Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Je nachdem wie sich das einpflegt werde auch auch auf andere Medien und Formate eingehen, die ich als relevant empfinde. Vorerst ist das Verfahren experimentell, bitte gebt mir daher entsprechend Feedback! Diesen Monat: Cinderella frisst Kinder, Jungs und Sex, Tourismus im 3. Reich, die Geschichte der Bibelexzegese, Sprache und Sein, U-Boot-Taktik, Erdogan und richtige Ernährung.
Außerdem diesen Monat: Besprechungen von Zeitschriften zu Klimadiskursen, Wetter, Rechtsterrorismus, Simone de Beauvoir und das Goldene Zeitalter der Niederlande.
Peggy Orenstein – Cinderella ate my daughter
Peggy Orensteins Buch ist ein Klassiker, dessen Lektüre ich viel zu lange aufgeschoben habe. In dem Buch untersucht die Autorin, welche Phasen Mädchen heute durchmachen – und woher diese kommen. Letztlich geht es einmal mehr um die große „Nature vs. Nurture“-Debatte, also: sind Geschlechterrollen biologisch oder sozial bestimmt? Die wenig überraschende Schlussfolgerung Orensteins: Beides, aber letzteres spielt eine deutlich größere Rolle, vor allem, wo es um die konkrete Ausprägung geht.
Ein Schwerpunkt des Buchs liegt dabei auf dem zweiten bis sechsten Lebensjahr, der Prinzessinnenphase. Orenstein leitet die Erkenntnisse ein, dass kleine Kinder – unabhängig vom Geschlecht – keinerlei Konzept eines solchen haben; sie müssen diese Wahrnehmung erst lernen. Das geschieht üblicherweise zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr, und ebenso üblicherweise im Kindergarten. Hier beginnen sich plötzlich Jungs und Mädchen abzugrenzen, und die Mädchen tun das vor allem mit einer ans Fanatische grenzenden Begeisterung für Pink und Prinzessinnen.
Orenstein räumt mit den mittlerweile bekannten und oft widerlegten Vorurteilen auf, die dazu im Umlauf sind, etwa, dass es eine natürliche weibliche Vorliebe für Pink gebe, und zeigt, dass der Prinzessinen- und Pink-Wahn aus der Industrie selbst kommt, die darin in den 1970er Jahren eine perfekte Möglichkeit fand, alle Kinderprodukte doppelt zu vermarkten. Sie untersucht den Topos auf seine Botschaften hin und geht generell sehr kritisch mit ihm ins Gericht, ohne aber mit einem gewissen Selbstzweifel die Frage zu stellen, ob es nicht einfach nur ein Entwicklungsschritt ist – bleiben doch die wenigsten Mädchen beinharte Prinzessinnenfans. Letztlich entscheidet sie sich für den Kompromiss, mehr Rollenvorbilder anzubieten – vor allem solche, die positiver und aktiver sind als Prinzessinnen – und die schlimmsten Auswüchse einzudämmen.
Die anderen Phasen der Mädchenentwicklung bis hin zur Pubertät werden demgegenüber deutlich kürzer behandelt, kommen aber ebenfalls zu ihrem Recht. Es bleibt auffällig, worauf Orenstein auch wiederholt hinweist, welch eingeschränkten Rollenangebote Mädchen aller Altersklassen gemacht werden, dass sie stets als Abweichung von der Norm gelten und dass sie auch Probleme damit haben, eine gesunde Sexualität zu entwickeln, weil sie zwar durch die Werbe- und Modeindustrie in übersexualisierte Objekte verwandelt werden, eine gesunde Auseinandersetzung mit dieser Sexualität aber dann zugunsten platter Moralpredigten ausbleibt.
Peggy Orenstein – Boys and sex
Neben „Cinderella ate my daughter“ ist Orenstein auch für das (von mir bisher ungelesene, aber auf meiner To-Do-Liste stehende) „Girls&Sex“ bekannt, für das sie rund 100 Mädchen und junge Frauen interviewte und versuchte, eine aktuelle Bestandsaufnahme des weiblichen Teenagersexuallebens aufzustellen. Nun hat sie sich auch dem anderen Geschlecht zugewandt und mit „Boys&Sex“ mit über 100 Jungs und Männern geredet. In Form von ausführlichen Berichten und Kurzbiographien zeigt sie verschiedene Aspekte der adoleszenten männlichen Sexualität im Jahr 2020 auf.
So untersucht sie klassische „jocks“, die im Football-Team spielen, andere Profisportler, selbst erklärte Feministen, geläuterte Sexualstraftäter, Schwarze, Asiaten, Homosexuelle und Transsexuelle. In jeder Kategorie kommen einige Exponenten ausführlich zu Wort, während Orenstein die Aussagen kategorisiert und einordnet. Das funktioniert recht gut, as far as it goes. Denn strukturell plagen einige Probleme das Buch.
Man muss gleich zu Beginn die Beschränkungen des Buchs deutlich machen, die Orenstein auch nicht zu verheimlichen versucht. Genau wie „Girls&Sex“ befragte sie ausschließlich Jungs und Männer aus dem akademischen Milieu, sprich: Highschool- und College-Studenten. Diese drücken sich natürlich vergleichsweise gewählt aus, haben recht große Reflexionsfähigkeit und, vor allem, gehören zu einer recht eingeschränkten sozialen Schichtung. Das macht Orensteins Werk nicht überragend allgemeingültig.
Problematischer empfinde ich jedoch ihren Fokus auf die Hookup-Culture. Ja, die ist sicherlich aktuell ein großes Phänomen in den USA (und praktisch nur dort!), aber dieser Fokus nimmt eine zentrale Rolle ein, die viele andere Aspekte verdrängt. Die Konzentration auf typische „Overperformer“ im sexuellen Bereich konzentriert Orensteins Wirken auch praktisch ausschließlich auf gut aussehende, im Anbahnen sexueller Kontakte erfolgreiche Männer. Weder kommen typische Außenseiter wie Nerds (was angesichts des ganzen #Gamergate-Debakels mehr als angebracht gewesen wäre) noch Incels (was angesichts deren hervorgehobener Rolle in der Rechtsradikalisierung in Trumps Umfeld mehr als angebracht gewesen wäre) zur Sprache, oder einfach nur durchschnittliche, monogam lebende Typen.
