Im Rahmen eines Schüler*innenaustauschs habe ich im April 2024 meine erste Reise außerhalb Europas hingelegt (natürlich eine Dienstreise :D): es ging nach China, genauer nach Beijing. Für eine Woche sind eine Kollegin und ich mit 24 Schüler*innen dorthin und konnten das Land unmittelbar erleben. Ich will im Folgenden meine Eindrücke aus einer politisch-gesellschaftlichen Analyseperspektive teilen. Ich teile das Ganze in verschiedene Bereiche auf. All das ist auf Basis einer sehr dünnen Kenntnisbasis, einem siebentätigen Besuch in Beijing und damit notwendig super, super subjektiv. Caveat Emptor.
Politik und Gesellschaft
Natürlich haben wir uns auch ein wenig über Politik unterhalten, wenngleich auf niedriger Ebene. Es versteht sich praktisch von selbst, dass die großen Linien – Außenpolitik, Staatsaufbau, nationale Politik – eher Tabus sind. Dinge wie Taiwan oder den Charakter des chinesischen Staates haben wir überhaupt nicht angesprochen, und die Gastgebenden wurden auch angewiesen, nicht mit uns über Politik und Religion zu sprechen (letztere ist in China ziemlich unterdrückt). Eine Ausnahme bildetete der Ukrainekrieg; nach unserer Meinung dazu wurden wir aus irgendwelchen Gründen ständig gefragt. China imaginiert sich hier deutlich in eine Rolle als über den Dingen schwebender Vermittler.
Obzwar es sich um ein System der diktatorischen Einparteien-Herrschaft handelt, ist China dennoch vergleichsweise responsiv, was die Politik anbelangt. Zumindest auf den niederen Ebenen gibt es Bürger*innenbeteiligung in konsultativer Variante; der Staat gibt viel darauf, was die Leute denken und bemüht sich um hohe Zustimmungsraten für die eigene Politik (und anders als die realsozialistischen Staaten um reale Zustimmung, nicht nur ihre Performanz). Der Weg in Parteiämter ist auf diesen Ebenen vergleichsweise offen und keine Einbahnstraße; oft genug gehen Fachleute in die Verwaltung und umgekehrt. Darin ist das System unserem eigenen bemerkenswert ähnlich, und ich sehe in diesem Aufbau auch einen wichtigen Grund für den Funktionsgrad des Staates (siehe Fazit).
Stattdessen ging es viel um Dinge wie Stadtentwicklung und Gesellschaft. Angesichts des rasanten Wachstums der chinesischen Städte – der Stadtplan Shanghais wird alle halbe Jahr offiziell neu herausgegeben, und ohne die permanent aktualisierten Navigationssysteme würden sich dort selbst die Taxifahrer nicht zurechtfinden – sind hier ganz andere Policies notwendig als im Westen, bei dem die Urbanisierung weitgehend abgeschlossen ist („there is a policy for everything„, erklärte meine Begleiterin mit einem halb lächelnden, halb resignierten Achselzucken). Ich erntete großes Unverständnis für unsere westlichen (besonders deutschen) Vorstellungen von staatlicher Zurückhaltung. Die Vorstellung, dass das Interesse der Allgemeinheit – ob nebulös die Nation oder präziser die Stadt – hinter den Rechten des Einzelnen zurückzustehen habe, ist dort völlig fremd. Wenn die Partei beschließt, dass irgendwo eine Viertel abgerissen und etwas neu gebaut wird, dann geschieht das, völlig egal, wer dort lebt. So konnten wir eine Baustelle für einen Golfplatz (!) mitten in Beijing sehen, dem kürzlich ein Wohnviertel weichen musste. Zu sagen, dass die Städteplanung eine sehr aktive ist, wäre eine Untertreibung.
