Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Je nachdem wie sich das einpflegt werde auch auch auf andere Medien und Formate eingehen, die ich als relevant empfinde. Vorerst ist das Verfahren experimentell, bitte gebt mir daher entsprechend Feedback! Diesen Monat: Alltagsleben in der Antike, Wassertänzer, Internationale Beziehungen und Realitätsschocks.
Außerdem diesen Monat: Freie Rede.
Robert Garland – The Other Side of History. Daily Life in the Ancient World
Ich mag Alltagsgeschichte sehr. Zu viel Geschichte konzentriert sich auf das Leben großer Männer, oder zumindest der herrschenden Elite, und kümmert sich wenig um die Realität der 99%. Allzu oft erfährt man etwa bei römischer Geschichte, wie die Villen der Reichen aufgebaut sind, vielleicht noch von den insulae in Rom, aber dass 90% der römischen Bevölkerung Bauern waren kommt in dieser urbanen Betrachtung selten vor. Umso relevanter ist es, die Geschichte dieser vergessenen Menschen, die auch in unserer eigenen Geschichtsschreibung erst seit den 1960er Jahren in den Fokus geraten sind, weil erst sie ein vollständiges Bild der Epoche geben können. Daher war dieses Produkt der Great Courses, in dem Robert Garland verspricht, einen solchen Überblick für die Antike zu geben, für mich inhärent spannend.
Umso größer war die Enttäuschung. Garland beschreibt (und ist bereits das nächste Problem, er beschreibt statt zu analysieren, werten und einzuordnen) in extrem breiten Pinselstrichen. Jahrhunderte werden in einige Sätze eingedampft, nette Narrative stehen über jeder realistischen Betrachtung der Situation.
Ich will ein besonders krasses Beispiel geben. Um die Lebensrealität der antiken Griechen wiederzugeben, beschreibt Garland das Leben in Athen. Nun war Athen als Großmacht seiner Zeit für das Leben des Durchschnittsgriechen in etwa so typisch wie Washington D.C. für die Alltagserfahrung eines Amerikaners. Doch nicht nur das. Als Kontrastprogramm gibt uns Garland (natürlich) Sparta, aber das Sparta, wie man es aus den populären Darstellungen kennt. In Kürze: ein verzerrtes, mit der Realität wenig gemein habendes Bild von Sparta (über die Probleme mit dem Sparta-Bild hat Bret Deveraux eine hervorragende Serie geschrieben).
Völlig absurd wird es, wenn Garland die Liebe der Griechen zur Rhetorik anhand von Perikles‘ Rede auf die Gefallenen im Peloponnesischen Krieg beschreibt – als Beispiel dafür, welche Reden der Durchschnittsgrieche auf der Agora hören konnte. Nun ist einerseits das Reden von Politikerreden auf der Agora sicherlich nichts, was der um sein Überleben besorgte Durchschnittsgrieche tut – der arbeitet nämlich, es sei denn, er gehört zur athenischen Bevölkerung auf der Höhe der Macht des Stadtstaats, aber das ist ja genau der Punkt: diese Erfahrung ist nicht typisch und basierte auf der erbarmungslosen Ausplünderung des restlichen Griechenland, eine Information, die man bei Garland vergeblich sucht. Und Perikles hat die Rede so natürlich auch nie gehalten; sie wird ihm stattdessen anderthalb Jahrzehnte später von Thukydides so in den Mund gelegt.
Garlands Vorlesung ist voll von solchem Blödsinn. Zwar bekommt man schon die eine oder andere Information über das Leben in früheren Zeiten. Aber insgesamt ist es einfach populärwissenschaftlicher Quatsch. Ich war von diesem flachen Niveau schon bei meinem letzten Experiment mit dem Great-Courses-Format nur eingeschränkt begeistert; ich weiß nicht, ob ich ihm auch noch eine dritte Chance geben will.
Ta-Nehisi Coates – The Water Dancer (Ta-Nehisi Coates – Der Wassertänzer)
Ta-Nehisi Coates ist einer der größten Essayisten unserer Zeit. Mit großem Genuss habe ich sowohl „We Were Eight Years in Power“ (Deutsch) als auch „Between the World and Me“ (Deutsch) gelesen. Nachdem er mit dem Schreiben einiger Black-Panther-Comics (die ich nicht gelesen habe; die Marvel-Comic-Welt ist mir einfach zu fern) erste Erfahrungen im Bereich der Belletristik sammeln konnte, legt er nun seinen ersten Roman vor.
