Die gähnende Langeweile der Pflichtlektüren

Wie einige regelmäßige Leser dieses Blogs sicher wissen, bin ich unter anderem auch Deutschlehrer. Das ist etwas, das hier im Normalfall keine große Rolle spielt, aber ich will heute mal eine Ausnahme machen und über ein Thema schreiben, das mich schon seit längerer Zeit nervt: die gähnende Langeweile der Abitur-Pflichtlektüren. Um was geht es? Im gymnasialen Abitur Baden-Württemberg werden immer für ca. vier Jahre drei Lektüren verpflichtend behandelt (daher der Terminus „Pflichtlektüren“; in anderen Bundesländern wird der Kanon weiter gefasst, aber dafür in den Aufgabenstellungen natürlich auch nicht so tief gegangen wie in BaWü). Dabei wird üblicherweise auf eine Gattungsmischung geachtet; es ist also eigentlich immer ein Drama, ein Roman und häufig eine Novelle dabei. Unter den insgesamt fünf Themenbereichen des Deutsch-Abis nerven mich diese Pflichtlektüren am meisten – wegen ihrer gähnenden Langeweile.

Für den Kontext: ich bin natürlich kein alter Hase (aktuell bin ich im sechsten Jahr ausgelernter Vollzeitlehrer), aber ich habe, zusammen mit meiner eigenen Schulzeit, immerhin drei dieser Zyklen mitgemacht. Schauen wir uns mal eben an, was es da alles gab. In meiner eigenen Schulzeit waren es wegen eines abweichenden Aufgabensystems noch zwei Lektüren: Theodor Fontanes „Effi Briest“ und Friedrich Schillers „Kabale und Liebe„. Als ich 2013 angefangen habe, fing gerade ein neuer Zyklus an: Max Frischs „Homo Faber„, Peter Stamms „Agnes“ und Georg Büchners „Dantons Tod„. Seit diesem Jahr, 2019, ist ein neuer Abiturzyklus mit Johann Goethes „Faust„, E.T.A. Hoffmanns „Der Goldene Topf“ und Hermann Hesses „Steppenwolf„. Ich konzentriere mich hier im Artikel nur auf die Werke, die ich selbst irgendwie im Unterricht behandelt habe.

Vermutlich sind die meisten dieser Werke zumindest dem Namen nach geläufig. Es sind überwiegend unbestreitbare Klassiker der deutschen Literatur, vor allem natürlich der unvermeidliche „Faust“ (der diesen hervorgehobenen Rang ja durchaus auch verdient). Mein Problem ist sicherlich nicht der mangelnde Anspruch dieser Werke; es ist ihre monothematische Berechenbarkeit, die mich stört. Das sieht man bereits beim Inhalt:

– In „Effie Briest“ heiratet ein etwa 50jähriger Beamter die 17jährige Tochter seiner alten Flamme. Sie fühlt sich in der preußischen Provinz eingeengt und geht nach einer Affäre tragisch zugrunde.

– In „Kabale und Liebe“ verliebt sich ein Adeliger tragisch in eine Bürgerliche. Wie im Original „Romeo und Julia“ begehen die beiden auch in Schillers Remake Selbstmord.

– In „Homo Faber“ verliebt sich ein etwa 50jähriger Ingenieur in eine etwa 20jährige Frau, die sich später in einer Spiegelung des Ödipus-Motivs als seine Tochter herausstellt. Es wird viel über den Gegensatz von Natur und Technik philosophiert, die als weibliches respektive männliches Prinzip gedeutet werden.

– In „Agnes“ verliebt sich ein etwa 50jähriger Schriftsteller in eine etwa 20jährige Doktorantin. Die Beziehung scheitert an seiner Kommunikationsunfähigkeit. Es wird viel über die Einsamkeit des Menschen in der modernen Massengesellschaft philosophiert.

– In „Dantons Tod“ geht es, Spoiler-Alert, um den Tod des französischen Revolutionärs Danton. Wir sehen Intrigen, Parlamentskämpfe, philosophische Dispute über die Existenz Gottes und den Sinn des Lebens, die Notwendigkeit der Gewalt und die dumpfe Ahnungs- und Hoffnungslosigkeit der Massen. Büchner ist ein echter Optimist.

