Kevin M. Kruse/Julian Zelizer – Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past (Hörbuch)
Gründungsmythen gehören zu jeder Nation. Es sind Geschichten, die erzählt und ständig wieder erzählt werden, oftmals in geradezu ritueller Form, um eine gemeinsame Identität zu schaffen. Mit historischen Realitäten haben sie häufig wenig zu tun; sie ssagen mehr über die Selbstwahrnehmung der Gegenwart, was man als wichtig empfindet. So erfinden die Franzosen Jahr für Jahr einen Aufstand des gesamten Volkes gegen den korrupten Adel, imaginieren die Briten einen die gesamte Bevölkerung umfassenden Stolz auf das die Wellen beherrschende Britannia, sind die Deutschen stolz auf auf den Fleiß, mit dem sie sich selbst und ohne Hilfe aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs herausgearbeitet haben und feiern die Amerikaner ihre Unabhängigkeit als demokratisches Urereignis. Die USA, als einer der ältestens Staaten der Erde, haben erwartbar mehr Mythen als die meisten anderen Länder, und die polarisierte Gesellschaft sorgt dafür, dass es umso mehr werden. Die Herausgeber Kevin Kruse und Julian Zelizer haben 20 Beiträge amerikanischer Historiker*innen gesammelt, die diesen Mythen auf den Grund gehen.
Im Vorwort etablieren die beiden Herausgeber die Menge dieser Mythen, die ihre Gestalt über die Zeit auch immer wieder gewandelt haben und die Kenntnis der realen Situation längst hinter sich gelassen haben. Die beiden kommen eindeutig von liberaler Seite her, weswegen viele der hier kritisierten Mythen und der sie umgebenden „Fake News“ sich eher gegen die Rechte richten; gleichwohl erklären sie, dass die hartnäckisten und dauerhaftesten Mythen von beiden Seiten des Spektrums geteilt werden.
Der erste Mythos in Kapitel 1, „American Exceptionalism„, von David A. Bell, geht den wohl fundamentalsten und berühmtesten Mythos an: den des amerikanischen Exzeptionalismus, also dass die USA eine besondere Nation seien, klar abgehoben von allen anderen. Bell stellt fest, dass grundsätzlich jede Nation sich als exzeptionell sieht – und das grundsätzlich auch zu Recht, denn jede unterscheidet sich irgendwie von anderen. Die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus ist, wohl wenig kontrovers, dass die USA auch besser seien als alle anderen Länder. Bell findet die Genese des Begriffs bei den amerikanischen Kommunisten, die damit zu erklären versuchten, warum in den USA keine Arbeiterbewegung entstand. In den späten 1920er Jahren verbot Stalin die Verwendung des Begriffs. In der Folgezeit wurde er von rechts aufgegriffen, aber immer mehr zu einem allgemein genutzten Konzept. Erst Reagan begann es dann spezifisch zu einem rechten talking point zu machen. Als Waffe gegen links instrumentalisierte es dann Newt Gingrich; seither gehört es zum Standardrepertoire der GOP, den Democrats mangelnden Patriotismus vorzuwerfen, weil sie nicht an den Exzeptionalismus glaubten. Dass diese sich beständig dazu bekennen, hat wenig daran geändert. In jüngster Zeit hat sich der Begriff weiter enthöhlt, weil Trump selbst offen erklärte, wenig damit anfangen zu können, was die weitere Verwendung als Angriff aber nicht gestört hat.
Wesentlich akademischer wird es Kapitel 2, „Founding Myths„, in dem Akhil Reed Hamar auf Madison und seinen berühmten „Federalist No°10“ eingeht. In diesem konstruierte Madison einen Gegensatz des Konzepts der Republik und der Demokratie. Oft wird auch die Behauptung abgeleitet, dass Demokratien nur in kleinen Entitäten funktionierten, während große die Minderheitenrechte untergrüben (während die Staaten diese schützen könnten). Hamar weist nach, dass der Federalist °10 seinerzeit keine große Rolle spielte; die Zeitgenossen rezipierten weitgehend die Argumente aus °2 bis °8, die außenpolitische Überlegungen voranstellten. Der Federalist °14, dem eine Zusammenfassung von 2-8 vorangestellt war, war der meistgelesene aus der Feder Madisons.
Genauso widerlegt Hamar die Vorstellung, dass die verfassungsgebende Versammlung ihre Kompetenzen überschritten habe, indem sie die Articles of Confederation verwarf; dies sei von Beginn an akzeptiert gewesen. Er hebt auch Washingtons Rolle bei dem Prozedere hervor, der wesentlich aktiver und gestaltender war, als dies oft zugestanden wird; die mächtige Rolle des Präsidenten etwa sei vor allem auf seine Person zurückzuführen. Gefährdungen für Minderheitenrechte, das kann kaum bestritten werden, entstanden zudem in den Einzelstaaten nicht im Bund. Man erkennt dies zweifelsfrei nach 1865, als diese vorher rein theoretische Betrachtung Gegenstand konkreter Auseinandersetzungen wurde.
Einem ganz anderen Mythos geht Ari Kelman in Kapitel 3, „Vanishing Indians„, auf die Spur. Die oft gehörte Behauptung, die Ureinwohner*innen hätten nichts Bleibendes hinterlassen – entweder weil sie keine nennenswerte eigene Kultur besessen hätten oder weil sie von den Weißen komplett erledigt wurden – sei weder haltbar noch harmlos. Der Mythos war im 18. und 19. Jahrhundert hauptsächlich einer, der zur Rechtfertigung der Landnahme benutzt wurde: demzufolge war es das gottgegebene Schicksal der Natives, zu verschwinden. Das enthob gleichzeitig die Weißen selbst von ihrer Schuld an diesem Verschwinden, das ein merkwürdig passives Phänomen wurde. Einen Wandel in der Wahrnehmung erhielt dieses Verschwinden in den 1960er Jahren durch die New-Age-Bewegung und den Bestseller „Bury my heart at Wounded Knee„, der das Thema identitätspolitisch veränderte (weil von links der „Imperialismus“ der USA gegen die Natives kritisiert wurde, während dies von rechts emphatisch geleugnet wurde), aber ebenfalls die „verschwindenden“ Natives thematisierte, wenngleich nun nostalgisch verklärt. Dieser Verschwinden-Mythos, der von beiden Seiten gepflegt wird, schadet aber den Natives, die immer noch existieren und ihre Anliegen deutlich machen wollen.
