Bücherliste Dezember 2023

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.

Diesen Monat in Büchern: 1979, Alexander der Große, V wie Vendetta, Age of Bronze, Frauen im Mittelalter, Phileasson 1, Phileasson 2

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: –

Bücher

Frank Bösch – Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann

Die Frage, wann die Moderne beginnt, ist eine in der Geschichtswissenschaft hochumstrittene. Der untere Rand des Spektrums wird üblicherweise durch die Aufklärung und die bürgerlichen Revolutionen ab der Mitte des 18. Jahrhunderts gebildet. Frank Bösch legt die Latte in seinem vorliegenden Buch wesentlich höher: er lässt unsere moderne Welt 1979 beginnen. Dabei behauptet er nicht, dass Schlag am 1.1.1979 ein neues Zeitalter anbrach, sondern eher, dass in dieses Jahr viele Ereignisse fielen, deren Genese und Folgewirkungen besonders prägend waren. Diese Ereignisse und Dynamiken, die üblicherweise fernab deutscher Grenzen stattfanden, hatten doch immer Rückwirkungen auf das damals noch geteilte Deutschland. Trotz des internationalen Ansatzes der Ereignisse legt er daher den Schwerpunkt darauf, ihre Auswirkungen auf die beiden Deutschland zu beschreiben. Inwieweit dieser Ansatz trägt, soll die folgende Rezension erkunden.

In Kapitel 1, „Die Revolution im Iran“, beginnt Bösch seine Darstellung. Diese hat ihre Genese in der langen Kooperation des Westens mit dem diktarorischen Schah-Regime, das im Land für eine antiwestliche und antimoderne Stimmung sorgte. Erste Reformversuche des Schah-Regimes selbst in den 70er Jahren wurden vom Westen bekämpft, weil sie aus seiner Sicht das Land destabilisierten und ein Einfallstor für kommunistische Agitation darstellten. Da der Schah selbst keinen sonderlich stringenten Reformkurs vor, sondern eher erratisch agierte, ermunterte er mit dem Schlingerkurs nur die Opposition, die sich immer größer und lautstärker formierte.

Ein entscheidender Kopf dieser Opposition war trotz der anfänglich geringen Größe seiner Anhänger*innenschaft der im Exil lebende Ayatollah Khomeini. Seine Fähigkeit war es, sich als Gesicht der Opposition uns als ihr Anführer zu gerieren und als zentrale Opposition des Schahs wahrgenommen zu werden. Das lag an seiner Fähigkeit, westliche Journalisten (und das waren alles Männer) um den Finger zu wickeln; vor allem Peter Scholl-Latour, der den Ayatollah im Flugzeug in den Iran begleiten durfte und von der eigenen Bedeutung besoffen unkritisch die Progaganda der Islamisten schluckte. Damit war er nicht allein; fast der ganze Westen ließ sich anfangs von moderater Rhetorik und scheinbar demokratischen Elementen täuschen, die Liberalen wie Konservativen gefielen, während die Linke schon allein wegen der klar antiamerikanischen Haltung des Ayatollahs von ihm begeistert waren.

Khomeini reagierte allerdings sobald er sicher im Iran und der Schah geflohen war schnell mit Gewalt und begann, die Bevölkerung und vor allem die anderen Strömungen der Opposition zu unterdrücken. Dabei war seine Stellung nicht unangefochten; die Geiselnahme in der US-Botschaft aus den eskalierenden Protesten etwa war nicht seine Idee, aber er nahm es hin und intervenierte nicht – schon allein, weil er gar nicht Macht hatte, irgendetwas zu unternehmen. Während des Geiseldramas versuchte die bundesrepublikanische Regierung, die zahlreiche Kontakte im Iran besaß, weitgehend erfolglos zu vermitteln.

Khomeini selbst versuchte, eine Ideologie des schiitischen Panislamismus zu propagieren, scheiterte damit jedoch schnell, schon allein, weil seine Nachbarländer alle von säkularen Diktatoren regiert und eher sunnitisch geprägt waren. Dieses Scheitern mündete im verheerenden  Krieg mit Irak, der allerdings außerhalb des Rahmens des Buchs liegt. Die BRD indessen unterhielt, unter Gefährdung ihrer Beziehungen zu den USA, ein hervorragendes Verhältnis zum sich rasch zur Theokratie entwickelnden Iran. Die Wirtschaft ging über alles, vor allem für Bundeskanzler Schmidt. Diese freundschaftliche Haltung zu einem mörderischen Regime zeigte sich etwa am neuen Botschafter in Teheran, der erklärte, die Berichterstattung über täglich mehr als 30 Todesurteile unterschlage, „wie sehr diese von linksextremen Militanten provoziert“ würden. Wenn etwas eine moralische Bankrotterklärung ist, dann wohl das. Erst unter dem im Zug des Antiterrorkampfs massiv zunehmenden Druck der USA ab 2003 endete dieses deutsche Sonderverhältnis, das im Übrigen keine iranische Ausnahme darstellt: bis dahin unterhielt die Bundesrepublik auch extensive Kontakte nach Libyen und ignorierte nur zu gerne Gaddafis Terrorfinanzierung.

In Deutschland selbst führte die Revolution nach einer kurzen Begeisterungsphase wie im ganzen Westen schnell zu einem Backlash gegen den Islam in der öffentlichen Meinung. Man identifizierte den gesamten Nahen Osten nun zunehmend als kulturell fremd und bedrohlich, wo man ihn zuvor eher als unterentwickelt, analphabetisch und die Segnungen der Zivilisation erwartend begriffen hatte. Dieser Wandel des islamischen Fremdbilds betraf auch die Türkei und damit die Millionen von Deutschtürk*innen auf negative Weise.

In Kapitel 2, „Papst Johannes Paul II. in Polen„, könnten geneigte Beobachtende versucht sein, aufgrund der Gleichzeitig der Ereignisse Parallelen zu religiöser Radikalisierung zu ziehen: der 1978 gewählte neue Papst trat seine große Auslandsreise nach Polen an. Seine Rolle bezüglich der Menschenrechte war ambivalent: auf der einen Seite prangerte er Menschenrechtsverstöße kommunistischer Regime an, auf der anderen Seite war der konservative Papst sicherlich kein Freund von Frauenrechten.

Die Hoffnung der polnischen Kommunisten, die den Besuch überhaupt zuließen, war der auf Stabilisierung ihres Regimes, indem sie den Glanz des ersten polnischen Papstes für sich nutzen konnten. Entsprechend großes Gewicht hatte die detaillierte Vorbereitung des Besuchs. Bösch warnt vor Überinterpretationen des Ereignisses, aber die Begeisterung der Bevölkerung war gewaltig. Ihre Bedeutung liegt für Bösch darin, als eine erste Übung in Massenversammlungen und ihrer Organisation gedient zu haben, die der polnischen Opposition noch zugute kommen würde. Der Papst selbst hielt sich bewusst politisch zurück und zeigte keine Solidarität mit Solidarnosc, um die Machthaber nicht zu provozieren und weil er Gewerkschaften misstraute; erst bei seinen Besuchen 1983 und 1987 würde er sich offener auf die Seite der Opposition stellen. In der öffentlichen Erinnerung sind diese Besuche natürlich mittlerweile verschmolzen.

Der Besuch mobilisierte vor allem junge Menschen und war von einer Aura des polnischen Nationalismus durchwoben, die sich kaum trennen ließ. Er gehörte zudem in den Kontext der Entspannungspolitik mit Jaruzelski, der so versuchte, das Ansehen der Volksrepublik Polen zu verbessern.

Die BRD versuchte ihrerseits ebenfalls, den Papst für sich zu vereinnahmen, aber der blieb im Kalten Krieg äquidistant und unpolitisch. Die Begeisterung bei seinem ersten Besuch in der BRD war auch bei weitem nicht so groß wie in Polen, was vermutlich auch mit der zu diesem Zeitpunkt rapide fortschreitenden Säkularisierung zu tun hat (siehe auch hier). Selbst die DDR versuchte sich an der Vereinnahmung des Papstes, indem sie dessen antikoloniale Aussagen für sich zu interpretieren versuchte. Wie auch in Polen wurden in der DDR in den 1980er Jahren die Kirchen relevanter, weil sich unter ihrem Dach der Protest der Jugend artikulieren konnte; wie die Zeit nach 1990 allerdings zeigte, war das aber kein Ausdruck von Religiosität.

Wesentlich säkularer geht es in Kapitel 3, „Die Revolution in Nicaragua„, zu. Die Diktatur Nicaragua wies gewisse Ähnlichkeiten zum Iran auf: Auch hier gab es einen Diktator, von den USA unterstützt, der mit Gewalt, Folter und Tod regierte. Wenig überraschend war die Opposition nicht sonderlich US-freundlich. Die Revolution durch die Sandinisten genoss dann wegen des offensichtlichen Charakter des alten Regimes große internationale Solidarität, die auch lagerübergreifend war; die Politik dagegen war ebenso lagerübergreifend eher distanziert – auch hier drängen sich die Parallelen zum Iran auf, da die BRD wie bei Iran vor allem an Wirtschaftskontakten interessiert war. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung schwenkte sie dann aber auf Entwicklungshilfen um; die USA dagegen änderten ihre feindselige Haltung nie.

Im Westen bildeten sich zahlreiche Solidaritätsgruppen mit Nicaragua, die ungemeine Mengen privater Entwicklungshilfen aufbrachten, die schnell mit großen staatlichen Hilfen gepaart wurden. Die Masse dieser Sympathie kam natürlich aus der politischen Linken, aber auch junge Christen engagierten sich für Nicaragua; ich gehe davon aus, dass es hier eine Schnittstelle mit der Befreiungstheologie gibt. Auch der Osten unterstützte Nicaragua massiv, vor allem die DDR und Kuba, obwohl deren Budgets das eigentlich nicht hergaben – der Prestigegewinn stand über allem.

Nicaragua wurde dabei von allen Seiten romantisiert, was dabei half, zahlreiche Freiwillige zu rekrutieren, die als Entwicklungshelfer für einige Wochen oder Monate nach Nicaragua gingen, um dort mitzuarbeiten. Dabei zeigten sich allerdings schnell Konflikte mit der örtlichen Bevölkerung. Die westlichen Linken kamen mit der machoistischen und religiösen Kultur Mittelamerikas nicht zurecht, während die jungen Christen starke theologische Differenzen ausmachen mussten.

Die Sandinisten wurden zudem zunehmend autoritärer, so dass die Unterstützung abzunehmen begann. Das Intereresse an dem Land blieb aber überparteilich, schon allein, weil die CDU Nicaragua dazu nutzen konnte, um die Linken mit dem Menschenrechtsknüppel zu schlagen, den diese im Iran und an anderen Orten gegen von den USA unterstützte Diktatoren benutzt hatten. Hier endlich war eine aufstrebende Linksdiktatur, die Menschenrechte verletzte – und die Linken schwiegen.

Auffällig war, dass besonders die junge Partei der Grünen in Nicaragua sehr engagiert blieb. Sie betrieb in den 1980er Jahren vielfach eine „kommunale Nebenaußenpolitik“, indem sie Partnerschaften mit Nicarauga schloss, wo ihr dies wie nach den Wahlerfolgen in Hessen durch die Teilhabe an der kommunalen Macht möglich wurde. Dadurch gewannen viele grüne Politiker*innen erste außenpolitische Erfahrung, die sie später gewinnbringend würden einsetzen können.

Nicaragua führte auch zu einer weiteren und schweren Desavouierung der USA, die im Ausmaß ähnlich wie Vietnam war, weil die USA die Gewalt der Contra-Rebellen stützten, die offenkundig noch schlimmer als die Sandinisten waren. Diese Unterstützung trug maßgeblich dazu bei, dass Nicaragua in eine Spirale der Bürgerkriegsgewalt rutschte, aus der sie erst die politische Niederlage der Sandinisten 1990, nach der sich das Land dem „Washington Consensus“ anschloss (zur Enttäuschung aller Aktivist*innen), befreien konnte. Auch die Hoffnungen der jungen Christen wurden enttäuscht, als zunehmend ein reaktionärer Katholizismus gegenüber den reformorientierten Graswurzelbewegungen die Macht übernahm.

In eine ganz andere Richtung geht Kapitel 4, „Chinas Öffnung unter Deng Xiaoping„. Die Öffnung selbst begann zwar bereits 1978; Bösch rechtfertigt die Aufnahme neben der offensichtlichen Bedeutung aber, indem er als Anlass Dengs Besuch in den USA im Januar 1979 nimmt. Das Kapitel selbst öffnet mit einem Rückblick auf Maos katastrophale Wirtschaftspolitik und Abschottung. Diese hatten neben den offensichtlichen Effekten auf China auch die Wirkung, dass der Westen praktisch keinen Einblick in das Land hatte. Die wenigen Expert*innen, die sich mit dem Land beschäftigten, waren oft darauf zurückgeworfen, Textexzegese aus Zeitungsschnippseln zu betreiben und auf diese Art den Kurs der KPCh herauszufinden.

Die Haltung des Westens gegenüber China hatte sich bereits in den 1970er Jahren geändert, weil der Wandel der Beziehung zu Moskau durch Pekings 180-Grad-Wende die Nutzung von China als Hebel gegen die UdSSR erlaubte. Auf diese Art wurde die Volksrepublik vom Feind plötzlich zum Verbündeten der USA und damit der Konservativen. Doch auch die Linken entdeckten ab 1968 eine Liebe zu dem Land, weil die Ernüchterung über den Charakter des Sowjetkommunismus, die spätestens mit dem Prager Frühling weite Teile der europäischen Linken erfasst hatte, zu einem Umschwenken vom Leninismus auf den scheinbar „reineren“ und „unverfälschteren“ Maoismus ermöglichte. Umgekehrt lief es entsprechend für das sozialistische Deutschland, dessen Beziehungen zu Peking sich drastisch verschlechterten.

Dengs Antrittsbesuch in den USA war nur der erste in einer ganzen Reihe von Auslandsreisen sowohl Dengs als auch anderer Funktionäre. Sie entledigten sich praktisch des kompletten normalen Protokolls solcher Staatsbesuche und legten den Fokus auf die Besichtigung von Fabriken statt Monumenten und symbolisch relevanten Orten. Die Chinesen inszenierten sich als lernwillig und untergeordnet, was der Westen liebte – und den Gästen so bereitwillig Zugang verschaffte, in der Hoffnung, Zugang zu dem potenziell riesigen chinesischen Markt zu bekommen, den man als Konkurrent nie ernst nahm.