Das hat wie auch die allgegenwärtige Sicherheit unzweifelhafte Vorteile (die Nachteile sollten völlig offensichtlich sein), weil einerseits mit wesentlich mehr und viel langfristigerer Perspektive geplant werden kann (auch für den Klimaschutz, wo die Vorschriften einfach erlassen werden und fertig) und andererseits die Zeiten wesentlich kürzer sind; endlose Genehmigungsverfahren und irgendwelche Klagen gibt es schlicht nicht, weil die Einzelnen keinerlei liberale Eigentumsrechte genießen. Wie so oft in China ist das allerdings keinesfalls etwas, das von den Betroffenen nur negativ gesehen wird: tatsächlich gibt es eine Schicht der „noveau riche„, die den Aufstieg in die Mittelschicht einfach dadurch geschafft hat, dass ihre alten Bruchbuden durch den Gang der Stadtentwicklung abgerissen wurden und deren Entschädigung in wesentlich attraktiveren Lagen und höheren Werten bestand. Das ist keinesfalls die Regel: genügend Leute werden an die Peripherie abgedrängt, was angesichts der schieren Größe der Städte eine völlig andere Bedeutung hat als hierzulande in einen Vorort zu ziehen. Aber es gibt genügend Profiteure und die Entschädigungen sind großzügig genug, dass die Zustimmungsraten insgesamt – soweit ich das überhaupt beurteilen kann – überraschend hoch sind.
Das Land steht aktuell auch in gesellschaftlichen Umbrüchen, die uns hierzulande sehr bekannt vorkommen dürften. So ändern sich seit etwa einem Jahrzehnt die Geschlechterrollen massiv: genauso wie im Westen werden Frauen gleichgestellter und drängen immer mehr in die Berufswelt, was mit der Auflösung traditioneller Familienstrukturen und Biografien einhergeht: Heiraten und Geburten schieben sich nach hinten, Frauen haben mehr Einfluss, die Kindeserziehung fällt auf die Bildungsinstitutionen, Männer werden mehr in den Haushalt eingebunden, Frauen sind aktiver bei der Partnerwahl. Genauso wie bei uns sorgt dies für massive Verwerfungen und Backlash und ist ein fortlaufender Prozess, der die chinesische Gesellschaft schwer erschüttert.
Ebenfalls wie bei uns hat China ein Problem mit der Demografie: zwar ist die Ein-Kind-Politik seit 2015 abgeschafft, aber das Land ist überaltert und sieht sich einem Fachkräftemangel entgegen. Anders als wir schließt es Immigration als Lösungsweg vollkommen aus; die Xi-Jingpin-Regierung versucht stattdessen mit ungefähr denselben Ansätzen wie wir, die Geburtenraten zu erhöhen: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird gefördert, Sozialprogramme besonders für Akademikerinnen aufgelegt und Propaganda betrieben. Die Erfolge sind genauso überschaubar wie bei uns: Freiheit für Frauen geht unweigerlich mit einer sinkenden Geburtenrate einher, und China ist genauso unfähig, die inhärente Spannung zwischen diesen beiden Zielen – Gleichberechtigung und Geburtenrate >2 – aufzulösen wie wir es sind.
Das chinesische Gesundheitssystem schließlich funktioniert auf einem grundlegenderen Niveau als bei uns – Zahnmedizin etwa ist immer noch ein Luxusgut, was man deutlich sehen kann -, aber das staatliche System funktioniert sehr gut und ist preiswert. Wir kamen damit über den allergischen Schock eine*r Schüler*in in Berührung, die zwei Nächte im Krankenhaus verbringen musste. Die Rechnung mussten wir selbst übernehmen; sie betrug am Ende 1040 Yuan – rund 140€. Die Versorgung war gut und schnell. Die Wartezeiten, die wir hierzulande haben, schockierten meine chinesische Gesprächspartnerin; in China kann man einfach zum Arzt oder ins Krankenhaus und wird in der Regel extrem zeitnah versorgt. Wochen- oder gar monatelange Warteperioden für Termine sind dort unbekannt (was aber auch sicher daran liegt, dass Fachärzt*innen wie bei uns eine sehr viel geringere Dichte haben; das wäre zumindest meine Vermutung).
Bildungssystem
Naturgemäß ist das chinesische Schulsystem für mich als Lehrer von besonderem Interesse, und im Rahmen eines Schüleraustauschs hatten wir auch viel Gelegenheit, es zu begutachten. Grundsätzlich haben die Chinesen ein Gesamtschulsystem: an die Grundschule (4 Jahre) schließt sich die „Middle School“ an (Klasse 5-8), an die eventuell die Highschool (Klasse 9-12) folgt. Wer gut genug ist, kann dann studieren gehen. Der Übertritt an die (grundsätzlich kostenpflichtige) Highschool erfolgt über Zugangstests: je besser jemand abschneidet, desto bessere Schulen können besucht werden (ob dort das Schulgeld höher ist, weiß ich nicht). Gleiches gilt für die Universität: auch hier kommt es sehr stark auf die schulischen Leistungen an.
