Bohrleute 16: Die Ödnis des deutschen Feuilletons

Wer in der Zeitung auf den Seiten gelandet ist, die voller riesiger, blockartiger Texte sind, in denen der Fremdwortgehalt dramatische Höhen erreicht, weiß, dass er oder sie im Feuilleton gelandet ist. Aber was ist dieses mythische Feuilleton überhaupt? Ist es in der Krise, und wenn ja warum? Und ist es das zu Recht? Zusammen mit Ariane Sophie und Christina Dongowski diskutiert Stefan Sasse, warum sie dem Feuilleton sehr kritisch gegenüberstehen. Passend zum Thema ist das auch unsere längste je aufgenommene Folge.

Links zu den Themen:

Wir anderenorts:
Unsere Shownotes:
Feuilleton-Debatten – waren die schon immer so scheiße?:
Feuilleton ist massenmediales Format, deswegen schon immer hoher entertainment value-druck. Sich zu prügeln wie die Kesselflicker war schon immer ein gutes Format genau dafür. Was sich möglicherweise geändert hat, ist die Selbst-Sakralisierung der Presse als Vierter Gewalt in der Demokratie. Im Feuilleton wird das ja noch mal durch die deutsche Verkitschung von Kultur und Bildung gesteigert. Dadurch entsteht eine ziemlich große Kluft von Anspruch und Realität, vor allem wenn man von außen, als Konsumentin draufguckt. Sowas hat immer massives Delegitimierungspotenzial, was auf eine andere wichtige Dynamik im Feuilleton trifft:
Relevanz- und Bedeutungsverlust in der digitalisierten Öffentlichkeit und Kulturproduktion und -konsum
(Klassische) bürgerliche Kultur verliert massiv an kulturellem und sozialem Kapital, das wirkt sich direkt auf Feuilleton aus, weil man als Kulturkapitalbank und -vermittler unwichtiger wird. Und man verliert auch noch die Gatekeeping-Funktion, weil Internet-Zugänge extrem erleichtern und Zugangsschwellen senken. Quasi: Alle machen jetzt zwar ständig selbst Kultur und konsumieren sie überall, aber genau dadurch haut es auch den Nimbus weg. Dazu kommt die Zersplitterung in ganz viele Spezial-Szenen, Nischen, Nerd- und Fan-Universen.
Debatten werden schriller, weil sie im Grunde gar nicht mehr über einen einigermaßen eingrenzbaren Gegenstand geführt werden, sondern im Prinzip Kämpfe um Öffentlichkeit an sich sind. Und auch darüber, ob die Fläche, die Feuilleton in Medien eingeräumt wird, nicht noch weiter zusammengestrichen wird.
Das Dongowski’sche Theorem:
In einer Gesellschaft, in der die Zugänge zu Kreativität und Informationsproduktion demokratisiert worden sind, werden klassische Medien- und Kulturformate und ihre Gatekeeper reaktionär.
→ auch eine Reaktion auf die Stumpfheit des Traditionsfeuilletons: Abwandern oder aufbauen von neuen Formaten für neue, andere Feuilleton-Inhalte: Newsletter, Blogs, Podcasts (bei Legacy Media sehr ausgeprägtes Phänomen).
Schirrmacherisierung des Feuilletons: Kommentieren gesellschaftlicher und politischer Ereignisse, ungetrübt von Expertise → im Prinzip ein Vorgriff auf das sozialmediale Internet mit Zugang für “alle”, wodurch alle sprechfähig werden.
Be- und Verschweigen von wirtschaftlichen Hintergründen und Interessenkonflikten, Filz und Korruption: Ökonomie – that which can’t be named in Kultur und Feuilleton.
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{ 28 comments… add one }
  • Ariane 21. März 2022, 20:26

    Hach schön, ich freu mich, hat viel Spaß gemacht.
    Feuilleton-Debatten – waren die schon immer so scheiße?– wäre aber der viel lustigere Titel gewesen, nicht dass wir auch so bildungsbürgerlich seriös rüberkommen! 😀

    Hab nur hie und da kurz reingehört (schlimmerweise dabei gleich Sachen eingefallen, womit wir nochmal zwei Stunden füllen könnten), aber kann jemand mal berichten, ob dieses nervige Piepsen noch da ist, das ich beim ersten Podcastversuch hatte?