Das ist angesichts der Konzentration auf die Hookup-Culture nur folgerichtig, aber diese wird von Orenstein zu einem allgemeingültigen Phänomen gemacht, das sie nur eingeschränkt ist. Ihre Ergebnisse sind daher weniger „Boys&Sex“; der Untertitel ihres Buches verdient größere Aufmerksamkeit, als er in der Promotion bekommt. Aber: Die Ergebnisse sind trotz allem spannend. Wir können sehen, welche Folgen die Hookup-Culture für beide Seiten hat, wie selbst Männer, die innerhalb eines Jahres mit über 40 verschiedenen Frauen Beziehungen unterhalten, dadurch vor allem wahnsinnig unbefriedigenden Sex erhalten, und wie toxische Maskulinität jede intime, gewinnbringende Beziehung unmöglich macht – ob zwischen Männern und Frauen einerseits oder zwischen den „Bros“ andererseits. Und in dieser Beziehung ist die Lektüre ebenso zeitgemäß wie fruchtbar.
Julia Boyd – Travellers in the Third Reich: The Rise of Fascism through the eyes of Everyday People
Es gibt Bücher, deren Titel eindeutig vom Verlag und nicht vom Autor vergeben wurden. Das hier ist so eines. „Travellers in the Third Reich: The Reaction of Lack Thereof to the Rise of Fascism through the eyes of the British Aristrocracy and Upper Middle Class“ wäre der wesentlich treffendere Titel gewesen. Grundsätzlich hätte man sich das denken können. Wer schließlich hat in den Dreißiger Jahren das Geld und die Inklination, nach Deutschland zu reisen? Spannend bleibt Boyds Idee trotzdem: Wie nahmen Reisende, vor allem Touristen, aber generell nicht in staatlicher Funktion unterwegs befindliche Menschen das Dritte Reich wahr?
Auch wenn Boyd den Versuch einer solchen Kategorisierung zugunsten ausführlicher Zitate aus den entsprechenden Berichten und Tagebüchern gar nicht unternimmt, so kristallisieren sich doch klare Gruppen heraus.
Da wären etwa die Ahnungsvollen, die sensibel und intellektuell aufrichtig genug sind, um von Anfang an zu sehen, worauf das hinausläuft. Ihre Biographien sind es auch, die die deutschen Ausreden von „wir haben das alles nicht gewusst“ Lügen strafen. Wenn etwa ein britischer Wanderer bei seiner Deutschlandtour 1934 (!) Dachau meidet und möglichst schnell München verlässt und in seinem Tagebuch den Abzählreim „Lieber Gott, mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm“ zitiert, dann lässt das die späteren Beteuerungen der Einwohner nach elf weiteren Jahren, nichts gewusst zu haben, noch unglaubwürdiger erscheinen als ohnehin. Diese Gruppe aber ist recht klein.
Dann sind da die Fans. Eine hervorgehobene Stellung nimmt hier Unity Midford ein, eine skurrile Person, die sich zu einem begeisterten Fangirl Adolf Hitlers mutiert und so etwas wie seine Maskottchen-Engländerin wird. Aber auch eine erschreckende Zahl weiterer Engländer mit hervorragendem bürgerlichen Leumund zeigen sich absolut begeistert von den Nürnberger Parteitagen, die sie als Tourismus-Event besuchen, oder den Touren durch das Konzentrationslager Dachau, in denen die Nazis interessierten Touristen das Lager vorführen (mit als Gefangenen verkleideten Wärtern, versteht sich). Aber auch diese Gruppe bleibt überschaubar.
Die weitaus größte Gruppe sind die Ignoranten, die zwar die Auswüchse des Dritten Reichs wie die ganzen „Juden verboten!“-Schilder schon irgendwie unschön finden, aber hauptsächlich deswegen, weil die das schöne Märchendorf-Panorama der Voralpen ruinieren. Sie sind die mit Abstand größte Gruppe. Hier finden sich Akademiker, die 1938 nach der Reichskristallnacht mahnen, man solle nicht gegen Studentenaustausche sein, weil die Auseinandersetzung mit den Nazis vor Ort „Toleranz gegenüber anderen Zivilisationen“ fördere (wer Parallelen zum heutigen Umgang mit Rechtsextremen findet, darf sie behalten). Hier finden sich Adelige, die in den Deutschen Gleichgesinnte in der Beurteilung Ghandis finden. Hier sind Wagner-Fans, die zwar mit aller Macht versuchen, den Nazis aus dem Weg zu gehen, aber gleichzeitig nicht bereit sind, persönliche Opfer zu bringen und sich nicht für die Regimepropaganda einspannen zu lassen, der zu entkommen unmöglich ist.
Spannend zu sehen ist auch, wie lange das muntere Treiben geht. Die Reisetätigkeit erlahmt erst mit der Sudetenkrise und, vor allem, der Reichspogromnacht. Davor lassen sich nur die wenigsten überzeugen, auf ihre Reisen nach Deutschland aus politischen Gründen zu verzichten. Ein ganz besonderes Genre sind jene Engländer, die begeistert versuchen, das neue Deutschland im Geist der Völkerverständigung zu verstehen und die in ein Arbeitslager der Nationalen Arbeitsfront gehen und dort zusammen mit den Dienstpflichtigen zwei Wochen im Autobahnbau schuften, oder die an einer KdF-Kreuzfahrt teilnehmen. Das Regime schlachtete diese Leute als Propagandaerfolge weidlich aus, während deren Einsichten begrenzt blieben.
Letztlich zeigt das Buch daher vor allem, wie unmöglich es ist, angesichts eines monströsen Unrechtsstaats wie des Dritten Reichs unpolitisch zu bleiben und „nur“ zu reisen. Keinem der vielen in diesem Buch zu Wort kommenden Reisenden gelingt das. Sie alle werden zu Mittätern und Mitwissern, manche mehr, manche weniger. Die Besten von ihnen realisieren es und wenden sich angewidert ab. Den meisten ist es egal. Auch hier sind Parallelen zu heute versteckt, die man nicht eben mit der Lupe suchen muss.
Bart D. Ehrman – Misquoting Jesus
Besonders unter den Evangelikalen gehört es zum guten Ton, die Bibel auf eine Art wörtlich zu nehmen, die der islamistischer Extremisten in nichts nachsteht. Umso spannender ist es, wenn ein ehemaliger Anhänger dieser Extremisten seinen Erkenntnisprozess darlegt, indem er akademisch zu der Einsicht gelangte, dass die Bibel nicht ein 2000 Jahre alter, unveränderter Text, sondern ein von unzähligen Kopisten, Autoren, Fälschern und Priestern überarbeitetes Gesamtwerk ist.
Ehrman beschäftigt sich in diesem Buch für Laien verständlich mit der Kunst der Bibelexzegese: Woher wissen wir, welcher Text älter ist, wenn widerstreitende Manuskripte existieren? Wie verbreitete sich die ursprüngliche Bibel in einer Welt, in der praktisch niemand lesen konnte? Wie wurde sie unter den Ur-Christen kopiert und verbreitet? Wie schrieb Paulus seine Briefe? Welche Rolle spielten die Mönche in ihren Schreibstuben?