– In „Faust“ geht es um einen etwa 60jährigen Gelehrten, dessen Ehrgeiz ihn nicht zur Ruhe kommen lässt und der eine Midlife Crisis erlebt. Er verliebt sich in eine 14jährige Bürgerliche, mit der er das höchste Lebensglück zu erleben hofft. Sie wird schwanger, tötet aus Verzweiflung das Kind und wird hingerichtet, er zieht weiter, um in „Faust II“ dann die „große Welt“ kennenzulernen.

– Im „Steppenwolf“ geht es um einen etwa 50jährigen Gelehrten, der eine Midlife Crisis erlebt und mit dieser klarzukommen versucht, wobei ihm eine junge Frau zur Seite steht.

– Im „Goldenen Topf“ geht es um einen Leipziger Studenten, der so empfindsam ist, dass er in der Lage ist, eine phantastische Märchenwelt zu erspüren und die verwunschene Tochter eines mystischen Herrschers zu ehelichen und sich so der drögen Bürgerlichkeit zu entziehen.

Ich glaube, aus der Auflistung wird recht schnell ersichtlich, warum ich von monothematischer Langeweile spreche. Die meisten Protagonisten sind männlich, weiß, um die 50, bürgerlich und entweder gebildet oder sogar intellektuell. In der Hälfte der Werke kommen sie mit einer Frau zusammen, die deutlich jünger ist als sie selbst. Es geht um bürgerliche Themen, bürgerliche Existenzkrisen, der Charakter ist häufig in einer Midlife Crisis. Diese Themen sind alle einer Bearbeitung wert. Ich kann als Deutschlehrer den Einsatz jedes dieser Werke in Unterricht und Prüfung jederzeit rechtfertigen. Die Texte sind anspruchsvoll und erlauben die Arbeit mit einer ganzen Bandbreite an literaturwissenschaftlichen Methoden.

Aber.

Es ist die unglaubliche Häufung, die so enervierend ist, und die fast klinische Trennung von jeglicher Lebensrealität. Ja, es werden wahnsinnig viele spannende philosophische Themen verhandelt. Ich genieße die politische Auseinandersetzung zwischen Danton und Robespierre so sehr wie jeder andere Deutschlehrer (Gott, was für ein mehrdeutiger Satz). Und es ist Abiturienten absolut zuzumutzen, sich mit intellektuellen Themen auseinanderzusetzen, die keinen Bezug zu ihrer eigenen Lebensrealität haben, schon allein weil, let’s face it, die meisten von ihnen in ihrer Freizeit sicherlich nicht über solche Dinge nachdenken.

Aber.

Das Problem mit dem Behandeln von Literatur im Deutschunterricht ist, dass Literatur damit dezidiert in einen klinischen Sonderraum verschoben wird. Mit Literatur befasst man sich vier Stunden die Woche im Deutschunterricht, und sie hat keinen, aber auch gar keinen, Bezug zu irgendetwas, das die Schüler je wieder tun oder erleben werden. Dieser Eindruck ist fatal. Und natürlich gibt es immer einige Schüler, die den Kram trotzdem mögen und denen er etwas gibt. Geschenkt. Das sind Ausnahmen.

Und ich halte diesen Faktor tatsächlich für wichtig. Wir trennen ohnehin viel zu sehr zwischen Literatur, die eine analytische Betrachtung (etwa im Unterricht, oder im literarischen Quartett) rechtfertigt, und Literatur, die „nur“ zur Unterhaltung gelesen wird, als ob ein vorhandener Unterhaltungswert per se ein Ausschlusskriterium für Ernsthaftigkeit sein müsste. Genau diesen Eindruck aber erwecken die Lektüren. Und das hängt auch mit ihrer großen Komplexität zusammen.