Der ständig beschworenen Horrorvision einer Flut von Immigrant*innen, die die amerikanische Kultur zerstören, spürt Erika Lee in Kapitel 4, „Immigration„, nach. Überraschend ist vor allem das Alter dieses Narrativs bei gleichzeitiger struktureller Konsistenz. Immer geht es um eine Gruppe von Einwandernden, die sich anders als die vorherigen Gruppen nicht amerikanisieren und drohen, die USA zu zerstören. Im 18. Jahrhundert, noch vor der Gründung des Landes, waren es die Deutschen, danach allgemeiner katholische Einwanderende, dann die irischen, dann die chinesischen, bevor plötzlich Mexikaner*innen und schließlich andere Südamerikaner*innen der große Feind wurden, der das Gefüge der USA bedrohte. Lee betont, dass die Einwanderung zwar stets narrativ als Invasion oder Welle gefasst wurde, aber stets auch massive Pull-Faktoren eine Rolle spielen: die Wirtschaft hat Bedarf an undokumentierten und leicht ausbeutbaren Arbeitskräften, die in Flauten einfach abgeschoben werden können. Die amerikanische Wirtschaftstätigkeit sei daher maßgeblich für die Wanderungsströme. Zudem sei der Mythos der Realität hinterher: seit Jahren ist die Einwanderung aus Mexiko leicht negativ, aber das Land bleibt der viel beschworene Ursprungspunkt.
In Kapitel 5, „America First„, beschreibt Sarah Churchwell die Herkunft von Trumps Leitspruch. Bereits 2015/16 gab es eine große Debatte über dessen rechtsradikale Ursprünge in der amerikanischen faschisten Bewegung der 1930er Jahre, die von den Republicans rundheraus geleugnet wurden, die stattdessen betonen, dass es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sei: welche Nation stelle nicht die eigenen Interessen vorne an? Lee weist nach, dass der Spruch wesentlich älter ist als die 1930er Jahre. Erstmals wurde er in den 1850er Jahren von den Know-Nothings benutzt, die damit gegen Immigrierende mobil machten. Eine Renaissance erlebte er um 1915, als der zweite Ku-Klux-Klan gegründet wurde. Woodrow Wilson verwendete den Begriff, um eine rassistische Kampagne gegen „Bindestrich-Amerikaner“ zu unterfüttern, und der Klan adoptierte den Slogan in den 1920er Jahren selbst. Die Neutralität der USA bis 1917 wurde mit „America First“ ebenso begründet wie der Red Scare von 1919. Der prominenteste Vertreter des Slogans war Henry Ford, der ihn massiv antisemitisch auflud. In den 1930er Jahren nutzten ihn dann die Faschisten für ihre dog whistles, ehe Charles Lindbergh den Subtext zum Text machte und damit direkten Widerspruch herausforderte. Der Angriff auf Pearl Harbor erlaubte es Roosevelt, gegen die Extremisten vorzugehen, und der Krieg sorgte für eine 180°-Wende der öffentlichen Wahrnehmung, der nun mit Faschistenfreundschaft gleichgesetzt wurde. Bereits in den 1950er Jahren wurde er aber im zweiten Red Scare wieder von rechts übernommen, dann von George Wallace, David Duke und Pat Buchanan benutzt und schließlich prominent von Trump vorgebracht. Stets war er mit nativistischen, rassistischen Untertönen versehen, nie ein allgemeiner Slogan.
Ein überparteilicher Klassiker wird in Kapitel 6, „The United States is an Empire„, von Daniel Immerwahr besprochen. Es gehört praktisch seit der Gründung der USA zum Selbstbild, kein Imperium zu sein, sondern solche zu bekämpfen (zweimal das britische, zweimal das deutsche, einmal das japanische, einmal das sowjetische) und ein „Leuchtfeuer der Hoffnung“ für die Welt darzustellen. Das allerdings sei Unfug. Bereits kurz nach ihrer Gründung inkorporierten die USA große Territorien, die zwar die Möglichkeit hatten, Staaten zu werden, dies aber (nach rassistischen Kriterien) lange nicht wurden. Oklahoma etwa war über 100 Jahre Territorium, länger als viele Kolonialreiche bestanden. Immerwahr hebt auch die karibischen und pazifischen Besitzungen der USA hervor, die heute noch Territorien und deutlich ärmer als die kontinentalen USA sind. Zudem stellt er die Reservate und Tribal Nations in den kolonialen Kontext und verweist auf das ausgeprägte Netz von Basen, das die USA unterhalten. Informeller Einfluss statt direkter Landnahme sei immer US-Politik gewesen, weswegen die Existenz des Imperiums auch meist nicht anerkannt werde.
Eher zurück in den Bereich rechter Mythen geht es in Kapitel 7, „The Border„, in dem Geraldo Caralva die Idee zurückweist, dass die Grenze seit jeher eine Markierung zwischen den reichen, höherstehenden USA auf der einen und den gefährlichen Ursprüngen von Kriminalität und Immigration auf der anderen Seite sei. So weist er darauf hin, dass für viele Natives und Schwarze das Land südlich der Grenze das Land der Freiheit war und das Vordringen der Grenze etwa im Krieg von 1846-1848 einen empfindlichen Perspektivverlust bedeutete. Für die Natives war weder das amerikanische Vordringen noch die mexikanischen Unabhängigkeit eine gute Nachricht; sie wurden von beiden Seiten bekämpft. Die Grenzregion sei für Jahrzehnte eine Zone interkulturellen Austauschs geblieben, frei Grenzübergänge waren die Norm. Die Immigrationsbeschränkungen Ende des 19., Beginn des 20. Jahrhunderts galten explizit nicht für Mexiko. Erst mit der Weltwirtschaftskrise habe sich das geändert und das Narrativ von der Grenze zu Mexiko als Hort von Migration und Kriminalität, den es durch verstärkte Restriktionen zu kontrollieren gelte, übernahm. Caralva schließt mit einem Plädoyer, die diverse Geschichte der Grenzregion und ihr interkulturelles Potenzial mehr zu sehen.
Kapitel 8, „American Socialism„, beginnt mit dem Vortrag des Walisers Robert Owen vor dem Kongress vor über 200 Jahren, in dem dieser sozialistische Ideen unter großem Interesse und Anteilnahme vortrug. Für Michael Kazin ist das ein Beleg dafür, dass die Amerikaner*innen nicht so grundlegend antisozialistisch eingestellt sind, wie das oft behauptet werde. Zahlreiche Intellektuelle hätten in den folgenden Jahrzehnten sozialistische Ideen verbreitet, Organisationen wie Gewerkschaften dafür gekämpft und diverse Abgeordnete auf ihrer Basis Mandate errungen. Sozialistische Ideen hätten Druck auf die gemäßigte Linke und selbst Rechte ausgeübt, die sie übernommen hätte (etwa im New Deal) und die ob ihrer Popularität auch unter Rechten wie Reagan nicht zurückgefahren worden wären. Der mangelnde elektorale Erfolg sei maßgeblich auf diese Kooptierung sozialistischer Ideen zurückzuführen. Dass Sozialisten meist als Democrats gewählt wurden, zeige ihre moderate, reformorientierte Haltung.