Entsprechend herrscht ein gewaltiger Leistungsdruck. Neben den ohnehin langen Schulzeiten (Ganztagsschule) haben viele Schüler*innen in der Früh und am Abend noch Zusatzkurse, in denen der Unterrichtsstoff vorgearbeitet wird: anders als bei uns ist nicht Nachhilfe, sondern Vorhilfe verbreitet, so dass die Schüler*innen den Stoff bereits beherrschen, wenn er im Unterricht besprochen wird – jedenfalls, wenn sie die Zusatzstunden nehmen konnten. Die dem inhärente soziale Spaltung ist offenkundig und ein Problem, das der Staat bisher nicht zu lösen in der Lage ist (aber als solches anerkennt).
Pädagogisch waren die Unterschiede wesentlich geringer, als ich erwartet hatte. Meine Klischeevorstellung war die eines sehr autoritären Systems, und während zwar einigeäußerliche Merkmale existieren (Aufmärsche auf dem Sportplatz etwa sind offensichtlich eingedrillt, wer aufgerufen wird steht auf) werden diese gleichzeitig von den Schüler*innen kritisiert und sind unbeliebt und nur halbherzig befolgt; im Unterricht dösen die chinesischen Schüler*innen genauso weg wie unsere, unterhalten sich nebenbei und passen nicht auf. Auch die Lehrkräfte sind wesentlich offener und egalitärer im Umgang mit den Schüler*innen als ich erwartet hatte, wenngleich gewisse hierarchische Unterscheidungen trotzdem noch deutlicher ausgeprägt sind als bei uns.
Didaktisch sind die Unterschiede dagegen deutlich. Das chinesische System baut wesentlich mehr als das Deutsche auf Repition, Abschreiben, auswendig Lernen und Nachahmen als unseres. Meine Einblicke sind nicht tief genug, um das Kompetenzniveau vernünftig vergleichen zu können, was kritisches und analytisches Denken angeht (was angesichts der bereits diskutierten Propaganda ohnehin schwierig ist), aber mein grundsätzlicher Eindruck ist, dass manche Kompetenzen wesentlich verbreiteter sind (die Chines*innen waren etwa völlig überrascht, dass unsere Schüler*innen keine Noten lesen können; das wird dort bereits in der Grundschule erlernt), vor allem solche, die eingedrillt werden, während andere deutlich unterentwickelter sind.
Am deutlichsten war das für uns im Fremdsprachenunterricht sichtbar. Der deutsche Fremdsprachenunterricht ist ohnehin ein Kronjuwel unseres Bildungssystems und im internationalen Vergleich spitze (ganz im Gegensatz zum MINT-Bereich…), aber das Niveau der Englischkenntnisse, obwohl das Fach dort bereits ab der Grundschule gelehrt wird, war bodenlos. Selbst die Lehrkräfte konnten kein besonders gutes Englisch, und die Schüler*innen waren überwiegend nicht in der Lage, auch nur primitive Sätze zu bilden, die bei uns jede*r Fünfklässler*in hinbekommt. Dafür sind Mathe und MINT wohl anspruchsvoller als in Deutschland; das war jedenfalls der Eindruck der Schüler*innen (ich kann das mangels Fachkompetenz überhaupt nicht beurteilen).
Ein kultureller Unterschied zu Deutschland ist die Betonung von Wettbewerb. Die Chines*innen machen alles in Wettbewerben und veranstalten auch ständig welche. Ob Unterricht, Sport oder Freizeit, permanent wird gegeneinander angetreten. Die besten Schüler*innen sind mit riesigen Porträts auf den Wänden des Schulhofs verewigt, ebenso die besten Lehrkräfte (fein säuberlich gegliedert nach Auszeichnungen auf Distrikt-, Stadt- und Provinzebene). Wir nahmen in fünf Tagen an nicht weniger als drei Wettbewerben teil; einem Fußballspiel, einem Basketballspiel und einem Gesangswettbewerb; dazu kam das gemeinsame Dumpling-Kochen bei der Abschiedszeremonie, das ebenfalls als Wettbewerb gestaltet war (die Verlierer mussten rappen). Als wir erklärten, dass es solche Wettbewerbe an unseren Schulen nicht gibt, weil das unseren egalitären Wertvorstellungen widerspricht, wurden wir fassungslos gefragt, was unsere Schüler*innen denn „zum Spaß“ tun würden. Dass diese nachmittags Freizeit haben, war den Chines*innen völlig unbegreiflich; diese sind bis mindestens 17 Uhr in der Schule, viele sogar bis 21 Uhr (!). Und danach stehen Hausaufgaben und Lernen an. Kein Wunder waren sie völlig übermüdet; nach ihren Freizeitbeschäftigungen am Wochenende gefragt, gaben viele an zu schlafen.