China indes legte ein Modernisierungsprogramm auf, in dem die Sonderwirtschaftszonen das Kernstück bildeten. Die Hoffnungen der deutschen Wirtschaft blieben aber vorerst unerfüllt; die Investitionen und Absätze blieben sehr begrenzt. Ein Avantgardist war VW, die in der Standardform der Joint Venture unter chinesischer Führung eine frühe Vorreiterrolle bei der Motorisierung des Landes einnahmen. Auch die DDR näherte sich wieder an das Regime an, da Deng doch keine Liberalisierung zu planen schien, die den Kommunisten gefährlich werden könnte. Das zeigte sich dann an Tiananmen, der die Beziehungen zum Westen (und dem Großteil des Ostblocks) kurzzeitig eintrübte und der nur in Ostberlin glühende Anfänger fand. Die deutsche Einheit war kein Ereignis, das China sonderlich gefiel; die Beziehungen zwischen Peking und dem wiedervereinigten Land waren fast ein Jahrzehnt eher frostig, schon allein, weil Deng und seine Nachfolger die Sowjetunion und ihren Sturz als völlig bescheuert betrachteten. Die Beziehungen erholten sich allerdings wieder und sorgten für einen Exportboom des deutschen Chinageschäfts, mit den Folgen, die uns bis heute prägen.

Kapitel 5, „Die Boat People aus Vietnam„, beschäftigt sich zwar auch mit dem Fernen Osten, allerdings aus einer ganz anderen Perspektive. Die 1978 massive Ausmaße annehmende Flucht aus Vietnam fand im Westen breite Anteilnahme. Wie 2015 geriet eine länger schwelende Flüchtlingskrise plötzlich in den Fokus der westlichen Öffentlichkeit, und eine positive Stimmung gegenüber den Geflüchteten griff um sich. Diese erreichte 1979 einen ersten Höhepunkt, als das privat betriebene Rettungsschiff „Cap Anamur“ Geflüchtete rettete und nach Deutschland ausflog, das ansonsten kein natürlicher Fluchtpunkt gewesen wäre.

Anders als 2015ff. waren es aber die CDU/CSU, massiv Druck zur Aufnahme von Geflüchteten machten, während die Linke die Aufnahme eher ablehnte. Der Grund dafür lag in der parteipolitischen Instrumentalisierung: die Boat People flüchteten aus einem kommunistischen Staat, so dass man die Menschenrechte und das eigene christliche Werteverständnis gegen die Linken in Stellung bringen konnte, die ihrerseits aus ebenso parteilicher Prägung ein Problem mit Geflüchteten aus kommunistischen Staaten hatten. Wie bereits in Nicaragua bildetete sich das gesamtgesellschaftlich aber nicht ab; die Unterstützung war hier übergreifend. Unterstützt wurde diese „refugees welcome“-Stimmung von sich aktivistisch gerierender Presse, die – angetrieben durch die gute Pressearbeit des „Cap Anamur“-Teams – den Boden bereitete.

Es wird wohl niemand überraschen, dass die deutsche Bürokratie und der Föderalismus Rettungen stark erschwerten. Deswegen schafften die Bundesländer damals die Kontigentstruktur (und den so genannten „Kontingentflüchtling“) und modifizierten so das Asylrecht, das damit in seiner heutigen Form überhaupt erst geschaffen wurde und den Sprung von individuellen staatlich Verfolgten und Deutschen Geflüchteten aus der DDR zu einem weltweiten System machte. Die CDU/FDP unterstützten damals auch noch die „Cap Anamur“ und forderten eine gesamtdeutsche Lösung (im Sinne von: alle westlichen Bundesländer gemeinsam). Dies stieß der Schmidt-Regierung sauer auf, schon allein, weil die amateurhaften Rettungsaktionen für zahlreiche diplomatische Verwicklungen in der Region sorgten. Zu Beginn der 1980er Jahre war auch ein deutlicher Wechsel der Stimmung bemerkbar, und es mehrten sich Vorwürfe, die „Cap Anamur“ schaffe überhaupt erst die Geflüchteten, weil es quasi sichere Rettung auf dem Pazifik böte, ein Argument, das angesichts der Weite des Ozeans und eines einzelnen Schiffs reichlich absurd ist.

Die CDU-geführten Bundesländer, allen voran Niedersachsen unter der Regierung Albrecht, unterliefen lange die Regierungsablehnung und erhöhten auf eigene Kosten die Kontingente und halfen bei der Finanzierung der „Cap Anamur“. Auf diese Art konnten sie eine hochgradig sichtbare „Nebenaußenpolitik“ betreiben (wie die Grünen im Fall Nicaragua) und sich profilieren. 1982 endeten die Rettungen dann, einerseits wegen den dauferhaften diplomatischen Verwicklungen, andererseits aber auch wegen der geänderten öffentlichen Stimmung und sicherlich nicht zuletzt wegen dem Regierungswechsel, der die Union in Regierungsverantwortung brachte.

Deutlich kriegerischer geht es in Kapitel 6, „Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan„, zu. Das Land hatte lange eine Pendelpolitik zwischen dem Westen und der UdSSR betrieben und sich nicht auf eine Seite festgelegt. Der Widerstand im Land gegen die brutale Herrschaft des Diktators Amin aber weckte in der UdSSR Befürchtungen vor Aufständen in den demografisch aufstrebenden, islamisch geprägten Südrepubliken der Sowjetunion. Im Westen andererseits betrachtete man das sowjetische Interesse mit Sorge, da die Ölkrise die Befürchtung einer sowjetischen „Umarmung“ des Mittleren Ostens aufkommen ließ („Roter Ring ums Öl“). Beide Befürchtungen waren völlig überzogen, erklären aber die gewaltige Bedeutung, die beide Supermächte dem Konflikt in einem der ärmsten Länder der Erde beimaßen.

Der offizielle Grund für den sowjetischen Einmarsch war das Beenden der Gewalt von Amin, was zuerst durchaus auch positiv wahrgenommen wurde. Es gelang eine schnelle Übernahme der Regierung. Zu diesem Zeitpunkt standen 80.000 Rotarmisten im Land; das wäre der Moment des Abzugs gewesen. Stattdessen enagierte sich die UdSSR, trotz starker Konflikte zu dem Thema im Politbüro, stärker in Afghanistan und versuchte, das neue Regime zu stabilisieren. Diese Missachtung der Souveränität führte zu einer zunehmenden internationalen Isolation (besonders markant am Boykott der Olympischen Spiele 1980 zu sehen), aber auch zu Spannungen im Ostblock selbst, weil kein Land bereit war, die Politik der UdSSR mitzutragen.

Der Westen framte den Einmarsch als Angriff auf die Blockfreien und gegen den Islam. Dieses Narrativ war eine Art Doppelschlag, um nicht die Beziehungen zum Ostblock (Entspannungspolitik!) zu gefährden und geichzeitig die Blockfreien gegen UdSSR aufzubringen. In diesen Tagen begann auch der Aufstieg des Narrativs der „Befreiungskämpfer“ über die Mudjaheddin. Diese erhielten ihre Unterstützung aber von Pakistan, das seinerseits einen deutlichen Influx von Militärhilfen aus dem Westen erhielt, damit keine direkte Verwicklung nachweisbar war. Ab 1984 leisteten die USA allerdings auch offene Hilfe für die Mudjaheddin und lieferten moderne Waffen und Wissen anstatt nur ausrangiertes sowjetisches Gerät über Pakistan zu liefern.

Auch im Fall Afghanistans positionierte sich die CDU für die Geflüchteten aus dem Konflikt und die von ihr geführten Bundesländer leisteten umfangreiche Hilfen, um so den eigenen Antikommunismus zu verknüpfen. Die Schmidtregierung trug die Unterstützungspolitik der USA überhaupt nicht mit, weil man die Beziehungen zum Osten – die Früchte der Ostpolitik – nicht gefährden wollte.

Die UdSSR unterdrückte nachhaltig sämtliche Informationen über den Krieg und verschwieg den Einsatz der Soldaten, deren Tod nicht einmal in Todesanzeigen veröffentlicht werden durfte. Der Krieg wurde verschwiegen und hatte einen unangenehmen, falschen Ruch im Land; im Ostblock sowieso. Nach dem unrühmlichen Rückzug 1988 waren die Veteranen dann entsprechend isoliert. In der heutigen Geschichtsklitterung verherrlicht Putin den Krieg als Antiterroreinsatz, während der Westen bequem und gerne seine Begeisterung für die Mudjaheddin vergessen hat, die 1995 den Taliban Platz machten, die dann ihrerseits die Technik und Kenntnisse 2001 zum Einsatz brachten.

Kapitel 7, „Thatchers Wahl und die Gründung der Grünen„, fasst zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Themen zusammen. Wie sich aber im Verlauf des Kapitels zeigt, macht dies durchaus Sinn. Bösch kümmert sich zuerst um Thatcher. Ihr Amt als Parteichefin erreichte sie ähnlich wie Angela Merkel durch eine Krise der alten Führungsschicht und das mit ihr einhergehende Machtvakuum. Sie nutzte eine betont weibliche Erscheinung, um Problemlösungskompetenz und emotionale Kompetenz zu vermitteln und kombinierte dies mit „männlicher“ Härte und Entschlusskraft. Letztlich war ihr Image das einer zupackenden Hausfrau, die jetzt den Saustall aufräumt. Zu dieser Inszenierung gehörte auch die als Aufsteigerin aus armen Verhältnissen, die aber wenig Verankerung in der Realutät hatte. In Wahrheit entstammte Thatcher dem oberen Bürgertum und war zudem mit einem Millionär verheiratet. Sie interessierte sich nicht für Gleichberechtigungsthemen und ist daher keine Feministin; den Begriff lehnte sie auch entschieden ab.

Der historische Moment ihrer Machtübernahme fiel in den Krisensituation 1978/79, den „Winter of Discontent„. Die große Macht der Gewerkschaften, die diese in rücksichtslosen Streiks ausspielten, hatten in den vergangenen beiden Jahren für einen wachsenden gesamtgesellschaftlichen Hass auf die Gewerkschaften gesorgt, die das normale Leben zum Erliegen brachte. Als Thatcher sich ihnen entgegenstellte hatte sie nicht nur ihren Wahlkampfschlager, sondern auch den Hebel zu einer Umgestaltung der britischen Gesellschaft, wie sie erstrebte.

Ihr Konzept der Liberalisierung und Deregulierung scheiterte allerdings recht schnell und blieb sehr inkonzise. Zwar wurden zahlreiche Staatsunternehmen privatisiert; die Sozialausgaben stiegen aber rasant an, so dass von einem geringerern Staatshaushalt keine Rede sein konnte. Ohne die Falklandkrise und die kulminierte Auseinandersetzung mit den Bergbaugewerkschaften bei den Streiks 1983 hätte sie die Wiederwahl wohl nicht geschafft.

Man sollte allerdings nicht annehmen, dass ihre Regierungszeit folgenlos geblieben sei. Die Ungleichheit im Vereinigten Königreich stieg drastisch, ohne dass Staatssektor wesentlich kleiner geworden wäre (ein Muster, das sich unter Reagan in den USA wiederholen sollte). Die Ideologie des Monetarismus sorgte für eine scharfe Wirtschaftskrise (die maßgeblich zu Thatchers schwieriger politischer Situation Anfang der 1980er Jahre beitrug), dann aber in den 1980er Jahren selbst für eine Erholung der Wirtschaft und eine Begrenzung der Inflation, das große Schreckgespenst der 1970er Jahre. Die größere Ungleichheit aber blieb erhalten und machte Großbritannien zu einem Spezialfall innerhalb Europas.

In Deutschland galt Thatcher als Vorbild, ironischerweise auch auch bei einigen Linken. Helmut Schmidt glaubte, sich in ihr wiederzuzerkennen, und Franz Josef Strauß bezeichnete sich im Wahlkampf 1980 als „deutscher Thatcher“. Auch Kohl und seine Weggefährten modellierten sich bewusst als ihre Erben (ähnlich wie Gerhard Schröder 1998 den Schulterschluss zu Tony Blair suchen würde). In dem Zusammenhang geht Bösch auch auf das Wort der „geistig-moralischen Wende“ ein, das er als rein linke Rhetorik sieht; die CDU selbst verwendete den Begriff nicht. Es handelt sich also, ähnlich wie bei „neoliberal“, eher um einen politischen Kampfbegriff als ein real existierendes Programm. Ähnlich wie in Großbritannien wurde auch in Deutschland kein grundsätzlicher Kurswechsel eingeleitet, sondern eher umverteilt und die Ungleichheit vertieft, wenngleich bei weitem nicht in dem Ausmaß wie im Vereinigten Königreich. Die schwarz-gelbe Regierung setzte allenfalls einen Thatcherismus-light um, und der war schon bestenfalls Friedman-light.

Die Gründung der Grünen indessen sieht Bösch als liberales Spiegelbild dieser eher auf die Wirtschaft fokussierten liberalen Entwicklung. Natürlich setzten sie auf völlig andere Konzepte als die Wirtschaftsliberalen, aber genauso wie bei Thatcher und Co kamen die Grünen aus dem Bürgertum. Sie hatten ihre Ursprünge beim klassischen großstädtischen FDP-Milieu, das bereits in den 1970er Jahren seinen linksliberalen Flügel in dem Maße an die neue Bewegung zu verlieren begann, in dem die Partei in Richtung des Lambsdorff-Flügels wanderte. Die Betonung von Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Staatsskepsis bei den Grünen genauso wie ihr Glaube an Maßnahmen, die von Einzelnen getroffen wurden, machen sie quasi zum Spiegelbild der Neoliberalen.

In Kapitel 8, „Die zweite Ölkrise„, geht es dann endlich zu dem Ereignis, das die anderen Kapitel immer wieder berührte: die zweite Ölkrise. Bösch beginnt sinnigerweise mit einem Rückblick auf die Ölkrise 1973. Diese kam nicht aus dem Nichts; die Ölpreise waren bereits seit den 1960ern im Anstieg, was ein ganzes Bündel von Ursachen hatte und für das auf das billige Öl angewiesene Wirtschafts- und Wachstumssystem des Westens ein Anzeichen für Probleme wenigstens hätte sein sollen. Der eigentliche Ölboykott im Rahmen des Jom-Kippur-kriegs diente den westlichen Regierungen dann als praktischer Sündenbock, um eigene Versäumnisse zu übertünchen (ein Schelm, wer da Parallelen zur heutigen Situation erkennen möchte).

Der Boykott aber war globapolitisch bedeutsam, weil der Paukenschlag des Entstehens eines neuen Machtblocks in der OPEC, die scheinbar die Macht zur Abwürgung des Westens hatte, die ohnehin durch die Entspannungspolitik laufende Annäherung von Ost und West stark begünstigte. Der Westen kaufte in hohem Maße Rohstoffe aus dem Osten und lieferte im Gegenzug vor allem Pipelines. Daran knüpften sich (wie wir heute wissen: völlig überzogene) Hoffnungen auf „Wandel durch Handel“. Beide hatten wenig Interesse an einem neuen Machtblock (der dann auch nicht kommen sollte, aber das war in der hitzigen Atmosphäre 1973 noch nicht absehbar). Die Ölpreise stiegen 1973 auch gar nicht so stark und die Krise war daher weniger einschneidend als die von 1979, blieb aber wegen der ergriffenen symbolischen Maßnahmen wie autofreien Sonntage (die sich 1979 nicht wiederholen würden) einprägsamer.