Die vorgestellten Werke sind allesamt Kunstwerke, im Wortsinne. Sie sind ungeheuer konstruiert und enthalten wahre Berge von Stilmitteln, intertextuellen Bezügen, Anspielungen, philosophischen Betrachtungen und und und. Gleichzeitig – und gewissermaßen paradoxerweise – macht gerade dieser Kunstwerkcharakter sie auch extrem berechenbar. Lernt man die Leitmotive, Charakterbeziehungen und Gattungsmerkmale auswendig, muss man sie nicht verstehen, um das Abitur zu bestehen. Das Kultusministerium hat diesen Sachverhalt jüngst auch anerkannt und versucht nun, durch die Einführung des so genannten Außentexts (eine Erklärung siehe hier) die Aufgabe künstlich schwieriger und unberechenbarer zu machen; die Wirksamkeit dieser Maßnahme werden wir dieses Jahr zum ersten Mal untersuchen können.

Die Pflichtlektürenaufgabe im Abitur fordert von den SchülerInnen drei Teilschritte: Die Einordnung einer gegebenen Textstelle (also die Verortung innerhalb der Handlung, was KEINE Inhaltsangabe ist), die Interpretation der Textstelle nach Form und Inhalt und dann der Vergleich zweier dieser Werke anhand einer Kategorie, die aus dem erwähnten Außentext erschlossen werden muss.

Wir werden uns mit den anderen Aufgaben des Deutsch-Abiturs und dem generellen Aufbau des Stoffs noch in einem gesonderten Artikel beschäftigen. Wir müssen aber kurz verstehen, welche Kompetenzen die SchülerInnen am Ende der Jahrgangsstufe mitbringen sollen, die im Abitur geprüft werden – denn diese Kompetenzen bestimmen ja maßgeblich die Pflichtlektürenauswahl.

Zum Einen sollen die SchülerInnen einen Überblick über die Epochen der deutschen Literaturgeschichte vom Barock bis heute bekommen. Entsprechend wird die Auswahl immer Epochenübergreifend sein, also nicht etwa Goethe und Schiller nebeneinanderstellen, sondern eben wie zu meiner Zeit Schiller und Fontane, oder wie jetzt Hesse und Goethe. Das ist besonders für den Vergleich der Lektüren wichtig, wo die SchülerInnen diese Unterschiede dann herausarbeiten müssen.

Zum Anderen sollen die SchülerInnen verschiedene Gattungsformen kennenlernen. Das bedeutet vor allem, die Königsdisziplin des Dramas (sowohl in der klassischen Form, die üblicherweise vor der Jahrgangsstufe gelehrt wird, als auch in den späteren Brechungen bis hin zum epischen Theater Brechts) und der Roman; auch die Novelle taucht aber gerne auf. Die anderen Gattungsformen wie Lyrik oder Kurzprosa stellen eigene Aufgaben dar und gehören daher in den angekündigten zweiten Artikel.

Zum Dritten sollen die SchülerInnen sich mit verschiedenen Themenbereichen auseinandersetzen, die über die Pflichtlektüren vergleichbar sein müssen. Die Aufgabe erfordert das, weswegen die Lektüren irgendwelche Leitmotive gemeinsam haben müssen.

All diese Faktoren schränken naturgemäß bei der Auswahl ein. All diese Faktoren sind aber keine Entschuldigung für die bürgerlich-monotone Wüstenei der gymnasialen Themenauswahl. Dabei geht die Auswahl für das Abitur durchaus besser, wie man in Baden-Württemberg an einer anderen, parallel laufenden Schulart sieht: den Berufskollegs und den Berufsoberschulen. An ersteren erwerben die SchülerInnen üblicherweise die Fachhochschulreife, an zweiteren das Abitur. Diese beiden Schulen verwenden ein komplett anderes Set an Pflichtlektüren und Aufgaben als die Gymnasien (denn wenn man sich in Deutschland schon 16 verschiedene Zentralabiturs gönnt, kann man die auch innerhalb des Bundeslands noch einmal aufsplitten).