Im Wassertänzer geht es um den jungen Sklaven Hayram, der auf einer Plantage in Virginia lebt. Er hat ein phänomenales Gedächtnis und kann sich alles merken, was ihn zur Unterhaltungsattraktion seines Besitzers (und Vaters) macht. Anstatt diese gewaltigen Talente nutzen zu können, wird er aber zum Hausdiener seines Halbbruders und des Plantagenerben Weyland gemacht, der ein ausgemachter Trottel ist. Nach dessen Unfalltod steht die Plantage vor dem Ruin, die Sklaven vor dem Verkauf „down Natchez‘ way„, also in den tiefen Süden – und mit Sicherheit keinem besseren Schicksal. Hayram entscheidet sich zu fliehen und wird vom Untergrund rekrutiert, um fortan Sklaven zu befreien.
Die grundsätzliche Idee des Wassertänzers ist erst einmal nicht schlecht. Hayram, der autobiographische Züge Coates‘ aufweist, ist vor allem ein scharfer Beobachter, und die Umstände als Sklave erlaubt es ihm selten, aktiv gestaltend in die Handlung einzugreifen. Mit gewohnt stilsicherer Gabe beschreibt Coates prägnante Porträts der Plantagenkultur Virginias, der Kultur der schwarzen Sklaven und der der „low whites„, der armen weißen Bevölkerung, die selbst keine Sklaven halten kann und im Dreck lebt, aber aus dem ihnen gesetzlich zugesicherten Recht zur Misshandlung der Schwarzen Freude zieht und so die Oligarchie der Pflanzer stützt. Das Hervorheben der Rolle der low whites ist etwas, das auch Tarantinos großartiges Werk „Django Unchained“ kennzeichnete, das sich (wenngleich in radikal anderem Stil) demselben Thema widmete.
Die beiden Werke haben auch eine gewisse Ähnlichkeit, denn der Wassertänzer fühlt sich über Strecken an wie die origin story eines Superhelden. Anstatt der technologischen Überlegenheit Wakandas und der Macht der heiligen Blume hat Hayram nur sein überragendes Gedächtnis, dessen Reaktivierung vergangener Erinnerungen im Kontext einer Superfähigkeit (conduction) beschrieben wird.
Dummerweise will Coates eigentlich einen Roman schreiben, und die vielen Versatzstücke fügen sich nie wirklich zu einem fließenden Ganzen zusammen. Die Charaktere reden nicht wirklich miteinander, sie wechseln sich vielmehr in (brillant geschriebenen) Monologen ab. Zwar transportiert Coates großartig die Stimmung und die Kultur der beteiligten Gruppen, aber vermag es nicht wirklich, eine spannende Geschichte daraus zu schmieden, und an mehreren Stellen der Lektüre wünschte ich mehr, er hätte ein Sachbuch oder eine weitere Essaysammlung geschrieben. Hayram bleibt mit fremd.
Bernhard Stahl (Hrsg.) – Internationale Politik verstehen. Eine Einführung
Manchmal hat man dieses Gefühl, dass man sich mit etwas befassen sollte, das man eigentlich schon längst hätte lesen sollen. Meine letzte Beschäftigung mit Internationaler Politik war im Studium, und neben der Politischen Theorie waren die IB mit ihrer Theorielastigkeit mir ein Gräuel; ich habe viel größeres Interesse an Politischen Systemen und Politischer Wirtschaftslehre gehabt (nur um die vier Disziplinen der Politikwissenschaft alle aufgezählt zu haben). Aber manchmal hilft einem die Distanz auch, und so griff ich zu einer aktuellen Auflage eines typischen utb-Lehrbuchs (aktuell heißt hier: auf dem Stand des Syrienkonflikts).
Dieses Werk führt zuerst (gnädig knapp) in die vier großen Theorien der IB sowie die Werkzeuge der Theoriekritik ein, ehe es in zahllosen Fallstudien zur Sache geht. Jede Fallstudie umfasst nur einige wenige Seiten, skizziert kurz die historischen, politischen und soziologischen Grundelemente und rückt dem jeweiligen Konflikt dann mit der am besten geeigneten Theorie zuleibe.
Für diejenigen, die sich mit diesen Theorien bisher nicht auskennen: Kauft das Buch und lest es, es lohnt sich. Aber hier die Kurzversion. Die Disziplin der Internationalen Beziehungen basiert auf Theorien, die für sich in Anspruch nehmen, das Handeln internationaler Akteure zu erklären. Jede Analyse muss deswegen diesem Anspruch genügen (und enthält daher auch eine Theoriekritik). Die IB haben vier Haupttheorien: den Neorealismus, der von anarchisch-egoistischen Staaten ausgeht, die ihre eigene Sicherheit maximieren; den Liberalismus, der von einer festen Verfahrensweise über diplomatische Kanäle ausgeht; der Institutionalismus, der den beteiligten Institutionen (vor allem denen auf supranationaler Ebene) die größte Wirkung zuschreibt; und der Konstruktivismus, der von der Bedeutung geteilter Normen ausgeht.