Die Krise von 1979 befeuerte allerdings einen bereits begonnen Trend zum Energiesparen. Während manche der verordneten Maßnahmen nur symbolisch zu sehen waren, sollte man ihren Wert trotzdem nicht unterschätzen, da sie der Schaffung von Aufmerksamkeit für das Thema dienten. Die bundesdeutsche Regierung versuchte vor allem, die Wirtschaft und die Bevölkerung zu effizienteren Geräten zu bringen um direkte Interventionen zu vermeiden, weswegen die BRD auch – anders als praktisch alle anderen europäischen Länder – kein Tempolimit einführte, ein Sonderweg, den wir bis heute trotz seiner klaren Energiesparpotenziale aufrecht erhalten.

Für den Energiemix war die Ölkrise ebenfalls bedeutsam. Die Bundesrepublik schwenkte von Öl auf Kohle und Gas um (letzteres hauptsächlich aus der Sowjetunion, mit den bekannten Konsequenzen). Es erfolgten zwar rhetorische Bekenntnisse zum Ausbau der Erneuerbaren Energien, anders als etwa Dänemark aber unternahm man keine Schritte in diese Richtung, sondern schätzte, dass dies um 2000 herum von allein geschehen würde.

Die Sowjetunion profitierte durch die gestiegenen Rohstoffpreise und die Entspannung von der Ölkrise, was aber auch im Ostblock zu steigenden Preisen führte. Die DDR schwenkte deswegen auf den umweltverpestenden Abbau von Braunkohle um, von dem wir uns bis heute nicht entfernt haben. Die Konsolidierung eines neuen OPEC-Machtblocks blieb letztendlich aus; die viel beschworene Einigkeit der arabischen Staaten war eine Schimäre. Vor allem Saudi-Arabien brach in den frühen 1980er Jahren aus und senkte die Preise durch Erhöhung der Fördermengen, während es sich außenpolitisch an die USA anschmiegte.

Bösch sieht die Ölkrise zudem als Grund für die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre deutlich unterschätzt. Die steigenden Preise würgten die Wirtschaft ab und heizten die Inflation an, ein nicht unerheblicher Grund für die Stagflation. Umgekehrt sorgten die fallenden Preise in den frühen 1980er Jahren für einen erneuten Wirtschaftsaufschwung, der auch das Scheitern der Privatisierungsprogramme übertünchte und wesentlich zur Erholung der Wirtschaft beitrug.

Der Energiemix spielt auch in Kapitel 9, „Der AKW-Unfall bei Harrisburg„, eine tragende Rolle. Genauso wie gegen Atombomben hatte es stets Widerstand gegen die Atomenergie gegeben (weswegen die Branche auch den Begriff „Kernenergie“ zu etablieren versuchte), aber den Unfall von Harrisburg sieht Bösch als Wegmarke. Bereits in den 1960er Jahren und besonders dann ab den 1970er Jahren mehrten sich die Proteste gegen die Atomenergie.

Bösch zeigt dabei auf, dass es bereits vor Harrisburg zahlreiche Störfälle, auch in BRD, gegeben hatte, die immer wieder für Teilabschaltungen der Kraftwerke und aufwändige Reparaturen sorgten, was die Energieform sehr viel weniger effizient als ihr viel beschworenes Potenzial machte. Auch die ebenso viel beschworene Unabhängigkeit, die gerade im Zuge der Ölkrise in den Fokus rückte, war angesichts der Abhängigkeit von Uranimporten (das vor allem aus den USA bezogen wurde) wenig tragfähig. Die Bundesrepublik schwenkte ab 1973 auf Importe aus Namibia und der UdSSR um, weil diese als sicherere Quelle schienen als die USA (mit denen man politisch immer wieder über Kreuz lag). Auch hier sind die Parallelen zur Ölkrise offenkundig. Für die BRD war die Kernkraft allerdings in anderer Hinsicht wirtschaftlich bedeutend, nämlich als Exportmarkt: das Know-How zum Bau und Unterhalt von Reaktoren wurde in die ganze Welt verkauft, was maßgeblich zu den Spannungen mit den USA beiträgt, wo etwa Iran betroffen ist.

Bösch arbeitet auch die internationale Vernetzung der Kernkraftgegner heraus. Dies war ein Novum der Protestbewegung, aus dem sie große Kraft schöpfte: die Globalisierung sorgte dafür, dass man sich als eine Gemeinschaft fühlte, und ein Störfall in einem AKW in einem anderen Land wirkte plötzlich als Bedrohung im eigenen und als Bestätigung des eigenen Gefühls der Unsicherheit, das dadurch stetige Nahrung erhielt – und natürlich durch die schiere Zahl an Störfällen, die zunehmend das Vertrauen in die Expert*innen erschütterte; auch eine Dynamik, die wir heute gut kennen.

Zwar wurde das Vertrauen im Westen durch Reformen und verbesserte Sicherheitsmaßnahmen im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre teilweise wiederhergestellt; die Bevölkerung blieb aber überwiegend skeptisch, weswegen es ab 1970 auch mehr zu einem weiteren Ausbau der Atomkraft kam. Auffällig ist die Dynamik, dass die zahlreichen Störfäll im Westen gut aufgearbeitet wurden und daher zu mehr Protest und sinkender Unterstützung für die Energieform, aber zu wesentlich besserer Sicherheitführten), während sie im Osten vertuscht wurden, was genau den gegenteiligen Effekt hatte. In zahlreichen Ländern wurden in den 1970er Jahren Moratorien auf die Kernkraft ausgegeben; vielerorts (etwa in Dänemark, Italien, Schweden, USA) entstanden praktisch keine neuen Kraftwerke, allenfalls wurden alte Baustellen fertiggestellt.

All diese Dynamiken wurden durch den Unfall von Harrisburg wie durch ein Brennglas verschärft. Die Medien sprangen mit Begeisterung auf den Zug auf; besonders der Spiegel titelte mit kernkraftkritischen Covern und trug maßgeblich zu der Anti-Atomkraft-Haltung der Bevölkerung bei. Ein Großteil der westeuropäischen Länder und der USA kam zu dem Schluss, dass Atomenergie zu teuer und störanfällig war; in den Ausnahmefällen Großbritannien und Frankreich wurde sie vor allem als nationales Prestigeobjekt weiter betrieben.

Den Abschluss der Ereignisse macht in Kapitel 10, „Die Fernsehserie „Holocaust“„, das Thema Vergangenheitsbewältigung. Die Fernsehserie war ein globales Fernsehereignis, das weltweit 250 Millionen Zuschauer*innen vor die Bildschirme lockte. Vor der Ausstrahlung war der Holocaust im öffentlichen Gedächtnis nicht besonders stark verankert gewesen. Die deutsche Regierung fürchtete einen großen Imageschaden und wollte sie eigentlich gar nicht ausstrahlen; besonders die CDU-geführte Länder blockierten den Ankauf der Rechte und die Ausstrahlung, weswegen die Serie schließlich im dritten Programm gesendet wurde. Das war durchaus mehrheitsfähig; die deutschen Medien und die Politik machten die Serie unisono schlecht, bevor sie ausgestrahlt wurde (und bevor irgendjemand sie gesehen haben konnte), indem sie – mit einer gehörigen Portion Antiamerikanismus – ihre Trivialität und den amerikanisierten Unterhaltungscharakter betonten. In Auseinandersetzungen mit der NS-Vergangenheit bislang lag die Betonung auf dem deutschen Widerstand; die 1970er Jahre sahen zudem einen Fokus auf die Nazi-Haupttäter, paradigmatisch in Fests Hitlerbiografie.

„Holocaust“ war dagegen als Familiendrama mit zwei Seiten (eine jüdische Familie und eine deutsche Familie mit SS-Mann) konzipiert, um für eine möglichst breite Schicht ansprechend zu sein. Sie war zudem erstaunlich nah an den geschichtswissenschaftlichen Trends, indem sie (anders als die deutschen Produktionen) die Idee der „Radikalisierung von unten“, also des Holocausts als Eskalation der Bürokratie, zum ersten Mal breitflächig rezipierte. Zwar war die Serie ein Melodrama, aber historisch erstaunlich korrekt (jedenfalsl für den damaligen Stand der Wissenschaft). Die deutsche Geschichtswissenschaft hinkte dem ziemlich hinterher, weil sie sich mit dem Holocaust kaum beschäftigt hatte.

Die CDU bestand dann auf der Position, die Serie nur auszustrahlen, wenn gleichzeitig auch das Leid der Deutschen gezeigt werde, weswegen rasch einige Dokus produziert wurden, die auch „anspruchsvoll“ sein sollten (anders als, so behauptete man, „Holocaust“). Dahinter stand die Furcht, dass der die Serie ankaufende WDR („Rotfunk“) eine linke Agenda verfolge, der man sich präventiv entgegenstellen müsse (Kohls Interesse an einer geschichtspolitischen Wende wird hier wieder deutlich). Vorsorglich wurde die Serie so geschnitten, dass die Deutschen weniger schuldig erschienen; das hoffnungsvolle Ende mit der Auswanderung nach Palästina wurde gleich ganz gekürzt. Zudem wurde die Serie auf schlechte Sendeplätze (21 Uhr) gedrängt. Es war das Dauerthema der Kritik, dass „Holocaust“ zu seicht und trivial sei, während deutsche Werke dagegen ernstzunehmend und qualitativ wertvoll seien.

Trotz all dieser Hürden war die Serie ein Riesenerfolg (ein Viertel aller Deutschen sah sie komplett, deutlich über die Hälfte wenigstens eine Folge) und brachte einen Boom der Beschäftigung mit dem Thema, gerade auch in die Schulen (wo sie bisher praktisch nicht stattfand). Anders als behauptet war die Qualität der Serie nicht das Problem; vielmehr konnten die deutschen Konkurrenzproduktionen (die wie gefordert dann vor allem die Vertreibung aus den Ostgebieten thematisierten und die Rettung von Juden durch Deutsche zeigten) kaum überzeugen. Ironischerweise übernahmen in der Folgezeit deutsche Produktionen das emotionalisierende Schema der Serie, bauten dieses aber so um, dass Holocaust ausgespart wurde und ständig bildungsbürgerliche Mischehen im Zentren standen. Auch der in der Serie thematisierte jüdische Widerstand wurde konsequent ausgespart. Generell verweigerte sich die Bundesrepublik unter Kohls Kanzlerschaft konsequent einem zentralen Gedenken (weswegen das Holocaust-Mahnmal in Berlin auch erst 2006 fertig wurde und in Bonn nie eines entstand).

Für den Umgang mit dem Holocaust kann die Serie, die den Begriff selbst überhaupt erst salonfähig machte (zum Leidwesen derer, die den Begriff der Shoa zu etablieren versuchen), kaum überschätzt werden. Außerhalb Deutschlands fällt vor allem die Amerikanisierung des Holocaust auf. Anders als befürchtet führte die Ausstrahlung nicht zu einem Imageschaden Deutschlands; vielmehr bezogen die Amerikaner*innen das Geschehen auf sich, und 75% der Befragten gaben an zu glauben, dass dies auch im eigenen Land möglich sei. Die USA bauten noch lange vor Deutschland Holocaust-Mahnmähler und richteten zentrale, große Museen für den Genozid ein.

All das ging an DDR vorbei, wo keine Debatte über den Holocaust stattfand. Stattdessen erklärte das SED-Regime, dass man in vorbildlicher antifaschistischer Haltung das Problem des Rassimus überwunden habe und fuhr damit fort vor allem der kommunistischen Opfer der NS-Terrorherrschaft zu gedenken. Der bis heute auch wesentlich schlechtere Kenntnisstand über die NS-Verbrechen in Ostdeutschland ist auch ein Erbe dieser Verweigerung der SED, sich mit der deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen.

In einem Epilog bindet Bösch dann alles noch einmal zusammen und betont vor allem die globalen Verflechtungen der verschiedenen Themen. Die 1970er Jahre warfen bereits deutliche Schatten auf die kommende Globalisierung und zeitigten den Zeitgenossen ein erstes Wetterleuchten einer global vernetzten Gesellschaft, wenngleich vorläufig noch auf den Westen begrenzt.

Insgesamt fand ich die Lektüre des Buch überaus bereichernd. Ich war anfangs skeptisch über die Struktur, die globale Phänome so explizit auf den deutschen Kontext bezog, aber die Konsequenz und bewusste Setzung stellte sich für mich schnell als ungeheurer Gewinn heraus, weil sie anders als „unabsichtlich“ deutschzentrierte Darstellungen stets die internationale Dynamik mitdenkt. Die Auswahl der Ereignisse ist natürlich, genauso wie das Jahr, etwas reißerisch und arbiträr, taugt aber als Gedankenstütze völlig und sollte nicht zu wörtlich genommen werden.

Ein Faktor, der mir neu war und mich besonders fasziniert, ist die 180-Grad-Wende bei der Positionierung in vielen Themen seitens der CDU und SPD (etwa in der Flüchtlingspolitik), die durch die spezifische Situation des Kalten Krieges erklärbar ist (und natürlich das Spiel von Opposition und Regierung). Der christliche Flügel der CDU war aber seinerzeit noch wesentlich stärker als heute, und der Menschenrechtsdiskurs der Zeit hatte in der Partei zwar spezifisch konservative, aber deutlich wahrnehmbare Spuren hinterlassen.

Ebenfalls erleuchtend fand ich, wie international viele der Ereignisse, etwa die Atomkraftgegnerschaft, rezipiert wurden. Darin findet sich sicherlich ein wesentlicher Bruch gegenüber der Zeit zuvor; die Globalisierung war, anders als die Ende des 19. Jahrhunderts, wesentlich breiter und erfasste viel mehr Bevölkerungsschichten.

Auffällig ist für mich auch die wahnsinnig schlechte Holocaustbildung in den 1970er Jahren. Der Geschichtsunterricht endete damals üblicherweise mit der Machtübernahme des Nationalsozialismus, und die breite Öffentlichkeit beschäftigte sich kaum mit der Thematik, die man weitgehend zu verdrängen versuchte. Der für unsere heutige Gesellschaft so konstitutive Umgang mit dem NS-Genozid fand seinen Ursprung in jener Ära. Vielleicht wäre er auch ohne die Serie gekommen, aber sicherlich nicht mit solcher Wucht. Die Versuche einer neuen geschichtlichen Identität, die Kohl stärker als jeder andere Kanzler betrieb, hätten wohl ohne die Sensibilisierung durch die Serie auch nicht so viel Widerstand hervorgerufen. Bösch sieht – und ich stimme ihm zu – die Proteste angesichts von Kohls Bitburg-Besuch als direkte Folge der Ausstrahlung.

Zuletzt finde ich die Rolle des Medienaktivismus auffällig. Ob „Cap Anamur“ oder Kernkraft, die Medien waren in den 1970er Jahren wesentlich daran beteiligt, die kritischen Öffentlichkeiten mitzugestalten. Die oft behauptete Vorstellung, dass wir es heute mit besonders aktivistischen Medien zu tun hätten, während früher mehr Neutralität geherrscht habe, kann also einmal mehr in den Bereich des Wunschdenkens verwiesen werden (eine Entwicklung, die ich bereits in meiner wissenschaftlichen Arbeit 2010 für den Wahlkampf 1972 nachgewiesen habe).

