Als Margret Thatcher in den 1990er Jahren gefragt wurde, was sie als ihren größten Erfolg betrachte, hat sie geantwortet: New Labour. Es verwundert nicht, wie sie zu dieser Aussage kam. Ob in den USA mit Bill Clinton, in Großbritannien mit Tony Blair oder in Deutschland mit Gerhard Schröder, in den großen Volkswirtschaften Westeuropas vollzogen die sozialdemokratischen Parteien den endgültigen Abschied von keynesianischen Ideen, von Nationalökonomie und Globalsteuerung, kurz: von der Wirtschaftspolitik, die die Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre dominiert hatte. Stattdessen übernahmen sie weitgehend den Kurs, den die konservativen Parteien derselben Nationen in den 1980er Jahren einschlugen und den wir hier vereinfachend mangels eines besseren Wortes „neoliberal“ nennen wollen: niedrige Steuern, Deregulierung, Privatisierung.
Wie die Übernahme der keynesianischen Ideen durch die Konservativen in den 1950er Jahren den Triumph der Sozialdemokratie markierte, so bedeutete dieser Wandel den praktisch vollständigen Sieg der demokratischen Rechten: Für die nächsten 40 Jahre war ihre Politik, in den unsterblichen Worten (erneut) Margret Thatchers, alternativlos. Zwar litten die sozialdemokratischen Parteien seit den Nuller-Jahren zunehmend unter diesem Wandel, verloren Wähler*innenstimmen und beobachteten hilflos den Aufstieg linkspopulistischer Parteien. Aber selbst die Flirts mit Jeremy Corbyn und Bernie Sanders schienen keinen Ausweg zu bieten, keine Alternative darzustellen, und wo, wie in Portugal, Spanien oder Griechenland, linkspopulistische Parteien tatsächlich an die Regierung kamen, hegte das System sie schnell wieder ein. TINA regierte letztlich weltweit.
Dann kam Corona. Und plötzlich waren alte Gewissheiten passé. Millionen von Menschen wurden arbeitslos, die Wirtschaft wurde in eine künstliche Rezession gestoßen, gigantische Investitionen ins Gesundheitssystem waren vom einen auf den anderen Tag notwendig. Zahllose Instititutionen mussten auf Fern-Funktionieren umgestellt werden, ob Fernlernen in der Schule oder Home-Office am Arbeitsplatz. Von Beginn an bestand eine seltene Einhelligkeit: Es würde teuer werden, und der Staat musste die Kosten tragen – durch die Aufnahme neuer, gewaltiger Schulden. Dieses Phänomen fand sich in unterschiedlichem Ausmaß in der ganzen westlichen Welt; der deutsche Schuldenstand etwa stieg durch Corona von rund 60% auf rund 80% des BIP an. Doch insgesamt ist das nur eine natürliche Reaktion, wie sie auch in vorherigen Krisen – etwa 2009 – stattfand. Eine gänzlich andere Dimension hat die Corona-Politik der USA.
Unter Donald Trump verabschiedete der Kongress mit den Stimmen praktisch aller Abgeordneten ein fast 2 BILLIONEN US-Dollar umfassendes Hilfsprogramm. Es ist wichtig, die ungeheure Größe hier genauso zu betonen wie die Tatsache, dass die Republicans das Paket ohne größere Diskussion verabschiedet haben. Der Vergleich mit 2009 ist instruktiv. Bill Scher schreibt im Washington Monthly unter dem Tittel „When it Comes to the Stimulus, It’s Not 2009 Anymore“ dazu:
This was 2009 when President Barack Obama began his presidency in the midst of an economic free fall and rushed to pass a stimulus bill. Limbaugh’s moniker was a rallying cry for Republicans trying to find their footing after Obama’s decisive election victory. Conservatives flooded the congressional switchboard, out-calling supporters of the stimulus 100-to-1. A young Politico headlined that Obama was “losing [the] stimulus message war.” The GOP largely fell in line, giving the Recovery Act no votes in the House and only three in the Senate. That was enough for the bill to pass Congress and be signed into law by February 17, but ideological battle lines had been drawn. Two days later, CNBC’s Rick Santelli would deliver his famous “Tea Party” rant, further fueling the right-wing backlash that would help Republicans take the House in 2010. Nothing, absolutely nothing, of the sort is happening today. […] That’s not just because Limbaugh has been off the air battling lung cancer. More fundamentally, Republicans no longer even pose as the party of fiscal restraint.
Nun geschah das natürlich unter Präsident Trump. Wie ich in meinem Artikel zum Thema beschrieben habe, sollte dieses Programm alleine eigentlich seine Wiederwahl gesichert haben; es gab auf demokratischer Seite genug Verzweiflung daran, dass die staatstragende Zustimmung der Democrats zu diesem Rettungspaket eine Wahlkampfhilfe par excellence darstellte. Auffällig ist daher vor allem das Verhalten der Republicans zum zweiten Hilfspaket, das kürzlich vom Kongress ohne republikanische Stimmen verabschiedet wurde und weitere 1,9 Billionen an Hilfen enthielt. Die Republicans versagten ihm zwar die Unterstützung – als nicht-demokratische Partei und destruktive Kraft war das von ihnen auch zu erwarten gewesen – aber sie begründeten das nicht mit den Hilfen an sich.
Wo die Verabschiedung eines Pakets von kaum 10% der Größe von Bidens Paket in einer deutlich schwerwiegenderen Größe 2009 zum Aufstieg der Tea Party und der nachhaltigen Radikalisierung der GOP führte, eines Parteiflügels, der die Gesamtpartei fest im Griff hatte, war die Reaktion der Republicans dieses Mal verhalten und kam kaum mehr über die übliche Obstruktionspolitik hinaus. Zwischen den Versuchen Mitch McConnells, die Bestätigung Merrick Garlands als Justizminister zu verhindern, und denen, dieses Paket aufzuhalten, besteht kein qualitativer Unterschied. Es ist ein „going through the motions“, Widerstand um des Widerstands willen, weil es der Partei unmöglich ist, ein konstruktives Votum abzugeben. Aber eine mobilisierende Wirkung hat dieser Widerstand nicht; man spürt geradezu eine heimliche Erleichterung, dass das Ding durch ist und man zu den üblichen Kulturkriegsthemen und Identitätspolitik zurückkehren kann. In seinem Artikel „The Forces That Stopped Obama’s Recovery Will Not Stop Biden’s“ schreibt Jonathan Chait dies dem Bankrott der rechten Wirtschaftsideologie zu:
The Trump era produced the strongest evidence of all. In 2018 and 2019, unemployment dropped below what had been previously assumed to be “full employment.” And yet, contrary to theory, inflation did not rise. Indeed, unemployment just kept falling, until the pandemic artificially halted the recovery. Many economists on the right as well as the left are eager to resume the experiment and find out just how low unemployment can actually be brought. The fears of hyperinflation that circulated freely during Obama’s first term have been completely forgotten. It is ironic that Trump created the conditions to allow Biden to succeed. First by exposing his party as disingenuous, then by disproving its economic nostrums, he set the stage for his successor to implement a smarter and better version of his experiment in running the economy hot.
Mit anderen Worten: Keynes ist zurück. Es ist, als ob bei diversen Beobachtenden Schuppen von den Augen gefallen sind. Schließlich haben die wirtschaftspolitischen Rezepte der Republicans wesentlich schlechtere Ergebnisse mit sich gebracht als die Democrats. Es ist und bleibt die größte politische Leistung (im Sinne von politics, nicht policy) der Konservativen in allen Ländern, sich selbst als die Partei des Wirtschaftsverstands darzustellen. Doch zumindest in den USA bröckelt das Bild, das nie mehr als brillante Eigenwerbung war, endlich. Auch eher mittige Medien wie die New York Times stellen mittlerweile die Frage: „Why Are Republican Presidents So Bad for the Economy?„
A president has only limited control over the economy. And yet there has been a stark pattern in the United States for nearly a century. The economy has grown significantly faster under Democratic presidents than Republican ones. It’s true about almost any major indicator: gross domestic product, employment, incomes, productivity, even stock prices. It’s true if you examine only the precise period when a president is in office, or instead assume that a president’s policies affect the economy only after a lag and don’t start his economic clock until months after he takes office. The gap “holds almost regardless of how you define success,” two economics professors at Princeton, Alan Blinder and Mark Watson, write. They describe it as “startlingly large.” […] Since 1933, the economy has grown at an annual average rate of 4.6 percent under Democratic presidents and 2.4 percent under Republicans, according to a Times analysis. In more concrete terms: The average income of Americans would be more than double its current level if the economy had somehow grown at the Democratic rate for all of the past nine decades. If anything, that period (which is based on data availability) is too kind to Republicans, because it excludes the portion of the Great Depression that happened on Herbert Hoover’s watch.