Und an diesen beiden Schulformen ist die Bandbreite möglicher Texte, obgleich die Gattungs- und Epochenvoraussetzungen dieselben sind und ebenfalls das Abitur erworben wird, wesentlich breiter als an den Gymnasien. Ich unterrichte diese Form des Abiturs seit sechs Jahren und habe mittlerweile zwei Zyklen mitgemacht. Dabei waren folgende sechs Texte Thema: Martin Suters „Die dunkle Seite des Mondes“ (jüngst mit Moritz Bleibtreu verfilmt), Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ und Thomas Strittmatters „Raabe Baikal“ im ersten dieser Zyklen und Robert Seethalers „Der Trafikant„, Georg Büchners „Woyzeck“ und Franz Kafkas „Die Verwandlung“ im zweiten Zyklus.

– In „Die dunkle Seite des Mondes“ geht es um einen Schweizer Banker, der auf der Suche nach neuen Erfahrungen Drogenpilze nimmt und über diese seine Gefühle verliert, was ihn dazu bewegt, in die Wälder zu ziehen und Leute umzubringen. Der Roman befasst sich unter anderem mit der Welt der Hochfinanz und schafft immer wieder Momente schwarzer Komik. Es war das erste Mal, dass ich eine Schullektüre tatsächlich mit Interesse und Spannung gelesen und laut gelacht habe. Das Buch ist absolut zu empfehlen (den Film habe ich immer noch nicht gesehen).

– Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ ist ein Sozialdrama aus dem späten 19. Jahrhundert, das sich mit der völligen Verwüstung von Bergarbeitern in der schlesischen Provinz durch übermäßigen Alkoholkonsum beschäftigt. Das Werk ist durch die Verwendung schlesischer Mundart und seine Struktur sehr merkwürdig – es passiert praktisch nichts von Konsequenz, was mehr oder weniger Hauptmanns Punkt ist – bietet aber einen Einblick in die sozialen Probleme verschiedener Schichten, in denen das Bürgertum als abgehoben-desinteressierte Klasse kritisiert wird.

– Strittmatters „Raabe Baikal“ ist das wohl merkwürdigste Buch, das ich gelesen habe. Strittmatter ist ein gebürtiger Schwarzwälder, der bereits sehr jung Anfang der 1990er Jahre gestorben und kaum bekannt ist. In dem Roman geht es um einen Jungen, der sich mit dem Tod und dem Aufwachsen in der Moderne (sprich: Anfang der 1990er) befasst. Der ganze Stil ist sehr ungewöhnlich, und der Roman ist voller mythisch aufgeladener und gleichzeitig profaner Szenen, die seine Lektüre zu einem echten Erlebnis machen; ob man dieses Erlebnis gouttiert, ist dabei eine andere Frage. Er ist auf jeden Fall…anders.

– In Seethalers „Trafikant“ (ebenfalls jüngst verfilmt) geht es um einen 17jährigen Jungen aus der österreichischen Provinz, der kurz vor dem Anschluss nach Wien kommt, wo er eine Lehre als Trafikant (ein glorifizierter Kioskbetreiber) macht. Er verliebt sich in eine illegale Einwanderin aus Böhmen, lernt Sigmund Freud kennen und diskutiert mit ihm seine Probleme, ehe er von den Ereignissen des Anschlusses mitgerissen wird und durch seinen Widerstand zu Tode kommt.

– In „Woyzeck“ geht es um den Soldaten Woyzeck, der ein uneheliches Kind hat und um seine bittere Armut durch Teilnahme an zerstörerischen medizinischen Experimenten zu lindern versucht. Die Gesellschaft ist teilnahmslos gegenüber der Sozialen Frage (es sind die 1830er) und Woyzeck gleitet in den Wahnsinn ab und ermordet seine Partnerin. Büchner stellte das Drama nie fertig, so dass es fragmentarisch und ohne Ende bleibt, aber sein auch in „Dantons Tod“ offenkundiger Optimismus bricht auch hier durch.

– Kafkas „Die Verwandlung“ ist das traditionellste Werk in dieser Liste; Gregor Samsa verwandelt sich in einen riesigen Käfer und wird von der Gesellschaft ausgestoßen. Thematisch werden die Beziehung zum Vater, der Druck der Arbeitswelt, Selbst- und Realitätsverleugnung sowie Spießbürgerlichkeit thematisiert.