In eine ähnliche Kerbe schlägt das von Naomi Oreskes und Erik M. Conway verfasste Kapitel 9, „The Magic of the Marketplace„. Den Glauben, dass der Markt es schon richten werde, wenn der Staat sich nur komplett heraushielte – wie er heute in der GOP rhetorisch oft, in der Praxis nie vertreten wird – wird von den beiden auf GOP-nahe Think-Tanks in den 1930er Jahren zurückgeführt. Im 19. Jahrhundert seien Staatseingriffe von Indian Removal bis Eisenbahnbau schließlich die Norm gewesen, weswegen eine mythische Vergangenheit unter dem Zauber des Markts erst konstruiert werden musste. Von dort ziehen die Autor*innen eine Linie zu Hayek und Mises über Friedman, die alle dank tatkräftiger Finanzierung der Business-Lobby öffentliche Wirkung entfalten konnten. Sie postulierten eine Unteilbarkeit ökonomischer und anderer Freiheiten. Oreskes und Conway weisen diese Idee zurück und verweisen auf die offensichtliche Vereinbarkeit von Sozialstaat und staatlicher Investitionstätigkeit mit Freiheit.
Ein verwandtes Thema greift Eric Rauchways Kapitel 10, „The New Deal„, auf. Ausgehend von einer Behauptung des Republican Chuck Grassley, der New Deal sei ein Fehlschlag gewesen, der Arbeitslosigkeit erhöht und Wirtschaftswachstum gedämpft habe, weisen sie nach, dass beides nicht korrekt ist. Die Periode des New Deal war die des größten Wirtschaftswachstums der US-Geschichte (wenngleich man natürlich die schlechte Ausgangslage durch die Weltwirtschaftskrise einberechnen muss); die Arbeitslosigkeit sank allein bis 1936 um fast die Hälfte. Rauchway zeichnet vor allem nach, warum sich der von Grassley reproduzierte Mythos so lange halten konnte. Der Grund dafür liege in der von Gegnern des New Deals im Statistikamt begonnenen Praxis, die durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der WPA beschäftigten Arbeiter*innen als arbeitslos zu zählen. Die Argumentation war, dass es sich dabei um dieselbe Zwangsarbeit handle wie in den Nazi-Konzentrationslagern (!) oder dem Reichsarbeitsdienst, was vollkommener Unsinn ist: die WPA war freiwillig, enthielt Streikrecht und die Arbeitenden sahen sich selbst auch als solche, mit Lohn und allen Rechten und Pflichten. Rauchway verweist außerdem darauf, dass Grassleys weiteres Argument, die Weltwirtschaftskrise sei erst durch den amerikanischen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg überwunden worden, eher dafür spricht, dass die Staatsintervention des New Deal zu gering ausfiel als zu groß, gab es doch keine Periode der US-Geschichte, in der der Staat größeren Anteil am Wirtschaftsleben nahm als 1941-1945.
In Kapitel 11, „Confederate Monuments„, greift Karen L. Cox die Lost-Cause-Mythologie auf, die mit dem Ende der Reconstruction um sich zu greifen begann und ihren sichtbaren Ausdruck in einer Flut von Monumenten zu Ehren der Konföderierten und ihrer Sache fand. Die Monumente entstanden überwiegend, aber nicht nur, im 20. Jahrhundert und waren explizit mit weißer Suprematie verknüpft. Bereits zu ihrer Entstehungszeit waren sie von Kritiker*innen dafür angegriffen worden. Das Land akzeptierte aber in seiner weißen Mehrheitsbevölkerung die Lost-Cause-Mythologie überwiegend; auch im Norden spielte das Thema Emanzipation keine Rolle mehr. Bis heute wird vor allem in den Südstaaten eine Version der Geschichte gelehrt, die mit der Realität wenig zu tun hat.
Die politische Seite dieser Thematik wird in Kapitel 12, „The Southern Strategy„, von Kevin M. Kruse beleuchtet. Die Democrats waren historisch die Partei der Segregation, während die Republicans für Emanzipation standen (und entsprechend die Loyalität der afroamerikanischen Wählendenschaft genossen). Nach der Reconstruction wendete sich auch die GOP von dieser Thematik ab, die keine politische Vertretung mehr besaß; schwarze Repräsentant*innen in den Parlamenten verschwanden praktisch völlig, ihre rechtliche Stellung verschlechterte sich drastisch. Dies änderte sich erst mit dem New Deal, der ihre wirtschaftliche Lage (nicht aber die politische) wesentlich verbesserte und zu einem dramatischen Loyalitätswechsel zu den Democrats führte. 1948 setzte Truman einen Fokus auf Bürgerrechte durch, der zu einem Aufstand der Südstaaten (mitsamt eigenem Präsidentschaftskandidaten) führte. In der folgenden Zeit begannen die Republicans, mehr und mehr um die Rassisten des Südens zu werben. Diese Entwicklung wurde mit der Bürgerrechtsgesetzgebung Kennedys und vor allem Johnsons deutlich verstärkt.
Die Rassisten bildeten zuerst eine eigene Partei (die „Dixiecrats“) mit eigenen Kandidaten, doch in den 1960er Jahren entschied sich der interne Machtkampf der Republicans zwischen den Konservativen und den Liberalen für erstere, die mit Barry Goldwater einen Kandidaten aufstellten, der zum ersten Mal den tiefen Süden gewann. Dieses realignment geschah auf zwei Ebenen: mit Goldwater in der Präsidentschaftskandidatur und auf lokaler Ebene in den dortigen Wahlkämpfen. Die Abgeordneten im Kongress stimmten zwar oft mit der scharf nach rechts rückenden GOP, blieben aber offiziell Democrats, um ihre Privilegien nicht zu verlieren, so dass der Wandel dort langsamer vonstatten ging. Die liberale wirtschaftliche Haltung dieser Leute sorgte zudem dafür, den Wechsel nicht offiziell zu machen, da die Marktideologie (siehe Kapitel 9) teilweise abgelehnt wurde. Der Kongress blieb deswegen von den Democrats kontrolliert.