Es gibt einige Gründe, die ausgeschlossen werden können. So spielt etwa, auch wenn es eine Lieblingsausrede der Democrats ist, die Kontrolle des Kongresses keine große Rolle. Welche Partei hier tonangebend war, spielte für die Performance insgesamt praktisch keine Rolle. Ich betone das deswegen, weil die Kontrolle über die Defizite – also die Höhe der Neuverschuldung – hier entschieden wird. Und eine Konstante, die die Forschenden herausgearbeitet haben, ist sicherlich für diejenigen, die die konservative Selbstdarstellung geglaubt haben, ebenfalls überraschend: unter republikanischen Präsidenten ist das Defizit im Schnitt deutlich größer als unter demokratischen, und das bezieht Präsidenten wie Obama, die ein völliges Desaster von ihren Amtsvorgängern geerbt haben, mit ein.
Was also ist es? Es hat tatsächlich mit der Wirtschaftspolitik selbst zu tun. Die Democrats sind wesentlich lernfähiger und experimentierfreudiger als ihre Gegner. Sie sind deutlich aggressiver bei der Forschungs- und Innovationsförderung, weswegen ihre Staatsausgaben zu mehr nachhaltigem Wachstum führen als die Republicans. Das führt zu einer großen Bandbreite demokratischer Wirtschaftspolitik, wo die Republicans seit vierzig Jahren genau ein Rezept kennen: Steuersenkungen. Die mögen am Anfang ihren Wert gehabt haben. Aber nach vier Dekaden haben sie ihren Grenznutzen längst erreicht. Das Steuergeschenk Trumps war diesbezüglich der Offenbarungseid. Doch am zentralsten ist die dahinterliegende Mentalität. In den Worten von Michael Strain, einem Hardcore-Konservativen vom American Enterprise Institute, einer der größten Lobbyorganisationen der Steuersenkungsfans: “It is certainly a defensible posture that in periods of economic distress Democrats are more concerned about jobs than Republicans.” It certainly is, Mr. Strain, it certainly is. Kevin Drum verfolgt in seinem „An Old-School Debate: Why Are Democrats Better for the Economy Than Republicans?“ einen ähnlichen Ansatz:
For what it’s worth, my explanation has always been a bit different. Republicans spent years wedded to austerity economics while Democrats, largely thanks to broad support from unions, were explicitly dedicated to job growth for the middle class and high taxes on the rich. After 1980 Republicans finally gave up on austerity, but instead of focusing on the middle class they adopted policies aimed at making life easier for corporations and the wealthy. Democrats, by contrast, continued to focus on the poor and the working class even as their union support dwindled. Neither party was consistently successful in meeting its goals, but both were successful enough that over time their policies had a broad effect that was obvious in historical retrospect. This isn’t because Democrats are especially more virtuous about „heeding economic and historical lessons,“ but simply because their goals were more genuinely aimed at building a strong economy, while Republican goals were aimed primarily at helping the rich.
Es ist ein Phänomen, das wir hier aus Deutschland ebenfalls kennen. Ungleich weniger zerstörerisch als die GOP hat Angela Merkels lange Kanzlerschaft eigentlich nur die Substanz der vorherigen Reformen aufgebraucht. Ihre 16 Jahre Stagnation haben Flurschäden hinterlassen, die wahrscheinlich erst in der kommenden Dekade voll sichtbar sein werden. Dasselbe gilt für die Regierungszeiten der Republicans in den USA.
Was hat das aber alles mit Keynes zu tun?
Auch wenn die eher konservativen und liberalen Kritikter*innen das gerne anders darstellen, so haben Progressive ja kein erotisches Verhältnis zu Schulden um der Schulden willen (tatsächlich bauen sie im Schnitt mehr Schulden ab und häufen weniger an als ihre konservativen Kolleg*innen). Genauso wenig wollen Progressive aus Prinzip staatliche Eingriffe ins Wirtschaftsleben. Stattdessen geht es um intelligente Eingriffe, Förderungen und Hilfen. Und hier haben die Progressiven den Konservativen mittlerweile einiges voraus, einfach deswegen, weil sie nicht die dominante wirtschaftspolitische Theorie der letzten 40 Jahre waren. Sie hatten etwas zu beweisen. Und nun versuchen sie genau das.
Ich möchte an der Stelle kurz innehalten und an den Anfang zurückkehren, zu Marget Thatchers selbstironischer Bemerkung über New Labour als ihren größten Erfolg. Denn man übersieht gerne im eigenen Erfolg, dass es überhaupt ein solcher ist. Man hat sich so daran gewöhnt. Das Ausmaß des Erfolgs der Konservativen seit den 1980er Jahren gerät darüber gerne aus dem Blickfeld. Sie haben die politische Auseinandersetzung in einer entscheidenden Art und Weise gewonnen, so durchschlagend, dass es über Jahrzehnte nicht möglich war, überhaupt an etwas anderes zu denken. In den Worten Gerhard Schröders gab es nicht mehr linke oder rechte, sondern nur noch richtige Wirtschaftspolitik. Auf progressiver Seite führte dieser durchschlagende Sieg zu Lähmung und rückwärtsgewandtem Denken, zu Selbstzweifeln und fruchtlosem, inneren Streit ohne erkennbares Ziel. Auf konservativer Seite führte er zu Selbstzufriedenheit – wie sie wohl durch nichts als die Ära Merkel personifiziert werden kann – und Radikalisierung, am deutlichsten sichtbar in den Republicans.
Diese Stagnation verstärkte sich wechselseitig. Diverse Teile der konservativen reinen Lehre der 1980er Jahre – Stichwort Laffer Curve oder Trickle-Down-Economics – haben sich als falsch herausgestellt. Aber die Ideenlosigkeit der Linken und die stagnierende Selbstzufriedenheit der Konservativen gaben diesen Ideen ein jahrzehntelanges, ungutes Nachleben. Sie wurden zu „Zombie Economics“. Fairerweise muss angemerkt werden, dass sie mit den wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen häufig auch nur peripher zu tun hatten; die Politik ignorierte die Forderungen dieser Wissenschaften dieseits wie jenseits des Atlantiks ziemlich effektiv. Aber sieht man sich eine aktuelle Studie über die letzten 50 Jahre Makroökonomik an, die erbracht hat, dass trickle-down-Effekte de facto nicht existieren und die zugrundeliegende Politik effektiv wirkungslos ist – dann muss man sich schon fragen, wie das so lange Bestand haben konnte. Die bastardisierten, heruntergedummten Versionen der einst so frischen wirtschaftspolitischen Ideen beherrschten die Politik und galten sowohl als alternativlos als auch als Höhepunkt wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnis, eine Forderung von grenzenloser Hybris, die das Spiegelbild progressiver Lenkungsfantasien der 1960er Jahre war – als zwar Kritik an dieser Hybris weit verbreitet, aber wirkungslos war, weil es an glaubhaften Alternativen mangelte.
Genau das hat sich in den USA nun geändert. Ausgerechnet ein solcher Bannerträger der Moderaten in der demokratischen Partei wie Joe Biden steht nun für eine Radikalität in der Wirtschaftspolitik, die kurios unterbemerkt bleibt. Genauso wie die vorherige Dominanz der rechten Ideen einfach als gegeben angenommen wurde, herrscht gerade ein geradezu absurdes Desinteresse an dem tektonischen wirtschaftspolitischen Wandel, der sich gerade vor unseren Augen in den USA vollzieht. Die deutschen Medien waren sich für keine seitenlange Analyse des hinterletzten Trump-Tweets zu schade; dass Joe Biden in nur zwei Monaten das ambitionierteste Wirtschaftsprogramm der letzten 70 Jahre aufgelegt hat, wird überraschend wenig thematisiert. Dabei ist es von potenziell erschütternder Wirkung.
Ich sagte vorher, dass Progressive etwas zu beweisen haben. Aber gelingt ihnen das? Kevin Drum formuliert es in „We Are Conducting a Destruction Test of Keynesian Stimulus“ folgendermaßen:
Our current recession is totally different. If Biden’s plan passes, we will have approved more than $5 trillion in spending divvied up among consumers, businesses, schools, local governments, hospitals, and more. In other words, even though the 2009 recession was the worst in nearly a century, we’re spending close to ten times more on today’s recession than we did back then. This ought to be something of a destruction test of a perfect Keynesian stimulus.