Im Bildungsbereich kam ich auch mit der kommunistischen Partei in Berührung. Neben den Fotos der Schulleitung und der besten Lehrkräfte (was genau sie zu den besten macht, konnte ich noch nicht herausfinden) sind auch Fotos der Parteifunktionär*innen an den Wänden zu sehen. Mit der für die Schule zuständigen Parteifunktionärin hatten wir auch direkt zu tun: sie kam auf einen Besuch vorbei, der von allen Lehrkräften als riesiges Event gehandelt wurde. Die Funktionärin war eine ehemalige Lehrkraft, einmal mehr analog zu unserem eigenen System, wo ebenfalls Lehrkräfte die Stellen im Regierungspräsidium besetzen. Ohne sie, so wurde uns erklärt, wäre der Schüler*innenaustausch nicht möglich gewesen; sie schmierte die Räder der Bürokratie an entscheidenden Stellen, vor allem was das Ausstellen von Genehmigungen und offiziellen Einladungen anging.
Digitales
Einer der auffälligsten Unterschiede im Alltag war die Ubiquität des Smartphones. In China geht überhaupt nichts ohne ein solches. Bargeld ist praktisch völlig abgeschafft, Kreditkarten effektiv unbekannt – bezahlt wird überall per App, selbst bei den kleinsten Straßenhändler*innen. Das ist so ungemein bequem, dass man bei der Rückkehr nach Deutschland sofort Phantomschmerzen hat und das chinesische System übernehmen möchte. Praktisch alles konzentriert sich in nur zwei Apps, die beide eine Bezahlfunktion anbieten: WeChat (eine Art Mix aus Whatsapp, Twitter und Instagram) und Alipay (ein Mix aus Paypal, Uber und Airbnb, unter anderem). Praktisch sämtliche Funktionen lassen sich über diese beiden (auch miteinander verknüpften) Apps super bequem erledigen; auch die Behörden greifen gewohnheitsmäßig darauf zurück.
Natürlich hat diese Bequemlichkeit eine unübersehbare Schattenseite: das System ist vollständig in sich geschlossen und damit leicht kontrollierbar. Man will sich gar nicht ausmalen, was es bedeutet, dass der Staat Dissident*innen per Knopfdruck davon ausschließen kann: in einem Land, in dem selbst die kleinsten Vorgänge NUR über EINE App bezahlt werden können, ist der vollständige soziale Ostrakismus mit einer spielerischen Leichtigkeit zu erreichen, die Orwell als übertriebene Fantasie abgetan hätte. Auch der Zugang zum Internet ist ungemein reglementiert: zahllose Homepages, etwa Wikipedia, sind überhaupt nicht ansteuerbar; viele Apps (vor allem von Google) funktionieren schlicht nicht. Das chinesische Internet hat mit dem des Rests der Welt nur sehr peripher zu tun: es ist eine vollkommen abgeschottete Kugel, in der die Regierung bestimmt, was die Bevölkerung jemals zu Gesicht bekommt. Die Effizienz der Propaganda durch Auslassung dürfte maßgeblich mit darauf beruhen. Wenig überraschend sind die (völlig überzogenen) deutschen Vorstellungen von Datenschutz und Urheberrecht auch nirgendwo bemerkbar. Ständig wird man fotografiert; die Idee des „Rechts am eigenen Bild“ ist völlig unbekannt. Genauso wird auch alles freigiebig geteilt.
Ein letztes Kuriosum ist die relative Verbreitung von Übersetzungsapps. Ob im Hotel, am Flughafen oder im Restaurant; üblicherweise wurde einem das Handy hingehalten, damit man in den Lautsprecher spricht, der dann ins Chinesische übersetzte – und umgekehrt. So praktisch diese Übersetzungsapps angesichts der nicht vorhandenen Fremdsprachenkenntnisse der Bevölkerung auch sein mögen, ich werde den Eindruck nicht los, dass diese schlechten Kenntnisse auch darauf beruhen, dass die Leute ständig die App verwenden (übrigens auch die Austauschschüler*innen; auf die Art verbessert sich natürlich auch nichts).