Damit bleibt mir eigentlich nur, eine unbedingte Empfehlung für das Buch auszusprechen.

Wolfgang Will – Alexander der Große. Geschichte und Legende

Es ist wohl keine Übertreibung festzustellen, dass Alexander der Große eine der mythenumranktesten Personen der Weltgeschichte ist. Bereits im antiken Rom erfüllte er eine narrative Rolle, die durchaus mit Marvel-Superhelden vergleichbar ist, war Vorbild und Gegenstand historischer Diskussionen. Merkreime wie „333 – Bei Issos große Keilerei“ bestimmten Jahrzehnte den Geschichtsunterricht, in dem weitgehend unkritisch gelernt wurde, dass Alexander den Gordischen Knoten durchschlug und im Suff einen seiner besten Freunde erschlug. Dabei ist erstaunlich, wie wenig tatsächlich über den König bekannt ist – während die Frage, ob er das Attribut „der Große“ überhaupt verdient, eine Standardfrage im modernen Geschichtsunterricht darstellt (während die breite Öffentlichkeit ihr Interesse an ihm wie an der Antike generell weitgehend verloren hat). Wolfgang Will hat es sich in diesem schmalen Band zur Aufgabe gemacht, die bekanntesten Mythen auf ihren Wahrheitsgehalt zu untersuchen. 

In Kapitel 1, „Die Überlieferung – ein literarischer Kampf um Alexander„, legt Will die Grundlagen, indem er die Primärquellen untersucht (die uns freilich allenfalls fragmentarisch vorliegen). Dabei handelt es sich weitgehend um enge Weggefährten Alexanders (und seine Erben), was allerlei Probleme mit sich bringt. Eine unserer wichtigsten, Kallisthenes, schrieb als Chefpropagandist und fiel noch zu Alexanders Lebzeiten dem wechselnden politischen Klima zum Opfer und wurde exekutiert, während die anderen Generäle und Epigonen ihre Alexanderdarstellungen als Mittel der eigenen politischen Propaganda nutzten und in diesem Kontext gelesen werden müssen.

Kapitel 2, „Aufbruch nach Osten – Reise ohne Wiederkehr„, stellt den Aufbruch Alexanders nach Persien vor, damals noch mit dem Ziel, die ionischen Städte zu „befreien“, was nichts anderes bedeutete, als sie von einem Tributherren unter einen anderen zu stellen (weswegen die „Befreiungen“ auch mit monatelangen Belagerungen und Schlachten verbunden waren). Da die Perser das Meer beherrschten, war das Unternehmen von Anfang an logistisch schwierig, was propagandistisch überhöht wurde, indem die Überlieferungen Alexander als ersten der Armee in voller Rüstung das Land betreten ließen, um dem Unternehmen von Anfang an den Ruch einer gewagten Militäroperation zu geben.

In Kapitel 3, „Meer- und andere Wunder – Das schwierige erste Jahr„, spielen vor allem diese logistischen Schwierigkeiten eine zentrale Rolle, weswegen die Autoren auf zahlreiche „Wunder“ zurückgeifen. Alexanders militärische Erfolge gegen die schwache persische Präsenz in Kleinasien werden alle mit göttlicher Vorsehung und Eingreifen erklärt, seine aus der Not geborenen Lösungen – etwa der Feldzug im Winter, bei dem die Soldaten mangels Schiffen an einer Engstelle bis zur Hüfte im eiskalten Wasser wateten – als brillante Schachzüge verbrämt.

Die wohl berühmteste Episode spielt in Kapitel 4, „Der Gordische Knoten – Asien im Schwertstreich„, die Hauptrolle. Das auf griechischen Karten im Weltmittelpunkt gelegene Gordia war von großer symbolischer Bedeutung; der Knoten dort, dessen genaue Gestalt völlig unbekannt ist, sollte als Signal für die Eroberung Kleinasiens (!) dienen. Alexander ging ein propagandistisches Wagnis ein, indem er öffentlich das Rätsel zu lösen gedachte. Worin dieses bestand und wie er das genau tat, ist völlig unklar; die berühmteste Version, in der er den Knoten durschlägt, stammt von seinen Gegnern, die ihn als aggressiven imperialistischen Barbaren darstellen wollten.

Narrative Spielereien sind das Zentrum von Kapitel 5, „Issos und Gaugamela – Die Schlacht als Duell„. In beiden Schlachten erfinden die Autoren direkte Duelle zwischen Alexander und Dareios, die mit Sicherheit so nicht stattgefunden haben (aber auch die berühmteste Alexanderdarstellung, das Mosaik von Pompeii, dominieren). Auffällig ist, dass dieses Duell nicht nur einmal, sondern zweimal stattgefunden haben soll, noch dazu in praktisch derselben Form, bei Issos und bei Gaugamela. Schon ein einmaliges Treffen dieser Art ist mehr als unwahrscheinlich; seine Wiederholung ist reine narrative Fiktion. Dass die Schlacht bei Issos nicht 333, sondern 328 stattgefunden hat, fällt da kaum mehr ins Gewicht. Der Reim ist aber auch zu schön.

Noch unklarer sind die religiösen Aspekte, wie Kapitel 6, „Der Zug zum Ammonorakel – Weltherrscher und Gottessohn„, aufzeigt. In Ägypten – in das Alexander nach den Schlachten gegen Dareios abbog, was im Übrigen gegen einen Plan zur Welteroberung vor diesem Zeitpunkt spricht – besuchte er das Ammonorakel, in dem ihm irgendetwas prophezeit wurde. Was genau das war, ist ein weiteres Mal unklar; das Einzige, das halbwegs gesichert gesagt werden kann ist, dass Alexanders Größenwahn erst irgendwann nach dem Besuch dieses Orakels einsetzte. Will geht auch etwas stärker auf die Kompatibilität zum griechischen Kosmos ein: Ammon als höchster Gott der Ägypter und direkte Gottheit der Pharaonen war quasi automatisch für Alexander zuständig, der als nun neuer Pharaoh Ägyptens automatisch zum Sohn Ammons wurde. Da die Griechen vermutlich Ammon und Zeus gleichsetzten, wurde Alexander damit auch zum Zeussohn (was die Autoren durch diverse Wunder wie Sichtungen von Adlern, Schlangen und ähnlichem Getier untermauern). Alexander erhielt dadurch göttliche Züge.

Der in Kapitel 7, „Der Brand von Persepolis – Ein kalkulierter Affekt„, beschriebene Brand des persischen Königspalasts wird in den Quellen gerne als Affekthandlung Alexanders beschrieben, der persönlich mit der Fackel in der Hand den (hölzernen) Palast in der Residenzstadt niederbrennt. Seine eigene propagandistische Absicht ist etwas nebulös, aber Will ist sicher, dass es, unabhängig seiner Intention, ein Fehler war, der schnell zu einer Gegenreaktion der Perser führte, gegenüber denen sich Alexander bislang nicht als barbarischer Eroberer präsentiert und auf allzu offensichtliche Darstellungen seiner Überlegenheit verzichtet hatte. Die Idee, dass er quasi aus einer Laune heraus den Palast angesteckt habe, ist aber gar nicht so unwahrscheinlich. Alexander war vergleichsweise stark affektgetrieben, weswegen diese Tat ins Bild passen würde.

Ebenfalls ins Bild passt die in Kapitel 8, „Feinde und Narren – Die Legende vom königlichen Trinker„, beschriebene Trinksucht des Königs. Seine Feinde versuchten, diese propagandistisch auszuschlachten, und es ist auffällig, dass die Makedonen ihrerseits vor allem eine Überhöhung der Trinkerei – Alexander als wiedergeborener Dionysos – oder eine Relativierung (in Wirklichkeit hielt sich der König klug und maßvoll zurück und trank viel weniger als seine Umgebung) versuchten. Tatsächlich scheint Alexander Unmengen an Alkohol konsumiert zu haben. Die Quellen sind voll von mehrtägigen Trinkgelagen, die zu allen möglichen Gelegenheiten veranstaltet wurden und den Doppeleffekt hatten, die Truppen zu motivieren und zu belohnen.

Eine Legende der eigenen Art wird in Kapitel 9, „Und wo war ich denn damals? – Alexander und die Amazonen„, beschrieben. Die Existenz der sagenumwobenen Amazonen ist ohnehin ein Zankapfel der Forschung. Es gibt zahlreiche Theorien, woher der Mythos stammen könnte, aber zumindest in der Form, wie es die Geschichten klassischerweise behaupten, existierten die Amazonen sicher nicht. Das war selbst den Zeitgenossen so offensichtlich, dass die Quellen es als Anlass nehmen, die Bescheidenheit und den Witz Alexanders herauszustellen, indem er angesichts von Geschichten über seine Begegnung mit den Amazonen gefragt haben soll „Und wo war ich damals?“ Solche selbstironischen Äußerungen sind natürlich von vielen Herrschern überliefert und gehören fest in den narrativen Kanon von Königspropaganda.

Ein schwierigeres Rätsel stellt die in Kapitel 10, „Für alle zu wenig, für einen zu viel – Durch die Wüste von Gedrosien„, beschrieben Durchquerung der Wüste von Gedrosien dar, durch die Alexander einen Großteil seiner Armee auf dem Rückzug vom Indus ziehen ließ. Es ist unklar, warum er diese Entscheidung traf, obwohl wesentlich ungefährlichere Alternativen zur Verfügung standen; der Rückzug wurde auch zum Desaster, bei dem zehntausende zu Tode kamen. Es gibt Vermutungen, dass er es bewusst als Bestrafung der beim Indus meuternden Truppen tat (die sich als unzuverlässig herausgestellt hatten) oder als Inszenierung seiner Führungsrolle, um ihr Vertrauen wiederzugewinnen (weil er ihre Qualen teilte, ein weiterer Topos der Königspropaganda).

Seine ideologische Ausrichtung spielt in Kapitel 11, „Alle Menschen werden Brüder – Alexanders „Unity of Mankind“„, die Hauptrolle. Die Idee, die gesamte Menschheit in einem Reich zu einen, kam erst spät in Alexanders Karriere auf. In diesen Kontext fällt die berühmte Massenheirat, bei der tausende Makedonen zusammen mit ihrem König persische Frauen nahmen (freilich ohne diese später auch zu ehren, nach Alexanders Tod ließen sie sie ebenso zu Tausenden zurück) oder die Schaffung der Epigonen, jener nach griechischem Vorbild ausgerüsteten und ausgebildeten Einheiten aus jungen Persern. Gleichzeitig haben wir die Persifizierung Alexanders und vieler Madedonen, die sich immer weiter von ihren griechischen Wurzeln entfernten. Man sollte jedoch den späteren Rechtfertigungen als großem Plan nicht zu viel Gewicht beimessen; es gibt wenig Hinweise dafür, dass hier tatsächlich ein universalistisches ideologisches Konzept zugrundelag, und die geringe Haltbarkeit der bestehenden Versuche Alexanders spricht hier eine deutliche Sprache zumindest über die Priorität dieses Projekts, so es je existiert hat.

Kurios ist die Rolle Roms, wie in Kapitel 12, „Auf dem Höhepunkt der Macht – Alexander gegen Rom„, dargestellt wird. Angeblich wurde Alexander in Babylon kurz vor seinem Tod von Delegationen aus dem ganzen Mittelmeerraum bis nach Spanien besucht, darunter auch einer aus Rom, das damals kaum mehr als eine aufstrebende Regionalmacht war. Diese Delegationen sind insgesamt extrem unwahrscheinlich; gerade im Falle Roms kennen wir aber aus den römischen Quellen die Darstellungen genauer, die alle darauf schließen lassen, dass sie nachträglich erfunden wurden, um die Ewige Stadt in besserem Licht erscheinen zu lassen. Das gilt umso mehr für das blühende Genre der virtuellen Geschichte, in dem römische Autoren zwar Alexanders Leistungen bewunderten, aber immer wieder Abhandlungen darüber schrieben, wie er sich gegen römische Legionen geschlagen hätte – natürlich ohne Zweifel daran zu lassen, dass die Römer obsiegt hätten und er nur deswegen so erfolgreich war, weil er „nur“ gegen den verweichlichten Osten gekämpft hatte. Angesichts der anhaltenden Popularität dieses Genres fand ich das eine sehr amüsante Randnote.

Das letzte Kapitel, Kapitel 13, „Ein sterbendes Imperium – Die letzten Tage Alexanders“ befasst sich kurz mit seinem Tod. Wie viele Autoren vor ihm bemerkt will, dass nicht Alexanders Tod mit „nur“ 33 Jahren bemerkenswert ist, sondern dass er angesichts seines ungesunden Lebenswandels überhaupt so alt wurde. Nicht nur die bereits beschriebene Trinkerei, sondern auch der ständige Wechsel von Hitze und Kälte, die Entbehrungen auf dem Marsch und die Exzesse forderten ihren Tribut, so dass Alexanders Körper zum Zeitpunkt seines Todes ein Wrack gewesen sein muss. Die spätere Überhöhung ist natürlich wieder legendenumrankt (inklusive Giftmorden), aber es gibt wenig Grund anzunehmen, dass der Tod nicht natürlich war.

Insgesamt fand ich die Darstellung angenehn und frisch zu lesen. Der Fokus auf der Untersuchung der Legenden und das ständige kritische Hinterfragen der Quellen sind ein stabiler Ansatz und sorgen für echten Erkenntnisgewinn der Lesenden. Einige Grundkenntnisse werden vorausgesetzt (die Legenden zu kennen ist hilfreich, wenngleich man sie sich gut aus dem Text erschließen kann). Ich finde auffällig, was bezüglich Alexander und dem ganzen Genre der „Geschichte gr0ßer Männer“ für ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Wo früher Generationen mit diesen Geschichten aufwuchsen, spielen sie heute überhaupt keine Rolle mehr. Wir haben unsere historisch geerdeten Fantasiefiguren mittlerweile durch offensichtliche Fantasiefiguren ersetzt. Ich halte das für eine gute Entwicklung. Debatten, ob Sauron das Prädikat „der Große“ verdient hat, bleiben einem so erspart.

Alan Moore – V for Vendetta (Deutsch)

Einer der großen Klassiker der Comicliteratur aus der Epoche der „Bronze Age“ in den 1980er Jahren ist sicherlich Alan Moores „V wie Vendetta“, das an Bekanntheit nur hinter seinem Epos „Watchmen“ hintenansteht. 2005 wurde es mit Hugo Weaving in der Titelrolle verfilmt, und die Adaption der Guy-Fawkes-Maske durch die Hackervereinigung „Anonymous“ machte das Symbol in den 2010er Jahren noch einmal zusätzlich bekannt. Gegenüber diesen Adaptionen ist der eigentliche Graphic Novel etwas ins Hintertreffen geraten. Umso mehr Grund, ihn einmal wieder zur Hand zu nehmen und zu lesen. Für mich besonders interessant war die Frage, ob er mich noch immer so zu begeistern weiß wie während meiner Studienzeit, als ich ihn zum ersten Mal las und von der anarchistischen Sensibilität angesprochen war. Die Antwort ist ein klares „Jein“. 