Keine Theorie kann alles erklären, und oft werden Theorien auch kombiniert (wenngleich viele Politikwissenschaftler das sehr kritisch sehen). Ich selbst hänge eher Institutionalismus und Konstruktivismus als Neorealismus und Liberalismus an. Ich möchte zur Demonstration, dass sich die Lektüre lohnt, nur eines der mehr als 30 Fallbeispiele herausgreifen, das aus dem konstruktivistischen Bereich kommt.
Hierbei ging es um die so genannte securitization. Bei dieser „Versicherheitlichung“ werden bestimmte Themen der Sicherheitspolitik zugeordnet, obwohl sie dort ursprünglich keine Rolle spielten. Da sicherheitspolitische Themen immer den Fortbestand des Staatswesens betreffen, stehen sie in der politischen Priorität ganz oben und erhalten im politischen Diskurs eine unfechtbare Stellung. Ein Beispiel dafür wäre etwa die securitization der Rüstungskontrollen im Irak, die durch die eigene überbordende Rhetorik den Irakkrieg irgendwann praktisch unausweichlich machte, weil sich die USA selbst in eine Position manövriert hatten, aus der heraus nur noch militärisches Handeln Handlungoption war. Ähnliches ist gerade mit Covid-19 zu beobachten oder könnte theoretisch auf den Klimawandel angewendet werden.
Solche Betrachtungen erweitern den eigenen Horizont beträchtlich, schon allein, weil sie ein Vokabular und Handwerkszeug an die Hand geben, mit dem Konflikte durchdrungen und verstanden werden können, die sonst eine Ansammlung von ungeordneten Informationen und Fakten bleiben. Dadurch eröffnen sich völlig neue (analytische) Welten. Anders gesagt: ich hätte im Proseminar besser aufpassen sollen.
Ich schätze Sascha Lobo als Denker und Autoren sehr und fieberte der Veröffentlichung seines Buchs daher entgegen. In diesem Werk vertritt er die These, dass die sich rapide wandelnde Welt im 21. Jahrhundert – ein Wandel, der vor allem von der Ausbreitung des Internets vorangetrieben wird – zu Realitätsschocks führt. Unter Realitätsschock versteht Lobo dabei die Erkenntnis, dass die Welt bzw. ein Problem auf eine bestimmte Art beschaffen ist und es nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich ist, das zu verleugnen.
Dazu gehören sowohl naturwissenschaftlich feststellbare Komplexe – etwa der Klimawandel -, aber auch schlicht gesellschaftliche Trends wie die Frauenemanzipation oder der Aufstieg der Rechten. Lobo breitet insgesamt zehn dieser Realitätsschocks in seinem Buch aus und erklärt dabei nicht nur, woher diese kommen (und in welchem Maße das Internet sie befeuert), sondern auch, warum genau die jeweilige Realität so schockierend ist.
Man darf ihn sich dabei nicht (nur) als progressiven Parteigänger vorstellen. Während das Kapitel zum Klimawandel wenig überraschend zu dem Schluss kommt, dass es ein drängendes, sofort anzugehendes Problem ist (mit viel Lob für Fridays for Future, mit denen sich Lobo im zugehörigen Podcast auch noch weiter auseinandersetzt), so dürfte das Kapitel zur Integration bei Konservativen auf viel nickende Köpfe stoßen, wenngleich Lobo hier zu einem Rundumschlag gegen die Ausländerpolitik praktisch sämtlicher Regierungen seit Adenauer ansetzt – völlig zu recht übrigens.
Endgültig schockend dürften aber die wesentlich strittigeren Thesen sein, die in Lobos Buch behandelt werden. So hat er auch ein größeres Kapitel zur Migration, in der er effektiv für offene Grenzen eintritt, weil ein Aufhalten der Migrationsbewegungen aus Afrika ohnehin illusorisch sei. Auch ist er in seiner Analyse der Ursachen des Rechtsrucks meinen eigenen Analysen sicherlich näher als denen mancher eher konträr orientierter Kommentatoren hier im Blog.
Generell kann ich das Werk aber uneingeschränkt empfehlen. Genug Futter für eigene Überlegungen ist dabei, mit irgendeinem Kapitel wird vermutlich jeder so seine Probleme haben, und genau das ist ja eigentlich das, was man als Denkanstoß haben möchte. Dass Lobo eine flüssig-flotte Schreibe hat und das Buch sich nicht in endlosen Labereien verrennt, sondern eng lektoriert ist, sollte die Kaufentscheidung noch weiter erleichtern.