Goldwaters Kandidatur war in vielerlei Hinsicht eine Zäsur. Auf der National Convention waren fast keine Schwarzen und gar keine Juden. Die Schwarzen wurden angepöbelt und teils körperlich attackiert; die Stimmung war pogromartig. Damit war ein neuer Ton gesetzt. Gleichwohl führte dieser zwar zum Sieg Goldwaters im Deep South, aber zum Verlust des Rests des Landes. Nixons nun explizit als southern strategy benanntes Vorgehen bestand in einem Zickzackkurs, um als der moderatere Kandidat zu erscheinen. Als die GOP bei den Midterms 1970 offen rassistisch agierte, erlebte sie einen milden Backlash. 1972 fuhr Nixon dann die Ernte des gemäßigteren Kurses ein und errang 49 der 50 Staaten. Die Verhandlungen für den Wechsel demokratischer Abgeordneter liefen, als Watergate unerwartet eine Gegenbewegung einläutete. Der Wandel des Kongresses in republikanische Hände dauerte zwei Jahrzehnte länger.
Ob Reagan eine southern strategy fuhr, ist durchaus kontrovers. Atwater verneinte dies stets vehement, was Kruse nicht als unüberzeugend ansieht. Reagan sprach hauptsächlich Wirtschaft und Verteidung, aber nutzte die dog whistle der states rights, um auch deutlich nach rechts zu blinken. Insgesamt blieb aber auch er auf der „moderaten“ Siegerstraße. Der Durchbruch des langen Realignments erfolgte mit dem Sieg in den Repräsentenhauswahlen 1994 durch Newt Gingrich, aber die Moderierung blieb auch durch die Präsidentschaft George W. Bushs immer ein ausgleichendes Element, ehe die Partei nach 2008 eine scharfe Rechtswendung hinlegte.
In Kapitel 13, „The Good Protest„, beschreibt Glenda Gilmore den verbreiteten Mythos bezüglich der Bürgerrechtsbewegung, dass diese einerseits quasi mit Rosa Parks aus der Taufe gehoben und andererseits weitgehende Zustimmung der weißen Mehrheitsbevölkerung erfahren hätten. Dies ignoriere einerseits die lange Geschichte afroamerikanischer Proteste – die ersten Sit-Ins fanden bereits in den 1930er Jahren statt – und sorge andererseits dafür, das Doppel-Narrativ afroamerikanischer Akzeptanz der Segregation vor den 1950er Jahren einerseits und das einer schnellen weißen Akzeptanz der Anliegen und eines raschen Bewusstseinswandels andererseits zu reproduzieren, die beide vollkommen unhistorisch sind.
MLK sei politisch kooptiert und ihm so die Zähne gezogen worden, eine Karikatur entstanden, die mit der realen Position wenig zu tun habe. Sogar Trump zitierte aus dem Kontext gerissenene King-Zitate; zuerst hatte damit Reagan 1985 begonnen. Gilmore weist nach, dass der reale King wesentlich radikaler war als das heute verwaschene Bild. Zudem habe damals mitnichten eine weiße Akzeptanz der Proteste bestanden; diese seien vielmehr radikal abgelehnt worden.
Dieser Gedanke wird in Kapitel 14, „White Backlash„, von Lawrence B. Glickman fortgesetzt. Unter dem Begriff wird die Idee gefasst, dass eine Radikalisierung der Weißen gegenüber ethnischen Minderheiten und ihre gewalttätige Reaktion eine Folge auf die Proteste sei. Diese Vorstellung wurde in den 1960er Jahren popularisiert, aber Glickman weist nach, dass die Begründung erstmals in den 1890er Jahren verwendet wurde. Das Muster ist dabei jedes Mal gleich: Forderungen oder Proteste ziehen eine gewalttätige Reaktion nach sich, etwa Terror des Ku-Klux-Klans, die damit relativiert wird, dass sie eine „Reaktion“ auf die vorangegangenen Proteste sei. Glickman postuliert einerseits, dass dies nicht zutreffe – die Gewalt war bereits vorher vorhanden – und so Ursache und Wirkung verkehre. Andererseits schaffe es eine passive Rolle für diejenigen, die sich radikalisieren lassen, eine Unausweichlichkeit, die die Täter*innen aus der Verantwortun nimmt.
Das Komplementärstück zum im Kapitel 10 besprochenen New Deal ist Gegenstand von Joshua Zeitz‘ Kapitel 15, „The Great Society“. Das große Reformwerk Lyndon B. Johnsons (siehe auch „LBJ’s Neglected Legacy„, hier rezensiert) wurde wie auch der New Deal von Republicans für gescheitert erklärt, prominent etwa von Ronald Reagan. Dieser scherzte, dass Johnson einen „Krieg gegen die Armut“ erklärt habe, den die Armut gewonnen habe. Wenig überraschend widerspricht Zeitz dem. Der War on Poverty habe zwar natürlich die Armut nicht beseitigt, aber deutlich reduziert (analog zum New Deal werde dies in den Statistiken unzureichend wiedergespiegelt, weil diese geldwerte Leistungen wie die von Johnson eingeführten Food Stamps nicht zählten und deswegen künstlich hoch seien).
Zudem habe das Reformwerk den heutigen amerikanischen Wohlfahrtsstaat überhaupt erst geschaffen, vor allem das dauerhaft beliebte Medicare und das Rentensystem, das bis heute ein Fundament der Gesellschaft darstelle. Die Annahmen, auf denen dieses System geruht habe – niedrige Inflation und Arbeitslosigkeit, hohes Wachstum – hätten sich gleichwohl in den 1970er Jahren aufgelöst. Die Liberalen hätten zudem auf ein Wachstums- statt ein Umverteilungsmodell gesetzt (und tun das bis heute).
Die andere Hälfte des Kapitels beschäftigt sich mit den Erfolgen der Great Society im Umgang mit rassistischer Diskriminierung. Der in Kapitel 14 besprochene white backlash findet hier sein bekanntestes Schlachtfeld, wo der Kampf gegen den Civil Rights Act motivierte (siehe dazu auch Kapitel 17), der nichtsdestotrotz zu einer weitgehenden Desegregation der staatlichen Institutionen des Südens führte. Die USA um 1970 und folgende seien eine fundamental andere Gesellschaft als die USA um 1960 und davor.
Ein in letzter Zeit hauptsächlich rezipierter Anlass für den in Kapitel 14 besprochenen white backlash folgt in Kapitel 16, „Police Violence„, von Elizabeth Hinton. Sie zeigt anhand von Ausschreitungen in den 1960er Jahren, dass Polizeigewalt oft die Ursache, nicht die Folge von Ausschreitungen war. Dieses Muster, das sich in Ferguson, bei George Floyd und in vielen anderen Fällen in den 2010er und 2020er Jahren beobachten ließ (#BlackLivesMatter), hat seinen Ursprung bereits wesentlich früher. In den 1960er Jahren wurde die systemische Polizeigewalt nur erstmals überhaupt wahrgenommen, wenngleich die weiße Mehrheit sie überwiegend begrüßte. Das galt auch für die Proteste Martin Luther Kings (siehe Kapitel 13), die ebenfalls massiver und unprovozierter Polizeigewalt ausgesetzt waren, die die Zeitgenossen nicht etwa den rassistischen Terrorregimen der Südstaaten, sondern den Protestierenden zuschrieben.