Aber zuerst einmal die Basics, beginnend mit der Handlung.

Die Geschichte beginnt in „Book 1: Europe After the Reign“ in der Guy-Fawkes-Night im Jahr 1997 in London. Evey Hammond, eine 16-jährige, die finanziell am Boden ist, gerät in eine gefährliche Situation. Sie wird von Männern, die sich als Mitglieder der staatlichen Geheimpolizei namens „The Finger“ entpuppen, sexuell belästigt. In einem beängstigenden Moment der Verzweiflung taucht jedoch V auf, ein vermummter Anarchist in einer Maske. Er rettet Evey vor den Angreifern, indem er sie tötet. V führt Evey zu seinem geheimen Unterschlupf, dem „Shadow Gallery“, einem unterirdischen Versteck voller illegaler Güter. Dort teilt Evey V ihre Lebensgeschichte mit, was nicht nur ihre eigene Vergangenheit, sondern auch die jüngere Geschichte Englands offenbart.

Die Welt, wie wir sie kennen, ist in diesem Alternativszenario geprägt von einem globalen Atomkrieg, der in den späten 1980er Jahren zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten wegen eines Streits über Polen ausbrach. Der Krieg hinterließ weite Teile Europas und Afrikas unbewohnbar. Obwohl Großbritannien selbst nicht direkt bombardiert wurde, erlebte es aufgrund des nuklearen Winters Umweltzerstörung und Hungersnöte. In dieser Zeit der Gesetzlosigkeit starb Eveys Mutter, und die verbleibenden Konzerne und faschistischen Gruppen übernahmen die Macht, um die totalitäre Regierung Norsefire zu gründen. Eveys Vater, ein ehemaliger Sozialist, wurde von dem Regime verhaftet.

Parallel dazu beginnt der erfahrene Detektiv Eric Finch, der für die reguläre Polizei („The Nose“) verantwortlich ist, mit seinen Ermittlungen zu V’s terroristischen Aktivitäten. Finch steht in regelmäßigem Kontakt mit den höchsten Regierungsbeamten, bekannt als „The Head“. Dazu gehören Derek Almond, der „The Finger“ überwacht, und Adam Susan, der zurückgezogen lebende Anführer von Norsefire, der besessen das Schicksalscomputersystem der Regierung überwacht.

Finchs Untersuchung nimmt Fahrt auf, als V Lewis Prothero, einen Propagandasprecher im Radio, entführt und ihn in den Wahnsinn treibt. V zwingt Prothero dazu, seine Vergangenheit als Kommandant eines „Umsiedlungslagers“ nahe Larkhill zu erleben, in dem unschuldige Menschen gefangen waren. Evey stimmt zu, V bei seinem nächsten Mordanschlag zu helfen, indem sie sich als minderjährige Prostituierte tarnt, um in das Haus von Bischof Anthony Lilliman einzudringen. Lilliman, ein pädophiler Priester, begeht Selbstmord, nachdem V ihn zwingt, eine vergiftete Hostie zu essen. Die Verbindung zwischen V’s Zielen wird klar, als Finch entdeckt, dass alle drei früher in Larkhill gearbeitet haben. In dieser Nacht tötet V sowohl Almond als auch Dr. Delia Surridge. In ihrem Tagebuch enthüllt Surridge, dass V, ein ehemaliger Insasse und Opfer ihrer grausamen medizinischen Experimente, das Lager zerstört und geflohen ist, um nun die ehemaligen Offiziere zu rächen. Finch teilt seine Erkenntnisse Susan mit und vermutet, dass V vielleicht einen noch größeren terroristischen Angriff plant.

In „Book 2: This Vicious Cabaret“ dringt V vier Monate später in den Jordan Tower ein, das Zuhause der Propagandaabteilung von Norsefire, genannt „the Mouth“, die von Roger Dascombe geleitet wird. Dort hält V eine Rede, in der er die Menschen auffordert, sich gegen die Regierung zu erheben. V entkommt durch eine aufwändige Ablenkung, bei der Dascombe stirbt. Finch wird kurz darauf mit Peter Creedy, dem neuen Leiter von „The Finger“, bekannt gemacht. Creedy provoziert Finch, um ihn dazu zu bringen, ihn zu schlagen und so zwangsweise Urlaub zu nehmen. Evey findet Unterschlupf bei einem Mann namens Gordon, der sie auf der Straße gefunden hat. Ihre Beziehung, die zunächst platonisch ist, entwickelt sich schließlich zu einer romantischen Liebe. Evey und Gordon kreuzen unwissentlich den Weg von Rose Almond, der Witwe des kürzlich getöteten Derek. Nach Dereks Tod hatte Rose widerwillig eine Beziehung mit Dascombe begonnen. Mit dem Tod beider Liebhaber ist sie gezwungen, demoralisierende Burlesque-Arbeiten zu leisten, was ihren Hass auf die unsupportive Regierung verstärkt.

Als ein schottischer Gangster namens Ally Harper Gordon ermordet, versucht Evey, sich an einem Treffen zwischen Harper und Creedy zu rächen. Sie wird jedoch plötzlich entführt und eingesperrt. Während der Verhöre und Folter findet Evey einen alten Brief, den ihr eine Insassin namens Valerie Page hinterlassen hat. Valerie, eine Schauspielerin, wurde wegen ihrer Homosexualität inhaftiert und hingerichtet. Inspiriert von Valeries Brief entscheidet sich Evey trotz Folter und Todesdrohungen gegen die Zusammenarbeit mit der Regierung. Überraschenderweise wird ihr mitgeteilt, dass ihre angebliche Gefangenschaft von V inszeniert wurde, um sie eine ähnliche Tortur wie die, die ihn am Larkhill-Lager geprägt hat, erleben zu lassen. V enthüllt, dass Valerie eine echte Insassin von Larkhill war und dass der Brief authentisch ist. Evey vergibt V, der in das Schicksalscomputersystem der Regierung eingebrochen ist und Adam Susan mit psychologischen Spielchen manipuliert. Susan, der eine seltsame romantische Bindung zu dem Computer entwickelt hat, beginnt in den Wahnsinn zu verfallen.

Book 3: The Land of Do-As-You-Please“ beginnt am folgenden 5. November 1998, indem V den Post Office Tower und den Jordan Tower in die Luft sprengt, wobei „the Ear“-Anführer Brian Etheridge getötet wird, und deaktiviert damit effektiv drei Regierungsbehörden: das Eye, das Ear und den Mouth. Die Revolution wird gewaltsam unterdrückt, und V erklärt Evey, dass er noch nicht das erreicht hat, was er das „Land des Mach-was-du-willst“ nennt. Es herrscht ein interimistischer Zustand des „Landes des Nimm-was-du-willst“. Finch entdeckt, dass V den Schicksalscomputer beeinflusst hat und reist zum verlassenen Larkhill, um Erinnerungen aufzurufen. Finch erkennt, dass V sich im verlassenen Victoria Station aufhält.

Es kommt zu einem Kampf zwischen V und Finch, bei dem V von Finch erschossen wird. V behauptet, dass er nicht getötet werden kann, da er nur eine Idee ist, aber er stirbt in Eveys Armen. Evey überlegt, V zu enttarnen, entscheidet sich jedoch dagegen, da V ein Symbol und keine Identität ist. Sie übernimmt V’s Identität. Creedy drängt Susan in die Öffentlichkeit, und sie erschießt ihn aus Rache. Creedy übernimmt die Führung, und Finch verkündet V’s Tod.

Finch verlässt „the Nose“. Ein Machtkampf endet mit dem Tod aller Anführer. Evey verkündet die Zerstörung von 10 Downing Street und ruft zur Entscheidung für Freiheit oder Ketten auf. Eine allgemeine Erhebung beginnt. Evey zerstört 10 Downing Street in einem explosiven Wikingerbegräbnis mit V’s Körper. Sie entführt Stone, um ihn als Nachfolger auszubilden. Das Buch endet mit Finch, der das Chaos beobachtet und eine verlassene Autobahn entlang geht.

„V wie Vendetta“ ist ein Graphic Novel, der in drei große „Bücher“ und 38 „Kapitel“ (inklusive zwei Prologen für Bücher 2 und 3) unterteilt ist. Die auktoriale Erzählperspektive der Geschichte konzentriert sich weitgehend auf die Sicht der sechzehnjährigen Evey, wobei es immer wieder Abschnitte mit Personen aus der faschistischen Norsefire-Regierung oder dem kriminellen Milieu gibt. Praktisch nicht vorhanden sind Abschnitte, in denen ausschließlich V vorkommt – er wird stets durch die Augen anderer Personen gesehen, was die Isolation und das Mysterium eines Charakters unterstreicht, der von sich selbst sagt, nicht Mensch, sondern die Verkörperung einer Idee zu sein. Auch die Struktur des Graphic Novel entspricht dieser Charakterisierung.

Die Handlung selbst hat einige fragwürdige Prämissen, um es einmal milde auszudrücken. Die Vorstellung, dass eine Labour-Regierung in den 1980er Jahren Großbritannien denuklearisiert und dem Land dadurch den nuklearen Holocaust erspart ist eigentlich nur aus der fiebrigen Anti-Thatcher-Stimmung jener Jahre zu erklären, wie auch der politischen Sensibilitäten Moores (die im früher erschienenen „Watchmen“ noch realitätsnaher waren). Entsprechend ist der Graphic Novel auch sehr ein Produkt seiner Zeit, das wesentlich schlechter gealtert ist als „Watchmen“, was umso bemerkenswerter ist, als dass die Verfilmung zeigt, dass es den Hintergrund gar nicht braucht: eine gezielte Ambivalenz über die Entstehung des faschistischen britischen Systems wäre eigentlich besser für die Geschichte.

Der Anarchismus, den V vertritt, ist in seiner Sensibilität auch ein klares Produkt des linksalternativen Milieus. Ohne meine damals noch wesentlich idealistischere Brille tue ich mich schlecht schwer mit der Vorstellung, dass eine mit bildungsbürgerlichen Referenzen um sich werfende und hochgradig verkopfte Manifeste verfassende Person wie V die Massen über eine einzelne, zweiminütige Fernsehansprache anstacheln könnte – und dass ein Regime diesen offensichtlichen Angriffspunkt des „Terroristen aus dem Elfenbeinturm“ völlig links liegen lässt. Generell ist die arrogant-herablassende Haltung Vs, der eine Art beständigen sokratischen Dialog mit der passiv-empfangenden Evey führt, manchmal schwer erträglich – aber das ist wahrlich nichts, das für Moore spezifisch wäre. Es findet sich in der „Hochkultur“ ja ständig; wir haben mit Thomas Mann, Hermann Hesse und Konsorten wahrlich genug eigene Beispiele dafür.

Das faschistische Regime selbst bleibt ebenfalls merkwürdig farblos. Moore unternimmt einen lobenswerten Versuch, die „Banalität des Bösen“ in der merkmalslosen Durchschnittlichkeit seiner Protagonisten zum Ausdruck zu bringen; auch die Alltagsgewalt durch die Schläger des Systems oder das Bündnis der Faschisten mit dem organisierten Verbrechen zum Auffüllen der Schlägertrupps ist ein netter Touch. Aber worin genau je die Anziehungskraft des „Führers“ mit dem unglücklichen Namen Susan bestand, wird nie deutlich (auch hier kann der Film wesentlich besser punkten).

Deutlich unterentwickelt bleiben die Frauenrollen. Da ist einmal Evey, die ein reines Gefäß für Vs Lehren ist und sein Nachfolger wird – und als solcher notwendigerweise das wenige an Charakter aufgibt, was sie vorher hatte. Dann gibt es Helen Heyer, die als eine Art „Drahtzieherin hinter den Kulissen“ als Sex-Vamp die mittelmäßigen Funktionäre durch Intrigen dominiert. Zuletzt haben wir Rose Almond, die unter der lieblosen Ehe mit ihrem Mann Derek leidet und sich prostituieren muss, nachdem dieser von V ermordet wird. Vermutlich soll die Verbindung von Sexualität und Faschismus, die in den Variétes immer wieder explizit gemacht wird (etwa in einem peinlich offensichtlichen Liedtext eines Showgirls, in dem sie die Anziehungskraft der Stiefel und Uniformen besingt) diesen weiter herabwürdigen; die Reduzierung der Frauen auf Handlungsfunktionen und Helen Heyers „evil seductress„-Archetyp sind aus heutiger Sicht nicht unbedingt taufrisch.

Merkwürdig sind auch das Element der KI und der Drogen. Susan kommuniziert mit einem Supercomputer, dessen Fähigkeiten 1997 selbst heute nicht erreicht werden können, und der von V unter völlig ungeklärten Umständen geklont wird (dazu gleich mehr). Der Film verzichtet in meinen Augen nicht zu Unrecht auf dieses Element, dessen thematische Positionierung mir völlig unklar ist. Für den Überwachungsstaat ist der Computer irrelevant; das funktioniert auf Basis von Spitzeln und CCTV. Stattdessen hat Susan eine erotische Beziehung zu dem Computer, die V dann ausnutzt, um ihn psychisch zu erschüttern. Diese erotische Fixierung macht Susan zu einer Art Perversen, was in meinen Augen die Charakterisierung des Regimes als das von gewöhnlichen bis unterdurchschnittlichen Funktionären untergräbt. Dasselbe gilt für die plotentscheidende Rolle der Einnahme von LSD, bei der Moores Sensibilitäten wieder zum Vorschein kommen, und die Finch das Entlarven Vs ermöglicht. Das ist nun sicher Geschmackssache, aber ich bin kein Fan davon, harte Drogen mit Superkräften zu verbinden.

Mein letzter Kritikpunkt betrifft die Figur V selbst, der in einer Pose absoluter Überlegenheit übertrifft. Er ist seinen Gegnern immer mindestens drei Schritte voraus, hat alles geplant. Alle Personen handeln stets, wie er es vorausgesehen hat (Freier Wille?). Die Logistik seines Verstecks und seiner Pläne interessiert Moore keine Sekunde; V besitzt, was er braucht. Besonders albern wird das, wenn er ein riesiges Theater aufbaut, das er theoretisch komplett alleine bespielt und das Evey komplett überzeugt. Er ist ein ziemlicher Gary Stu.

Trotz allem bleibt der Stoff selbst – die Degenerierung einer westlichen liberalen Demokratie zur Diktatur – stets aktuell, dieser Tage (2023/24) sowieso. Inwiefern man hier aktuellere Verarbeitungen dieses Stoffes bevorzugen sollte, bleibt hier offen. Ich habe nicht das Gefühl, dass V wie Vendetta dasselbe literarische Niveau aufweist wie „Watchmen“. Eine Empfehlung kann ich daher nur eingeschränkt aussprechen; der Graphic Novel ist eher für seine literaturgeschichtliche Bedeutung relevant und enthält zu viele Elemente, die Produkt seiner Entstehungsepoche sind, als dass man ihn direkt genießen kann.