  • derwaechter 21. März 2022, 21:44

    Spannendes Gespräch aber leider immer wieder getrübt von Arroganz derer die ja einfach Mal alles durchschaut haben und Schubladendenken bzw. Klischees

    Persönlich interessant fand ich deine Beobachtungen zur Literaturauswahl in der Oberstufe.
    Ich kann mich leider nicht mehr an alles erinnern aber einige der alter Mann, Lebenskrise, Geld hat man einfach Werke hatten wir natürlich auch.

    Aber ebenso Armut (Kafka komme nicht auf den Titel), Arbeiterklasse (Berlin Alexanderplatz), Kriminelle Mileus (Dreigroschenoper) oder Soldat ( Woyzeck).

    Hatte ich da einfach Glück mit dem Deutschlehrer oder war das früher generell anders als heute?

    • Stefan Sasse 22. März 2022, 15:15

      Konkret?

      Kommt drauf an ob wo du in der Schule warst die Lektüren vorgegeben waren oder nicht. Ich kann sie mir ja nicht aussuchen; meine Qualität als Lehrer steht daher hier nicht in Frage, ob positiv oder negativ.

      • derwaechter 22. März 2022, 16:45

        Konkret finde ich jetzt schwierig, da ich beim Laufen gehört habe und mir nichts notiert habe und logischerweise auch nicht nachlesen kann.

        Überspitzt gesagt klang halt immer wieder durch, dass ihr alles gecheckt habt und euch über die die lächerliche Vollidioten amüsiert, die nichts können als Sohn vom Sohn vom Sohn zu sein, sich hinter komplizierter Sprache zu verstecken Frauen und zu verachten.

        Mir waren die Betrachtungen oft einfach zu unterkomplex. Z.B. wenn es um die, in meinen Augen arg überbetonte Gatekeeper-Funktion und das Gruppen- bzw. Klassendenken ging.

        Aber wie gesagt, es war auch viel interessantes dabei.

        Es ist wie gesagt lange her, aber ich meine, dass der Lehrer damals Spielraum hatte. Er hat zumindest den Anschein erweckt. Wir konnten auch einmal selbst Vorschläge machen und dann wurde abgestimmt welches Buch gelesen wird.

        • Stefan Sasse 22. März 2022, 20:25

          Das war so nicht gemeint. Amüsiert haben wir uns darüber, dass sich diese Leute einbilden, alles nur aus eigener Kraft geschafft zu haben und nicht dank ihres Erbes (immateriell wie materiell).

          Bis Klasse 12 geht das, aber für J1/J2 ist hier in BaWü vorgegeben.

          • derwaechter 22. März 2022, 20:42

            Das war nur ein Aspekt von vielen.

            Aber selbst da glaube ich, dass das so bei den meisten nicht stimmt. Dass Herkunft, gerade auch in Deutschland, eine zentrale Rolle spielt, wissen die wohl auch.
            Und wenn nicht müssten die ja nur ihre eigenen Zeitungen lesen. Gerade kurz nur bei faz.net geguckt und da gibt es dutzende Artikel die die Rolle von sozialer Herkunft und/oder Genen für den schulischen, akademischen und damit auch beruflichen Erfolg behandeln.

            • Ariane 23. März 2022, 00:50

              Danke fürs Feedback. Ich nehme das mal mit!

              Naja, ich glaube es ist ein Unterschied, ob man um das generelle Problem weiß, oder ob man es für sich selbst ebenfalls wahrnimmt. Was übrigens nicht(!) heißt, dass die nichts können oder nicht hart arbeiten, nur verdanken viele eben ihren Posten eben nicht nur ihrer harten Arbeit, überragenden Fähigkeiten oder sonstwas, sondern eben gerade in solchen Berufen viel ihrem Hintergrund.

              Halte da die Beziehungen für noch bedeutender als zb Geld. Wie gesagt, klar können die was, aber andere wie Tini auch und die coolen Sachen gibts eben nicht so leicht. Was gar kein Vorwurf ist und natürlich mag jeder für sich lieber die Erzählung, alles aus eigener Kraft geschafft zu haben. Es ist aber nun mal sehr unreflektiert (und wie ich finde sowieso ein Mythos, niemand verdient Erfolge nur durch Fähigkeiten, da gehört immer auch anderes dazu, so demütig sollte man schon sein.)