Fazit
Zusammenfassend würde ich China als ein „hochgradig funktionierende Diktatur“ bezeichnen. Anders als die realsozialistischen Dikaturen ist auffällig, wie gut diese Systeme – zumindest für mich als Außenstehenden – funktionieren. Die aus dem Realsozialismus bekannte Tendenz, Systemkonformität nur zu performen, ist nirgendwo sichtbar, schon alleine, weil solche Performance gar nicht verlangt wird. Es ist aus meiner (einmal mehr: extrem begrenzten) Erfahrung nachvollziehbar, warum der chinesische Staat mit solcher Selbstsicherheit den Anspruch erhebt, einen dritten Weg gefunden zu haben, der das westliche Wohlstandsniveau und Wirtschaftswachstum mit traditionell autokratischen Methoden verknüpft (was gerne als kulturell chinesisch geframet wird, was ich aber für Kokolores halte; es ist Standard Autokratie). Ich bleibe skeptisch, ob sich das tatsächlich endlos in die Zukunft reproduzieren lässt; gleichwohl ist das System aber unzweifelhaft wesentlich funktionsfähiger, als es der Sowjetkommunismus selbst zu seinen besten Zeiten war.
Danke für diesen Einblick. Spannend.
Es wird doch bestimmt auch subjektive Berichte der Schüler geben (Schülerzeitung? Gibt es das noch?). Können wir daran teilhaben?
Frage: In den Medien ist immer wieder mal das Foto eines einzelnen Hauses zu sehen, um das herum eine Autobahn gebaut wurde – weil der Eigentümer nicht verkauft hat. Offenbar wurde er nicht einfach enteignet. Wie passt das zu dem doch eher totalitären System?
Gerne!
Ist in Planung, ich teile dann was geteilt werden kann.
Ich habe keine Ahnung.
Ich habe mal geschaut, was die offizielle (Staats)Presse zu diesen „Nagelhäusern“ sagt.
https://www.globaltimes.cn/content/984084.shtml
Die Argumentation ist stichhaltig:
a) Es gibt zwar kein Privateigentum an Grund, aber der Staat hat den Bewohnern das Land zur Nutzung überlassen.
b) Deshalb ist für den Staat selber das „Enteignen“ einfach, aber nicht für private Baufirmen.
c) (nicht gesagt, aber Teil der Wahrheit) Das Herumbauen ist eine höchst brutale (und damit abschreckende) Methode des „Entmietens“ Teilweise können Bewohner die Häuser nicht mehr auf normalem Weg verlassen und müssen von der Familie von außen versorgt werden.
Auch von mir ein Kompliment für deinen Bericht, der angenehm objektiv gegenüber den Jubelarien oder Horrorgeschichten, die man überwiegend mitbekommt, wirkt. Manches hat meine Perspektive geändert, wobei mich dein Schlussfazit einer „hoch funktioneller Diktatur“ wirklich beunruhigt.
Mich auch.
… Schlussfazit einer „hoch funktioneller Diktatur“ wirklich beunruhigt.
Warum? Dass eine Diktatur funktionsfähig und in grossen Teilbereichen für seine Untertanen sogar wohltätig sein kann, stand doch nie in Frage?
Dass eine Diktatur langfristig funktionsfähig und in grossen Teilbereichen für seine Untertanen sogar wohltätig sein kann, steht definitiv in Frage. Auch in China wird sich eines Tages die Frage stellen.
Genau, aktuell hat es noch keine Diktatur geschafft. Oder an welche denkst du, Thorsten?
Taiwan und Südkorea in neuerer Zeit? Die Vorläufer von Diktaturen – absolute Monarchien – wo es auch den einen oder anderen fähigen Herrscher gab? Es ist zwar unwahrscheinlich, aber eben nicht unmöglich.
Die Hauptvorteile von funktionierenden Demokratien sind der friedliche Herrschaftswechsel und die Sicherung des Rechtsstaates, alle anderen häufig genannten Vorteile sind diskutabel und ich würde sie sogar rundweg bestreiten.
Gruss,
Thorsten Haupts
Aber sind die nicht erst auf unser Niveau gekommen, als sie keine Diktaturen mehr waren?
kommt darauf an, welches Niveau du meinst. Südkorea ist seit 1988 demokratisch, Taiwan seit 1992. Da waren sie wirtschaftlich schon etablierte „Tigerstaaten“, aber in Bezug auf Lebensstandard weit hinter Westeuropa.