Diesen und zahlreichen anderen Fragen wird nachgegangen. Dabei lernt man, wie Fehler sich in die Kopien einschlichen (die griechischen Manuskripte wurden im wahrsten Sinne des Wortes ohne Punkt und Komma geschrieben, und die Kopisten konnten selbst nicht lesen, malten also nur Buchstaben ab!), wie spätere, theologisch gebildete Kopisten die Manuskripte „korrigierten“ (indem sie in ihrem Sinne Änderungen vornahmen), wie manche Geschichten sich in die Evangelien schlichen, obwohl sie im Original nicht da waren (etwa die berühmte „wer ohne Sünde ist werfe den ersten Stein“-Episode – ich bin nachhaltig fasziniert davon, dass sie eine Erfindung aus dem dritten Jahrhundert ist), und vieles mehr.
Gerade die Suche nach dem ältest möglichen Text ist für mich ungeheuer spannend, weil hier Grundfragen des Textverständnisses der Bibel geklärt werden müssen. War Jesus wütend auf den Leprakranken, den er heilte, oder von Mitgefühl geprägt? Die griechischen Worte liegen nah beieinander, und die die alten Manuskripte haben beide Lesarten. Und jede Lesart gibt andere theologische Rätsel zum Verständnis der Person Jesu‘ auf.
Mit am spannendsten fand ich allerdings jene Kapitel, in denen Ehrman auf die Einflüsse von Politik und Gesellschaft eingeht. Die Streits und Debatten der ersten beiden Jahrhunderte nach Christus haben die Lesart der Bibel deutlich geprägt – und mit ihr die vorgenommene Änderungen durch Kopisten und die Evangelisten selbst. Eine Nachbemerkung zu letzteren: Ehrman macht klar, dass es wesentlich mehr als vier Evangelien gab und dass die Evangelisten voneinander abschrieben und sich gegenseitig beeinflussten. So setzte etwa Lukas dem verzweifelt-menschlichen Jesus der Passionsgeschichte seine eigene, lakonisch-überlegene Version entgegen. Es konnte ja nicht sein, dass der Gottessohn Verzweiflung spürte!
Die Auswahl von Markus‘, Lukas‘, Matthäus‘ und Johannes‘ Evangelium war letztlich ein politischer Beschluss, wie generell praktisch alles, was es in das „offizielle“ Neue Testament schaffte. Aber das ist, außer für christliche Fundamentalisten (von denen Ehrman ja herkommt) keine große Überraschung.
Spannender ist da etwa, wie die beginnende Feindschaft gegenüber dem Judentum, demgegenüber sich abzugrenzen für das neue Christentum Notwendigkeit war, Änderungen in der Bibel beförderte, wo Kopisten zahlreiche Passagen änderten, die etwa Vergebung oder gar Erlösung auch für Juden innehatten. Oder wo absichtlich die Passagen so geändert wurden, dass sie die damals gängige Kritik der Heiden an der Heilsgeschichte konterten, etwa wenn Jesus nicht mehr Zimmermann sein durfte. Der Sohn Gottes ein einfacher Zimmermann? Unmöglich! Es ist ein langer Weg zu „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug.
Insgesamt eröffnet die Lektüre daher beeindruckende Einblicke in die Genese der Bibel. Sie sollte auch den letzten Fanatiker von der Vorstellung heilen, aus der Bibel heraus ungefiltert das Wort Gottes interpretieren zu können. Ich bin zu wenig interessiert an konfessionellen Konflikten, und Ehrman greift den Gedanken nur einmal kurz auf, aber witzigerweise spricht das sehr für die katholische Kirche, die solchen Ansichten immer entgegenstand. Deren Autoritarismus (nur wir wissen, was die Religion ist) ist freilich auch nicht gerade problemfrei.
Kübra Gümüşay – Sprache und Sein
Kübra Gümüşay ist eine der großartigsten Aktivistinnen im Netz, die ich kenne. Ihre Rede „Organisierte Liebe“ von der re:publica 2016 ist heute noch so beeindruckend und aktuell wie vor vier Jahren. Und ihr jüngster Auftritt in Illners Talkshow zeigt ebenfalls mehr als deutlich, wo der Wert ihrer Stimme liegt und warum wir über das reden sollten, was sie schreibt. Zum Glück können nun auch solche Menschen, die nicht auf Twitter unterwegs sind oder Videos auf Youtube schauen sich mit diesen Gedanken befassen, denn Kübra Gümüşay hat mit „Sprache und Sein“ nun ein kohärentes Buch zum Thema vorgelegt.
Worum geht es? Gümüşays zentrale These ist, dass die Sprache unser Sein bestimmt. Welche Worte wir verwenden, beeinflusst direkt, wie wir die Welt und die Menschen um uns herum beachten. Das ist unter Sprachforschern nicht umstritten, aber gehört nicht unbedingt zu den Erkenntnissen, die es in die große Breite geschafft haben. Gümüşay hält sich aber gar nicht groß mit den (durchaus faszinierenden) sprachwissenschaftlichen Hintergründen auf, wenngleich das Buch voller äußerst faszinierender Parallelen zum Türkischen und Arabischen ist, anhand dessen sie aufzeigt, welche Worte in manchen Sprachen gar nicht existieren, sondern geht direkt zu der Frage über, was das für das Leben im Alltag bedeutet – konkret, für das Leben derer, die nicht der Standard in Deutschland sind.
Ihre Perspektive als Muslima offeriert ihr gleich zwei Außenseiterperspektiven: Frau und Muslim. In beiden Fällen kann sie beschreiben, wie Sprache den Alltag prägt. Bereits wenn sie sich mit dem „generischen Maskulinum“ beschäftigt wird der Rote Faden ihres Werks deutlich. Ein Teil der Bevölkerung ist Standard und wird in seiner Existenz nicht hinterfragt. Sie sind die Unbenannten. Der Rest ist in konstantem Zweifel, ob er mitgemeint ist oder nicht. Sie sind Benannt.
Gümüşay macht dies autobiographisch immer wieder an ihrer eigenen Karriere deutlich. Stets wurde sie als Repräsentantin für ihre Kultur (Türkisch) und/oder ihre Religion (Islam) gesehen, nie einfach nur als Mensch. Stets muss sie sich für ihre jeweilige Kultur und Religion verantworten, auf eine Weise, die Unbenannte niemals müssen. Wir sehen das in den Rassismus-Debatten unserer Tage ja auch immer und immer wieder.
