Rezension: Suzanne Collins – Die Tribute von Panem 1: Tödliche Spiele

Suzanne Collins – Die Tribute von Panem 1: Tödliche Spiele (Hörbuch) (Englisch) (Film)

Ich habe dieser Tage wieder einmal die „Tribute von Panem“ im Unterricht besprochen. Die Romanreihe ist mir über mehrere solcher Einheiten mittlerweile deutlich ans Herz gewachsen und ich lese sie auch privat immer wieder. Mein aktueller Re-Read bietet genügend Anlass für eine ausführliche Rezension, nachdem ich beim letzten Mal nur Jahres- und Monatsberichte abgegeben hatte. Meine eigene Geschichte mit der Trilogie ist etwas verworren: meine Frau war ein Riesenfan der Bücher, aber ich hatte die Prämisse immer als den üblichen YA-Kram abgetan, eine heruntergespülte Version von „Battle Royale“, und der Kinofilm 2012 holte mich auch nicht wirklich ab. Als ich das Buch dann für den Unterricht das erste Mal las, war ich positiv überrascht: es hob sich von der üblichen YA-Literatur durch seine literarischen Qualitäten deutlich ab. Die beiden Folgebände überzeugten mich noch viel mehr. Warum das so ist, will ich nach einer Inhaltsbeschreibung im Folgenden klären.

In unbestimmter Zukunft, nach einer Apokalypse ungeklärter Art, hat sich ein diktatorisches Regime im sogenannten Kapitol gebildet, das die restlichen Siedlungen der Menschheit auf dem Gebiet der heutigen USA in sogenannte Distrikte unterworfen hat. Zusammen bilden sie die Nation Panem. Gegen das Regime des Kapitols versuchten die Distrikte einen Aufstand, der nach einem erbitterten Krieg durch die Kräfte des Kapitols entschieden wurde. Als Strafe müssen seither jährlich alle Distrikte zwei zufällig ausgewählte Kinder zwischen 12 und 18 Jahren als „Tribute“ für die sogenannten Hungerspiele stellen, in denen sie bis auf den Tod gegeneinander kämpfen müssen, bis nur noch einer übrig bleibt – der/die Sieger*in, der/die reich beschenkt und wohlhabend in den jeweiligen Distrikt zurückkehrt.

Distrikt 12, dessen Hauptwirtschaftszweig der Abbau von Kohle für den Energiehunger des Kapitols ist, ist der ärmste von allen. Hier sind die Menschen besonders unterernährt und haben die geringsten Chancen, die Hungerspiele lebend zu überstehen. Unsere Protagonistin, Katniss Everdeen, lebt hier. Sie Sechzehnjährige hält ihre Familie durch Wilderei am Leben, die sie zusammen mit ihrem Freund Gale betreibt. Sie ist Halbwaise und muss ihre Mutter und kleine Schwester Prim durchbringen, die gerade 12 Jahre alt ist und die Katniss abgöttisch liebt. Bei der „Ernte“ kommt es, wie es kommen muss: Prim wird als Tribut ausgewählt. Katniss rettet sie, indem sie sich an ihrere Stelle freiwillig als Tribut meldet. Zusammen mit dem anderen Tribut, dem Bäckersohn Peeta Mellark, wird sie ins Kapitol gebracht – ein Kulturschock, denn der dortige Luxus trifft sie völlig unerwartet. Im Trainingscenter haben die Tribute einige Tage, sich auf die Spiele vorzubereiten.

Für Katniss ist es entscheidend, die Interviews vorzubereiten. Denn der Sieg in den Spielen hängt nicht nur an den physischen Fähigkeiten. Sie werden live im Fernsehen übertragen (die Distrikte müssen zusehen; im Kapitol ist es das Unterhaltungshighlight des Jahres), Sponsoren können Geschenke an ihre Lieblingstribute senden. Katniss ist allerdings nicht eben eine people’s person. Mehr schlecht als recht arbeitet sie sich durch ihr Interview. Es ist Peeta, der die Bombe platzen lässt: auf offener Bühne erklärt er, unsterblich in sie verliebt zu sein und nun entweder sterben zu müssen oder sie auf ewig zu verlieren. Auf einen Schlag sind die beiden das „tragische Liebespaar“ und besitzen die Sympathien des Publikums.