Genau, das meine ich. China ist ja quasi auch ein „Tigerstaat“. Ob sie den Lebensstandard erreichen, ist noch offen. Vielleicht stagnieren sie auch aus.
Sehr wahrscheinlich bei dem derzeitigen Kurs ihres Regimes. Aber der Punkt ist eben – alle genannten Staaten waren auf dem Sprung in Massenwohlstand, bevor sie demokratisch wurden. Und ich kann nicht erkennen, dass sie diesen Wohlstand nicht auch ohne Demokratisierung hätten erreichen können. Jedenfalls ging es ihnen unter einer Diktatur besser, als so manchen anderen Staaten nach Jahrzehnten der Demokratie (hallo Indien).
Die Hauptrisiken habe ich bereits konzidiert: Nicht eindämmbare Korruption sowie abrupte Kurswechsel einer unkontrollierten Staatsführung (China erlebt das gerade).
Gruss,
Thorsten Haupts
Ich verstehe deinen Punkt nicht wirklich. Die Schwelle haben die Staaten immer nur demokratisiert übersprungen, nie als Diktatur, aber das ist kein Beleg…? Wo missverstehe ich dich?
Und aus Neugier, warum hältst du das für sehr wahrscheinlich?
Wahrscheinlichkeit für ein relativ abruptes Abbremsen chinesischen Wachstums:
1) China gängelt und bevormundet neuerdings seine Unternehmer in grossem Stil
2) China wird sogar schneller alt, als der Westen
3) Chinas zunehmend auftrumpfende Aussenpolitik wirkt geschäftsschädigend
Zu dem Punkt vorher: Ohne den Status als „Tiger“, den die genannten Staaten undemokratisch erreichten, wäre der Sprung in den Massenwohlstand gar nicht möglich gewesen. Bisher fehlt mir umgekehrt der Beweis dafür, dass ein völlig unterentwickeltes Land OHNE eine Phase der Diktatur, also ganz demokratisch, wenigstens zum Tigerstaat werden kann. Oder anders ausgedrückt – möglicherweise ist die Entwicklungsdiktatur eine notwendige Voraussetzung für schnelle wirtschaftliche Entwicklung. Ich kann einfach nicht erkennen, warum für den Schritte von Bettler zu Tigerstaat die Diktatur offenbar nützlich sein kann, für den nächsten Schritt zum Massenwohlstand dagegen AUTOMATISCH schädlich sein muss. Ich sehe da keine zwingenden Funktionslogiken. Beide Stati (Tigerstaat und Massenwohlstand) sind gleichermassen von einer fähigen und halbwegs menschenfreundlichen Führung abhängig.
Ok, danke, ja, halte ich für stichhaltig.
Was ist mit Irland, Portugal, Spanien, Griechenland…?
Mir gefällt Ihre These nicht. Aber ich muss einräumen, da ist etwas dran. Singapur, Chile, Brasilien, in kleinerem Maßstab Marokko, Dubai, Katar sind ziemlich viele Beispiele, dass die Grundlagen für Wohlstand nicht zwingend in Demokratien gelegt werden müssen. Unser Modell ist nicht konkurrenzlos.
Ja, so geht es mir auch.
@Stefan S:
Griechenland hatte sein höchstes Wrtschaftswachstum Anfang der siebziger Jahre. Zwischen 1967 und 1974 wurde es „zufällig“ von einer Militärdiktatur beherrscht …
Portugal war bis 1974 ebenso eine Diktatur. Bleibt also als bisher einziges echtes Gegenbeispiel Irland.
Für Portugal gilt das schon mal nicht. Und erneut: der Lebensstandard war das Thema.
Portugal? Irland?
Nicht gerade prototypische Tiger, aber vom „Armenhaus“ zu Wohlstand. Demokratisch.
Naja, schon ein bisschen. Die Annahme ist ja, dass nur die liberalen Demokratien unser Wohlstandsniveau erreichen können. Sollte es der VR tatsächlich gelingen (the jury is still out and I’m still sceptical), wäre das ein ziemlicher Schlag.
Zum einen, weil ich den „Ausgleichsmechanismus“ Korruption/ Schattenwirtschaft als einen Fluchtmechanismus gegenüber staatlicher Ineffizienz bei Diktaturen sehe, der zur Delegitimierung (und irgendwann Systemänderung) beiträgt.