Die gigantische Größe des Stimulus alleine – noch einmal, fast zehnmal so viel wie der nicht eben bereits kleine (wenngleich zu kleine) Stimulus unter Obama, der seinerseits bereits größer als alle zaghaften europäischen Programme war – sorgt dafür, dass die USA ein wirtschaftspolitisches Experiment unter Realbedingungen veranstalten, das unbedingt Aufmerksamkeit verdient. Denn wenn die US-Wirtschaft nach Corona nicht signifkant besser dasteht als die europäische, dürften ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit solcher Maßnahmen angebracht sein.
Was aber ist mit der Gefahr der Überhitzung der Wirtschaft, der Inflation? Kevin Drum hat sich auch mit dieser Frage beschäftigt und fordert: „We Should Let the Economy Loose For a While and See What Happens„:
For years, many of us who lived through the ’70s have been urging our boomer colleagues to stop being traumatized by the inflation of those years. The inflation of the ’70s truly was damaging, but a big reason is that the financial system of the era was designed on the assumption of low inflation rates. When inflation rose, we had to apply all sorts of Rube Goldberg hacks to keep people from literally making negative returns on their money. But those days are long gone. Deregulation of the financial system produced inflation indexing almost everywhere, which means that even if inflation rises it doesn’t produce the kind of trauma that it did 40 years ago. In the meantime, the aging of the US population, along with increasing globalization, puts steady downward pressure on inflation. The lesson here is simple: If inflation becomes unanchored for a significant period of time, then we should start pulling back. But there’s no need to pull back every time expectations rise a few tenths of a point. Let’s give the economy room to run and see what happens. The best outcome is that GDP booms, wages rise, and even the long-term unemployed start getting back into the workforce. And the worst case? Inflation starts to grow too fast and the Fed has to raise interest rates. That’s not good, but it’s hardly the worst thing in the world. It’s not a fear that we should let rule our lives. (Kevin Drum, Jabberwocky)
Letztlich ist das, was jetzt in den USA passiert, nichts weniger als das: ein gewaltiges wirtschaftspolitisches Experiment. Es mag sein, dass die düsteren Prognosen, es werde zu Geldverschwendung und Inflation führen, sich als richtig erweisen werden. Es ist, gelinde gesagt, extrem unwahrscheinlich, dass alles ein Riesenerfolg wird und bald Milch und Honig fließen. Konservative tun aber gut daran nicht zu vergessen, dass viel progressive Kritik an ihrem eigenen Projekt sich, ungeachtet der Wirkung von Steuerkürzungen, Deregulierungen und Privatisierungen in den 1980er Jahren, durchaus bewahrheitet haben: steigende Ungleichheit, Verlagerung und Konzentration von Wohlstand, Machtakkumulation bei transnationalen Konzernen und internationalen Finanzmärkten. Die Frage ist weniger, ob sich manche Befürchtungen einstellen werden, als ob es den Preis wert ist. Ob es also quasi im Sinne Helmut Schmidts besser ist, 5% Inflation hinzunehmen als 5% Arbeitslosigkeit (nicht, dass diese Wahl anstünde; ich möchte mehr illustrieren, dass es positive wie negative Effekte geben wird, weil dies bei JEDER Wirtschaftspolitik der Fall ist).
Nicht nur Konservativen allerdings wird angesichts der gigantischen Summen, die der amerikanische Staat gerade herauspumpt, mulmig. Damon Linker fragt sich in The Week, ob nicht irgendwelche Grenzen notwendig sind:
It was made possible by the worst pandemic in a century shutting down large swaths of the economy for a year. But there’s also something else, and far more sweeping, going on behind the scenes, and that is a change in perceptions about fiscal constraints. Many Democrats have come to believe that the longstanding conventional wisdom about the limits of responsible deficit spending was wrong. That is having enormous — and unnerving — effects on how they think about policy.
Er argumentiert weiter:
Politics is about making choices, prioritizing among competing goods, weighing costs against benefits, making tradeoffs — all of it under conditions of constraint that provide elected officials with a multitude of fully justified, reasonable excuses for failing to eliminate every kind of hardship. But what if there are no constraints forcing us to choose, prioritize, think about costs and benefits, and make tradeoffs? Under those circumstances, politics could turn ugly fast, as expectations rocket into the stratosphere and every failure to alleviate suffering or rectify injustice begins to look like an act of malice or outright indifference.
Gute Punkte, sicherlich. Aber als Analysetool merkwürdig emotionsbeladen. Es fühlt sich so an, als ob es Grenzen geben müsse. Das macht auch intuitiv Sinn. Nicht einmal die überzeugtesten MMT-Fans argumentieren schließlich für unbegrenzte Staatsausgaben. Aber gleichzeitig ist auch auffällig, wie gefühlskonzentriert diese Kritik ist. Sie legt eine beunruhigende Tatsache offen: Wir haben keine Ahnung, wo die Grenzen liegen. Welche Auswirkungen diese Politik haben wird. Wir haben diese Ahnung nicht, weil einerseits Prognosen für die Zukunft per se mit Unsicherheiten beladen sind, natürlich. Aber wir haben sie andererseits auch nicht, weil so lange keine Alternativen gedacht und diskutiert wurden. Es gibt keine große Breite an alternativen Denker*innen, keine Jahrzehnte der breiten Auseinandersetzung, auf der wir aufbauen könnten. Der vorherige Konsens hat sich so lange totgelaufen, dass er eine riesige Leerstelle hinterlassen hat. Vielleicht stoßen einige Quacksalber hinein, wie der bereits erwähnte Larry Laffer es in den 1980er Jahren tun konnte. Ich habe bereits vor fast exakt zwei Jahren geschrieben, dass MMT das Potenzial hat, dieselbe Funktion für das progressive Lager zu übernehmen: ein intellektuelles Feigenblatt, mit der sich noch jede Ausgabe grundsätzlich rechtfertigen ließe, und sei sie auch noch so dumm.
Ich habe deswegen eine sehr ambivalente Haltung zu den Geschehnissen in den USA. Ich gehe einerseits davon aus, dass sie positiv sein werden, und hoffe, dass sie ihren Weg nach Europa finden. Aber ich fürchte auf der anderen Seite einen Ausschlag in eine ähnliche intellektuelle Einseitigkeit, in der es keine Alternative gibt, weil sich die andere Seite so totgesiegt hat, dass sie keine neuen Ideen hat und nun, da der Kaiser nackt und ohne Kleider dasteht, nichts anzubieten hat. So wie Progressive keine Antwort auf sie Stagflation hatten, haben die Konservativen nicht wirklich eine Antwort auf die Herausforderungen von heute.
Im Interesse einer möglichst guten Politik, einer Vorwarnung vor Fehlentwicklungen, einer möglichen Korrektur wäre es aber notwendig, dass sie selbst eigene Ideen entwickeln. Und meine Befürchtung ist, dass das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlagen wird. Ich hätte gerne, dass wir einen Gleichgewichtszustand finden, in dem beide Seiten intellektuell herausfordernde und mögliche Lösungen präsentieren. Denn unverdiente, leichte Siege führen zu Selbstzufriedenheit und Stagnation. Wir haben das bereits zweimal beobachten können. Es braucht nicht dringend ein drittes Mal, egal wie notwendig der in den USA zaghaft beginnende Wechsel ist. Und notwendig ist er, daran habe ich keinen Zweifel.
Das ist ein ideologischer Kampf, weil weder Keynes noch der Neoliberalismus von den politischen Kämpfern verstanden wurden.
Der Keynesianismus ist eine Konjunkturtheorie, während der Neoliberalismus an den Grundlagen des Wachstums ansetzt. Sie betreffen unterschiedliche Phasen unternehmerischer Tätigkeit. Gehen Konjunktur und damit Nachfrage zurück, fällt die Auslastung der Produktionskapazitäten. Stimuli der öffentlichen Hand wirken dem entgegen und stabilisieren damit die Wirtschaft. Dagegen haben auch Neoliberale nicht das Geringste.
Aber Konjunkturpolitik ist kurzfristig, typischerweise bestenfalls ein Jahr. Man kann jemanden nicht permanent Testosteron spritzen oder Aufputschmittel, wenn man sich schlapp fühlt. Über kurz oder lang macht das den Körper kaputt. Wachstum und Entwicklung stehen so nicht. Dazu bedarf es anderer Konzepte. Gute Investitionsbedingungen sind nicht das Ziel von Keynesianismus, wohl aber des Neoliberalismus. Und so führte das falsche Verständnis von Keynes noch immer zu überbordenden Staatsverschuldungen, welche dessen Anhänger angeblich nicht wünschen, mit dem Ergebnis, dass die Wirtschaft dauerhaft am Stock geht. Kein Land mit hoher Staatsverschuldung hat es in den vergangenen 50 Jahren ein Wachstum zu entwickeln, das über dem lag, was in Phasen niedriger Staatsverschuldung erreicht wurde.