Gleiches gilt für die Militarisierung der Polizei. Sie hatte ihren Ursprung nicht in den 2000er Jahren (wo sie gleichwohl einen Schub erlebte, wie ich hier beschrieben habe), sondern in den 1960er Jahren, als das US-Militär erstmals seine Restbestände aus einem abgewickelten Krieg an die Polizeibehörden weitergab, die es benutzten, um die schwarze Bevölkerung zu unterdrücken. Hinton beschreibt als Fallbeispiel die exzessive Nutzung von Tränengas, das 1925 in der Genfer Konvention verboten wurde, zur Auflösung friedlicher Proteste. Ein letzter Abschnitt beschäftigt sich mit ihrer Kriminalisierung in jüngster Zeit; in vielen südlichen Bundesstaaten drohen für einen Protest bis zu 15 Jahre Gefängnis (!), während es gleichzeitig straffrei gestellt wurde, Protestierende versehentlich mit dem Auto zu töten.
Diese staatliche Freundlichkeit gegenüber Gewalt von Rechts ist auch Thema von Kapitel 17, „Insurrection„. Ausgehend von der viel gehörten Behauptung, der Putschversuch vom 6. Januar sei nicht „wer wir sind“, weist Kathleen Belew nach, dass Aufstände gegen den Staat vielmehr schon lange in der amerikanischen DNA stecken. Rechtsextreme Aufstände gegen den Staat und ein Netzwerk von Terroristen habe es viel mehr immer wieder gegeben. Im Zentrum stehen in ihrem Kapitel die „Turner Diaries“, eine Art als Roman getarnten politischen Programms, das einen Rassekrieg mit vollständiger Vernichtung aller Nicht-Weißen weltweit voraussieht und das seit den 1970er Jahren immer wieder mit Terroristen in Verbindung steht. Diese Terroristen werden von Politik und Medien stets als Einzeltäter angesehen, wogegen Belew die Existenz eines verbindenden Netzwerks postuliert.
Sie erklärt, dass in den 1960er Jahren die Mitgliedszahlen in radikalen rechten Organisationen deutlich absanken, was aber gleichzeitig einen Radikalisierungsprozess mit sich gebracht hätte. Um der Verfolgung zu entgehen, verschrieben die Rechtsextremisten sich der Idee der leaderless resistance – einer Vernetzung ohne klare Strukturen. Dazu nutzten sie bereits 1984 das Internet. Sie sammelten Spenden, kauften davon Computer und verteilten diese zusammen mit Kursen unter den Zellen, die sich dann in passwortgeschützten Foren austauschten. Heutige Netzwerke wie Stormfront seien daher nur Evolutionen eines mittlerweile 40 Jahre alten Trends.
Besonders bedrückend ist, wie viele der Prozesse gegen rechtsextreme Terroristen mit deren Freispruch endeten, weil die Jurys der Prozesse in den Einzelstaaten selten überhaupt schwarze Mitglieder besaßen und meist sehr empathisch gegenüber den Anliegen der Rechtsextremisten waren. Die Blindheit der Justiz auf dem rechten Auge ist wahrlich kein deutsches Problem.
Eine gänzlich andere Richtung schlägt Kapitel 18, „Family Values Feminism„, von Natalia Mehlman Petrzela, ein. Sie wendet sich gegen die konservative Behauptung, der Feminismus wolle die Familie zerstören und stellt dem die These gegenüber, dass er in Wahrheit die Familie unterstütze. Treibende Kraft hinter der Etablierung der Idee war Phyllis Schlaefli, die konservative Aktivistin, die das Equal Rights Amendment verhinderte und eine wichtige Unterstützerin Reagans war. Viele der frühen Feminstinnen, allen voran Betty Friedan, hatten aber die heterosexuelle Familie ausdrücklich verteidigt und neue Formen wie die gleichgeschlechtliche Ehe abgelehnt. Erst in den späten 1970er Jahren gelang die Anerkennung von Lesben als Bestandteil der feministischen Bewegung (was dann wiederum zu backlash führte).
Petrzela führt ihren Argumentationsrahmen zum einen in die Vergangenheit bis zu den Aktivistinnen des 19. Jahrhunderts, die stets im Rahmen der Familie und weiblicher „Zuständigkeiten“ wie Fürsorge und Pflege agiert hatten, und zum anderen in die Gegenwart, wo Forderungen und Erfolge der feministischen Bewegung den Status von Familien durch Hilfen für Kinder und Eltern und die Stärkung der Rechte von Müttern eigentlich verbessert hätten, während Konservative mit ihren Kürzungen solcher Maßnahmen familienfeindliche Politik machten.
Ein weiterer Mythos aus dieser Zeit ist die in Kapitel 19, „Reagan Revolution„, von Julian Zelizer besprochene Amtszeit Ronald Reagans. Von folgenden Generationen von Republicans als „Reagan Revolution“ verklärt besteht Zelizer darauf, dass diese Begrifflichkeit stark übertrieben sei und in historischer Analyse nicht verwendet werden sollte. Reagan scheiterte mit den selbst gesteckten Zielen seiner Revolution weitgehend. Trotz beeindruckender Siege bei den Präsidentschaftswahlen 1980 und 1984 waren die Midterms ein ziemliches Desaster; Reagans persönliche Beliebtheitswerte lagen deutlich unter denen Johnsons, Kennedys, Clintons, Bushs und Obamas und nur marginal über denen Nixons (wenngleich deutlich über Ford und Carter). Stattdessen führte seine Politik zu einem gewaltigen Defizit, das nur durch einen Kompromiss der GOP im Kongress mit den Democrats zu retten war – der deutliche Steuererhöhungen enthielt und effektiv die Reagan Revolution konterkarierte.