Allzu viel hilft dies zu Beginn freilich nicht; in der Arena, die als um einen See gruppiertes Waldstück konzipiert ist, sucht Katniss ihr Heil in der Flucht und dem Überleben in der Natur. Die Suche nach Wasser, das Entgehen der tödlichen Fallen der „Spielmacher“ und das Übernachten in den Bäumen prägen ihre erste Zeit. Als die Gruppe der „Karrieros“, Tribute aus den wohlhabenden Distrikten, die ihr ganzes Leben trainiert wurden und deswegen üblicherweise gewinnen, sie aufstöbert, muss sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass Peeta bei ihnen ist. Auf einen Baum geflüchtet überlebt sie nur, weil sie ein Wespennest auf die Verfolger fallen lässt. Dabei erbeutet sie einen Bogen, der die Machtverhältnisse umkehrt: Katniss ist nun selbst eine Gefahr für ihre Gegner.

An dieser Stelle bremst die Handlung spürbar ab, denn Katniss geht ein Bündnis mit der zwölfjährigen Rue aus Distrikt 11 ein, ein zartes Mädchen, das nicht von ungefähr an ihre Schwester erinnert. Als sie getötet wird, bricht für Katniss eine Welt zusammen. Sie bestattet Rue – ein einmaliger Vorgang in den Hungerspielen – und verabschiedet sie mit einem Lied. Die „Spielmacher“ kündigen kurz darauf eine Regeländerung an: zwei Tribute können gewinnen, wenn sie aus demselben Distrikt sind. Die offensichtlich auf Katniss‘ und Peetas „tragische Liebesgeschichte“ angelegte Änderung lässt Katniss sofort nach dem verletzten Peeta suchen. Sie versucht ihn gesundzupflegen, während die „Spielmacher“ die Spiele auf ihren Höhepunkt drängen. Es gelingt den beiden tatsächlich, sich gegen den Rest der Tribute durchzusetzen – und die Regeländerung wird rückgängig gemacht. Anstatt sich gegenseitig umzubringen, beschließen die beiden, gemeinsam Selbstmord zu begehen. Voller Panik wird die Regeländerung doch wieder in Kraft gesetzt; die beiden gewinnen gemeinsam.

Doch wie das Dénouement zeigt, ist diese Kampfansage an das Kapitol erst der Beginn der Probleme. Während Katnissn die Liebe zu Peeta als Inzenierung betrachtete, um Sponsoren zu gewinnen, war sie für Peeta stets echt. Die Erkenntnis, dass seine Liebe nicht erwidert wird, trifft Peeta hart. Katniss indessen hat die Machthaber vor aller Welt lächerlich gemacht. Als Siegerin ist sie nun in größerer Gefahr, als sie es in der Arena je war. Mit diesem düsteren Ausblick endet der Roman.

Ich habe bereits eingangs erwähnt, dass mich die literarische Qualität des Werks überrascht hat. Meine Hauptkritik 2012, als ich den Film gesehen hatte, bezog sich auf das Worldbuilding und seine zahlreichen Fragwürdigkeiten. Nun ist es allerdings eine Binsenweisheit unter Kritiker*innen, dass solche Probleme eigentlich nur dann auffallen, wenn die Geschichte nicht packend ist. Wer hat sich schließlich je bei „Star Wars“ ernsthaft gefragt, warum der Todesstern eine solch eklatante Sicherheitslücke hat? Da brauchte es Jahrzehnte eines nerdigen Fandiskurses. Die Spannung der Geschichte, die Figuren und das Setting tragen über alle Logiklücken. Deswegen muss an dieser Stelle kurz über den Film gesprochen werden: der ist nicht schlecht, aber eben auch nicht besonders gut. Ohne die Romanvorlage und das eingebaute Publikum ist kaum vorstellbar, dass da vier Kinofilme herausgekommen wären.