Zum anderen weil ich die Doktrin „effizientes Durchregieren mittels reduzierter Freiheit“ nicht als Vorbild für Europa/Deutschland haben möchte, aber politische Tendenzen in diese Richtung sehe.
Ich glaube eher nicht, dass Diktaturen sich langfristig halten können, dafür ist das Risiko unfähiger, kriegslüsterner oder selbstverliebter Herrscher viel zu hoch. Ebenso das von Ihnen genannte Korruptionsrisiko.
Ob liberale Demokratien langfristiger angelegt sind, darüber ist das historische Urteil allerdings auch noch nicht gesprochen 🙂 . Ich bin da seit vielen Jahren skeptisch.
Gruss,
Thorsten Haupts
Und sind derzeit konfrontiert mit einer Phalanx autoritärer/diktatorischer Staaten mit weitreichendem (weltweitem?) Herrschaftsanspruch. Die auch im Inneren der liberalen Demokratien Sympathisanten haben, auch hierzulande. Während die einstige Führungsnation strauchelt. Mir ist da schon bange.
würde mal behaupten, die systemkonformität entspringt auch dem legalismus und der kulturellen kontinuität chinas.
aussersem gibt es gegenentwürfe zu 996, sowas wie ‚letting it rot‘ und ‚lying flat‘, denn bessere anstellung kann man nur mit connections erwarten. Ausserdem habe ich es schon öfter gelesen, dass alle, die die kulisse stören, wie obdachlose, ohnehin aus den zentren ferngehalten werden.
Natürlich auch von mir danke für den ausführlichen Bericht. Sehr lesenswert.
Man lernt u.a , dass die Smartphonenutzung viel, viel „weiter“ ist , also alles ganz viel moderner als im ständig beklagten digitalen Barock hierzulande.
Blöd halt, dass „moderne“ digitale Infrastruktur und der „neuste Stand“ in dieser Sache nichts weniger ist als das genialste Unterdrückungsinstrument aller Zeiten. Das schönste Geschenk der Götter an Obrigkeiten aller Art, das es jemals gab.
Bei jedem Pups zwingend Spuren hinterlassen, die in geeigneter Weise irgendwo „oben“ ausgelesen werden können bei gleichzeitiger Unmöglichkeit außerhalb des Systems zu pupsen – ideal. Gleichzeitig finden die Nutzer_innen das auch noch supertoll, weil die beliebten Apps doch alles ja sooooo bequem machen – noch idealer. Die Unterwerfung muss nur bequem daherkommen und alles ist gut.
Es besteht lediglich die Chance, dass man wegen Bedeutungslosigkeit für die Internetpolizei nicht groß interessant ist. Unauffälligkeit ist also überlebenswichtig.
Diktatur by Gadgets könnte man die Veranstaltung also nennen. Eigentlich braucht’s nur irgendwas mit Wirtschaftswunder, dann geht politisch alles.
Diktaturen haben immer schon moderne Technik erfordert. Eine Diktatur ist im 18. Jahrhundert unvorstellbar.
In Skandinavien und im Baltikum (als Beispiele) ist die Smartphone-Nutzung auch „viel weiter“ – ohne Diktatur.
Sehr spannend, vielen Dank!
Ich war am Wochenende bei einem Freund zu Besuch, der ein Auslandssemester in China verbracht hat und mit mir als Mittelsfrau haben wir dann Eure Eindrücke ein bisschen verglichen. Vieles hat er bestätigt, u.a. das mit dem Rotzen (ich interessiere mich auch für Triviales!^^)
Zur Obdachlosigkeit meinte er, dass ein Problem auch ist, dass es teils eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit gibt, gleichzeitig aber keine inländische Freizügigkeit. Da muss man sich dann zb als Sklaven-Wanderarbeiter anheuern lassen, die z.B. diese Geisterstädte hochziehen zur Wirtschaftsankurbelung (da war er mit anderen Studis wohl auch ziemlich einsam in einer riesigen Skyline untergebracht, muss ziemlich gruslig gewesen sein). Oder es gibt wohl auch so Heiratsagenturen zur Ehevermittlung, weil man dadurch dann die Erlaubnis bekommt, in eine große Stadt mit Arbeitsplätzen zu ziehen.