Auch außenpolitisch scheiterte Reagan. Nicht nur wurde seine Präsidentschaft beinahe durch den Iran-Contra-Skandal gefährdet (der heute weitgehend vergessen, seinerzeit aber als größer als Watergate eingeschätzt wurde!); sein größter Erfolg, die Entspannung und Abrüstungsverträge mit Gorbatschow, widersprachen völlig der Rhetorik des Wahlkampfs 1980 und Reagans Feuerfresser-Persönlichkeit zuvor. Zelizer kommt zu dem Schluss, dass die Rede von der Revolution angesichts der mangelnden Dauerhaftigkeit von Reagans Agenda und seinem Scheitern wesentlich übertrieben sei; gleichzeitig betont er, dass keine Person jemals in einem demokratischen Staatswesen überhaupt solche Durchbrüche feiern könnte, weswegen das von vornherein auch die falsche Erwartungshaltung sei.
Der letzte Mythos wird in Kapitel 20, „Voter Fraud„, von Carol Anderson untersucht. Ihr geht es um die republikanischen, unter Trump inflationär gewordenen Vorwürfe, es finde „voter fraud“ statt, also die Vortäuschung einer anderen Identität zum Abgeben zusätzlicher Stimmen. So etwas hat es in signifikantem Umfang zumindest im 20. Jahrhundert nie gegeben. Anderson zeichnet nach, wie diese Schmierenkampagne (wie bei so vielen in diesem Band besprochenen Themen) in den 1960er Jahren begann und zu einem Standardwerkzeug wurde.
Gleichzeitig unterscheidet sie den Vorwurf vom wesentlich relevantaren „electoral fraud„, also der Wahlfälschung. Diese finde wesentlich häufiger und systematischer statt und betreffe zehntausende Menschen – pro Wahl, wohlgemerkt. So zeigt sie anhand Beispielen aus den 1960er Jahren, wie Polizisten außer Dienst in Uniform und Ausrüstung vor Wahllokalen in Distrikten mit starker afroamerikanischer Bevölkerung postiert wurden und die Wählenden einschüchterten. Dies senkte die Wahlbeteiligung nachweislich deutlich. Natürlich fehlt auch Bush v Gore in der Auflistung nicht. Während die Schimäre voter fraud also mit furchtbaren Folgen für die demokratische Legitimität permanent hervorgekramt werde, werde realer election fraud überhaupt nicht thematisiert, geschweige denn verfolgt.
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Das Buch erinnert mich stark an Howard Zinn’s „People’s History of the United States“ (hier rezensiert): eine dezidiert linke Interpretation der amerikanischen Geschichte, ein Interpretationsangebot für das eigene politische Spektrum. Das kann man machen, hat aber mit Geschichtswissenschaft nur sehr eingeschränkt zu tun. Entsprechend werden auch munter historische Analysen, politische Analysen, Appelle für die Gegenwart und Werturteile miteinander vermischt. Manchmal ist dieser Mix furchtbar, manchmal nicht.
Kapitel 1 (Exzeptionalismus) etwa ist insofern interessant, als dass es auf den Exzeptionalismus als kommunistisches Konzept hinweist. Gleichwohl hat das abgesehen von der Begrifflichkeit ja praktisch nichts mit dem Begriff zu tun, wie er überwiegend verwendet wird. Ob sein Ursprung dort liegt, bezweifle ich auch sehr. Wesentlich seriöser erscheint mir da die Analyse von Kapitel 2 (Federalist 10); die Herleitung ist hier wesentlich tragfähiger und quellenbasierter und das Ganze zudem viel sinniger als Fragestellung und These. Gleiches gilt für Kapitel 3 (Natives), das neue Perspektiven einbringt, ohne in eine zu starke Idealisierung abzurutschen. Kapitel 4 (Immigration) wird dann wieder viel zu sehr mit genereller Kapitalismuskritik vermischt. Sicher spielt der Bedarf an billigen Arbeitskräften der Wirtschaft eine große Rolle, aber das Ganze ist dann in seinen Anreizen und Abhängigkeiten wesentlich komplexer als ein „der Kapitalismus ist schuld“.
Kapitel 5 (America First) war eine schöne Geschichte eines Begriffes, und ich halte die These, dass „America First“ immer schon ein nativistischer Slogan war, jetzt nicht für sonderlich kontrovers. Die zugrundeliegenden Prämissen von einer zutiefst rassistischen Grundordnung der amerikanischen Gesellschaft kann man sicherlich kritisieren, aber die spielt glücklicherweise für die eigentliche Analyse keine Rolle, sondern läuft nur als stilistisches Grundelement mit. Kapitel 6 (Imperium) bringt erneut eine eigentlich weitgehend unkontroverse Feststellung – dass die USA ein Imperium waren bzw. sind – und vermengt diese mit zahlreichen nicht ausgesprochenen und thematisierten Normensetzungen, die zu unehrlichen Argumentationen führen. Die philippinischen Kriegstoten 1941-1945 etwa einfach den Opfern amerikanischen Imperialismus‘ zuzuschreiben scheint mir nicht unbedingt ein Zeichen großer intellektueller Redlichkeit, um es milde auszudrücken. Auch, dass das System amerikanischer Basen eines ist, das weitgehend auf Freiwilligkeit beruht, handwedelt Immerwahr einfach weg und bringt einige willkürliche Beispiele aus dem besetzten Japan, das nicht glücklich damit war (tough luck, vielleicht sollte man dann keinen Weltkrieg anfangen). Auch die verhältnismäßig zurückhaltende Landnahme, verglichen mit anderen Imperien, findet keine Erwähnung.
Kapitel 7 (Grenze) schließlich ist voll von sozialromantischem Klimbim von der Grenze als Raum interkulturellen Austauschs. So wenig Sympathie ich für Trump’sche Horrorvisionen aufbringe, so wenig hat dieses rosaraote Bild aber mit der Realität zu tun. Diese völlige Weigerung, sich mit der Lage zu befassen und die damit verbundenen Ängste zu addressieren, ist eine der größten Schwächen der radikaleren Linken und ihrer open-borders-Fantasien. Kapitel 8 (Sozialismus) verbiegt sich auch ordentlich, um eine grundsätzliche amerikanische Offenheit für sozialistische Ideen aufstellen zu können (was ich für völlig haltlos halte). Einzelevents wie irgendwelche 200 Jahre alten Reden taugen jedenfalls als Beweise überhaupt nicht, das ist keine seriöse Geschichtswissenschaft. Auch die großzügige Sammlung aller Strömungen, die vage die bestehende Ordnung aus einer nicht-rassistischen oder -faschistischen Warte heraus kritisierten unter dem Label „sozialistisch“ (vor allem solche, die bestenfalls (!) als sozialdemokratisch (democratic socialism) gewertet werden dürften, ist völliger Quatsch. Der Aufsatz hat mich so hart mit den Augen rollen lassen, dass sie schier aus dem Kopf fielen. Der Versuch, alle guten Entwicklungen der USA auf Sozialisten zurückzuführen und deren mangelnden politischen Erfolg als Ausdruck ihrer Effektivität zu verklären, ist solch motivated reasoning, dass es eigentlich kaum der weiteren Kritik bedarf. Für Bismarck und Wilhelm II. wäre es jedenfalls bahnbrechende Neuigkeit, dass Kooptierung dazu führte, dass „Sozialisten“ keine Wahlerfolge feiern können. Mich erinnert das Ganze an die Abhandlungen der BernieBros 2016.