Das liegt vor allem daran, dass das zentrale Strukturmerkmal des Romans, dem das wahre Genie Collins‘ und ihre größte schriftstellerische Fähigkeit zugrundeliegt, nicht in das filmische Medium übertragen werden kann: die Erzählperspektive. Der komplette Roman (wie auch seine beiden Sequels) sind in einer personalen Ich-Erzählperspektive erzählt, die niemals gebrochen wird. Das allein reichte aber noch nicht aus, um die Lesenden einzunehmen. Die Konstruktion von Katniss‘ Charakter ist das zweite, zentrale Puzzlestück. Denn Katniss ist eine unglaublich unempathische Person, die sich notorisch schwer damit tut, andere Menschen zu verstehen. Oder Politik. Sie ist ein klassischer Wilhelm-Tell-Charakter: Freiheitskämpferin wider Willen, vom bösen Vogt Snow in den Kampf gezwungen, weil sie einen Pfeil auf Prim und Peeta (in Personalunion) abschießen musste, instrumentalisiert von den Eidgenossen der Rebellion; oder so ähnlich.

Diese Konstruktion sorgt im Roman dafür, dass wir genauso wie Katniss oft gar nicht richtig verstehen, was um sie herum passiert, und die Handlungen der Menschen um sie herum beständig missverstehen. Zusammen mit Katniss betrachtet man Peeta als große Gefahr und misstraut seinen philosophischen Erklärungen, die Katniss nicht versteht (viel zu wenig pragmatisch aus Überleben ausgerichtet). Gerade hier zeigt sich wieder Collins‘ clevere Konstruktion: Peetas Erklärung, er wolle nicht sein Selbst in den Spielen verlieren, was wichtiger als Überleben sei, wird von ihr überhaupt nicht verstanden und als Gewäsch verworfen, wie es unzweifelhaft auch auf Lesende wirkt, die solcherlei Erklärungen ohnehin kennen dürften. Erst als Katniss im Verlauf der Handlung Erfahrungen sammelt und Reflexionen anstellt, versteht sie Peetas Punkt am Ende und wandelt ihn instinktiv in die Waffe gegen das Kapitol um, die er darstellt. Auch, dass Peeta die Liebesbeziehung nicht spielt (schon gar nicht im Fieberdilirium), kommt ihr niemals in den Sinn.

Auf diese Art kann Collins einerseits den Spannungsbogen aufrechterhalten, andererseits aber auch Beobachtungen über die Welt anstellen, die permanent gebrochen und hinterfragt werden müssen, weil Katniss ein wahnsinnig unzuverlässiger Erzähler ist. Dieses attraktive Element, das auch George R. R. Martins „Das Lied von Eis und Feuer“ auszeichnet, übersetzt sich überhaupt nicht auf die Leinwand. Dass Katniss eine nicht besonders telegene Person ist, die ihre Gefühle eng in sich verschlossen hält und nicht nach draußen trägt, wird von Jennifer Lawrence in der Hauptrolle zwar gut umgesetzt, sorgt aber nicht eben für ein gutes Filmerlebnis. Die tiefe Einsamkeit Katniss‘, die selbst unter Menschen alleine ist, funktioniert als Erzählperspektive im Roman hervorragend, gibt uns einen Einblick ohne Tiefenverständnis, das wir uns selbst erarbeiten müssen. Im Film erfordert es unelegante narrative Hilfskonstruktionen.