Man muss aus dem Quark kommen, um Wachstum und Prosperität zu erzielen. Japan hat sich von Beginn der Neunzigerjahre 2 Jahrzehnte Keynes geleistet. Davon hat sich die Wirtschaft nicht mehr erholt.
Ich habe Dich da schon häufig korrigiert, aber leider nimmst Du das nicht auf: Sowohl unter Clinton als auch Blair sind die Einkommensteuersätze gestiegen, womit die Budgets ausgeglichen wurden. Das ist ja eben nicht der Neoliberalismus, wie Du ihn beschreibst. Allerdings konnten beide auf den Erträgen reformerischer Vorgänger aufbauen. Schröder konnte das nicht.
Unter Clinton machen die Einnahmen aus der Einkommensteuer schnell einen scharfen Knick nach oben:
https://en.wikipedia.org/wiki/Income_tax_in_the_United_States#/media/File:Federal_Receipts_by_Source.svg
Die Unternehmenssteuersätze wurden angehoben:
https://en.wikipedia.org/wiki/Income_tax_in_the_United_States#/media/File:US_Effective_Corporate_Tax_Rate_1947-2011_v2.jpg
Auch in GB hielt Blair die Sätze weitgehend konstant, insbesondere für die oberen Einkommen:
https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/882269/Table-a2.pdf
Ebenso beließ er es bei den Unternehmenssteuern bei ursprünglich 33% (Standard) und senkte vor allem für kleine Unternehmen die Steuern. Das ist aber eben nicht das, was Du beschreibst, Stichwort Trickle Down-Effekt. Dieser setzt schließlich bei den Großen an und führt zu Nutzen bei den Kleinen. Blair setzte klar auf eine andere Politik.
Historische Bücher sind in Wirtschaftsdingen nicht unbedingt historisch genau.
Interessanter ist die Debatte, die gerade Fahrt aufnimmt: Sowohl in den USA als auch in Europa wird debattiert, wie sich die Staaten entschulden ließen. Längst ist man der Überzeugung, dass hohe Staatsschulden eben nicht so vorteilhaft sind, dass man sie lange mit sich herumschleppen möchte.
Danke für die Hinweise, mit denen du grundlegend Recht hast.
Vielleicht ist der Bezug auf Keynes an der Stelle auch von mir falsch und zu plakativ gewählt, denn mir geht es nicht (nur) um Konjunkturpolitik, die du zu Recht ja als allgemein wenig umstritten ansiehst, sondern eher um die Frage, wie das Wirtschaften generell organisiert sein solle. Und hier finden wir mit der „neoliberalen“ (sehr belasteter Begriff, aber ich glaube wir wissen was gemeint ist) Seite ja schon reichlich grundlegende Ansichten, die von progressiveren Ökonom*innen nicht geteilt werden.
Letztlich hast du aber auch Recht, das letztlich in den Bereich der Glaubensfragen zu schieben. Ein endgültiger Beweis, welche der beiden Varianten richtig ist, wird wohl nie erbracht werden können und daher immer den politischen Mehrheitsverhältnissen beziehungsweise der Haltung der Politik unterworfen sein. Weswegen ja der Wandel, den ich beschreibe, gerade so interessant zu beobachten ist.
Es waren die Neoliberalen, die in den vergangenen Jahren eine deutliche Flexibilität zeigten. Es war der IW-Chef und bekennende Neoliberale Michael Hüther, der anregte, die gute Bonität Deutschlands zu einer Ausweitung des Kapitalstocks zu nutzen durch Verschuldung. Es war ein hier bekannter Neoliberale, der darüber sinnierte, unter welchen vertretbaren Bedingungen die Staaten von ihrer hohen Schuldenlast befreit werden könnten.
Es sind Referenzen an geäußerte Kritik, während sich das linke Lager eher orthodox zeigt. Wenn selbst Neoliberale über Staatschulden reden, kann der eigene Holzweg ja nicht so falsch sein. Tatsächlich waren linke Parteien mit dem Ansatz der permanenten Staatsverschuldung in den Siebzigerjahren außerordentlich erfolgreich – bis die enormen wirtschaftlichen Schäden auch für ökonomische Laien offensichtlich wurden.
Heute versucht die Linke mit den gleichen Konzepten der Schuldenillusion den Umfang der Staatstätigkeit über das akzeptierte Niveau zu heben und damit den demokratischen Willen auszuhebeln.
Ohne die wirtschaftspolitische Revoluzionärin Magaret Thatcher hätte es Tony Blair nie gegeben. Ohne den Modernisierer Ronald Reagan wäre Bill Clinton wahrscheinlich ein mäßig erfolgreicher Präsident geblieben. Beide Ikonen des Neoliberalismus haben ihre Länder wirtschaftspolitisch wachgeküsst, die vor 50 Jahren im Dämmerschlaf sozialpolitischer Ideen dahinschlummerten. Es kann kein Zufall sein, dass beide angelsächsischen Länder seit nunmehr 50 Jahren zu den wachstumsstärksten Industrieländern zählen.
Auch den Trickle-Down-Effekt gab es, nur eben in den Neunziger- und nicht bereits in den Achtzigerjahren. Niemals zuvor und danach wurden Burgerbrater so gut bezahlt wie zum Ende der Präsidentschaft Bill Clintons. Ja, die USA sind ein sozialökonomisch sehr ungleiches Land. Nur waren sie das auch unter Jimmy Carter.
Den Trickle-Down-Effekt gab es in den letzten Jahrzehnten in USA und UK doch allerhöchstens Stellen- bzw. Phasenweise.
Dir Frage ist, ob man den nötigen Aufbruch der Wirtschaftstrukturen nicht auch hinbekommen könnte, oder sogar müsste, ohne große Teile der Bevölkerung dauerhaft abzuhängen. Das ist nämlich auch nicht nachhaltig
Ich will die gr0ßen sozialen Kosten nicht wegdiskutieren. Nur hat sich die Theorie des Trickle-Down-Effekts aus ökonomischer Sicht als zutreffend erwiesen.
Ökonomen prognostizieren, was bei einer bestimmten politischen Maßnahme mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Sie prognostizieren keine sozialen Kosten. Das ist die Aufgabe der Sozialwissenschaftler.
Ihre Frage verneint sich im Angesicht der letzten 50 Jahre. Wirtschaftsreformen sind nur zu gewissen gesellschaftlichen Kosten zu haben. Doch der Verzicht auf sie ist immer noch schädlicher für alle. Erstarrte Gesellschaften wie in Italien belegen dies in abschreckender Weise.
Nur hat sich die Theorie des Trickle-Down-Effekts aus ökonomischer Sicht als zutreffend erwiesen.
Ich halte es für grundweg falsch. Wenn die Reichen im Verhältnis deutlich reicher werden als die nach unten trickelnden Mittel, dann werden die Reichen irgendwann politische Machtgelüste von monströsen Ausmassen entwickeln und die unten werden merken, dass die gesamte Politik von denen kontrolliert wird. Wenn es dann noch wenig Aufstiegschancen gibt, weil nämlich ein Produktivitätsanstieg der Wirtschaft ausbleibt, dann endet das irgendwann zwangsläufig in einem politischen Aufstand, den die Elite auf Dauer überhaupt nicht niederschlagen kann.
Der gini Koeffizient der USA stieg seit Carter kontinuierlich an: https://ourworldindata.org/grapher/inequality-before-and-after-taxes-and-transfers-Thewissen-et-al-data
Der Gini stieg in sämtlichen (!) Industrieländern seit Ende der Siebzigerjahre deutlich an, selbst in Frankreich und Skandinavien. Dies gilt erst recht, wenn auf die primäre Einkommensverteilung abgestellt wird, also die reinen Marktergebnisse.
Nochmal, ich argumentiere nicht die gesellschaftlichen Kosten weg. Nur, dass Einkommen stärker differenzieren ist etwas völlig anderes als dass Wachstumserträge nicht durchdringen würden. Die USA, aber auch Großbritannien weisen deutlich geringere Erwerbslosigkeiten auf als die EU. Arbeitslosigkeit verursacht die höchsten sozialen Kosten. Auch sind die Einkommen in der Mittelschicht über 40 Jahre in den USA schneller gewachsen als in Westeuropa und in Deutschland. Viele haben profitiert, eine ganze Menge sind abgefallen.
An der Stelle frage ich immer: Was erwartet man eigentlich, wenn Gesellschaften vor allem auf Wissen und Intellekt setzen? Doch nicht etwa, dass Einkommen dann gleich verteilt werden, so wie Intellekt und Wissen… oder?