Kapitel 9 (Magie des Markts) zeichnet zwar den Import Haykes und Mises‘ sowie den Erfolg Friedmans als Elitenprojekt nach, weist diesen aber in meinen Augen viel zu viel Bedeutung zu (genauso wie das bedeutungsschwangere cui bono, eine nicht auszurottende linke Angewohnheit). Zudem halte ich es für wenig tragfähig, die Geburt des Marktmythos erst in den 1950er und 1960er Jahren suchen zu wollen. Hier zeigt sich eine oft auftauchende Schwäche mangelnder Themeneingrenzung: geht es um die moderne, „neoliberale“ Prägung dieses Mythos, macht das grundsätzlich Sinn (bliebe aber in der Verengung auf die Personen immer noch fragwürdig), aber dann ist der Bezug zum 19. Jahrhundert unsinnig. Eine ähnliche Strukturproblematik sehe ich auch bei Kapitel 10 (New Deal). Die Statistikgeschichte des New Deal etwa fand ich super spannend, aber offiziell will das Essay den kompletten Mythos um den New Deal (sprich: das rechte Gegennarrativ) besprechen, was es aber in der Schwerpunktsetzung und Länge gar nicht kann. Die politische Zielsetzung und die wissenschaftliche Arbeit stehen auch hier in einem harten Gegensatz zueinander.
Noch krasser findet sich das in Kapitel 11 (Statuen), das eigentlich den Lost Cause thematisieren müsste, der ja ein zentraler Mythos der USA ist. Aber aus mir unerfindlichen Gründen wurde als Themenschwerpunkt die Statuendebatte gewählt (weil sie halbwegs aktuell und ein Aufreger der aktivistischen Basis ist?), weswegen eine eher unmotivierte Abhandlung über die Statuen mit Lost-Cause-Revivals gemischt wird und nichts Halbes und nichts Ganzes entsteht. Wie man das Thema ohne Erwähnung von „Vom Winde verweht“ hinbekommt, ist mir auch unbegreiflich. Kapitel 12 (Southern Strategy) schließlich enthält eine gute Darstellung des Great Realignment (über das ich ja auch selbst geschrieben habe), setzt aber die Reihe der merkwürdigen Fokussetzungen mit der „southern strategy“ fort, die ja eigentlich eine wesentlich klarere Bedeutung hat und an dieser Stelle als Begriff völlig verwässert wird. Abgesehen von diesem begrifflichen Detail ist der Aufsatz aber solide und gut fundiert und einer der besseren des Bandes.
Das gilt auch für Kapitel 13 (MLK). Die Veränderung von MLKs Image und die Mythenbildung um ihn sind ein genuiner „Myth America“, der eine Sezierung verdient, die in dem Essay auch ordentlich geleistet wird. Auch die historische Einordnung gelingt gut. Das gilt für Kapitel 14 (Backlash) leider nicht in demselben Maße. Grundsätzlich ist die Analyse und Schlussfolgerung des Essays völlig korrekt; die Passivkonstruktion des Backlash ist ein echtes Problem. Gleichzeitig aber wird völlig abgestritten, dass die Proteste irgendetwas damit zu tun haben könnten. Das ist aber Unsinn. Die Hervorhebung des Themas zwingt zu einer meist polarisierenden Positionierung, das ist eine Grunddynamik von Protest. Das kann man nicht einfach damit handwedeln, dass die eine Positionierung halt böse ist. Es ändert nichts an der Richtigkeit, dass der white backlash eine bewusste und abzulehnende Entscheidung ist.
Die Verteidigung der Great Society in Kapitel 15 ist insgesamt durchaus zutreffend. Die Kritikpunkte über seine Mängel, die von Zeitz zwar angerissen, aber nicht sonderlich ausführlich besprochen werden, sind demgegenüber ja unbenommen. Ich hätte gerne eine ausführlichere Betrachtung der wirtschaftspolitischen Grundlagen gehabt. Zeitz arbeitet schön die Hilfen bei der Reduzierung absoluter Armut oder dem Abbau der Segregation heraus (die eben nicht von Little Rock oder Brown v Board of Education beseitigt wurde, sondern erst durch starke nationale Gesetzgebung und Investition von Ressourcen), streift aber die liberalen Prämissen vom Wachstumsmodell eher, als dass er sie ausführlich untersucht. Was Seitz bei der Desegregation der staatliche Institutionen kurios unerwähnt lässt, ist die Flucht in private Institutionen, deren staatliche Förderungen und die Zerstörung der staatlichen Infrastruktur durch die republikanischen Regierungen als Folge davon. Das ist ein so elementarer Teil des Aufbaus der heutigen USA.
Zu Kapitel 16 (Polizeigewalt) habe ich wenig hinzuzufügen. Die amerikanische Polizei ist eine völlig verrottete Institution, und Hinton ging mit ihr geradezu noch freundlich um. Die Konzentration auf die Militarisierung und vor allem die Fallstudie zum Tränengas war sehr interessant, ging aber auf Kosten anderer Aspekte, etwa der Zusammensetzung und Mentalität der Polizist*innen. Hier wäre ein klarerer Fokus besser gewesen. Kapitel 17 (Aufstände) lässt das das Offensichtliche – dass die Tea Party und der Unabhängigkeitskrieg sowie der Bürgerkrieg besonders prägnante Beispiele sind – gleich weg, was angesichts des Fokus‘ auf rechtsextremen Umtrieben nachvollziehbar ist. Erstere hätten zwar mehr mit den Mythen zu tun (siehe Gesamtfazit), aber auf diese Art bleibt das Essay konzise und enthält mit der frühen Internet-Vernetzung für mich auch neue Aspekte. Ein Gedanke zum Radikalisierungsprozess: Wir haben das in der BRD an der RAF glaube ich gut sehen können: als die linken Proteste der 1967/1968 an Fahrt verloren und die meisten Leute sich abwandten, entstand überhaupt erst der harte Kern des Linksterrorismus. Das scheint mir ein allgemeines Muster zu sein.