Eric Shanower – Age of Bronze (Band 1, Band 2, Band 3.1, Band 3.2)

Der trojanische Krieg ist eine der ältesten und wirkmächtigsten Sagen der westlichen Welt. Hundertfach rezeipiert und durch die Jahrhunderte immer wieder neu adaptiert, fasziniert die Geschichte um den zehnjährigen Kampf um Troja noch heute. Wenn es dafür angesichts der Fülle von Projekten von Wolfgang Petersens filmischer Umsetzung über John Dolans/Gary Brechers Prosaversion (hier rezensiert) zu Jeff Wrights Podcast- und Vortragsreihe irgendwelche Belege braucht, so dürfte Eric Shanowers Comic-Epos „Age of Bronze“ dafür ausreichen. Shanowers Projekt ist es, die gesamte Geschichte des Trojanischen Krieges zu erzählen, in all ihrer epischen Breite, den dutzenden von Figuren, den Idiosynkratien, den Seitenzweigen und den für moderne Lesende immer wieder merkwürdigen narrativen Konventionen. Sein Anspruch ist es dabei, die Bronzezeit auf Basis von archäologischen Kenntnissen historisch korrekt und die Geschichte selbst so umfassend und unverfälscht wie möglich darzustellen – und dabei trotzdem unterhaltsam zu bleiben. Sehen wir uns an, wie sehr ihm dies gelingt.

Zuvor allerdings noch ein Hinweis: der Epos ist noch nicht abgeschlossen, noch lange nicht. Die ersten drei  Sammelbände sind mittlerweile in Vollfarbe erschienen; der letzte Sammelband liegt bisher nur in schwarz-weiß vor (wobei grundsätzlich eine Farbversion geplant ist). Bis wann die Geschichte abgeschlossen sein wird – und ob Shanower das je gelingt – steht in den Sternen. Fans von „Das Lied von Eis und Feuer“ werden an der Stelle mitleidsvoll mit dem Kopf nicken, wobei man sich immerhin keine Sorgen um Spoiler zu machen braucht. Die Geschichte des Trojanischen Krieges lässt sich an vielen Stellen nachlesen, so man dies wünscht.

Wer auch immer diese Geschichte adaptiert, muss einige Grundsatzentscheidungen treffen. Die wohl wichtigste hierfür ist, welche Rolle man den Göttern zugestehen will. Behandelt man sie als eine Religion, deren Existenz ambivalent ist? Erzählt man eine säkularisierte Version, wie das Wolfgang Petersen unternahm? Oder verwandelt man den Trojanischen Krieg in eine Art Fantasy-Saga, analog zu Damon Lindeloffs Umsetzung der Genesis? Keiner dieser Ansätze ist einem anderen überlegen, aber um die Entscheidung kann sich kein Autor drücken.

Shanower entscheidet sich für den Ansatz, das Wirken der Götter ambivalent zu halten, wobei schwer impliziert ist, dass diese nicht existieren – gleichzeitig aber die Bedeutung der Rituale und den unzweifelhaft aufrichtigen Glauben der archaischen Griechen und Ionier vollkommen ernstzunehmen, ohne wie in Petersens Verfilmung nur Narren zu religiösen Menschen zu machen. Selbst ein Zyniker wie Odysseus argumentiert in Shanowers Erzählung in theologischen Kategorien, interpretiert Omen und Prophezeiungen. Ob dahinter wirklich eine metaphysische Kraft existiert oder nicht wird so zweitrangig: die Menschen glauben, dass dem so ist, und richten ihr Handeln danach. Alles andere ist letztlich irrelevant. Ich bevorzuge diesen Ansatz ehrlich gesagt, weil er weniger herablassend als Petersens Version ist (der einzig echte Kritikpunkt, den ich sonst mit seiner Verfilmung habe).

Die Umsetzung lässt sich exemplarisch an den Prophezeiungen Kalchas‘ oder der Opferung der Iphigenie zeigen. Ob Kalchas wirklich Prophezeiungen erhält ist unklar. Dass er manchmal welche auf politischem Opportunismus fälscht, ist offenkundig. Dass die Könige dies zumindest manchmal vermuten ebenfalls, nur, was hilft es? Niemand kann das Risiko eingehen, sich gegen die Götter zu stellen. Zu mächtig ist ihr Zorn. Auch der fehlende Wind, der sich nur durch das Opfer Iphigenies wiederbeschwören lässt, wird von allen tödlich ernst genommen – so dass Iphigenie genauso wenig eine Wahl bleibt wie Agamemnon oder Klytaimnestra. Ob Artemis sie dann wirklich in den Olymp entrückte, bleibt offen – das Opfer wird nur als Mauerschau erzählt. Möglicherweise lügen die Könige Agamemnon einfach nur an, um sein Leiden zu verringern; möglicherweise geschah es wirklich. Wer weiß das schon?

Deutlich weniger ambivalent sind die Moralvorstellungen der Zeit, und hier liegt eine der größten Stärken des Zyklus‘. Shanower gelingt es hervorragend, die Weltsicht der Zeitgenossen einzufangen und ihr Handeln in ihren Wertesystemen zu verankern. Dazu gehört das Ehrverständnis, dem die Krieger folgen ebenso wie ihr Fokus auf Plündern, Versklaven und Mordbrennen. Die „Helden“ haben keinerlei Probleme damit, massenhaft Unbewaffnete niederzumetzeln, ihre Häuser anzuzünden, Frauen in Sexsklaverei zu zwingen und die Beute stolz nach Hause zu schleppen, als Ausweis ihrer Fertigkeiten. Umgekehrt sind die immer wiederkehrenden Waffenpausen zur Bergung und Bestattung der Toten etwas, das uns heute weitgehend abgeht.

Auch das Ehrverständnis der Könige, ihre Rangfolgen, das Sich-Messen im Kampf, die Aggression die damit einhergeht – sie alle werden von Shanower mit distanziertem Blick eingefangen. Er lässt die Helden selbst sprechen. Achilles‘ Jähzorn, der immer wieder mit tödlicher Gewalt aus ihm herausbricht, gilt etwa nicht als Charakterschwäche. Vielmehr ist er etwas bewundernswertes, beinahe halbgöttliches. Die Sozialstrukturen, die den Mitgliedern des Adels zudem abgesehen von der Ablehnung ihrer Standesgenossen keine Grenzen auferlegen, fördern solches aggressives Verhalten noch weiter.

Diese Merkwürdigkeiten haben auch Einfluss auf die Diplomatie. So entsteht die Entführung Helenas überhaupt erst, weil Paris entsandt wird, um die Schwester Priamos‘, Hesione, die in ihrer Kindheit von Herakles als Sklavin geraubt wurde, zurückzurauben. Dass Hesione gar nicht mehr zurückwill, fiecht niemanden an: es geht um die Ehre Priamos‘. Paris allerdings entscheidet sich zum Raub einer jüngeren Frau, Helena, die zwar nichts mit Hesione zu tun hat und in einem anderen Königreich ist, dessen Gastrecht er bricht. Ähnliche Verhältnisse gibt es allerorten. Klytaimnestra ist eine geraubte Ehefrau, Helenas Sklavin war einst Königin eines anderen Reiches, und so weiter. Die Finanzierung des Krieges durch Überfälle auf Unbeteiligte sicherzustellen, indem man sie in die Sklaverei verkauft – business as usual. Für moderne Lesende sind die Moralvorstellungen der archaischen Griechen (und, wenn wir ehrlich sind, der meisten Menschen bis vor sehr kurzer Zeit) komplett fremd.

Das betrifft auch die Frauenrollen. Obwohl Shanower den Frauen Trojas und Hellas‘ viel Raum gibt, widersteht er der Versuchung, sie zu modernisieren: von Cressida zu Helena, von Klytaimnestra zu Hekabe, die Frauen sind in einem rigiden Rollenschema gefangen, das sie klar den Männern unterordnet, deren Entscheidungen über Leben und Tod sie nicht zu kritisieren und denen sie zu folgen haben. Und diese Entscheidungen haben es in sich. Ob Helena zu den Griechen zurückkehrt, ist nicht Helenas Entscheidung, sondern die Priamos‘ und seiner Söhne. Cressidas Onkel findet wenig dabei, sie mit dem Prinzen Troilus zu verkuppeln, obwohl sie starke Bedenken hat. Iphigenie mag Agamemnons Tochter sein; gegenüber genug Wind für die Fahrt nach Troja muss ihr Leben allerdings hintenanstehen. Es ist eine Welt von Männern, und die Geschichte des Trojanischen Krieges zeigt all die furchtbaren Folgen, ohne dass Shanower das jemals thematisieren müsste. Es läuft schlicht als Subtext mit, ohne Wertung, ohne Anklage. Andere Lesende mögen zu anderen Schlüssen kommen. Diese Offenheit ist eine der großen Stärken des Comics.

Sicherlich besonders für Lesende ohne Vorkenntnisse dürfte sein, dass es keine Hauptfiguren im eigentlichen Sinne gibt. Selbst überragende Gestalten wie Achilles können für dutzende Seiten komplett aus der Geschichte verschwinden, wenn stattdessen plötzlich Troilus und Cressida flirten, oder wenn Agamemnon mit Palamedes streitet (ohne dass Palamedes Agamemnons Zorn bemerkt, eine Art running gag). Der riesige Cast an Figuren mit ihren für westliche Ohren eher fremden Namen ist schwer im Überblick zu behalten. Wenn dann auch noch irgendwelche Verbündete auf dem Schlachtfeld auftauchen und für einige Panels heroisch namenlose Soldaten niedermetzeln dürfen, bevor ein Held sie niederstreckt, ist der Klarheit auch nicht zuträglich.

Dass die Figuren sich auch recht ähnlich sehen, hilft da nicht großartig weiter. Hektor unterscheidet sich von seinen Brüdern vor allem durch einige Sommersprossen auf den Wangen; Deiphobus und Troilus zu unterscheiden ist ein fruchtloses Unterfangen, und man darf Aphrodite danken, dass Paris ständig ein albernes Löwenfell über der Schulter trägt. Im griechischen Lager ist die Situation etwas besser, weil die Griechen dankenswerterweise anders als die Trojaner große Bartfans sind und ihre Haarpracht ein zahlreichen Stilen zur Schau tragen. Die größere Altersspanne als unter Priamos‘ Söhnen hilft der Sache zusätzlich.

Ob man das als Vorteil empfindet – die volle Epik der Geschichte kommt schließlich nur so zum Tragen, und die Konzentration auf das edle Kriegervolk entspricht der Struktur des Epos – oder als Nachteil – es artet manchmal in Arbeit aus – ist dem jeweiligen Geschmack der Lesenden zu übertragen. Die Kleidungs- und Rüstungsstile der beteiligten Gruppen jedenfalls sind wenigstens klar unterscheidbar. Ob man einen Danaer oder einen Trojaner vor sich hat, ist jederzeit klar ersichtlich. Die trojanischen Männer tragen alle eine ähnliche Tunika, haben ihr langes Haupthaar zu einem Zopf geflochten und haben große, scheibenförmige Ohrringe (auf Makeup hat Shanower verzichtet). Die Danaer dagegen tragen alle Stirnbänder und oftmals nur einen Lendenschurz (viele nackte, muskulöse Oberkörper). Die Frauen dagegen sind hüben wir drüben in lange Kleider gehüllt und tragen Kopftuch. Immerhin haben sie alle dieselben dunklen Haare, man könnte sie sonst eventuell auseinanderhalten.

Die Zeichnungen sind in Tusche und in einem realistischen Stil gehalten, der wenig Ästhetisierungen aufweist. Die Gesichter sind kantig, aber die Schönheitsideale eher nicht an westlichen Geschmäckern ausgerichtet (kein Brad-Pitt-Achilles). Für einschlägig Interessierte besonders interessant dürfte der archäologische Genauigkeitsgrad sein; Troja etwa ist als Stadt zwar durchaus reich und groß, aber im Rahmen dessen, was in der Zeit möglich war (so sind etwa die Mauern nicht rund 20m hoch wie im Film, sondern eher 3-4m; eine Holzpalisade ist dem Tor vorgerückt usw.). Auch dass es keinerlei Kavallerie gibt (die Adeligen fahren alle Streitwagen, aber niemand kann reiten) ist ein schönes Detail.

Ich kann den Comiczyklus nur empfehlen. Ich habe die Hefte nun bereits zweimal gelesen und werde sie sicher erneut zur Hand nehmen. Sie sind eine schöne Ergänzung für Fans der Sage und bieten mir nun ein Lesevergnügen zusätzlich zu Petersens Verfilmung, Brechers/Dolans Prosa und Wrights Podcast.

Eleanor Janega – The Once and Future Sex: Going Medieval on Women’s Roles in Society (Hörbuch)

„Zustände wie im Mittelalter“ ist ein geflügeltes Wort, um vage rückständige und unattraktive Zustände zu beschreiben. Dabei wissen wir sehr wenig über diese Epoche und arbeiten oft mit Klischees, die Autoren aus der Renaissance und der Neuzeit prägten, um ihre eigene Zeit in strahlenderem Licht erscheinen zu lassen. Eleanor Janega hat es sich bereits seit Längerem zur Aufgabe gemacht, Fehlvorstellungen über das Mittelalter zu korrigieren. Auf ihrem Blog „Going Medieval“ veröffentlicht sie immer wieder solche Betrachtungen. Nun liegt ein Buch von ihr vor, in dem sie die Rollenbilder von Frauen im Mittelalter untersucht – ihre ideengeschichtlichen Ursprünge, die Schönheitsideale, Sexualität, Arbeitswelt und natürlich die Frage, warum uns das alles heute überhaupt noch interessieren sollte. 

In Kapitel 1, „Back to Basics„, beginnt Janega mit der Darstellung der Rolle der antiken Autoren. Diese galten im Mittelalter wie auch in der Renaissance als unbestechliche Autoritäten, weil sie alt waren – und je länger etwas her war, desto näher war e san biblischen Zeiten, desto näher war es an Gott, und desto richtiger musste es also sein. So galt Hippokrates als unbedingte erste Autorität in der Frage der Unterscheidung von Männern und Frauen. Die seinerzeit unhinterfragte Vier-Säfte-Lehre, nach der jeder Mensch vier „Säfte“ im Körper habe, deren Austarierung seine Gesundheit und sein Gemüt beeinflusse, diente auch der Herausstellung von Unterschieden zwischen Mann und Frau. Für Hippokrates stellte der Frauenkörper ein unkennbares Mysterium dar, da sich in ihm Prozesse abspielten, die von der Wissenschaft (in Gesellschaften, die Anatomie tabuisierten) völlig unnachvollziehbar waren. Klar war für Hippokrates allerdings, dass der Frauenkörper gegenüber dem männlichen defizitär sein musste.

Diese Idee wurde von Platon weiter ausgeführt, der gleichzeitig als erster überlieferter Kritiker des männlichen Penises auftrat. Allerdings betrachtete er ihn vor weiblichem Uterus als deutlich überlegen, weil er anders als dieser beseelt sei: der männliche Samen war das entscheidende Element der Fortpflanzung, das aktiv in die Frau gebracht wurde, die diesen nur passiv empfing. Die Vier-Säfte-Lehre zu Platons Zeit betrachtete Frauen zudem als „feucht“ und „kalt“, Männer als „trocken“ und „heiß“. Das war relevant, weil die Hitze der Männer überschüssige und schlechte Säfte verbrannte (und sie gleichzeitig aggressiv machte, ein mit ihrer „natürlichen“ Dominanz einhergehender Nachteil), während die kühle Feuchtigkeit der Frauen dafür sorgte, dass schlechte Säfte durch die Menstruation ausgeschieden werden mussten und Frauen grundsätzlich weniger zurechnungsfähig waren als Männer, weil ihr Säftehaushalt viel mehr in Unordnung war.