Es ist nicht gerade so, als würde diese Liste irgendwelche seichte Unterhaltungsliteratur enthalten. Alle oben genannten Werke ermöglichen ebenso die drei Aufgabenstellungen und den Erwerb der entsprechenden Kompetenzen. Sie sind aber weniger komplexe Kunstwerke als die im gymnasialen Bereich verwendeten Lektüren, was zwei wichtige Folgen hat.

Einerseits sind sie leichter zu verstehen als etwa „Faust“ das ist. Das führt aber paradoxerweise nicht zu einem Niveau-Abfall, denn auf der anderen Seite sind sie wesentlich unberechenbarer und bieten (auch wegen der geringeren Schülerzahl dieser Schularten) weniger ausgetretene Pfade. So ist zwar etwa ein Roman wie die „Dunkle Seite des Mondes“ weniger komplex als Stamms „Agnes“, dafür aber auch wesentlich weniger künstlich. Hat man Agnes‘ Leitmotive einmal verstanden, ist ihre Herausarbeitung in der zweiten Teilaufgabe eigentlich nur noch eine handwerklich-mechanische Aufgabe. Demgegenüber sind diese anderen Lektüren hier paradoxerweise fordernder.

Zum anderen befassen sie sich mit einer wesentlich größeren Bandbreite von Themen, weil die „klassischen“ Autoren der Hochkultur für den Deutschunterricht eben aus einem sehr eingeschränkten sozialen und intellektuellen Hintergrund kommen (woher dann dieser stark bürgerlich geprägte Themenkomplex kommt). Wir beschäftigen uns einerseits mit sozial niederstehenden Klassen und müssen Empathie für sie entwickeln und auf der anderen Seite mit Personen, die eine wesentlich größere Bandbreite von Problemen als die klassiche Midlife Crisis haben.

Es wäre deswegen mein Wunsch, dass auch im gymnasialen Bereich die Pflichtlektürenauswahl etwas geöffnet und die furchtbar langweilige Berechenbarkeit der aktuellen Auswahl durchbrochen wird. Diese basiert auch auf einem ungeheur snobistischen Verständnis von Literatur und Hochkultur unter Literaturwissenschaftlern und, leider, vielen Deutschlehrern, die nachhaltigen Schaden anrichtet, indem sie den Schülern die Beschäftigung mit jeglicher Art von Literatur verleidet (was hier bereits diskutiert wurde). Und das kann nicht das Ziel sein.

{ 25 comments… add one }
  • CitizenK 29. Juni 2019, 16:09

    Der letzte Satz ist leider wahr. Eine Verkehrung dessen, was Literatur will und Literaturunterricht sollte. Wie Insektenkundler, die Schmetterlinge aufspießen: Schön (und) geordnet, aber nicht lebendig.

    Genug der Klage. Wie machen die die Lehrer in den USA das eigentlich? In amerikanischen Romanen und Filmen geht es oft (erstaunlich in diesem doch sehr materialistischen Land) um Literaturkurse und vor allem um Literatur-Professoren. Warum ist das so?

  • Ralf 29. Juni 2019, 18:27

    Was ich nicht verstehe ist, weshalb man im Abitur nicht mal irgendwas lesen kann, was auch ein normaler Mensch in seiner Freizeit lesen würde. Etwas was tatsächlich Spaß macht zu lesen, statt irgendeinen Schinken von vor zweihundert Jahren auszugraben. The Song of Ice and Fire zum Beispiel ist meisterhaft geschrieben, über 90 Millionen mal verkauft und in 47 Sprachen übersetzt worden. Aber nein, wir lesen lieber Effi Briest, einen Roman spezifisch für die Probleme des ausgehenden 19. Jahrhunderts und null Relevanz für unsere heutige Zeit. Vertretbar für den Geschichtsunterricht, aber völlig bescheuert für eine Deutschklasse.

    • derwaechter 29. Juni 2019, 18:51

      Song of Ice and Fire o.ä. baut zwar ein tolles Universum auf, ist aber literarich doch eher nicht so spannend. Ausserdem ist der Punkt m.E. eben Dinge zu behandeln, die man sonst nicht unbedingt behandeln würde.