Ich halte es für gewagt, die USA als „sozial gesünder“ als die meisten westlichen EU-Staaten zu betrachten.
Aber grundsätzlich richtig: Arbeitslosigkeit ist schlecht. Es ist ja aber gerade linke Politik, die die beseitigen will, und neoliberale, die bereit ist, sie ggf. hinzunehmen. Ob das in der Realität klappt ist natürlich eine andere Frage, aber bei dir liest es sich so als wöllten linke Politiker*innen Arbeitslosigkeit!
Habe ich das gesagt?
In den USA wie in den meisten Industrieländern außerhalb der EU beschäftigt sich die Arbeitsmarktpolitik nicht mit dem Phänomen der Langzeitarbeitslosigkeit, einfach, weil sie gesellschaftspolitisch und mengenmäßig nicht relevant ist. Dagegen begründet in Deutschland sogar eine ehemalige Volkspartei ihren Absturz in Wahlen damit, Langzeitarbeitslosen Unterstützung entzogen zu haben – mit dem Ziel, sie wie andernorts auch in den Arbeitsmarkt zu reintegrieren.
Außerhalb des unseres Kosmos nimmt man solche Feinheiten durchaus als Kasperletheater wahr.
Jede Statistik, jede Analyse zu dem Thema Langzeitarbeitslosigkeit belegt: es ist weit wichtiger, sie zu verhindern als die Folgen zu bekämpfen. Wer einmal im Bereich „länger 1 Jahr arbeitslos“ gelandet ist, kommt schwer wieder auf die Beine. Egal ob mit oder ohne Sozialstaat.
Wenn also eine sozial ausgerichtete Wirtschaftspolitik sich darauf fokussiert, zu verhindern, dass Menschen dauerhaft ohne Beschäftigung sind, so ist das die einzig wissenschaftlich begründbar vernünftige Politik. Und damit ist linke Politik wie Du sie beschreibst, unvernünftig und vor allem unsozial.
Ich halte die Fixierung auf Langzeitarbeitslosigkeit seitens der SPD auch als Fehler war, schon allein, weil diese Gruppe nicht wählt. Deswegen haben sie IMHO auch nicht Wähler*innen verloren; die verübeln ihnen an der Agenda2010 was ganz anderes.
Ich stimme dir zu dass die Prävention bzw. schnelle Wiedereingliederung super wichtig ist, aber das löst ja das Problem der Langzeitarbeitslosen nicht. Was hältst du grundsätzlich von der Idee zu sagen, dass wir ab sofort alle unsere Ressourcen in die Arbeitslosen stecken die unter 1 Jahr arbeitslos sind oder freiwillig nach Hilfe fragen und den Rest einfach ignorieren? Das sollte volkswirtschaftlich insgesamt deutlich billiger sein als diese irrwitzige Bürokratie der Arbeitsagenturen für Langzeitarbeitslose, die vielleicht gar nicht mehr arbeiten wollen. Nur so in den Raum geworfen.
Jedes Problem gleich zu gewichten, führt zu einer profillosen Politik und ist typischerweise wenig erfolgreich. Allerdings sind in Deutschland 800.000 Menschen über einem Jahr arbeitslos, mehr als die Hälfte davon mehr als 5 Jahre. Dann hängen daran überproportional Familien. Das ist eine Größenordnung, die schon als sozialen Gründen nicht einfach vergessen werden kann, zumal sich hieraus der Großteil des Nachwuchses des zukünftigen Prekariats rekrutiert.
Wir sollten schauen, wie andere Länder damit umgehen, mit denen wir uns vergleichen können und die Erfolge bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit vorzuweisen haben. So sind in Dänemark die Fachbetreuer wesentlich näher an ihrer Klientel und machen entsprechenden Druck. Im Vergleich mit unserem Nachbarland sind die Vorstellungen der linken Parteien, den sozialen wie ökonomischen Druck völlig zurückzunehmen, eine Torheit.
Ich denke nicht, dass der Druck das Problem ist; vielmehr ist die Art der deutschen Sozialsysteme, Druck zu erzeugen, kontraproduktiv. Gerne sollte man die Energie, mit der hier nutzlos Bewerbungen nachgehalten oder Kürzungen betrieben werden, in bessere Betreuung stecken, die dann auch mit konkreten Zielvereinbarungen und was weiß ich arbeitet.
Doch, in allen Ländern, in denen die Unterstützungsleistungen großzügig (über OECD-Schnitt) liegen, wird auch überdurchschnittlicher sozialer Druck auf Erwerbslose ausgeübt, angebotene Stellen anzunehmen und bei Weiterbildungsangeboten mitzuarbeiten.
Es ist wie im echten Leben: wer hohe Einkommen will, muss nicht nur überdurchschnittlich performen, sondern auch hohen Druck aushalten.
Missverständnis: Wenn ich sage, Druck ist nicht das Problem, meine ich, das Problem ist nicht, DASS Druck ausgeübt wird, sondern WIE.
Sehe ich genauso. Es geht nicht darum, Menschen zu quälen, sondern ihnen Einsichten zu vermitteln.
Jepp. Und die Energien gehen ins Quälen.
Gini Index in Frankreich war 1978 höher als heute: https://fred.stlouisfed.org/series/SIPOVGINIFRA
Echt schwierig die Daten zu finden.
Was bedeutet primäre Einkommensverteilung? Vor Steuern und Sozialabgaben? Da macht das verfügbare Einkommen imho mehr Sinn.
Deutschland setzt nicht auf Wissen und Intelekt? Vielleicht haben wir ein besseres Schulsystem, das mehr Leuten aus benachteiligten Familien eine Partizipation am Wissens- und Intellekt-Markt ermöglicht?
Wenn Stefan meinen Kommentar freischaltet, werden Sie sehen, dass wir in einem Fall die gleiche Quelle verwenden. Ja, primäre Einkommensverteilung bezieht sich auf Haushalts-) Einkommen vor Umverteilung, also Steuern, Sozialabgaben und den Bezug von Transfers.
Genau das sehen die Organisatoren von PISA nicht so. Aufgrund der Verhältnisse in prekären Familienhaushalten diskriminiert Deutschland überdurchschnittlich. Aber ich meinte meine Bemerkung generell. So lange die meisten Menschen nur am Fließband standen, wurden sehr einheitliche Löhne gezahlt, die Hochzeit der Gewerkschaften. Wenn jeder das Gleiche tut und die Arbeitsqualität durch die Laufzeit des Bandes bestimmt wird, lassen sich keine großen Einkommensunterschiede erwarten. Wenn die Menschen aber ihr intellektuelles Können messen, sind die Unterschiede selbst bei ähnlichen Tätigkeiten gravierend.
Ja, aber nicht so schlimm. Da musst du schon ehrlich sein. Ansonsten habe ich viele deiner Argumente doch im Artikel selbst gebracht?
Was ist nicht so schlimm? Sorry, Faden verloren.
Ich musste gerade auch dreimal nachlesen 😀 😀 😀 Die Ungleichheit zu Jimmy Carters Zeit im Vergleich zu heute.
Oh, Stefan, wenn ich jedesmal 10€ bekäme, wenn jemand bei den Wirtschaftsdaten falsch liegt, wäre ich reich. 🙂 Wir müssen mal einen Tarif ausmachen, was ich für die Suche nach solchen Daten bekomme. 🙂
Okay, genug der unsinnigen Vorrede. 1980 bei Amtsantritt von Ronald Reagan lag der amerikanische Gini-Koeffizienz (im Folgenden kurz „Gini“) bei 34,5, etwas niedriger als Mitte der Siebzigerjahre. Heute liegt der Wert bei 39,0. Prozentual hat die Ungleichheit damit um 13% zugenommen.
Schweden wies Mitte der Achtzigerjahre (also 5 Jahre später) 20,0 auf und steigerte dies auf aktuell 27,5, ein Anstieg um 37,5%.
Dänemark wies einen Anstieg von 22,0 auf 26,4% auf, umgerechnet 20%
Die Niederlande entwickelten sich als eine der wenigen OECD-Länder gegen den Trend mit einem Anstieg um gerade 6%.
Kommen wir zu Deutschland: 1980 zu Beginn von Reagans Präsidentschaft lag der Gini bei 24,7. Zuletzt wurden an die OECD 28,9 gemessen. Richtig gerechnet verzeichnete Deutschland eine Zunahme der Ungleichheit in den letzten 40 Jahren um 17%. Das ist zwar spürbar weniger als die skandinavischen Länder (sic!), aber auch deutlich mehr als die Vereinigten Staaten von Amerika.