              Gerade weil sonst immer gerne mitschwingt, dass andere Nichtsoerfolgreiche dann eben weniger Fähigkeiten haben. Möchte hier nochmal das Zitat von Tobias Hans ins Spiel bringen ..betrifft nicht nur die Geringverdiener, sondern auch die vielen fleißigen Menschen Als wären LKW-Fahrer*innen halt einfach dümmer und/oder fauler als andere mit mehr Kohle.

              • derwaechter 23. März 2022, 04:17

                Sehe ich ganz genauso. Ich bezweifele nur, dass die im Feuilleton durch die Bank so unreflektiert sind, dass nicht ebenfalls zu sehen.

                Tobias Hans Zitat ist dämlich, ich sehe allerdings den Bezug zum Feuilleton nicht. Habe mir gerade Mal seinen Lebenslauf angeschaut und kann da auch keinen Zusammenhang erkennen.

                • Stefan Sasse 23. März 2022, 07:51

                  Klar, natürlich sind das nicht ALLE. Aber als Durchschnitt ist das eine faire Charakterisierung IMHO.

                  • derwaechter 23. März 2022, 11:51

                    Ihr arbeitet euch ja an einigen wenigen bekannten (und bekannt bekloppten) aktuellen Vertretern ab.
                    Ich würde sagen, dass die fürs Feuilleton-Personal (also Kulturjournalisten, die Bücher, Theater, Kunst, Computerspiele (see what I did there 🙂 ) besprechen und feuilletonistisch Gesellschaftsthemen behandeln) überhaupt nicht repräsentativ sind. Wenn an sie überhaupt (noch) dazuzählen sollte. Franz Josef Wagner ist ja auch kein Feuilleton 🙂

                    Ich würde tippen, dass die Poschardts und Martensteins dieser Welt von denen auch nicht für voll genommen werden.

                    • Stefan Sasse 23. März 2022, 12:56

                      Möglich. Ist natürlich auch eine Frage der Wahrnehmung.

            • Stefan Sasse 23. März 2022, 07:50

              Ach du, dafür liest man das wesentlich zu häufig, sind die Strukturen zu unverändert problematisch.

              • derwaechter 23. März 2022, 11:53

                Der Zusammenhang erschließt sich mir nicht.

    • Thorsten Haupts 22. März 2022, 17:44

      Scheint so. Ich hatte praktisch dieselben Erfahrungen (Literaturauswahl, bis auf die Dreigroschenoper dieselben Werke) – und ich war auf dem als „konservativ“ verschrieenen Gymnasium der westfälischen Kleinstadt, in der ich bis 1 Jahr vor dem Abitur gelernt habe.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

      • derwaechter 22. März 2022, 18:41

        Vielleicht hatten wir ja den gleichen Lehrer. Westfälische Kleinstadt trifft es bei mir auch.

      • Stefan Sasse 22. März 2022, 20:30

        Freut mich für euch! Ich glaube, ein Problem ist auch die Angebotsseite. Lehrmaterialien gibt es halt vor allem für den „Standardscheiß“, und wenn ich Unterricht ohne vorbereiten soll rede ich locker von drei-, vierfachem Aufwand.

        • Ariane 23. März 2022, 00:53

          Mal abgesehen, dass neue oder ungewöhnliche Sachen nicht zwingend besser sind. Wir haben mal Schlafes Bruder gelesen. Das war glaub ich die schlimmste Lektüre überhaupt (obwohl ich nur noch weiß, dass es im Vorarlberg spielt und jemand sein Kind ertränken wollte).

          Aber ja, insgesamt ist die Deutschlektüre schon sehr einseitig, wir hatten auch nur was von Männern, das einzige von einer Frau geschriebene war ein Bonus ganz am Ende. Jane Austen – Stolz und Vorurteil und fand ich tatsächlich mit eines der besten, fast schade, dass das nicht prüfungsrelevant war 😉

          • Stefan Sasse 23. März 2022, 07:50

            Ja. Einfach: ja.

          • derwaechter 23. März 2022, 11:55

            Einseitig und nur von Männern sind m.E. zwei verschiedene Dinge.