ZEITSCHRIFTEN:
Aus Politik und Zeitgeschichte: Freie Rede
Dieser Tage ist das Thema „Freie Rede“ in aller Munde. Permanent verkünden Rechtspopulisten und solche, die es werden wollen, dass sie in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt seien, nur um den simplen Sachverhalt erklärt zu bekommen, dass Meinungsfreiheit nicht Widerspruchsfreiheit bedeutet. Die aktuelle Ausgabe der APuZ nimmt sich den Themenkomplex etwas detaillierter vor und hat einige interessante Aspekte auf Lager.
So erklärt etwa Anatol Stefanowitsch einmal mehr, warum politisch korrekte Sprache gar nicht schlimm ist. Für mich ist das preaching to the choir, aber für Skeptiker dürfte sein wissenschaftlich gehaltener Aufsatz wenigstens anregend sein. Ebenso wenig dürfte ein Pro-Contra-Doppelartikel zur Frage, ob die Meinungsfreiheit gefährdet ist, grundsätzlich Meinungen ändern – aber als kohärente Zusammenfassung der jeweiligen Seite ist es in jedem Fall wertvoll.
Für mich deutlich spannender waren dagegen ein Artikel, der sich mit der Frage beschäftigt, was eigentlich tatsächlich erlaubt ist – also den grundgesetzlichen Normenrahmen abklopft. Die für mich zentrale Erkenntnis war die Formel, dass Gesinnungen per se nicht verboten werden dürfen, wohl aber ihre Äußerung, wenn dadurch Schaden entsteht. Diese Normenlogik war mir noch nicht bekannt gewesen. Ebenso anregend empfand ich die Diskussion des Widerspruchs als Wert an sich: Braucht die Demokratie zwingend den Widerspruch, oder kann er sie zuweilen sogar schädigen? Die Ergebnisse sind durchaus überraschend.
Das Heft ist damit zur Lektüre ausdrücklich empfohlen. 🙂
„Nun war Athen als Großmacht seiner Zeit für das Leben des Durchschnittsgriechen in etwa so typisch wie Washington D.C. für die Alltagserfahrung eines Amerikaners“
Ich weiss schon was Du meinst, bin aber trotzdem drüber gestolpert. Ich glaube der Alltag der meisten Menschen in Washington unterscheidet sich nicht sonderlich von dem in anderen amerikanischen Großstädten.
Ich wollte auch eher auf den Kontrast zu normalen Städten und dem Land raus, aber hast natürlich Recht.
Uh, gut dass du überhaupt noch zum Lesen gekommen bist. Da fällt mir wieder ein, dass hier irgendwo die Rechnung von der bpb rumfliegt, die kurz vor Ausbruch der Apokalypse kam.
Dummerweise hab ich grad wenig Zeit und Muße, mich auch noch mit Sorgen um eine neue Nazizeit zu beschäftigen. Meine normalen Leseinteressen sind nicht unbedingt ablenkend und aufheiternd. :/
zu 1)
Finde, es ist auch relativ schwer, gute Literatur zum Alltagsleben zu finden, weil darüber natürlich viel weniger bekannt ist als über Herrscher. Da verschaffe ich mir lieber einen Eindruck über historische Romane, das ist wissenschaftlich bestimmt noch inkorrekter, aber spaßiger und leichter verständlich.
Historische Romane, brrrrrrrrrrr. 😀
Ähem, ich könnte nun den Einwand bringen, dass Game of Thrones eigentlich eine fiktive historische Romanreihe ist. Ich meine, auch gelesen zu haben, dass die englischen Rosenkriege als Vorbild dienten 😉
Aber meine Liebe zur Geschichte kam eigentlich von Romanen, ich war als Jugendliche ein riesiger Fan von Tanja Kinkel und Follett und Gablé und mit Abstrichen Cornwell mag ich auch immer noch. Das ist auch gerade erheiternder als dystopische, apokalyptische Science-Fiction^^
Ist was anderes. 🙂 VÖLLIG ANDERS.
Hm obwohl: Game of Thrones ist schon eher eine fiktive auf historischen Anleihen aufgebaute Highfantasy-Romanreihe, in der neben anderen wundersamen Dingen auch die Apokalypse stattfindet/droht.
Tjoa, das beste und schlimmste aus allen Welten zugleich ^^
1) Darf ich dir von Robert Knapp „Römer im Schatten der Geschichte“ empfehlen? Wirklich interessant.
Gerne, ich checks mal aus.