Falls Dich das erstaunt – mich nicht. Mein Vorteil liegt darin, dass ich Geschichte ganz gut im Kopf habe. 🙂
Und für unseren Südamerika-Experten: Als Chile 1990 die Pinochet-Diktatur abstreifte, war der Andenstaat ein zutiefst ungleiches Land. Der Gini lag nach Weltbank-Zahlen bei unglaublichen 57,2. Dank der Wirkung der neoliberalen Reformen (sic!) verringerte sich die Ungleichheit kontinuierlich auf 44,4. Das ist ein Rückgang um fast ein Viertel!
Was wolltest Du noch einmal gegen den Neoliberalismus sagen? Dass er mehr Ungleichheit hervorbringe als eine aktive Sozialpolitik? So ungefähr? 😉
https://data.oecd.org/inequality/income-inequality.htm
https://databank.worldbank.org/reports.aspx?source=2&series=SI.POV.GINI&country=USA
https://fred.stlouisfed.org/series/SIPOVGINIUSA
https://www.soziologie.uni-konstanz.de/typo3temp/secure_downloads/113317/0/fc42504812e255a3528a743f9bb8a7563a8afd64/josef_bruederl_14-12-20.pdf
http://www.oecd.org/els/soc/49499779.pdf
Danke für die Zahlen!
Eben, Keynes ist nicht zurück.
Sondern zurück ist bei manchen Parteien der Pseudo-Keynesianismus der schlicht nur heißt: Wir vergnügen uns auf Kosten der nächsten Generation.
Keynes dachte in Zyklen. In Krisenzeiten Schulden aufnehmen (und in einer Krise wie Corona wird das eigentlich von allen Wirtschaftstheoretikern gerechtfertigt), und in guten Zeiten Schulden zurückzahlen.
Keiner der Keynes Name als Vorwand mißbrauchenden Politiker hat je so gehandelt. Sondern da gibt es immer nur Schulden machen in guten Zeiten und sehr viele Schulden machen in schlechten Zeiten.
Die Zurückzahlung wird verdrängt und deswegen landet diese Politik regelmäßig in der Sackgasse.
Die Linkspopulisten in Griechenland etc. wurden auch nicht „vom System eingehegt“, sondern von der Realität.
Die Trümmer der Schuldenpolitik müssen dann in jahrelanger Anstrengung unter heftigen Schmerzen für viele Betroffene wieder geräumt werden.
Bis dann nach einiger Zeit der nächste Populist kommt und seine irrealen Wahlversprechen unter Berufung auf Keynes „finanzieren“ will.
Wie ich bereits bei Stefan antworte, liegt der Fehler hier vermutlich bei mir, den allzu plakativen Keynes-Bezug aufzubauen. Ich verweise nochmal auf meinen MMT-Artikel, was die Risiken hier angeht, die du ansprichst.
Wobei Keynes Theorien schon irgendwie eine Menge Ökonomen zu der seltsamen Überzeugung verleitet haben, sie könnten die Ökonomie eines Landes global mit expansiver oder kontraktiver Fiskalpolitik steuern. Dass der expansive Teil für Politiker viel attraktiver ist als der kontraktive, liegt an den natürlichen Anreizen für Politiker.
Der Sieg des Neoliberalismus lag nicht zuletzt darin begründet, dass sich die vorher dominanten Keynesianer in den 70ern zunehmend selbst als Kaffeesatzleser wahrnahmen.
Wir haben diese Ahnung nicht, weil einerseits Prognosen für die Zukunft per se mit Unsicherheiten beladen sind, natürlich. Aber wir haben sie andererseits auch nicht, weil so lange keine Alternativen gedacht und diskutiert wurden. Es gibt keine große Breite an alternativen Denker*innen, keine Jahrzehnte der breiten Auseinandersetzung, auf der wir aufbauen könnten.
Nein, es gibt keine Alternativen, weil die Ökonomie nicht nach wissenschaftlichen Prinzipien arbeitet. Es wäre die Aufgabe der Ökonomie als Wissenschaft, unterschiedliche Ansätze, Modelle und Theorien zu überprüfen und ihre Auswirkungen nach wissenschaftlichen Kriterien zu bewerten. Dazu gab es allerlei Forschungsmaterial: Von der Finanz- bis zur Euro-Krise gibt es Berge an Datenmaterial, anhand deren Alternativ-Erklärungen überprüft werden könnten.
Es ist doch keine Frage, ob staatliche Interventionen schädlich sind. Eine echte Wissenschaft müsste klären, welche Interventionen unter welchen Rahmenbedingungen erfolgreich sind oder nicht. Die Ökonomie als Wissenschaft muss nachprüfbare Kennzahlen für Überregulierung oder für Marktrisiken entwickeln. Objektive Kriterien ohne moralisches und ideologisches Gelaber, anhand deren eine pragmatische Wirtschaftspolitik möglich ist.
P.S: MMT ist Bullshit.
Ich würde die Kritik der Ökonomie als „keine Wissenschaft“ so nicht unterschreiben wollen. Sie ist keine Naturwissenschaft, sicherlich, aber deswegen ist sie ja auch bei den gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten angesiedelt.
@ Marc 12. März 2021, 11:13
Es ist doch keine Frage, ob staatliche Interventionen schädlich sind.
Warum nicht?
Dassehe ic anders. Es ist doch eine Frage der Umstände, ob die nützlich oder schädlich sind.
Eine echte Wissenschaft muss die Umstände objektiv bewertbar machen! Die Ökonomie kann das nicht und macht es zu einem ideologischen Kampf. Das muss nicht sein, wenn es echte Kennzahlen für wirtschaftliche Maßnahmen gibt und mit welchen Bedingungen sie zusammen hängen, kann man errechnen, was die bessere Option ist. Und das Ergebnis ist dann frei von Ideologie.
@ Marc 12. März 2021, 17:11
Eine echte Wissenschaft muss die Umstände objektiv bewertbar machen! Die Ökonomie kann das nicht und macht es zu einem ideologischen Kampf.
ja, eben.
Das muss nicht sein, wenn es echte Kennzahlen für wirtschaftliche Maßnahmen gibt und mit welchen Bedingungen sie zusammen hängen, kann man errechnen, was die bessere Option ist. Und das Ergebnis ist dann frei von Ideologie.
Wie DU selbst schreibst, ist Ökonomie keine Naturwissenschaft, sondern steckt im gleichen Sack wie Geschichte oder Philosophie. Bei dieser Art von Wissenschaft zählen nicht nur objektive Fakten, sondern auch der Blickwinkel bzw. das „Fundament“, von dem aus man Situationen bewertet. Beides ist bei Dir anders als beispielsweise bei mir oder Stefan P., weshalb wir bei gleicher Faktenlage und gleichem theoretischen Wissen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu anderen Schlussfolgerungen kommen würden.
Wenn es über wirtschaftliche Theorien das gleiche Einverständnis gäbe wie über mathematische oder physikalische Theorien, hättest Du wahrscheinlich Recht. Die gibt es aber nicht.
Sehe ich auch so.
R.A. und Stefan Pietsch haben theoretisch m.W. völlig recht.
Allerdings gehen auch beide in die Falle bei der praktischen Beurteilung die Stefan Sasse oben gut beschreibt.
R.A. : „Keiner der Keynes Name als Vorwand mißbrauchenden Politiker hat je so gehandelt. Sondern da gibt es immer nur Schulden machen in guten Zeiten und sehr viele Schulden machen in schlechten Zeiten.
Die Zurückzahlung wird verdrängt und deswegen landet diese Politik regelmäßig in der Sackgasse.“
und Stefan Pietsch: „Und so führte das falsche Verständnis von Keynes noch immer zu überbordenden Staatsverschuldungen, welche dessen Anhänger angeblich nicht wünschen, mit dem Ergebnis, dass die Wirtschaft dauerhaft am Stock geht.“
Die Staatsverschuldung steigt in den Phasen in denen „nicht- Keynesianer“ bzw. rechte Regierungen am Ruder sind ebenfalls, oft sogar noch mehr. Und das auch noch zu allem Überfluss gerne in Boom-Zeiten (siehe zuletzt Trump).
Ich mache das nicht an Parteien fest. Parteien und Politiker sind in Wirtschaftsfragen (manchmal erschreckend) unideologisch. Helmut Kohl war fraglos ein Konservativer („Schwarzer“). Aber ebenso sicher war er kein Neoliberaler. Da war sein Nachfolger weit eher geprägt von neoliberalen Überzeugungen, ob Schröder Sozialdemokrat war.