Die hatten zudem häufig Probleme damit, dass der Staat ständig wissen will, wo man sich befindet und man nicht einfach so in die nächste Stadt ohne Anmeldung fahren kann. (dafür ist das WeChat- und Überwachungssystem auch sehr nützlich) Die hatten da wohl einige Räuberpistolen, wo sie für eine Feier woanders querfeldein fahren mussten, um die Maut-Systeme zu umgehen und einmal auch so eine Vorstufe zur Verhaftung (da kommt ein Polizist/Funktionär zum Tee), weil sie unangekündigt in der Nachbarstadt waren. Die konnten immerhin Chinesisch aber auch nicht unbedingt für so offizielle Gespräche.
Und was er auch meinte, teils hatten sie als Westler total Exotenstatus, dass Leute gerne ihr Haar oder ihre Haut anfassen wollten und einerseits war man da sehr entgegenkommend, andererseits waren sie auch mit dem Vorurteil konfrontiert, dass Westler alle randalierende Verbrecher-Rowdies sind. (sie waren es allerdings tatsächlich nicht gewohnt, dass man Punkt 22 Uhr wieder zu Hause sein muss^^)
Oh und zu den Minderheiten hat er erzählt, dass es wohl ähnlich wie hier so Karl-May-Spiele extra gebaute Dörfer gibt, wo Angehörige der Minderheiten für Touris ihre traditionelle Lebensweise als Job vorführen und dann abends ihren Rucksack nehmen und nach Hause gehen.
Alter….
Danke für die Eindrücke!
“ extra gebaute Dörfer gibt, wo Angehörige der Minderheiten für Touris ihre traditionelle Lebensweise als Job vorführen“
Wir haben nicht so viele „echte“ ethnische Minderheiten, aber das gibt es auch hierzulande:
https://www.sorben-tourismus.de/freilandmuseum-lehde.html
„baut wesentlich mehr als das Deutsche auf Repition, Abschreiben, auswendig Lernen und Nachahmen“
Das Thema hatten wir schon mal – Tenor: Wir sind besser, weil kreativer.
Würdest du das heute auch noch so sagen?
Ja.
Am Ende des Tages völlig zu Recht solange, wie weiterhin ein Wissensfundament für diese Kreativität vermittelt wird. Kreativität ist KEIn Ersatz für solides Wissen.
Total! Ich muss da mal was Kohärentes dazu schreiben dieser Tage.
Danke für die spannenden Einblicke in ein System, das ich nur sehr oberflächlich kenne. Bin selber nie in China gewesen. Ich hab allerdings mal mit dem akademischen Organisator eines britisch-chinesischen Studienprogramms gesprochen. Viele britische Universitäten gründen Satellitencampusse in China zu kommerziellen Zwecken. Dieser Studiendirektor beklagte die mangelnde Kreativität und das mangelnde “selbst denken” als die größte Schwäche der chinesischen Studenten. Dahingegen lobte er den unendlichen Fleiß, den Willen Überstunden bis zum Erbrechen zu leisten. Ich hab die Studenten nie persönlich kennengelernt, kann mir also kein eigenes Bild machen. Aber ich hab bis letztes Jahr einen chinesischen Postdoc an der Uni in Peking als Co-Mentor betreut. Und da fühlte ich mich ein bisschen an diese Beschreibung erinnert. Der Postdoc war unheimlich fleißig, hat unheimlich hart gearbeitet. Aber jedesmal wenn ich ihn nach SEINER Meinung, SEINER Einschätzung zu einem seiner Resultate gefragt habe, wurde er komplett still und sein Vorgesetzter antwortete für ihn. Bei seinen Präsentationen ging er stur Slide für Slide durch das Programm. Bei Zwischenfragen oder anderen Abweichungen von der geplanten Agenda versuchte er sich stets noch nicht mal an einer Antwort, sondern ließ grundsätzlich den Vorgesetzten für sich sprechen und übernahm das Wort erst wieder, nachdem der Vorgesetzte das Gesprächsthema wieder auf den vorgefertigten Kurs zurück geführt hatte. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass das chinesische System sehr auf harte Arbeit, aber im wesentlichen auf Reproduktion setzt und dass freies Denken, Ideen und Kreativität eher unterdrückt als gefördert werden. Das geht möglicherweise gut, solange man seine Eliten im Ausland – insbesondere in den USA – ausbilden lässt, die dann nach China zurückkehren und die fleißigen Ameisen dort anleiten. Ob das System auch dann noch funktioniert, wenn die USA die Ausbildung junger Chinesen in Zukunft erschweren – und danach sieht es aus – ist eine interessante Frage.
Danke!