Aristoteles als geschätztester Autor des Mittelalters (es hilft, eine eigene Schule zu begründen, die das eigene Werk jahrhundertelang reproduziert) brachte den Schlussstein in diese Analyse des weiblichen Körpers mit der Überzeugung ein, dass der Uterus im Körper umherwandere und dadurch für Probleme sorge; einzig durch eine Schwangerschaft werde „fixiert“, wodurch Frauen dann temporär halbwegs vernünftig würden.

Die antiken Autoren wurden im Mittelalter viel rezipiert, geradezu geheiligt. Auch die wenigen Frauen mit Zugang zu Bildung wie Hildegard von Bingen studierten sie, kamen dabei aber zu eigenen Ergebnissen (die vor allem versuchten, die weiterhin unhinterfragte Analyse der antiken Vordenker ins Positive zu wenden); der geringe Stand weiblicher Bildung habe aber einen „Dialog mit dem Patriarchat“ verhindert.

In Kapitel 2, „How to look„, werden mittelalterliche Schönheitsideale behandelt. Auffällig ist, dass die Schönheitsideale der Antike weitgehend unbekannt sind. Antike Autoren beschrieben zwar Frauen gerne generisch als schön, machten aber selten genaue Angaben, worin diese Schönheit eigentlich bestehen würde. In der mittelalterlichen Rezeption spielte daher vor allem das Ideal der Helena von Troja, das „Gesicht, das tausend Schiffe sandte“, eine große Rolle. Da ihr Aussehen aber auch unbekannt war, wurde sie mit den Schönheitsidealen des Mittelalters belegt.

Für die Menschen des Mittelalters galt eine Kongruenz von Schönheit und Macht beziehungsweise Status: schöne Frauen sind reich und mächtig und umgekehrt. Eine Königin etwa war per Definition schön, weil sie es sein musste: Herrschaft bedingte dies schlicht. Umgekehrt konnten gewöhnliche Frauen niemals schön sein, egal welche Attribute sie ansonsten auch aufwiesen. Dies zeigt sich bereits an den Schönheitsidealen des mittelalterlichen Gesichts. Die schöne Frau hatte graue Augen, weiße Haut und Zähne (die sich entgegen dem Klischee dank mangelnder die Zähne angreifender Nahrungsmittel durch Zähne putzen tatsächlich erreichen ließen), blonde Haare, hohe Stirn, volle Lippen und schwarze Augenbrauen. Dieses Ideal war reichlich spezifisch und offensichtlich europäisch geprägt; zudem war es nur durch solche Frauen zu erreichen, die nicht den Elementen ausgesetzt waren, die weiße Haut schnell verunmöglichen.

Auch mittelalterliche Beschreibung des restlichen Körpers sind, wie mittelalterliche Literatur generell, stark formalisiert. Es ist gewissermaßen ein Malen nach Zahlen, dem praktisch alle Autoren folgen und das den (literarischen) Blick von oben nach unten gleiten lässt: Von den Haaren zur Stirn und den Augenbrauen zu den Augen, der Nase und den Lippen, den Wangen, dem Hals über die Schultern, Arme und Hände, von dort zu den Brüsten, der Taille und dem Bauch, ehe Beine und Füße den Abschluss bildeten. Dabei wiederholte sich immer das gleiche Muster: weiße und weiche (!) Haut (wie sie nur wohlhabende Fraue haben konnten), kleine und runde Brüste (ganz im Gegensatz zu unserem heutigen Ideal; diese ließen sich nur durch den Einsatz von Ammen erreichen, so dass wohlhabende Frauen ihre Brüste schnell abbinden konnten, damit diese nicht durch Säugen größer wurden), kleine Füße (äußerst unpraktisch bei jeglicher Arbeit), dicker Bauch (ebenfalls in deutlichem Gegensatz zu heute), dicke Schenkel – es ist offenkundig, dass diesen Merkmalen nur reiche Frauen entsprechen konnten.

Diese Ideale finden sich auch in zahlreichen bildliche Darstellungen, vor allem in solchen der biblischen Eva. Das erlaubte es den Künstlern auch, nackte Frauen zu zeichnen. Die Ubiquität dieser Darstellungen muss auf Kirchenbesucher einen erotisierenden Effekt gehabt haben; die Bilderstürmerei der Protestanten jedenfalls wurde von ihnen explizit damit begründet, dass Männer in der Kirche ständig sexuell erregt würden.

Dem mittelalterlichen Schönheitsideal war aber auch Sauberkeit sehr wichtig. Das Klischee ist ja, dass die Menschen ständig schmutzig waren. Das allerdings ist nicht korrekt, vielmehr gehörte tägliches Waschen genau wie heute zum Alltag. Nur konnten allein reiche Frauen diese Sauberkeit einigermaßen über den Tag retten. Sauber zu sein galt als rein und nahe am göttlichen Zustand.

All diese Schönheitsideale mussten aber unbedingt auf „natürliche“ Weise erreicht werden. Frauen durften keinesfalls wirken, als würden sie sich um ihre Schönheit kümmern; eine Aura der Ignoranz gegenüber dem Thema gehörte zum guten Ton. Makeup oder Färben der Haare war generell des Teufels und eine große Sünde, wie an der biblischen Geschichte von Jezebel deutlich wird, die weniger wegen ihres Mordens, sondern wegen ihres Eyeliners unter die großen Sünderinnen der Apokalypse eingereiht wurde. Nur minimal weniger verächtlich war Parfüm, das nur so erlaubt war, dass es ausschließlich der eigene Ehemann riechen konnte (um so andere nicht in Versuchung zu führen). Körperbehaarung indessen galt als Ausdruck von zu viel Körpersäften und Unreinheit, weswegen sie geradezu verwerflich waren. Gleichzeitig galt aber – Natürlichkeit, wir erinnern uns – ein hartes Verbot, sie auszuzupfen oder zu rasieren.

Bei der Kleidung bestand ein Dilemma. Sie waren einerseits Statusmarker des Adels, mit dem sie sich auch von reichen Bürgersfrauen abheben konnten (und waren daher zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung notwendig), andererseits war aber das Tragen schöner Kleidung zur Darstellung von Schönheit sündig. Die Kleidungsverbote hatten so die wichtige Funktion, wohlhabenden gewöhnlichen Frauen zu verunmöglichen, die Schönheitsstandards des Adels zu erreichen (und die selbsterfüllende Prophezeiung von reich/mächtig=schön damit Wirklichkeit werden zu lassen).

Es ist offensichtlich, dass damals wie heute die Schönheitsideale extrem heuchlerisch waren, weil sie Frauen für das Verfehlen eines Standards bestraften, ihn zu erreichen aber verboten.

Kapitel 3, „How to love„, befasst sich mit Sex. Erneut beginnt Janega in der Ideengeschichte. Schließlich mussten die mittelalterlichen Autoren die Nacktheit Adams und Evas (vor allem Letzterer), die sie so gerne zeichneten, irgendwie erklären und einordnen. In der mittelalterlichen Theologie hatten Adam und Eva zwar Sex, empfanden dabei aber keine Lust – es war eine körperliche Funktion, die sie an- und ausschalten konnten wie alle anderen auch, weswegen sie auch keine Scham empfanden. Das Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis sorgte also dafür, dass sie Lust empfanden (und Scham), was ihren Ausschluss aus dem „reinen“ Paradies bedeutete.

Sex war für Menschen im Mittelalter daher grundsätzlich in Ordnung, so er denn der Fortpflanzung diente und im Sakrament der Ehe eingehegt war. Dieses war anfangs auch noch kein Hinderungsgrund für das Priesteramt; erst ab 1123 wurde ein „hartes“ Zölibat eingeführt, das auch vor der Priesterweihe verheirateten Menschen dieselbe verwehrte. Damit einher ging eine zunehmende Betonung der Enthalsamkeit als erstrebsamem Ideal: wer seine Reinheit dadurch bewahrte, keinen Sex zu haben, war besonders nahe an Gott. Alle anderen mussten notgedrungen kopulieren, um den Erhalt der Menschheit sicher zu stellen, was Gott in seiner Weisheit so gefügt hatte.

Für die Durchführung war ausschließlich die Missionarsstellung geeignet, da sie männlich dominant war und die „natürliche“ Ordnung der Dinge wiederspiegelte. Jede andere Haltung war sündig, etwa der Doggy-Style, über dessen Sündigkeit sich die mittelalterlichen Quellen in erklecklichem Detail ausließen. Noch sündiger waren sexuelle Handlungen, die in keiner Fortpflanzung resultieren konnten; von Petting über Küsse zu Onanieren und Reiben und Oralsex war alles verboten und wurde unter dem Catch-all-Begriff der „Sodomie“ gefasst.

Für die Theologen galten Frauen anders als Männer auch als besonders lustvoll, weil ihre Säfte und ihr kalter Zustand sie nach der trockenen Hitze des Samens dursten ließen und dieser Durst nie gestillt werden könne; anders als Männer seien sie außerdem schlicht zu dumm, den sexuellen Akt in seiner gottgewollten Glorie zu begreifen und blieben wie Kinder immer passiv und auf der Suche nach mehr. Sie würden quasi als „faules“ Element zu dem „reinen“ Element des Penis gezogen. Der Sexualakt ging in der mittelalterlichen Vorstellung also von den unersättlichen Frauen aus.

Dem Orgasmus kam dabei eine überraschend wichtige Rolle zu, weil in der Überzeugung der Zeitgenoss*innen galt, dass ohne ihn keine Empfängnis möglich sei. Anders als etwa in der Antike mussten BEIDE Partner Lust empfinden und zum Höhepunkt kommen. Es war die Aufgabe des Mannes, ihn zu empfinden (also selbst fähig zu sein) und ihn bei der Frau herbeizuführen, und zwar ausschließlich vaginal (weil alles andere ja bedeuten würde, dass Sex auch Spaß macht, und das war wiederum supekt). Bevor man sich aber zu sehr über dieses scheinbar progressive Element freut: es hatte den nicht unerheblichen Nachteil, dass man davon ausging, dass Vergewaltigungen oder Prostitution ohne Schwangerschaft ausgingen, wenn Frauen es nicht genießen würden – und da wir heute wissen, wie die Natur funktioniert, können wir uns die Folgen dieses Irrtums sehr gut ausmalen.

Ein Organ, das die Denker des Mittelalters nachhaltig verwirrte und faszinierte, war die Klitoris. Da Gott ja unmöglich etwas geschaffen haben konnte, das ausschließlich der Freude an der Sexualität diente, es aber keine erkennbare Funktion hatte, gab es den Menschen Rätsel auf. Ihre Stimulierung während des Vaginalverkehrs war zwar grundsätzlich etwas anrüchig (weil der Mann die Frau nicht aus eigener Penis-Vollkommenheit zum Orgasmus bringen konnte), aber erlaubt. Da sie ebenfalls mit Blut gefüllt und gehärtet werden konnte, einigte man sich schließlich darauf, sie als weibliches Gegenstück zum Penis zu sehen, was angesichts des Größenunterschieds (für gewöhnlich, wie Janega trocken hinzufügt) Sinn zu machen schien.

Auch zum Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrts hatte das Mittelalter Antworten. Während der Menstruation oder der Schwangerschaft Sex zu haben war absolut verwerflich, weil keine Schwangerschaft resultieren konnte. Zudem war klar, dass während der Menstruation eine enorme Gefahr bestand, sich dabei Lepra holen, die gefürchtetste Krankheit des Mittelalters, die natürlich aus einem Ungleichgewicht der Säfte resultierte (das während der Menstruation am höchsten war) und in Frauen entstand (natürlich) und daher beim Sexualakt übertragen werden konnte. Prostituierte waren dagegen immun, sofern sie nicht verbotenerweise Spaß am Sex gehabt hatten; eine leprakranke Prostituierte war also eindeutig überführt. Außerdem verpönt war Sex an Mittwoch oder Freitag, abgeraten wurde vom Samstag, damit man sich auf den heiligen und selbstverständlich sexfreien Sonntag vorbereiten konnte. Wenn dann alle Sterne richtig standen, wurde der Geschlechtsakt weitgehend bekleidet und in völliger Dunkelheit durchgeführt, damit man möglichst wenig voneinander sah (und andere auch; Privatsphäre war im Mittelalter nur wenigen zugänglich).

All diese Regeln bedeuteten übrigens auch, dass Frauen in den Wechseljahren in höchstem Maße suspekt waren, weil ihre Säfte nicht mehr abfließen konnten. Man sagte ihnen nach, dass die auflaufenden Gifte ausreichten, dass sie mit einem Blick töten konnten. Sex mit einer Frau in den Wechseljahren war in höchstem Maße unnatürlich und hochgradig gefährlich.

In Kapitel 4, „How to be„, beschäftigt sich Janega dann mit der Rolle der Arbeit. Frauen arbeiteten viel: ihre ihnen zugeschriebenen Rollen als Mutter und Hausfrau bedeuteten auch im Mittelalter schwere Arbeit, und damals wie heute war diese Arbeit unsichtbar und wenig als solche anerkannt. Das Machen und Halten des Feuers, Zubereiten von Nahrung, Waschen, Organisieren des Haushalts und vieles mehr war absolut erschöpfendes Tagwerk – das aber, ebenfalls damals wie heute, nur ergänzend zu anderer Arbeit in allen möglichen Berufen stand, denn Janega macht von Beginn an klar, dass die Trennung von häuslicher und beruflicher Sphäre eine Erfindung der bürgerlichen Neuzeit ist.

Wenig überraschend arbeiteten die allermeisten Frauen als Bäuerinnen, weil die meisten Menschen der Zeit in der Landwirtschaft tätig waren. Sie arbeiteten hier neben Aussaat, Einbringung und Ernte vor allem mit den kleineren Tieren wie Hühnern (da diese geringeres Prestige besaßen als die großen Tiere, mit denen die Männer arbeiteten). Grundsätzlich konnten sie genauso wie Männer erben, allerdings nur, wenn keine männlichen Erben verfügbar waren. Dies führte dazu, dass etwa ein Viertel der Höfe in weiblichem Besitz war (häufig von verwitweten Frauen) und auch eigenständig verwaltetet wurde. Es ist generell spannend, dass Frauen im Mittelalter durchaus eigenen Besitz hatten, der vom Mann losgelöst war; dazu gehörte auch die Aussteuer, die im Falle einer Trennung (üblicherweise durch Tod des Mannes) auch an die Frau zurückfiel.