            • derwaechter 23. März 2022, 19:36

              Ich sag Mal so: Eine Unterrichtsreihe zu Karoline von Günderrode, Anette von Droste-Hülshoff, Clemens Brentano und Joseph von Eichendorf wäre deutlich einseitiger als eine zu Gotthold Ephraim Lessing, Theodor Storm, Günter Grass und Christian Kracht 🙂

              • Stefan Sasse 23. März 2022, 21:43

                Korrekt. 🙂

              • Ariane 24. März 2022, 15:42

                Einseitig und nur von Männern sind m.E. zwei verschiedene Dinge.

                Sehr richtig, mir geht es aber um was anderes, was mit dem Geschlecht nur mittelbar zu tun hat. Das heißt nämlich auch in 95% der Fälle, dass es um die Perspektive und Lebensrealitäten von Männern geht. Insofern wäre mir ein Autor, der ein Buch aus weiblicher Perspektive schreibt zb deutlich lieber als sowas wie Harry Potter – also umgekehrt.

                Gerade wenn man dazu noch den von uns angesprochenenen Lesegap bedenkt, nämlich dass 70-80% der Bücher (gerade Geschichten und Romane) von Frauen gelesen werden. Als viellesende Frau erscheint mir das fast unvorstellbar, aber damit kommt ein ungeheuer großer Prozentsatz von Männern heraus, die noch nie eine Geschichte oder gar einen ganzen Roman aus weiblicher Perspektive gelesen haben. Völlig unabhängig vom Thema würde ich das aber absolut als ganz wichtigen Bildungsinhalt ansehen!

                Es gab auch mal eine Studie, dass es Frauen/Mädchen sehr viel leichter fällt, sich mit einem männlichen Protagonisten zu identifizieren als umgekehrt. (ja, kann man jetzt eine sehr lange Huhn/Ei-Debatte drumführen), aber IMO ist das eben nicht zwangsläufig was Angeborenes, sondern hat ganz ganz viel mit Übung zu tun. Als Frau, mit einem minimalen Interesse an Geschichten – können natürlich auch Comics, Videospiele oder Filme sein – ist es eigentlich unmöglich durchs Leben zu gehen und Spaß zu haben, wenn man sich nicht auch mit männlichen Heldenfiguren identifiziert. Als Mann kann man vermutlich prima durchkommen, ohne dass sich die Frage überhaupt je stellt. Kann ja jeder mal selbst überlegen, wie oft er etwas gelesen, gesehen oder gespielt hat aus Frauenperspektive. Null bis sehr selten würde mich nicht überraschen.

                Und ja, das ist ein Problem. Bzw ein Perspektivenwechsel auch unheimlich bereichernd.

                • Stefan Sasse 24. März 2022, 17:44

                  Es gab auch mal eine Studie, dass es Frauen/Mädchen sehr viel leichter fällt, sich mit einem männlichen Protagonisten zu identifizieren als umgekehrt.

                  Haben ja auch jahrzehntelange Übung drin.

                • derwaechter 24. März 2022, 22:08

                  Mir ist das halt einfach zu viel Fokus auf dieses eine, nicht unwichtige aber auch nicht alles überlagernde, Thema.

                  „Es gab auch mal eine Studie, dass es Frauen/Mädchen sehr viel leichter fällt, sich mit einem männlichen Protagonisten zu identifizieren als umgekehrt.“

                  Ja, männliche Protagonisten gibt es klar in der Überzahl. Ich muss gestehen, dass ich mir über das Identifizieren mit dem Protagonisten noch nie sonderlich viel Gedanken gemacht hatte. Klar bei Harry Potter oder Old Shatterhand fieberte ich bestimmt mit. Aber bei Literatur aus dem Deutsch LK? Ich weiß nicht inwieweit das da eigentlich relevant war. Das liest man doch eher analytisch als mit Gefühl. Ein Gefühl an das ich mich auch 20 Jahre aus o.g. Literatur noch lebhaft erinnern kann, ist der Schock wenn Döblin in Berlin Alexanderplatz den Schlachthof beschreibt. Aber so etwas ist ja völlig Unabhängig vom Geschlecht des Autors oder der Hauptperson.

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