Dieses ständige Rechtfertigen packte Gümüşay in den Begriff der „intellektuellen Putzfrau“, als die sie oft genutzt wird, indem sie den Gedankenmüll anderer Leute aufräumen muss – an prominentester Stelle die unsägliche Debatte, ob der Islam zu Deutschland gehöre, deren Schmerzhaftigkeit weder Illner noch Laschet in unsensibelster Art als Unbenannte in der genannten Talkshow einzusehen bereit waren – und lehnt es entschieden ab. Sie will nicht weiter von den Unbenannten benannt, sondern als Mensch wahrgenommen werden. Gümüşay spricht es nicht explizit aus, aber das absurde ist, dass die unbenannte Mehrheitsgesellschaft genau das tut, was sie Aktivistinnen wie ihr immer tut: Menschen nur in Identitätskategorien packen. Nur, dass die Unbenannten es halt erst merken, wenn sie zum ersten Mal explizit benannt werden. Stichwort alter weißer Mann.
Der größte Kritikpunkt, den ich an Gümüşays Buch habe, ist ein ästhetischer. Sie versieht den Text mit zahlreichen Zitaten verschiedenster Künstler und Intellektueller, so viele tatsächlich, dass es für den Lesefluss störend zu wirken beginnt, zumindest nach meinem Empfinden. Dabei hat sie es gar nicht nötig, sich so viele Autoritäten als Krücken zu nehmen; ihre Argumentation steht auch für sich alleine und kommt ohne die (ohnehin etwas suspekte) Hilfe Nietzsches aus. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau. Ich kann Gümüşay jedem nur empfehlen, ganz besonders jenen, die zu den Forderungen und Argumente dieses AktivistInnenzweigs bisher nie einen Zugang gefunden haben.
Denis Yüzel – Und morgen die ganze Türkei. Der lange Aufstieg des Recep Tayyip Erdogan
Yüzels Essay hat gerade einmal 40 Seiten, das Buch kostet keine zwei Euro. Wer also einen Kurzüberblick über den Aufstieg Erdogans lesen will, riskiert weder zu viel Zeit noch Moneten, und Yüzel hat sowohl eine flüssige Schreibe als auch einen guten Überblick über die Lage. Er erkundet zuerst die Gründe für den Aufstieg der AKP, indem er im Eildurchlauf die moderne türkische Geschichte skizziert, in der das Versprechen des Laizismus und der ultimativen Kontrolle durch die türkische Armee immer wieder nicht die Resultate brachte, die man sich daraus erhoffte, vor allem die Modernisierung des Landes und den Eintritt in die Europäische Union.
Tatsächlich gewannen Erdogan und seine AKP die Macht, indem sie als Modernisierungskraft und Garant für eben diese Mitgliedschaft wahrgenommen wurden. Dabei gelang es ihnen, die traditionellen Kräfte der Türkei – also vor allem die islamischer lebende Gesellschaft außerhalb der Städte – in diese politische Koalition miteinzubeziehen. Später erkannte Erdogan dann seine großen Chancen im Drall zu Autoritarismus und Stagnation, die mit volkstümelndem Islamismus übertüncht wurden.
Es ist interessant über diesen Scheideweg nachzudenken, als das europäische Projekt stockte, aus mehreren Gründen. Einerseits weigerte sich die konservative Parteienfamilie Europas stets, die Türkei tatsächlich aufzunehmen (gerade in den frühen 2000er Jahren wurde damit in den Wahlkämpfen noch viel politisches Heu gedroschen, zuletzt (völlig absurd, wie so vieles) in der Brexit-Debatte. Umgekehrt zeigt aber auch die Entwicklung der Türkei seither – mit den mahnenden Beispielen Ungarn und Polen – dass selbige Parteienfamilie mit ihrer Ablehnung, gleichwohl sie wohl auch rassistisch motiviert gewesen sein dürfte, vermutlich richtig lag. Die Vorstellung einer Achse Warschau-Budapest-Ankara, die direkte Verwicklung der EU in den dann an ihren Außengrenzen stattfindenden Syrien-Krieg, die Kurdenfrage als EU-Thema – man schaudert alleine beim Gedanken daran.
Gordon Williamson – U-Boat Tactics in World War II
Zugegebenerweise eher ein Spezialthema wird in diesem Buch abgedeckt, das von einschlägigen Kreisen als „für Einsteiger“ empfohlen wird. It’s true as far as it goes, wie der Angelsachse sagt. Einsteiger heißt hier aber, dass sehr solide Grundkenntnisse über Verlauf und grundsätzliche Strategie des U-Boot-Krieges bestehen. Wer also nicht anhand von Schaubildern nachvollziehen will, wie sich ein U-Boot dem ASDIC-Radar eines Zerstörers entziehen konnte, oder wie man am besten einen Geleitzug angreift, für den ist dieses Buch eher nichts.
Ich fand die Lektüre angesichts dessen, dass dies genau das war das ich gesucht habe (aus Gründen), grundsätzlich durchaus gewinnbringend. Das Buch vereint aber letztlich zwei gegensätzliche Zielsetzungen ineinander. Es möchte nämlich einerseits sehr kurz sein (was ihm gelingt), andererseits aber Taktik, Strategie und Technik für den gesamten Kriegsverlauf darstellen, innerhalb dessen sich alle drei Kategorien entscheidenden Änderungen ausgesetzt sahen. Entsprechend schlaglichtartig sind die einzelnen Kapitel, fühlen sich eher wie kurze Beleuchtungen ausgewählter Sachverhalte an. Ein echter Überblick kommt so nicht auf; die gewonnenen Erkenntnisse müssen in das Mosaik eigener Vorkenntnisse zum U-Boot-Krieg eingebaut werden.
Ebenfalls negativ stoßen mir die leider für das Genre typischen Stilblüten auf. Eine generelle Verherrlichung des Krieges ist den meisten dieser Werken zu eigen, und ich bin kein großer Freund davon, unreflektiert die Kategorien von Erfolg und Heldenmut aus jener Ära zu übernehmen. Sicherlich ist es Ausdruck großen Muts und Draufgängertums, sein U-Boot an der Oberfläche in einen Konvoi hineinzulenken und ihn von innen heraus zu dezimieren, aber darüber geht nur allzu leicht verloren, dass solches Draufgängertum einerseits sonderlich nachhaltig ist und andererseits für diese Heldentaten Menschen elendig ertrinken. Man könnte erwidern, dass diese unangenehmen Realitäten des Krieges nichts in einer taktischen Untersuchung verloren hätten. Fairer Punkt. Aber in dem Fall sollte man auch von Heroisierungen absehen, und das geschieht eben gar nicht.