Im Gewand eines YA-Romans kommt so eine vielschichtige, dystopische Gesellschaftskritik einher, die niemals auf ein billig-analogisierendes Niveau herabfällt. Die Rolle der Medien und des Spektakels etwa dürfte zahllose Anknüpfungspunkte an die heutige politische Situation finden, und dystopische Diktaturen bieten immer genügend Material für Analogien. Es spricht für Collins, dass ihr Werk sowohl von Linken als auch Rechten für sich in Beschlag genommen wurde und nicht offensichtlich eine Repräsentation einer ideologischen Richtung ist.

Collins‘ Worldbuilding ist außerdem auf sehr kluge Art mit ihrem Plot und ihren Charakteren verknüpft. Die Tessera-Steine etwa, die im Roman ständig im Hintergrund liegen, zeigen die vielschichte Grausamkeit der Herrschaftsmechanismen des Kapitols, sind aber gleichzeitig ebenfalls ein Element, das sich nur schwer in den Film übertragen lässt. Dasselbe gilt für Katniss‘ tiefe Empfindungen gegenüber den wenigen Menschen, die sie liebt – eigentlich nur Prim und Gale – und der kalten Abweisung von solchen, die sie als schwach empfindet, wie ihrer Mutter. Katniss ist keine durchgängig sympathische Person, aber sie ist unsere Protagonistin. Wer zwischen den Zeilen liest, kann bereits die zahlreichen Anspielungen auf ihre spätere Rolle als Galionsfigur der Rebellion erkennen, eine Rolle, die ihre Verbündeten wie Gegner erkennen und zu formen oder zu verhindern suchen, während Katniss nicht einmal gewahr ist, dass sie ihr zukommt. Diese Konstruktion wird in den beiden Folgeromanen große Dienste leisten, die die Betrachtungen der Diktatur und ihrer Funktionsweise wesentlich vertiefen.

{ 7 comments… add one }
  • Ariane 10. Mai 2024, 09:57

    Danke für die Rezension.
    Hab lustigerweise auch gerade ein Re-Reading angefangen, nachdem ich den neuesten Film etwas unvorbereitet gesehen hab und da gar nicht mehr so im Thema war. (am Schluss lese ich dann auch nochmal das neueste Buch, das hab ich noch nicht)

    Ich fand die Filme so gar nicht schlecht, aber ein bisschen am Thema vorbei, weil sich der Roman so auf die Ebene von Katniss bezieht und man das schlecht darstellen kann. (das ganze Worldbuilding hat man imo dann im Film auch mehr ausgebaut, das ist mir im Roman mehr Beiwerk)

    • Stefan Sasse 10. Mai 2024, 12:59

      Ja, und den Schluss haben sie weichgespült, die Feiglinge.

      • Ariane 10. Mai 2024, 16:29

        Ja, die Moll-Noten passen auch gar nicht ins momentane Hollywood-Kino, dafür haben sie es noch ganz ordentlich gemacht.

  • destello 10. Mai 2024, 15:52

    Ich kenne die Bücher nicht, nur die Filme und ich empfand – und empfinde – sie ganz im Gegenteil als richtig gut, und zwar durchgehend alle 4. Gerade der erste Film war für mich ein „Wow“-film. Ähnlich wir Matrix 1 (aber hier im Unterschied, waren für mich Matrix 2 und 3 furchtbar).

    • Ariane 10. Mai 2024, 16:32

      Dann würde ich die Bücher auf jeden Fall empfehlen, die Filme sind gut, behandeln aber eigentlich nur die Rahmenhandlung. (die ja an und für sich auch schon spannend ist)
      Aber die Bücher erhalten das Besondere durch das Psychologische, hauptsächlich die Innensicht von Katniss und auch durch die Molltöne.
      Danach gerne dann hier wieder berichten. 🙂

    • Stefan Sasse 11. Mai 2024, 09:50

      Voll gut, freut mich dass sie dir so gefallen! Ich find sie nicht schlecht, nur auch nicht so toll.

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