Die FDP wandelte sich erst Anfang der Neunzigerjahre nachhaltig von der Honoratiorenpartei zu einer Partei, die liberale Wirtschaftsansichten vertrat. So gewann sie auch neue Wählerschichten.
Und verlor alte ^^
Aber Zustimmung.
Ja, aber in Summe Wachstum. Die FDP schnitt nur ein einziges Mal in den Folgewahlen schlechter ab als 1998: Beim Rausschmiss aus dem Deutschen Bundestag 2013.
Das ist allerdings auch ein heftiger Einschnitt.
Ich kann gerade nicht beurteilen ob 1998 einfach nur ein für diesen Vergleich günstiger Benchmark ist, war das ein besonderer Tiefstand?
Mein Wissensstand ist generell, dass der Anteil der FPD sehr volatil ist; quasi das Zerrbild der LINKEn, die stabil um die 8% rumrutscht, während bei der FDP von 4% bis 16% gefühlt echt alles drin ist (ernsthaft, wer kann sich diese Extremwerte für die LINKE vorstellen?). Stimmst du da zu.
1998 war kein gutes Ergebnis, genau genommen das Schlechteste seit 1980. Darum geht es aber weniger. Bis zum Ende der Kohl-Ära funktionierten die Wahlergebnisse der jeweiligen Koalitionspartner und der FDP ähnlich kommunizierender Röhren.
Von 1998 über 2002 zu 2005 bis 2009 verzeichneten die Liberalen einen permanenten Zuwachs. Auch die Mitgliederzahlen der Partei wuchsen in den Nullerjahren gegen den allgemeinen Trend. Aus statistischer Sicht war 2013 ein ungewöhnliches Ereignis, was die Folgeergebnisse belegen. 2017 wurden fast 11% erzielt und – soweit wage ich die Prognose – wird 2021 bestätigt. Die Liberalen liegen heute in den Umfragen ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl besser als 2017 zur gleichen Zeit. Hinzu kommt, dass die FDP von den Demoskopen meist um 1-2 Prozent „unterbewertet“ werden.
Also, die Schwankungen, die Du meinst festzustellen, sind nicht so groß, zumindest nicht größer als bei den Grünen.
Die Ergebnisse der FDP von 1980 bis 1998:
1980: 10,6%
1983: 7,0%
1987: 9,1%
1990: 11,0%
1994: 6,9%
1998: 6,2%
Wahrscheinlich verzerren 2009 und 2013 das Bild einfach zu sehr. Das war echt extrem. Und in den 1990er und frühen 2000ern war demgegenüber ein bisschen Durstrecke.
Ja, die Grünen sind auch recht volatil. Weiß aus dem Kopf gerade aber nicht ob das ein Umfragephänomen war, meine mich an einen Artikel von dir erinnern zu können, der zeigt, dass die WahlERGEBNISSE bisher auch eher stabil waren.
Nein, die Jahre 1980, 1990 und 2013 verzerren die Entwicklung des Wählerpotentials. 1980 stand der für viele Bürgerliche unwählbare Franz-Josef Strauß als Gegenkandidat zu Helmut Schmidt zur Wahl. Die Union, die vier Jahre zuvor noch knapp die absolute Mehrheit verfehlt hatte, rauschte ab und viele bürgerliche Wähler machten ihr Kreuz bei der FDP als Korrektiv zu den sozialpolitisch links abgeschwenkten Sozialdemokraten.
1990 war eine Dankbarkeitswahl. Hans-Dietrich Genscher war zum Idol der ostdeutschen Neubürger aufgestiegen und schaffte sogar in seiner Geburtsstadt Halle das Direktmandat. Danach wurden die Verhältnisse wieder geordnet.
Unter Berücksichtigung dieser gesonderten Umstände war die FDP als Korrektiv immer im einstelligen Bereich gefangen. Guido Westerwelle erkannte nach 1990 jedoch das liberale Potential, die er allerdings immer mehr zu einer liberalpopulistischen Partei ausrichtete. Das war sehr attraktiv für junge Aufsteiger. 2009 schaffte man mit dem Konzept nach einem Jahrzehnt permanenter Zugewinne ein Rekordergebnis. Allerdings war das Konzept zur Opposition geeignet, nicht zum Regieren. Die FDP, lange Regierungspartei in ihrer Geschichte, war nicht mehr aufs Regieren vorbereitet.
Das Ergebnis 2009 bewegte sich am oberen Rand des liberalen Potentials. Das ist aber keine Überzeichnung. Die Daten für meine Analysen in dieser Richtung schöpfe ich aus der inzwischen schon älteren Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, den statistischen Daten und den demoskopischen Erhebungen. Danach bezeichnen sich so 15-18 Prozent als Anhänger der Partei oder erwägen sie zu wählen. Das sind vergleichsweise hohe Werte, auch im Unterschied zur Linkspartei.
https://www.faz.net/aktuell/politik/gesellschaftsstudie-prekariat-statt-unterschicht-1385650.html
Diese Werte passen zur Studie (leider kenne ich in der Richtung nichts aktuelleres) und zu den Wahlergebnissen (unter Eliminierung der Ausreißer). Das ist also plausibel.
Volatil sind die Umfrageergebnisse, nicht die Resultate bei Wahlen. Das sagst Du ja auch. Das gilt sowohl für die Grünen als auch für die FDP. Meine Wette gilt und ich komme früh damit rum: die Liberalen erreichen mindestens 11% (Fehlermarge 0,5%). Ob die Grünen ein Ergebnis zwischen 18 und 22 Prozent holen, wird noch sehr von der Performance der Union wie der SPD in den Monaten bis zur Wahl abhängen. Die Grünen profitieren gleich dreimal: Vom Absturz der SPD wie der Linkspartei und der Schwäche der Union. Da umgekehrt FDP und Grüne wenig echte Schnittmengen in der Wählerschaft haben, können die Liberalen nur von enttäuschten Unionisten und zu geringem Teil von der SPD profitieren. Das Auf und Ab der Grünen strahlt auf sie traditionell nicht ab.
Das Pfund der Liberalen: Junge Wähler orientieren sich neben den Ökos auch deutlich überproportional zur FDP. Die Wandlung des Elektorats mit mehr Hochgebildeten und mehr Individualisten, da liegen die Chancen.
Uneingeschränkte Zustimmung. Total spannend wäre in BaWü auch ein grün-gelbes Bündnis unter diesen Gesichtspunkten.
Pendel würd ich eher nicht sagen. Wir werden nicht zurück gehen in die 60er/70er als Volkswirte glaubten, die Wirtschaft zielgenau steuern zu können. Im Jahr 1974 erhielt der Keynesianer Gunnar Myrdal gemeinsam mit Hayek den Nobelpreis für Ökonomie. Myrdal hatte Ende der 60er vorausgesagt, dass sich Ostasien auf lange Jahre der Stagnation einzustellen habe. Das ist selbst für die Prognose eines Ökonomen entschieden too much.
Nun erwiesen sich aber die Ergebnisse wirklich neoliberaler Reformen in Südamerika und Osteuropa post-80er mittel- bis langfristig als nicht wirklich tragfähig. Vielfach wurde vom hehren Pfad aus guten Gründen abgerückt.
Der zentrale Punkt ist: Das eigentliche Ziel der Entfesselung der Marktkräfte, nämlich die Schaffung wirklich kompetitiver Märkte wurde in aller Regel nicht erreicht. Vielmehr endete es in korrupten ad hoc Kartell-Strukturen mit horizontalen Absprachen, nicht nur in Rußland unter Putin sondern auch in Chile, wie wir heute wissen.
In den USA sorgten die massiven gestiegenen Staatsausgaben sehr wohl zu einer Inflation: nämlich auf den Aktienmärkten. Die Kurs-Gewinn Verhältnisse haben sich von jeden historisch mal als gesund geltenden Werten abgekoppelt. Aus der Geschichte der Finanzmärkte ziehe zumindest ich den Schluß, dass sowas irgendwann in einem großen crash endet. In der Zwischenzeit können aber die Anleger satte Gewinne einstreichen.
Auch in Argentinien flossen die gewaltigen internationalen Geldströme ins Land der ersten Macri-Jahren nicht in die Modernisierung, der quasi seit 2009 an einer verheerenden Mangel-Investition leidenden Wirtschaft, sondern ermöglichten reichen Argentiniern den Umtausch ihrer Peso-Vermögen in Dollar und letztlich die Kapitalflucht. Das sagen nicht irgendwelche Anti-Imps sondern praktisch jeder moderat bis radikal liberale Ökonom in diesem geschundenen Land. Auch hier profitierten v.a. die Reichen von den Schulden, die eigentlich die Realwirtschaft nach vorne bringen sollten.