Bas Kast – Der Ernährungskompass
Ich habe ja ausführlich über meine Erfahrungen mit Nadja Herrmanns „Fettlogik überwinden“ geschrieben, die für mich mehr als einschneidend waren. Da ich mittlerweile 35 Lenze zähle, habe ich den erstmalig anstehenden Check-Up bei meiner Hausärztin zum Anlass genommen zu fragen, was ich denn für meine Gesundheit tun könne. Sie empfahl mir dieses Buch. Wer bin ich, ärztlichen Rat zu ignorieren? Also hab ich es mir geholt.
Bas Kast ist Wissenschaftsjournalist und hat sich – darin gleich sein Ansatz dem Herrmanns – hunderte von Studien zu Gemüte geführt, um sich durch das Chaos widersprüchlicher Ernährungshinweise zu wühlen. Sein wissenschaftlicher Hintergrund erlaubt ihm dabei durchaus Urteile, die für die Leser segensreich sind. Herrmann verzichtet in ihrem Buch darauf, Hinweise zur Ernährung zu geben; sie beschreibt ja nur, welche Fettmythen man überwinden muss, um abzunehmen (erneut: sehr erfolgreich). Daher macht dieses Buch, das sich nur mit Ernährung beschäftigt, als Ergänzung sehr viel Sinn.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Die Empfehlung meiner Ärztin kann ich weitergeben; die Lektüre ist sehr gewinnbringend. Bas Kast legt zwar auch ein großes Gewicht auf das Abnehmen und schlank Bleiben, aber bei ihm geht es nicht um Kalorien, sondern eine möglichst gesunde Ernährung, mit der Abnehmen automatisch passiert.
Was aber ist gesund? Genau darüber besteht wenig Einigkeit. Und eines, das man Kast hoch anrechnen muss, ist, dass er auf pauschale, allgemeingültige Urteile verzichtet. Denn wenn die Lektüre eines klar macht, dann, dass es „die“ eine gesunde Ernährung nicht gibt. Und Kast erklärt auch ausführlich, warum. Dabei löst er unter anderem auch den ewigen Streit zwischen den „low carb“ und „low fat“ Fraktionen (Tipp: Es kommt auf den einzelnen Menschen an).
Tatsächlich aber ist immer wieder überraschend, welche Lebensmittel man aus welchen Gründen essen sollte und welche nicht. Wer also schon immer wissen wollte, weshalb Vollkornbrot besser als Weißbrot ist oder warum Olivenöl gesund ist, ist mit dem Buch super beraten. Ich weiß jetzt schon, dass ich einige Ernährungsgewohnheiten umstellen werde, obgleich ich dank meines Abnehmens eh schon radikal anders esse als noch vor vier Jahren. Aber mir war nicht klar, wie sehr mein gesundheitlicher Zustand und meine allgemeine Lebenserwartung (!) sich noch durch die Details steuern lassen.
Gerade letzteres war für mich die größte Überraschung. Die Ernährung allein kann einen Unterschied in der Lebenserwartung (und Lebensqualität!) ausmachen, der sich in Jahren rechnet. Und das ist ein mehr als attraktiver Gewinn an Lebensqualität, für den allein die Lektüre lohnt.
ZEITSCHRIFTEN
Aus Politik und Zeitgeschichte – Wetter
Wir machen weiter mit der steuerfinanzierten Lektüre der „Aus Politik und Zeitgeschichte“ von der Bundeszentrale für politische Bildung. Da Wetter und Klima gerne verwechselt, aber auch häufig diskutiert werden, erschien es mir als ratsam, mich etwas mehr mit Ersterem zu beschäftigen. Die ersten Beiträge in dem Heft geben dabei einen ganz guten Überblick zu einigen Themen, wenngleich spezielleren, als ich mir hierfür gewünscht hätte. Positiv ist hier wieder einmal Jörg Kachelmann herauszustellen, dessen polemischer Stil zwar nicht jedermanns Sache sein mag, der aber mit großem Sachverstand und Erklärfähigkeit an die Sache herangeht.
Weniger brauchbar waren für mich als Einsteiger einige der späteren Aufsätze in dem Heft, die sich sehr in den Details der Niederschlagsmessung und generell der Wetterempirie verloren. Für den einschlägig interessierten Leser mag hier mehr herauskommen, aber ich fand meine Aufmerksamkeit immer abschweifen. Das sagt nichts über die Qualität und mehr über meine Interessen aus (und meine Fähigkeit zur Konzentration), aber es mag für interessierte Leser ja eine interessante Beobachtung sein.
Aus Politik und Zeitgeschichte – Das andere Geschlecht
Anlässlich des Jubiläums von Simone de Beauvoirs epochemachendem Werk „Das andere Geschlecht“, das bis heute einen fundamentalen Text feministischer Theorie darstellt (berühmt vor allem der Satz, dass man nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht werde), hat die BpB dieses Heft herausgegeben. Die Bandbreite der darin enthaltenen Essays ist sehr groß. Den Einstieg etwa macht Kolumnistin Margarete Stokowski, die die Bedeutung des Buchs skizziert und in einem Panoramabild umreißt. Spannend ist vor allem, dass de Beauvoir sich bis in die 1960er Jahre dezidiert nicht als Feministin begriff, weil sie eine klassische Linke war, die einzig in ökonomischen Begriffen dachte – quasi Corbyn/Sanders statt Wokeness. Das änderte sich aber, je mehr sie diesen Irrtum erkannte.
Eine Selbstanalyse dieses Irrtums findet sich im Wiederabdruck eines von insgesamt vier Interviews, die sie in den 1970er Jahren mit Alice Schwarzer, der damals noch jungen prominentesten Feminismus-Aktivistin Deutschlands machte. Es ist deutlich erkennbar, wie der Diskurs der Frauenbewegung einerseits de Beauvoirs Denken beeinflusste, wie aber umgekehrt auch sie ihre Ideen in die Bewegung zurückspiegelte.
Die danach folgenden Texte fand ich weniger spannend, beschäftigen sie sich doch mehr mit dem philosophischen als dem gesellschaftlich-politischen Teil. Und jedes Mal, wenn ich mich mit Philosophie beschäftige, muss ich feststellen, dass es nicht mein Ding ist. Ich komme schon mit dem geschwollenen Jargon nicht klar, der diese Disziplin der Geisteswissenschaften deutlich mehr plagt als Geschichts- und Politikwissenschaft. Vielleicht hat jemand anderes mehr von vergleichenden Untersuchungen von de Beauvoirs Vorstellungen vom Existenzialismus. I don’t really care.