Kapitel 18 (Feminismus) leidet in meinen Augen unter dem Aktivismus der Autorin. Petrzela verwendet viel Aufmerksamkeit darauf sich zu wundern, dass Konservative nicht verstehen, dass Progressive ja durchaus die Familie stützen, sieht aber den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das Problem ist der Begriff. Sie versteht (wie Progressive generell) unter Familie etwas völlig anderes als Konservative. Diese fassen den Begriff enger. Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche Ehen, offene Beziehungsformate, ganz egal, wie viel partnerschaftliche Liebe und Kinderfürsorge sie enthalten, entsprechen diesem Bild nicht. Letztlich bleibt der Essay damit trotz der akkuraten Darstellung feministischer Anliegen vor allem moralisierende Abschweifungen, die zwar für einen progressiven Stammtisch sicher unterhaltsam sind, aber unfreiwillig zeigen, warum beide Seiten hier nicht miteinander reden können.
Ich stimme den Schlussfolgerungen von Kapitel 19 (Reagan) völlig zu, liege aber mit Zelizers Framing über Kreuz. Dieser kümmert sich praktisch nicht um die Konsistenz seiner Argumente, sondern versucht nur, an allen Fronten die Reagan-Ära herabzuwürdigen. So ist es bei progressiven Niederlagen klar, dass riesige Revolutionen nicht möglich sind und weise Selbstbscheidung Zeichen der staatsmännischen Qualität, bei Reagan aber das genaue Gegenteil. Auch ist eine Rosinenpickerei bei Wahlergebnissen und Beliebtheitsumfragen zu beobachten, die nur eine vorher festgelegte Schlussfolgerung bestätigen sollen. Natürlich hat Zelizer Recht damit, dass der Reagan-Mythos erst nachträglich aufgebaut wurde (die Republicans waren während seiner Amtszeit nicht überragend glücklich mit ihm), aber dass es den Democrats erst 1992 gelang, mit Biegen und Brechen und einem deutlichen Schritt in die wirtschaftskonservative Richtung wieder das Präsidentenamt zu erringen und bis einschließlich Hillary Clintons Kandidatur 2016 nicht zentral davon abwichen eine Folge der „Reagan-Revolution“, die zwar nicht dem Mann allein, aber durchaus dem politischen Moment zuzuschreiben ist und deren konstante Leugnung in Zelizers Argumentation mehr vernebelt als erhellt.
Das 20. Kapitel (voter fraud) ist inhaltlich grundsätzlich ersteinmal nicht zu beanstanden (wenn man einmal von der Frage absieht, inwieweit man Bushs Wahl 2000 als Fälschung betrachten möchte; ich halte da eher wenig davon). Vielmehr zeigt sich hier einmal her, dass die historische Dimension außen vor bleibt: die massiven Wahlfälschungen im 19. Jahrhundert, wo auch der klassische voter fraud absoluter Standard war, werden kurioserweise gar nicht thematisiert. Sie sind, fairerweise gesagt, auch in keiner direkten Traditionslinie, aber ihre Auslassung zeigt eineproblematische Tendenz zur Rosinenpickerei des ganzen Werks: wenn die massiven Fälschungen im 19. Jahrhundert nicht von den großstädtischen Machines, sondern von den Rassisten der Südstaaten durchgeführt worden wären – sie hätten sicher prominente Erwähnung gefunden.
Ich habe eingangs den Vergleich mit Zinns Buch gewählt und davon gesprochen, dass das Werk eher ein aktivistisches als ein historisches ist. Ich möchte das noch einmal unterstreichen. Wer Munition für den politischen Meinungskampf sucht, wird diese hier finden. Darin haben Werke wie dieses durchaus eine Daseinsberechtigung: Mythenbildung (für die eigene Seite) ist ebenso wichtig wie Mythendekonstruktion (der gegnerischen). Aber ernsthafte historische Arbeit ist das hier nicht, und ich bin kein Aktivist. Daher war das Buch für mich eher eine frustrierende Erfahrung. Mitgliedern des DNC dürfte es aber sicher helfen.
… (zweimal das britische, zweimal das deutsche, einmal das japanische, einmal das sowjetische) …
Spanien?
Den Krieg vergessen sie gerne bewusst. Es geht um die „guten“ Kriege, nur die sind relevant für das Selbstbild.
Zu dem Zeitpunkt, zu dem die USA den Krieg gegen Spanien führten, war Spanien aber noch immer ein (Rest)Imperium 🙂 .
Ja, ich weiß. Aber lies meine Antwort an Erwin nochmal. Und meinen Originaksatz.
Hatte ich verstanden. Aber es hat etwas sehr ironisches, dass selbst ihr „böser“ Krieg gegen ein Imperium geführt wurde …
@ Thorsten Haupts 26. Januar 2024, 18:02
Hatte ich verstanden. Aber es hat etwas sehr ironisches, dass selbst ihr „böser“ Krieg gegen ein Imperium geführt wurde …
🙂
Ja, aber das ist ja nicht der einzige. Mexiko war kein Imperium.
nur ganz kurz (1821 – 1823)
Nur zu einem Bruchteil – Der Krieg gegen Spanien war 1898 vorbei, der Krieg auf den Philippinen beispielsweise ging dann bis 1913 weiter: gegen die Republik Philippinen, den (unabhängigen) Tagalog-Staat und das Moro-Sultanat.
Die „Statistikgeschichte des New Deal“ war auch für mich neu. Auch in eher positiven Darstellungen nicht enthalten. Wie kann das sein?
Die Reform des Bankensystems und die Anti-Trust-Gesetze werden gar nicht angesprochen?
Keine Ahnung.
Ne, wie gesagt, die Schwerpunktsetzungen sind echt weird.
Ich glaube, das Buch schafft durch die Gestaltung (milde irreführend) falsche Erwartungen. Wenn du dir den Inhalt ansiehst, ist es eine Ansammlung von Essays, in denen Historiker über ihr (manchmal eben hochspezialisiertes) Lieblingsthema schreiben. Das passt dann ganz gut als Geschichtsrevision, wenn dadurch ein Gegenbild zu einem verschobenen Framing der klassischen Geschichtsdarstellung entsteht, aber es sollte nicht als „Dekonstruktion“ gesehen werden, sondern als Ergänzung.
Interessant ist auch ein anderer Aspekt, die politische Schlagseite. Bei einem einzelnen Fachartikel oder Essay wäre das wahrscheinlich nicht weiter ins Gewicht gefallen. Da aber jeder einzelne Aufsatz von der einen oder anderen „linken“ Perspektive aus die Geschichte deutet, wird das Gesamtbuch sehr zu einem „preaching to the choir“. Und das ist imho ein großes Zeitproblem, dass Weltdarstellung (besonders Wissenschaft) zu gerne für die eigene Fankurve geschrieben wird.
Exakt mein Eindruck.