      Ich Stimme Stefan allerdings zu, dass die erste Listen schon arg Deutsch LK Klischee sind und die zweiten deutlich gelungener sind ohne literarisch belanglos zu sein.

      Wir haben früher (NRW Gymnasium, 90ger) beides gemacht. Aktuelle Sachen die wir selbst vorschlagen konnten und „echte“ Klassiker. Das fand ich eine gelungene Mischung

      • Ralf 29. Juni 2019, 19:17

        Mich würde interessieren, wieso Du A Song of Ice and Fire literarisch nicht spannend findest. Ich entdecke da eine ganze Menge Spannendes.

        Angefangen zum Beispiel von der Erzählstruktur mit den laufend wechselnden Perspektiven. Ein Jaime Lannister ist etwa ein klassischer Bösewicht, solange seine Geschichte im ersten Buch ausschließlich aus der Sicht seiner Gegner geschildert wird und wird plötzlich zur positiven Figur, sobald man die selben Vorkommnisse aus seiner Perspektive geschildert bekommt. Alleine in diesem Fall steckt eigentlich schon sehr viel Lehrreiches für unser eigenes Leben. Und diese ständig wechselnde Erzählweise ist extrem ungewöhnlich für einen Text.

        Auch die Sprache in A Song of Ice and Fire ist aus linguistischer Sicht zumindest meiner Meinung nach sehr interessant. Der Text ist unheimlich voll von Begriffen, die entweder sprachlich obsolet sind oder erfunden, aber hörbar angelehnt an häufig verwendete Worte des modernen Englisch. „Turncloak“ ist z.B. ein sehr oft benutzter Begriff für einen Verräter, der in der heutigen englischen Sprache – und ich glaube auch in der englischen Sprache früherer Perioden – nicht existiert. Er ist eine Variation auf das Wort „Turncoat“, wobei „cloak“ und „coat“ synonym sind. Ähnliche Beispiele existieren zu hunderten in George R. R. Martins Büchern und geben dem Text seinen archaischen Charakter. Das geht bis hin zu den ganzen Namen der Figuren, die fast alle in unserer heutigen Welt so nicht existieren, obwohl immer sehr ähnliche Varianten vorkommen (Eddard statt Edward, Catelyn statt Katelyn, Edmure statt Edmund, Petyr statt Peter und viele, viele mehr). Es gibt auch enorm viele Anleihen und parallele Geschichten zu anderen Werken. Sei es aus den Geschichtsbüchern (insbesondere die Rosenkriege), der Sagenwelt (z.B. die Nibelungen) oder aus der moderneren Fantasy-Literatur (etwa der Silmarillion).

        Was macht denn Effie Briest oder die anderen Werke, die Stefan oben aufgelistet hat „spannender“ als ASOIAF aus literarischer Sicht? Oder – anders gefragt – was macht ein Werk überhaupt „literarisch spannend“ Deiner Meinung nach?

      • Stefan Sasse 30. Juni 2019, 07:56

        Würde ich so nicht unterschreiben. ASOIAF bietet auch literarisch sehr viel.

        • derwaechter 30. Juni 2019, 12:12

          Wie gesagt, ich denke beides sollte seinen Platz im Unterricht haben. Und was jetzt genaue grosse Kunst ist und was nicht ist ja eine viel diskutierte Frage und glasklare Grenzen gibt es natürlich nicht.

          Aber Tolkien oder Martin sind halt nicht Goethe oder Kafka. Da überzeugen mich abgewandelte Vornamen, ausgedachte Wörter und Anleihen aus Sagen und Fantasy Literatur jetzt auch nicht unbedingt vom Gegenteil.

          Ich würde sagen, das eine ist Kunsthandwerk und das andere eben Kunst.

          • Stefan Sasse 30. Juni 2019, 12:32

            Wie ich im Artikel beschrieben habe sind Goethe und Konsorten Kunstwerke im Wortsinn: sie sind künstlich. Und wie ich auch sagte: ja, auch das muss man Schülern zumuten. Aber das Gewicht, das die aktuell haben, ist disporoportional und geht zu Lasten anderer, wichtiger Themen.