Aus Politik und Zeitgeschichte – Rechtsterrorismus
Nicht erst seit dem ganzen Desaster um den NSU-Untersuchungsausschuss ist Rechtsterrorismus ein Thema, das immer stärker auf die Agenda drängt. Und das bezieht noch nicht einmal die jüngsten Vorgänge von Hanau mit ein. Was dieses Heft leistet ist, eine strukturelle Analyse des Rechtsterrorismus in Deutschland zu liefern, sowohl historisch als auch, hauptsächlich, soziologisch.
Spannend ist dabei vor allem die Erkenntnis, dass Rechtsterrorismus nach anderen Regeln funktioniert, als dies etwa für islamistische Terrorzellen, den Terror der RAF oder aber nationalistisch-separatistischen Terror à la IRA oder im Baskenland gilt. Die große Verwirrung, die hierzu auch in Hanau wieder sichtbar war, wird durch die Lektüre dieser Essays definitiv ausgeräumt.
Wir haben es zwar, wie die Autoren aufzeigen, einerseits mit Einzeltätern zu tun, die nicht in klassische Terrorzellen eingebunden sind. Andererseits aber sind alle diese „Einzeltäter“ einander in ihren Manifesten und Tatabläufen so ähnlich, intellektuell alle miteinander verbunden, dass die Idee deutlich ein Kategorienfehler ist. Rechtsterrorismus ist ein organisiertes Phänomen, nur zeigt sich diese Organisation nicht, wie wir es klassischerweise kennen.
Das macht die Beschäftigung relevanter, nicht weniger relevant, und den Rechtsterrorismus selbst gefährlicher, nicht harmloser. Und es erfordert von allen Beteiligten ein Umdenken, von Verfassungsschutz und Polizei zur Politik hin zu Autoren und Kommentatoren dieses Blogs, die allzu oft genau diesen Kategorienfehler begehen.
Aus Politik und Zeitgeschichte – Klimadiskurse
Spätestens seit Greta Thunberg die Schlagzeilen beherrscht, sind Klimadiskurse relevant geworden, also die Frage, wie wir eigentlich über das Klima sprechen. Dieses Heft geht der Frage nach, wie Klimadiskurse überhaupt entstanden – denn, wie nicht zuletzt die Klimaschutzbewegung nicht müde wird zu betonen, führen wir die Diskussion schon eine Weile – und wie sie sich seither entwickelt haben.
Angesichts der politischen Brisanz des Themas hat sich die BpB entschlossen, kontroverse Standpunkte einander gegenüberzustellen, so dass etwa eine vergleichsweise positive Analyse der Wirkung Thunbergs einer sehr negativen gegenübersteht. Ich bin kein großer Freund dieser Pro-Contra-Artikel; die hierzu notwendige Zuspitzung überdeckt häufig genug jeden Erkenntnisgewinn. Da die meisten Beiträge im Heft zudem einen extrem skeptischen Einschlag haben, was jegliche Klimadiskurse generell angeht, war es ohnehin nicht nötig. Was mir zuletzt sauer aufstieß, war der mal flapsige, mal süffisante Ton der Wissenschaftler, die sich hier aus einer Position elitärer Erhabenheit über die Wirksamkeit der Diskurse generell auslassen. Einerseits verstehe ich eine gewisse Frustration, andererseits halte ich es, gelinde gesagt, für wenig zielführend.
GEO Epoche – Das Goldene Zeitalter der Niederlande
Es ist immer wieder erstaunlich, dass die Niederlande einmal eine echte Großmacht waren. Auch wenn man es weiß, muss man sich beim Blick auf die Karte immer wieder die Augen reiben. Die aktuelle Ausgabe der GEO Epoche hat es sich zur Aufgabe gemacht, den rund 200jährigen Zeitraum der Blüte dieser Nation näher unter die Lupe zu nehmen. Der Erfolg ist aus meiner Sicht gemischt.
Zwar bekommt man ein gutes Bild von der generellen Entwicklung und Charakteristik dieser goldenen Epoche, von Rembrandt über den Protestantismus zur VOC über die Entwicklung Amsterdams, das Kolonialreich und die Kriege gegen Spanien. Auch die Oranier und ein Orchideenthema wie die niederländische Niederlassung in Japan kommen nicht zu kurz. Das passt alles grundsätzlich.
Was dagegen zu kurz kommt ist alles, was nicht in die eher klassischen geschichtswissenschaftlichen Felder fällt. Das Heft weist, wie bei solchen Themen gerade in der Populärgeschichte leider üblich, einen starken klassistischen Einschlag auf. Zwar gibt es einige pflichtbewusste Bemerkungen dazu, dass diese Blütezeit die Mehrheit der Bevölkerung nicht gerade wohlhabender machte, und dass die Kolonien nicht unbedingt Horte der Gleichberechtigung waren. Aber das gleicht das nächste Kapitel zur Malerei genauso schnell wieder aus wie der beständig positive Ton, in dem über den sich entwickelnden Turbokapitalismus gesprochen wird.
Es fehlt einfach eine Betrachtung der Lebenswirklichkeit für die meisten Menschen, die oft unter diesen Erzählungen von „Goldenen Zeitaltern“ verdeckt wird, von der Lebenswirklichkeit von persons of color ganz zu schweigen. Bedenkt man, wie sehr das niederländische Goldene Zeitalter auf der Ausbeutung von Eingeborenenvölkern basierte, ist ein einseitiger Themenkasten zu deren Leiden kaum mehr als ein Feigenblatt. Mir ist klar, dass die Konzeption des Hefts in sich schlüssig ist und dafür dann entsprechend kein Raum blieb; es sind solche Konzeptionen selbst, gegen die ich mich hier positionieren will.
Danke für die Empfehlungen
zum Heft über Klima:
Ich bin kein großer Freund dieser Pro-Contra-Artikel; die hierzu notwendige Zuspitzung überdeckt häufig genug jeden Erkenntnisgewinn.
Ich kann nicht nachvollziehen, woher das kommt, das wissenschaftliche Erkenntnis so diskutiert werden, das ist doch keine Meinungsfrage.
Wieso notwendige Zuspitzung, wofür soll die notwendig sein?
Da die meisten Beiträge im Heft zudem einen extrem skeptischen Einschlag haben, was jegliche Klimadiskurse generell angeht, war es ohnehin nicht nötig.
Skeptisch in welche Richtung, ich verstehe die Aussage nicht?
Was mir zuletzt sauer aufstieß, war der mal flapsige, mal süffisante Ton der Wissenschaftler, die sich hier aus einer Position elitärer Erhabenheit über die Wirksamkeit der Diskurse generell auslassen. Einerseits verstehe ich eine gewisse Frustration, andererseits halte ich es, gelinde gesagt, für wenig zielführend.