In Chile zerbrach der neoliberale Konsens in ein Mißtrauen gegenüber allen Institutionen von biblischen Dimensionen. Gibt es hier auch, aber dort ist es wesentlich extremer und das ist auch zu einem hohen Anteil den akkummulierten Problemen von 45 Jahren real existierendem Neoliberalismus geschuldet.
Unter Neoliberalismus verstehe ich NICHT halbwegs ausgeglichene Staatsausgaben, eine niedrige Inflation oder eine export-orientierte Entwicklungsstrategie, sondern Dinge wie die faktische Total-Entmachtung von Gewerkschaften und der Glaube, dass es der Markt eigentlich IMMER besser richten wird als ein gewisses Maß an vernünftigen Regulierungen.
Korrektur: Russland unter Yelzin
Wie so oft für mich sehr interessante Einblicke in eine faszinierende Weltregion. Danke!
Heute mehr denn je hängt die Prosperität eines Landes stark von den sie umgebenden Ländern ab. Deutschlands wirtschaftliche Stärke ist auch der Einbettung in eine Region geschuldet, wo wir nur von befreundeten rechtsstaatlichen Demokratien umgeben sind. Kleine und mittelgroße Nationen können nicht allein aus sich selbst heraus wachsen. Das Potential der einheimischen Potentiale, Unternehmer und qualifizierten Arbeitskräfte reicht dazu nicht. Und diesen Bedingungen hat sich Chile als Oase hervorragend entwickelt.
Auch ein Land wie Israel zahlt einen hohen Tribut. (Fast) jeder Bürger muss zwei Jahre Militärdienst ableisten, ein sehr hoher Zoll an Lebenszeit mit dazugehörigen Gefahren. Dennoch ragt das Land ob seiner Jugendlichkeit, kulturellen Aufgeschlossenheit und Internationalität heraus. Attribute, die es in dieser Form als Alleinstellungsmerkmal hat. Wie stände der Judenstaat mit seiner Wirtschaftsliberalität, Modernität und jungen Gesellschaft im Herzen Europas dar?
Ich denke, das gilt es zu berücksichtigen, wenn man die Situation in Chile einordnet. Santiago, wie die meisten Chilenen leben, ist bis zum erweiterten Kern eine sehr moderne Stadt. Auch mittelgroße Städte wie Antofagasta im Norden oder Valparaiso haben nicht den Status von Entwicklungsregionen.
Auch Spanien (aus meiner Sicht der passendere Vergleich mit Chile als Griechenland) gab es seit 2010 eine Reihe gewalttätiger Demonstrationen, Ausschreitungen bis hin zur Gründung von neuen Parteien, welche für die vertiefte Spaltung der Gesellschaft stehen. Auch in Spanien haben viele junge Menschen Sorge um Lebenschancen betrogen zu werden.
Neoliberalismus ist ein weiter Bereich. Die von Ihnen genutzte Definition ist die Grenze zum klassischen Liberalismus. Der Neoliberalismus mitteleuropäischer Prägung ist davon ein ganzes Stück entfernt. Ob Hans-Werner Sinn oder Hüther oder Straubhaar, das sind alles ordnungsliberal denkende Wissenschaftler.
Um die Diskussion mal wieder in Richtung des Artikels zu lenken:
https://theweek.com/speedreads/971291/did-republicans-just-sign-midterms-death-warrant
Ich halte dieses nach dem Stimmulierungspaket ist vor dem Stimmulierungspaket für gefährlich.
Aber sieht wie ein guter Grund aus die MSCI ETF mit ihrem starken US Fokus doch noch eine Weile zu halten. Aber irgendwie riecht das für mich langsam aber sicher nach 1928. Die Inflationsrate zwischen 1927 und 1928 betrug in den USA übrigens -1,72%.
Wenn ich schon nicht mehr an den trickle down effect glaube, warum soll ich dann an den Keynesianischen Multiplikator glauben? Ist der nicht im Wesen ein trickle up Effekt? Also das gleiche, nur andersrum.
Naja, ich glaube nicht, dass Gegenstände wenn ich sie fallenlasse nach oben schweben, aber schon, dass sie fallen. Das ist eine merkwürdige Analogie.
Wieso das?
Der Keynesianische Multiplikator-Effekt läuft doch polemisch ausgedrückt so:
Der Staat gibt den Arbeitslosen die Aufgabe, an ungeraden Tagen ein Loch in den Boden zu graben und an geraden Tagen, dieses Loch wieder mit Erde aufzufüllen. Dafür erhalten die ehemaligen Arbeitslosen Geld.
Die ehemaligen Arbeitslosen können dann beim Bäcker Brot kaufen. Dadurch macht der Bäcker mehr Umsatz und Gewinn.
Der Bäcker kauft eine neue Brotmaschine beim Brotmaschinen-Produzenten.
Der Brotmaschinen-Produzent stellt neue Arbeiter ein.
Die Arbeiter kaufen sich Brot beim Bäcker.
usw.
Der Staat gibt in dem Beispiel das Geld also zunächst an die Bedürftigsten und erhofft sich dadurch eine konjunkturelle Belebung, von der letztlich alle profitieren.
Man kann das sehr wohl als trickle up effekt bezeichnen.
Ja, so etwas ist immer gerne gezeichnet, karikiert aber lediglich Keynes‘ Beispiel. Keynes beschrieb die Analogie mit dem Erdloch als Konstrukt, wie in einer Wirtschaftskrise Leerkapazitäten gefüllt werden könnten durch staatlichen Ausgleich.
In Keynes Formel dazu wird der Staatsanteil dabei durch Schulden finanziert, da es sonst zu kontraktiven Effekten kommt, die ja gerade in der Rezession nicht gewünscht sind. Da aber kein Mehrwert geschaffen wird, ging Keynes auch nicht von Wachstumsimpulsen aus. Das ist Unsinn.
Tatsächlich funktioniert es so, dass bisher nur Löcher ausgehoben werden (oder die Arbeiter eine andere Tätigkeit verrichten, die in der Krise wegfällt). Nun besteht zeitweise kein Bedarf mehr an Erdlöchern, weshalb die Arbeiter eigentlich entlassen würden. Stattdessen springt der Staat ein, finanziert die weitere Aushebung, nur dass diese wieder zugeschüttet werden, damit das Tagewerk von neuem beginnen kann.
Das Wachstum entsteht durch den Multiplikator.
Keynes entwickelte die Theorie während der Auswirkung des tiefen externen Schocks der Grossen Depression. Er kam zu dem Schluß, dass klassische Geldpolitische Maßnahmen nicht mehr ausreichten, um aus der sich selbst verstärkenden Rezession herauszukommen. Deshalb empfahl er eine expansive Fiskalpolitik. Er begründete das mit dem Multiplikator-Effekt. Der wurde von liberalen Ökonomen oft angezweifelt. Tatsächlich existieren viele empirische und wirtschafts-historische Studien, die den eigentlich plausiblen Effekt aus verschiedenen Gründen nicht entdecken konnten.
Irgendeine Studie gibt’s immer.
Aber ernsthaft, dass der Effekt nicht existiert ist doch eine völlig randständige Position. Der Streit dreht sich darum,
a) wie groß er ist und
b) welche volkswirtschaftlichen Verzerrungen er mit sich bringt.
Nicht, ob er existiert.
Naja. Es war von mir unscharf formuliert.
Die Frage ist eher, ob der Multiplikatoreffekt sich in eine gewuenschte Richtung steuern laesst.
Bezogen auf mein Beispiel oben:Insbesondere der Teil, dass der Fabrikant eine neue Brotmaschine investiert, ist sehr angreifbar.
Das war eine riesige Debatte in den 70ern und 80ern. Hier hatten aus meiner Sicht die angebotsseitige Theorie sehr gute Argumente.
Wäre mal spannend in einem eigenen Artikel.
Yet this may be a much larger political risk than it was in 2009. For one, the economy is already doing better than it was at the beginning of Obama’s term. Unemployment is only moderately high and falling, whereas back then it was high and rising — and it stayed high through the 2010 midterms. This stimulus is also much larger than the Recovery Act; it is predicted to create the biggest economic boom in decades once the pandemic is over.
Da bekomm ich german angst.
Der externe Schock wirkte weniger tief als 2010 und dieses Stimmulierungspaket ist wesentlich umfangreicher als das von damals. Die starten also immer größere Helikopter, um Geld auf die Menschen regnen zu lassen? Haben wir die ultimative Lösung für konjunkturell schwierige Zeiten gefunden, oder hat das ganze nicht vielleicht doch irgendwo eine Grenze?