            • derwaechter 30. Juni 2019, 16:43

              Sehe ich wie gesagt ganz genauso.

          • Ralf 30. Juni 2019, 13:42

            Aber Tolkien oder Martin sind halt nicht Goethe oder Kafka.

            Wieso? Welche konkreten objektiven Maßstäbe machen die Werke der einen zu “Kunst” und die Werke der anderen lediglich zu “Kunsthandwerk”?

    • Stefan Sasse 30. Juni 2019, 07:55

      Dieses spezifische Buch fällt raus, weil es deutsche Literatur sein muss. Ansonsten stimme ich dir vollen Herzens zu. Ich hab ASOIAF übrigens in der 9. Klasse gelesen und lese den Heckenritter immer in 11 😉

    • Cimourdain 30. Juni 2019, 12:37

      Wo wir bei Fantasy-Serien sind: ist der „Steppenwolf“ nicht einer dieser Romane, in denen sich der Protagonist Harry …er mit etwas magischen ( hier: Theater) auseinandersetzen muss und ihn die weibliche Hauptfigur Hermine dabei unterstützt ?

      • derwaechter 30. Juni 2019, 20:06

        Nein. Das ist die Geschichte in der Faust seine Seele an einen bösen Zauberer verkauft dessen Name nicht genannt werden darf. Im Gegenzug bekommt er den Ring der sie alle eint. Im zweiten Teil versucht er den Ring wieder los zu werden, schafft es aber trotz vieler Bemühungen nicht hoch zum Schloss. Schliesslich verschluckt ein Pudel den Ring und da hört die Geschichte abrupt auf. Ist leider ein Fragment geblieben. Aber ich bin mal gespannt wie die Story in der HBO- Serie weiter geführt werden wird 🙂

        • Cimourdain 1. Juli 2019, 19:26

          Ist das der gleiche Ring, der in der Ringparabel (siehe Rotationskörper von Kegelschnitten) von Polykrates an die Nibelungen weitergegeben wurde ?

          • derwaechter 2. Juli 2019, 08:45

            Da kennt sich jemand aus.
            Deutsch LK in Baden Württemberg gehabt 🙂

  • Cimourdain 30. Juni 2019, 12:56

    Gegenrede: Womöglich würde man mit deinem Vorschlag den Schülern einen Bärendienst erweisen. Es handelt sich nicht um allgemeine Schullektüre, sondern um Abiturthemen. Wie wir erst dieses Jahr bei den als zu schwer kritisierten Mathematikaufgaben gesehen haben, ist einem nicht unerheblichen Teil der Schüler wichtig, im Abitur verlässlich mit Fleiss gute Noten erzielen zu können. Wenn die Literaturliste thematisch deutlich von den Themen der Vorjahre (also die philosophische, politische und sexuelle Weltsicht weisser Akademiker mittleren Alters) abweicht, ist die entsprechende Vorbereitung schwieriger. Die Schüler müssen sich mit neuen Topoi, neuen Denkwelten auseinandersetzen, die Lehrer haben keine Erfahrungswerte, welche Aspekte und Begriffe ‚punktwürdig‘ sind und das Kultusministerium muss sich entsprechend ‚lehrplantaugliche‘ Aufgabenstellungen ausdenken.
    P.S. Drei der Werke auf ‚deiner‘ Liste ( Vor Sonnenaufgang, die Verwandlung und Woyzzeck) waren in meinem Jahrgang zumindest Schullektüre.

    • Stefan Sasse 30. Juni 2019, 14:42

      Wie gesagt, ich sehe schon warum die das machen, aber das führt halt zu sehr negativen Seiteneffekten.

  • Kirkd 1. Juli 2019, 13:58

    Ich kann Dir nur zustimmen. Neben generell mehr Vielfalt fällt an Deinem Beispiel auch auf, dass das 19. Jahrhundert präsenter als das 20. Jahrhunder ist und die letzten 50 Jahre eigentlich gar nicht vertreten sind. Das wirkt sich natürlich auf die Themen aus. Zudem wird bei Schülern der Eindruck erweckt, Literatur sei so etwas wie spätmonarchische Textarchäologie.

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