Wenig zielführend? Was ist denn das Ziel? Hier kam ja neulich wieder die Diskussion über das Thema auf, aber auch da wurde doch klar, das es keinen Sinn ergibt, sich mit der Kontraseite auszutauschen. Das ist in jeder, absolut jeder Debatte (die ja nicht nur ich, sondern viele andere auch führen) der Fall. Das lohnt nicht und mit einer anderen Methode (welche sollte das sein?) kommt man da auch keinen Millimeter weiter.
Man kann nur Fakten auflisten und die kann die andere Seite als gegeben hinnehmen oder nicht. Da gibt es keinen Weg zueinander. Ich finde das total tragisch, aber so habe ich das seit Monaten fest stellen müssen.
Es geht ja im Diskurse, das ist was anderes. Das ist ja reine Interpretationsfrage, und da haben Klimawissenschaftler auch wenig dazu zu sagen. Das sind Sozialwissenschaftler. Und in dem Heft haben sie halt mehr Feuilleton geschrieben als Essay, das missfiel mir.
Skeptisch bezüglich dessen, ob der Klimaaktivismus gut/aussichtsreich ist.
Erneut, es ging um Diskurse.
Sehr schön, hab gehofft, dass du Kübra mit drin hast und gewartet, bis ich shoppen gehe^^
Zwei Gedanken, die mir beim Lesen eingefallen sind:
1. Ernährungskompass
Ich möchte hier mal die umgedrehte Perspektive erwähnen. 35 scheint ja so eine Wasserscheide zu sein, ich hab mir nämlich die letzten Monate auch mehr Gedanken um „gesund leben“ gemacht. Und als Mensch, der schon immer eher zuwenig als zuviel wiegt, ist das wahnsinnig nervend. Wenn man sich nur mal fix informieren will, findet man gerade zu Ernährung und Bewegung ständig hunderte Diät-Tips dazu. Und ich bin da ja bestimmt ne Minderheit, aber das verunsichert mich auch häufig, weil ich schon bisschen gucke, eher ein paar Kalorien als empfohlen zu mir zu nehmen. So grundsätzlich wäre es vielleicht ganz gut, das Thema an sich mehr vom Gewicht zu entkoppeln, ist ja auch nicht so, dass man supergesund ist oder lebt, nur weil man nicht dick ist.
2. de Beauvoir & Klima
Bei Philosophie hab ich dasselbe Problem wie du. Die Themen finde ich spannend, aber der Tonfall geht mir so dermaßen auf die Nerven, dass der Kram irgendwann in der Ecke landet.
Beim Klima hab ich ein anderes, vielleicht ähnliches Problem. Dass auch zeigt, dass Aktivisten für die träge Masse wichtig sind. Und ich bin die träge Masse. Wenn Thunberg sagt, wir haben ein Problem und saufen alle ab und können dies das tun, bin ich ja dabei. Fahr zb mehr Fahrrad oder meine Bereitschaft wächst, Einbußen wie zb teureres Benzin oder so in Kauf zu nehmen. Aber das Thema in seiner Gänze find ich ehrlich gesagt furchtbar langweilig, das könnte irgendwie mal ne popkulturelle PR oder so brauchen. Man muss ja sich ja auch nicht für alles interessieren, aber ich finds immer ein komisches Gefühl, weil ich das Thema an sich schon wichtig finde, und dann ein schlechtes Gewissen hab, weil es nie so die Schwelle erreicht, mich wirklich näher damit zu beschäftigen oder in Alltagssituationen für mehr Klimaschutz einzutreten oder so. Zeigt übrigens auch, wie wichtig Thunberg ist. Wenn ich was sage, dann eigentlich nur um sie vor alten, weißen Männern zu verteidigen.^^
Kübra-Fanklub 🙂
1. Da ist das Schöne am Ernährungskompass, der hilft dir da glaube ich auch.
2. Jepp.
Sehe ich ähnlich.
Wie man Philososphie ein wenig anders diskutieren kann zeigt zum Beispiel die Philosophy and Pop Culture Seite und Buchreihe. Wie der Titel subtil suggeriert werden da philosophische Inhalte anhand von Beispielen aus der Popkultur betrachtet. Zum Beispiel Marvel, Star Wars/Trek, Bioshock, Final Fantasy, Black Sabbath, Metallica und, ja, D&D. Wobei die Qualitaet je nach Autor und Thema schon ziemlich schwankt.
Und dann gibt es ja noch die Existential Comics .
Ah, sehr cool. Danke für den Tip!
Ah, noch was. (sorry fürs Volltexten)
Könntest du kurz erklären, was genau zur Hookup-Culture gehört? Ist das nur so der typische Highschool-Football-Captain-Typ wie aus dem Fernsehen, auf den alle Mädchen stehen oder geht das noch weiter?
Und zu Prinzessinnen:
Letztlich entscheidet sie sich für den Kompromiss, mehr Rollenvorbilder anzubieten – vor allem solche, die positiver und aktiver sind als Prinzessinnen – und die schlimmsten Auswüchse einzudämmen.
Also erstmal ist das schon haushaltstechnisch ne Katastrophe, wir hatten zu Weihnachten eine 5jährige Prinzessin Elsa auf Besuch und ich finde immer noch überall Glitzi-Reste.^^
Und Prinzessinnen finde ich insofern besonders schlimm, weil da kaum noch Vermischungen möglich sind. Also in meiner Kindheit war es zb mehr Mila-Superstar-Volleyball und da war es noch ziemlich unproblematisch, wenn Jungs dann auf dem Schulhof auch Volleyball gespielt haben. Die haben zwar meistens auch eher Tsubasa-Fußball gespielt, aber es ging eben. Aber Prinzessinnen sind ja gesellschaftlich für Jungs quasi verboten.
Hookup Culture ist dieses Abschleppen von Frauen auf Partys oder in Bars, eigentlich immer mit beiden alkoholisiert, für sexuelle Kurzbeziehungen. Ich schreibe nicht One-Night-Stand, weil, wie Orenstein beschreibt, es oft gar nicht so weit bis zum Sex kommt. Es ist alles wahnsinnig oberflächlich und für beide Parteien eher unbefriedigend, ganz davon abgesehen, dass ständig Consent verletzt wird und man ins Sexualstrafrecht abrutscht.
Korrekt. Es gibt aber auch ein paar nette Crossover; meine Tochter (5 Jahre) hat gerade mit Begeisterung „Die Prinzessin mit der schwarzen Maske“ vorgelesen bekommen. Prinzessin am Tag, Superheldin bei Nacht. Sogar ihr Glitzereinhorn wirft nachts das Einhorn ab und ist dann schwarz. BADASS.
