zeitung‘ mit ihren ‚Chlor-Hühnchen‘ gescheitert. Ausschlag gebend waren wohl eher die letzten Skrupel der europäischen Politik, sich selbst völlig abzuschaffen und die Entscheidung über wichtige Bereiche des Lebens und der Wirtschaft an selbsternannte ‚Schiedsgerichte‘ abzugeben. (Und im Übrigen, Fleischprodukte mit Hilfe von chemischen Hilfmitteln genießbar zu halten, ist in einer durch ‚Tönjes‘ et al. geprägten Industrie bestimmt nicht das Schlechteste).
Hoffe auf weitere Folgen!
Ich würde auch nicht sagen, dass die BILD da allein verantwortlich war, sondern dass das ein Symptom war.
Was gerade unter US-Republikanern nur selten bezüglich des Nahen Ostens erwähnt wird: Es war nicht Obama mit dem Iran-Deal, der die Region faktisch dem Iran ausgeliefert hat, sondern die beiden Kriege der Bush-Administration. Sowohl „Enduring Freedom“ als auch „Iraqi Freedom“ haben zwei benachbarte Erzfeinde der iranischen Mullahs beseitigt. Mit Hussein befand sich der Iran fast die ganzen Achtziger Jahre im Krieg, mit den Taliban wäre es 1998 fast zum offenen Schlagabtausch gekommen. Auch wenn der Iran als Teil der „Axis of Evil“ galt, so waren die Mullahs am Ende doch die größten Gewinner dieser Kriege.
Bei dem militärischen und technologischen Vorsprung, den die USA weiterhin noch gegenüber China und Russland haben, wäre ich vorsichtig, sie als dominante Supermacht abzuschreiben. Allerdings habe ich es in meiner Lebenszeit noch nie erlebt, dass regionale Autokraten wie Erdogan oder Kim Jong-Un einen US-Präsidenten so vor sich hertreiben konnten wie Trump. Das hing natürlich auch mit dessen außenpolitischer Schwäche zusammen. Ich habe von vielen arabischen Zeugen gehört, dass Trump der erste US-Präsident war, den dort keiner mehr richtig ernst nahm. Taugte er in Europa wenigstens noch als Feindbild, so galt er im Nahen Osten als amüsante Marionette von anderen Staaten.
Auch kurios: 2016 stand der Vorwurf in Raum, Trump sei der Präsident von Putins Gnaden. 2020 hörte man wiederum von der anderen Seite, das Team Biden/Harris wäre die Kandidatur Chinas. Überspitzt formuliert war demnach die Präsidentschaftswahl 2020 ein Stellvertreterduell zwischen Russland und China – so absurd diese Gedankengänge sind, zeigen sie doch eine veränderte Wahrnehmung.
Ja, die Zerstörung des regionalen Gleichgewichts durch Bush hatte verheerende Folgen, auch wenn natürlich der Irak als mörderische Diktatur nicht eben ein schöner Bestandteil davon war. Deswegen gebe ich Bush auch viel mehr Schuld und sehe ihn wesentlich kritischer als Stefan das tut.
Ich schreibe die USA nicht als dominante Militärmacht ab, sondern als Macht, die weltweit überall und in jeder Region dominant ist. Diesen Anspruch geben sie auf, müssen sie aufgeben. Oder verlieren, je nachdem.
Diese Narrative sind völlig überzeichnet, aber wie du schreibst nichtsdestotrotz real – und kurios.
Ja, die Zerstörung des regionalen Gleichgewichts durch Bush hatte verheerende Folgen, auch wenn natürlich der Irak als mörderische Diktatur nicht eben ein schöner Bestandteil davon war. Deswegen gebe ich Bush auch viel mehr Schuld und sehe ihn wesentlich kritischer als Stefan das tut.
Saddam Hussein brauchen wir in der Tat keine Träne nachzuweinen (den Taliban natürlich auch nicht, aber die sind ja leider mächtiger als zuvor). Ich habe in den letzten 20 Jahren einige Menschen aus dem Irak kennengelernt und keiner von ihnen hatte positive Erinnerungen an diese Zeit (einige verglichen ihn mit Hitler). Viele sahen 2003 zunächst tatsächlich als Möglichkeit für einen kompletten Neustart, aber es ist bezeichnend, dass die meisten meiner Bekannten im Laufe der folgenden zehn Jahre das Land verließen (oder nicht zurückkehrten, wie sie es erst vorhatten), da ethnisch-religiös begründete Milizen zunehmend das Kommando übernahmen.
Die heutigen Probleme im Irak sind quasi ein doppeltes Erbe. Einmal die Folgen der Diktatur Saddams – ähnlich wie in Syrien war diese nur sehr oberflächlich gesehen ein Garant für Stabilität (und weniger säkular als gemeinhin angenommen), in Wahrheit haben beide Baath-Diktaturen längst innenpolitisch Szenarien geschaffen, die irgendwann eskalieren mussten. Und nach seinem Sturz hatte die US-Regierung offenkundig keine langfristige Strategie und zu wenig Sachkenntnis, als sie einseitig schiitischen Günstlingen die Macht übergab. Der IS ist ein besonders brutales Produkt dieser beiden Tendenzen, aber wir sehen es ja bis heute. Die Proteste im letzten Jahr gaben immerhin etwas Hoffnung, es ist inzwischen eine jüngere Generation nachgewachsen, die diese „Balkanisierung“ sehr kritisch sieht.
Danke für den Kontext!
Okay, bei dieser Einteilung gehe ich beim Beginn der Dekade mit Dir mit.
Der Abstieg der USA als Führungsmacht und der Kampf um Beibehaltung des Einflusses begann tatsächlich erst so richtig ab Mitte der 2000er Jahre.
Allerdings fehlen mir da noch die Herausforderer, insbesondere China. Und dann würde ich die Präsidentschaft Trump noch mit dazu nehmen. Während Bush versucht hat, den US-Einfluss v.a. militärisch aufrechtzuerhalten, hatte Obama das ebenfalls versucht, aber halt auf die diplomatische Art, z.B. indem er mit TPP versuchte China multilateral einzudämmen. Trump dagegen hat die offene (wirtschaftliche) Auseinandersetzung gesucht um China einzudämmen. Allerdings steht China Ende 2020 im Vergleich zu seinem Rivalen besser da. Hier würde ich dann auch das Ende dieser Zeit des Machtverlustes (erstmal) datieren.
Wahrscheinlich ist es noch zu früh, aber ich habe den Eindruck, dass Biden diese Ausgangslage erstmal akzeptiert und jetzt langsam versucht weiteren Machtverlust abzuwenden und erstmal bestehendes multilateral abzusichern.
Ansonsten kann ich dieser Analyse nur zustimmen
Die Herausforderer kommen im Teil 3 der Serie.
Ich stimme deiner Zeiteinteilung zu, aber Trumps Präsidentschaft ist alles, aber nicht verdrängt 😀 Mein Cut-off ist natürlich arbiträr, aber das muss jeder Schlusspunkt zwangsläufig sein.
Und jeder US-Präsident wird sich mit diese Machtverlust abfinden müssen.