Danke. Auf Deutschland übertragen dann wohl mehr sowas wie Dorf- oder Schützenfeste nur mit Jugendlichen. Seit ich in Niedersachsen wohne, wächst meine Abneigung gegen diese Massenbesäufnis-Anlässe eh jeden Tag mehr. Die pflegen hier noch Dinge, wo es nicht einfach nur normal wie bei einem Fest ist, dass da lauter Besoffene rumlaufen, sondern zig „Anlässe“, die nur den Zweck haben, sich zu besaufen. Sowas wie Baby-Pinkeln, total abartig.
BADASS
Yeah! Superhelden sind auch viel cooler und leichter multifunktional gendermäßig 🙂
Ich habe Besäufnisse schon immer gehasst, aber ich bin auch lebenslanger Abstinenzler, da bin ich etwas abartig. ^^
Ich mittlerweile auch und davor so ne halbe Abstinenzlerin und ich finde, der gesellschaftliche „Druck“ ist da schon bisschen komisch. Bin schon immer froh, wenn das Auto dabei ist, um nicht erst Diskussionen drüber führen zu müssen. Und du lebst ja noch gesund, bei mir kippt die ganze „Alkohol ist toll“-Fraktion dann kollektiv in Ohnmacht, wenn ich dann eine rauchen geh.^^
Dieser soziale Druck ist echt krass. Das anstrengendste überhaupt am Abstinenzler-Sein. Jeder versucht dich zu überreden, Alkohol zu trinken, als wären sie Lobbyisten der Branche.
Seltsam. Ich habe die letzten ca. 25 Jahre meine Freizeit zu einem, großen Teil in der Heavy Metal- und der Motorradszene verbracht, die ja nun beide für recht ausgeprägten Alkoholkonsum bekannt sind und ich habe es nicht ein einziges Mal erlebt, dass mich jemand zu Alkohol überreden wollte.
„Und was nimmst du?“
„Ne Cola.“
„OK.“
So einfach war es wirklich immer.
Glückwunsch 🙁 Bei mir leider gar nicht. Am schlimmsten ist aber mit Abstand die Familie.
Ich glaube dir das schon absolut, mich wundert es nur immer wieder.
Ich bin auch kein Abstinenzler, trinke aber nur sehr selten Alkohol. Aber ich habe z.B. noch nie geraucht und auch da nie irgendeinen Gruppendruck erfahren, von dem ich bei Anderen auf schon oft gehört habe.
Gratulation zu deinem sozialen Zirkel ^^ 🙂
Dieser soziale Druck ist echt krass.
Ich merke immer, das es den meisten Menschen nicht klar ist, wie selbstverständlich man davon aus geht, das „man“ das eben macht.
Wenn ich sage, das ich keinen Alkohl trinke, kommt immer die Nachfrage: „Nicht mal ein Glas?“ Da frage ich zurück, warum Nichtraucher nie gefragt werden, ob die nicht eine Zigarette rauchen. Was ist an „keinen Alkohl“ so schwer zu verstehen?
Aus leidvoller Erfahrung kann ich berichten, dass es für etliche Menschen überhaupt kein Widerspruch ist, erst ein Loblied auf Alkohol zu singen und dann die Zigarette als Symbol des Bösen schlechthin zu sehen, gerne um dann noch eine lange Rede dranzusetzen, dass das was ganz anderes ist.
Und dann muss ich solange vor der Tür rauchen, bis alle genug getrunken haben, um das Thema zu vergessen 😀
Ich war ja bis vor Kurzem (ca 2 Jahre) auch noch Raucher, das mit der Kälte fand ich auch blöde, aber nachvollziehbar. Beim Rauchen werden halt andere mitgeschädigt, bei trinken maximal indirekt, wenn es Überhand nimmt oder man Auto fährt. Beides sind Süchte, die eine ist halt allgemein tolleriert oder sogar anerkannt.
Gott, ja! Kann ich nur unterschreiben.
Also bei mir ist es wirklich nach dem Umzug nach Niedersachsen krasser geworden und das kleinstädtische SH ist nun wirklich kein Hort von Abstinenzlern. Aber da macht man das noch so nebenbei. Kein Nichtsäufer käme allerdings im Winter! auch noch auf die Idee, mit dem Bollerwagen rumzutouren, nur weil er Bock auf Grünkohl hat. Ist allein schon für die anderen Verkehrsteilnehmer eine Plage, wie drei Monate lang Vatertag.
Glaub auch, diese Verbindung von Geselligkeit und Alkohol ist gesellschaftlich oft so verinnerlicht, das wird nicht mal mehr in Frage gestellt. Vermutlich war der Kampf gegen Tabak nur deswegen einfacher, weil es den einsamen Marlboromann gab^^
ICH KANN AUCH OHNE SPASS ALKOHOL HABEN!
Ich würde bei Kübra Gümüşay zu mehr Vorsicht raten, denn sie bewegt sich in einem Milieu, das ganz und gar nicht durch Toleranz auffällt:
https://www.facebook.com/199982943396082/posts/1124186760975691/
Ich hab das Gefühl, mitten in einen Dialog zu platzen dessen Anfang ich nicht kenne. Was ist das Problem da, worum geht es?
Das Problem ist ihre Nähe zum islampolitischen Patriarchat, speziell zu Millî Görüş (IGMG).
Allgemeiner ausgeführt wird das hier:
https://taz.de/Intersektionaler-Feminismus/!5533294/
Bin da neulich bei Twitter drüber gestolpert.
Kübra hat hier eine gesammelte Seite zu Vorwürfen, die immer mal wieder kommen: http://kubragumusay.com/2000/01/dichtung-wahrheit-faq/
Mir fehlt da das Wissen/Kontext, um das beurteilen zu können, aber wenn Lady Bitch Ray mit „Pussytionier dich“ startet, hab ich ja schon Probleme, das ernst zu nehmen^^
Ich hab da auch zu wenig Wissen. Die Sachen, zu denen ich Kübra gelesen/gehört habe, fand ich immer sehr überzeugend.
Ach, so mal ganz allgemein ein Vorschlag/Bitte/Frage:
Gerade wo der US-Wahlkampf näherrückt und du oder auch ich automatisch Dinge wie dogwhistle mit aufnehmen, wäre es vielleicht nicht schlecht einen „Vokabel-Artikel“ zu haben, wo kurz steht was mit hookup-culture oder dogwhistle, policies oder ähnlichen Dingen gemeint ist.
Ich google sowas zwar zur Not auch mal, aber das sind mir dann eigentlich zuviele Infos wenn ich nur kurz wissen will, was du eigentlich gemeint hast.
Hätte zudem den Vorteil, das man das in Artikeln nicht aufwendig erklären müsste, sondern nur nen Link zum Vokabelheft setzen könnte^^
Oh klar.