Neben der Landwirtschaft arbeiteten Frauen aber auch in den meisten anderen Berufen, meist neben ihren Männern, die diesen Beruf ausübten (und ausgebildet von ihren Eltern, die ihn bereits auch erlernt hatten; Heiraten fanden meist innerhalb desselben Berufsstands statt). Sie konnten als Witwen und Erbinnen auch in die Zünfte gelangen, wo sie als passiv gleichberechtigte Mitglieder wirken konnten – jedenfalls bis zur Heirat, von welchem Zeitpunkt an diese Rechte an den Ehemann übergingen. Dies machte solcherart ausgestattete Frauen zu ungemein attraktiven Partnerinnen und erstklassigen Kandidatinnen auf dem Heiratsmarkt, ein Vehikel des sozialen Aufstiegs.

Einige Berufe waren besonders weiblich geprägt. Dazu gehörten etwa die Bräuerinnen, die Bier herstellten. Dieses war das alkoholische Getränk der Masse (Wein war ein Elitengetränk) und damals noch kaum haltbar, so dass beständig neues gebraut werden musste. In den Brauereien das Wasser zu kochen und zu schleppen war eine typische Frauenarbeit, die auch recht gefährlich war und zu furchtbaren Unfällen führen konnte. Der Textilbereich war gleichfalls eine weibliche Domäne; das allgegenwärtige Spinnen wurde vor allem in Hausarbeit erledigt. Zudem waren Frauen in allen Arten von Dienstberufen überrepräsentiert, die natürlich ein entsprechend geringes Prestige hatten. In der Medizin arbeiteten Frauen vor allem als Hebammen und in Hilfspositionen, da ihnen das medizinische Studium ebenso wie die entsprechenden Ausbildungshänge verwehrt waren.

Ein größerer Abschnitt ist der Sexarbeit gewidmet. Sie war als normal akzeptierte Arbeit gesehen und nicht illegal oder grundsätzlich anrüchig, weil man ihre Notwendigkeit anerkannte (für unverheiratete Männer die einzige Möglichkeit, ihre überschüssige Hitze abzubauen und die Körpersäfte im Gleichgewicht zu halten). Trotz des gesetzlichen Schutzes, den sie anders als in anderen Epochen genossen, waren die Prostituierten aber sozial ausgegrenzt, da Sexualität außerhalb der Ehe grundsätzlich suspekt war und mussten sich durch spezifische Kleidung ausweisen. Die Normalität des Gewerbes zeigt sich aber darin, dass immer wieder Frauen in den Beruf gezwungen werden konnten, weil die Rechtsprechung ihn als normale Tätigkeit klassifizierte. Der Ausstieg aus der Prostitution war gängig und geschah vor allem durch Buße, welche üblicherweise in einer Heirat bestand. Männern wurde für das sozial erwünschte Heiraten der Prostituierten oft weltliche und geistliche Vergünstigung gewährt, da die Frauen dadurch wieder unter die ebenso gesellschaftlich erwünschte Kontrolle der Männer kamen – unabhängige Frauen mit eigenem Einkommen waren den Zeitgenossen höchst suspekt.

Auch viel religiöse Arbeit wurde von Frauen geleistet. Hier waren reiche Frauen überrepräsentiert, da eigentlich nur ihnen die Klöster offenstanden (wegen der hohen Eintrittskosten). Sie waren dort allerdings klar auf untergeordnete Rollen festgelegt; Frauen waren keine eigenständigen Theologinnen, da dies als gefährlich gesehen wurde. Sie seien schlicht zu zu dumm, um Häresie erkennen zu können, und waren deswegen dafür besonders anfällig.

Die uns bekannteste Frauenarbeit ist die als Herrscherinnen. Adelige Frauen arbeiteteten auch, outsourceten aber schwere körperliche Arbeit an Bedienstete. Stattdessen waren sie viel mit Verwaltung und Diplomatie beschäftigt. Als „Ladies in Waiting„, die höhergestellte Adelige umgaben und für diese Botendienste, Beratung und Vermittlung übernahmen, konnten sie auch recht alt sein – Herrscherinnen brauchten auch erfahrene Gehilfinnen und wollten sensible Themen nicht unbedingt 17jährigen Teenagerinnen anvertrauen. Am arbeitsreichsten war der „Job“ der Königin, der zusätzlich die entscheidende Rolle zukam, dem König gesichtswahrende Revision zu erlauben, indem sie öffentlich für irgendjemanden bat und so dem König erlaubte, vorherige übereilte Entscheidungen zurückzunehmen.

Ab Abschluss steht Kapitel 5, „Why it matters„. Die Frage, warum die Beschäftigung mit dem Mittelalter heute noch irgendwie relevant ist, wabert in dem Bereich ja immer mit, und Janega nennt das relevanteste Argument auch gleich zuerst: weil es dem Erkenntnisgewinn dient und spannend ist. Nicht alle geschichtliche Forschung muss unmittelbar für uns relevant sein. Aber Janega ist natürlich auch der Überzeugung, dass sehr wohl große Relevanz für uns heute bestehe.

Die Ideen von der Unterlegenheit der Frau wurden schließlich von der Antike über das Mittelalter bis in Neuzeit hinein immer wieder übernommen und rezipiert. Wir stehen bis heute, auch wenn wir es uns häufig nicht bewusst machen, in dieser Tradition. Ebenfalls bis heute ein Dauerschema ist die Unsichtbarkeit von Frauen, besonders im Beruf. Frauenarbeit wird systematisch geringgeschätzt und ignoriert, ob es sich um Haus- und Carearbeit dreht oder um Berufe, die überwiegend weiblich geprägt sind. Ihr Prestige ist immer geringer als das von männlichen Berufen.

Die untergeordnete Stellung von Frauen ist ebenfalls eine, die sich lange über das Mittelalter hinaus erhalten hat. Zwar änderten sich die Rechtfertigungen dafür – anstatt eine gottgewollte Ordnung anzunehmen, begannen die Aufklärer, natürlich-biologische Gründe für die Unterlegenheit von Frauen zu suchen, eine Tendenz, die sich bis heute in der Vorstellung findet, Frauen neigten „natürlicherweise“ zu schlecht bezahlten Berufen und Hausarbeit. Aber das grundsätzliche Schema blieb bestehen.

Ebenfalls relevant ist die Wandelbarkeit von Schönheitsidealen. Wer auch immer behauptet, dass Attraktivitätsmerkmale irgendwie biologisch determiniert seien, kann sich durch das Mittelalter eines Besseren belehrt sehen. Schönheitsideale sind sozial konstruiert und unterliegen einem permanenten Wandel, und es sei immer wieder sinnvoll, sich dies vor Augen zu führen. Dasselbe gelte für die Rolle der Sexualität. Das in diesem Zusammenhang wohl wichtigste Element des Buchs ist die Erkenntnis, dass im Mittelalter den Frauen unersättliche Lust zugeschrieben wurde, während die Männer eigentlich gar kein großes Interesse an Sex hätten. Heute wird das genaue Gegenteil behauptet und die Theorie verbreitet, dass Frauen natürlich monogam und eher wenig an Sex interessiert seien, während Männer gerne als unersättliche Sexmonster, die sich kaum unter Kontrolle haben, dargestellt werden. In beiden Fällen wird jeweils die natürliche Ordnung der Dinge bemüht, um die Ideologie zu verbrämen.

Ich empfand die Lektüre des Buchs insgesamt als vergnüglich. Seine überschaubare Länge und vor allem Janegas flotter Schreibstil mit einer feinen, trockenen Ironie, der es immer gelingt, die Balance zu halten und weder in die leider verbreitete Arroganz der Nachgeborenen über die Vergangenheit abzurutschen noch in einen predigenden Tonfall zu verfallen, sondern die Erkenntnisse der Forschung in einer nachvollziehbaren und cleveren Struktur aufzubereiten, tragen maßgeblich zum Lesevergnügen bei. Einzig im letzten Kapitel ist etwas Kritik angebracht, denn hier beginnt die intellektuelle Konsistenz etwas zugunsten Janegas progressiver Agenda ins Wanken zu geraten.

Ob Kontinuität oder Bruch mit mittelalterlichen Ideen, irgendwie zeigt uns alles, dass Frauen heute immer noch in einer problematischen Situation sind, was irgendwie manchmal aufs Mittelalter zurückzuführen ist und manchmal auch nicht, was entweder das Reaktionäre dieser Ideen heute zeigt oder dass das Mittelalter eigentlich viel weiter war, als es das Klischee üblicherweise vermuten lässt – ich empfand das letzte Kapitel als reichlich inkohärent, und das Buch wäre vermutlich besser bedient gewesen, hätte Janega es weggelassen und das Ziehen von Schlussfolgerungen den Lesenden überlassen. Aber es ist ein kurzes Kapitel, weswegen das nicht allzu negativ ins Gewicht fällt, und die intellektuelle Ehrlichkeit des Rests ist überzeugend genug.

 

Bernhard Hennen/Robert Corvus – Phileasson 1: Nordwärts (Hörbuch)

Die Phileasson-Saga gehört zu den großen Klassikern aus der Geschichte des Schwarzen Auges. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre legte Bernhard Hennen den damals vierbändigen Abenteuerzyklus in einer Zeit vor, in der große Kampagnen im Pen&Paper-Bereich noch ein Kuriosum waren und erfand quasi im Alleingang einen großen Block der aventurischen Mystik, indem er den Hintergrund der Hochelfen in die Welt integrierte. Die Kampagne selbst wurde mehrfach neu aufgelegt; Ende der 1990er Jahre, dann 2009 und zuletzt 2015, was auf ihre anhaltende Beliebtheit schließen lässt. Zwischen 2016 und 2023 veröffentlichten Bernhard Hennen und Robert Corvus dann im halbjährlichen Zyklus in insgesamt 12 Bänden eine Romanversion der Kampagne, der mittlerweile mit der Veröffentlichung des 12. Bandes abgeschlossen ist. Ich habe mir den ersten Band nun besorgt und bin in die große Abenteuerfahrt zurückgekehrt. Meine eigene Betrachtung des Stoffes schiebe ich ans Ende dieser Rezension.

Die Saga beginnt im Jahr 1007BF. Wenn man sich klarmacht, dass wir aktuell 1046BF schreiben, sieht man, wie alt der Stoff bereits ist – sowohl in derischen als auch in irdischen Maßstäben. Die Geschichte beginnt mit dem Prolog, in dem der Magier-Lehrling Tylstyr eine Pause von seiner Ausbildung an der Schule der Hellsicht in Thorwal nimmt, um sein Heimatdorf Stainacker zu besuchen. Dort holen ihn, den ewigen Außenseiter, die Geister der Vergangenheit ein: sein Vater zwingt ihn, an einem Akt der Strandräuberei teilzunehmen, bei dem eine albernische Kogge aufgebracht und die Besatzung erschlagen wird. Noch schlimmer ist, dass einer der „Jungmannen“ eine Frau entführt, an der er sich mit den anderen vergeht. Als Tylstyr davon erfährt, will er sie befreien – aber sie kommt ihm zuvor, ermordet ihren Entführer und verschwindet, blutige Rache schwörend. Tylstyr kehrt mit großer Schuld beladen nach Thorwal zurück.

In Kapitel 1, „Die dunklen Nächte„, wird in Thorwal einer der Täter auf ähnliche Weise ermordet. Gleichzeitig kehrt der Entdecker Asleif „Foggwulf“ Phileasson von einer Güldenlandfahrt zurück. Hetfrau Garheld und die Travia-Hochgeweihte beschließen, eine Wettfahrt auszurufen, um Phileassons ewigen Streit mit seinem größten Rivalen, Beorn dem Blender, auszuräumen. 12 Aufgaben warten auf die beiden, die sie in einer in 80 Wochen zu bewältigenden Rundfahrt um Aventurien lösen müssen. Beide Kapitäne dürfen nicht ihre übliche Mannschaft nehmen, sondern müssen sie neu zusammenstellen – eine Chance für Außenseiter wie Tylstyr und seinen Freund Tjorne, der Serienkillerin zu entkommen, für den Elf Salarin, seine Suche nach den Göttern fortzuführen, den Ritter Eichwald, seiner Vergangenheit zu entkommen oder der Waldmenschenfrau Irulla…ihre Motivation bleibt unklar. Die Traviageweihte Shaya kommt als Schiedsrichterin wider Willen mit, nicht eben begeistert, den städtischen Herd zu verlassen.

In Kapitel 2, „Reisevorbereitungen„, nehmen Phileasson und Beorn ebendiese vor. Da sie nicht wissen, wohin die Reise führen wird, müssen sie auch alles vorbereiten. Phileasson gelingt es dank geschickter Nachforschungen herauszufinden, dass es in den Hohen Norden geht, ins Yetiland. Das bestätigt sich am Tag der Abreise: die erste Aufgabe wird das Fangen eines Mammuts im Yetiland sein, die zweite das Finden des legendären Himmelsturms. Das dritte Kapitel, „Auf See„, beinhaltet die Fahrt hinaus zu den Olportsteinen, bei denen die Besatzung zusammenwächst und erste nautische Gefahren überwinden muss. Eisberge, ein unheiliger Sturm und magische Phänomene machen ihnen das Leben schwer. Letztere wurden ihnen von Beorn auf den Hals gehext, der auf den Olportsteinen den Elf Galayne aufgegabelt hat, der mit dunklen Mächten im Bunde ist.

Es ist Kapitel 4, „Im Reich des Wals„, in dem der Plot richtig in Fahrt kommt. In Olport trifft die verzögerte „Seeadler“ Phileassons auf den Nandus-Geweihten Vascal und dessen Nichte Leomara, die irgendwelchen Mächten als Medium dient. Trotz der Bedenken der abergläubischen Thorwaler nimmt Phileasson sie mit. Die Fahrt endet schließlich im Eis vor Yetiland, der „Insel der Schneeschrate“, von wo aus die Geschichte in Kapitel 5, „Auf dem Packeis„, weitergeht. Mit Eisseglern macht sich die Besatzung auf, um ein Mammut („zweizwahniger Kopfschwänzler“) zu finden und zu fangen. Beorns Mannschaft, dank des mittels Blutmagie beschworenen Sturms fast eine Woche voraus, trifft auf eine Gruppe Schneeschrate, die von seiner blutdurstigen und goldgierigen Mannschaft ihrer Felle wegen attackiert wegen. Dies bringt der Gruppe die Feindschaft der die Insel bewohnenden Yetis ein, kostet vier Männer das Leben und verzögert die Gruppe.

Phileasson kann in Kapitel 6, „Das Volk des Schnees„, dagegen den Konflikt ohne Tote befrieden und sich die Freundschaft der Schneeschrate verdienen, die ihn dafür sicher durch das Eis zu ihrem Lager bringen, in dem „Mutter Galandel“, eine Auelfe, die Gruppe trifft. Galandel versuchte einst, den Himmelsturm zu finden, scheiterte aber und verdankt ihr Überleben den Schneeschraten, denen sie seither hilft. Sie unterstützt auch die Gruppe in ihrer Suche, die sie in Kapitel 7, „Das Tal der Donnerwanderer„, in eben jenes führen wird. Dieses durch Geysiere erwärmte Tal weist einen Dschungel und damit reichhaltige Vegetation und Tierwelt auf, zu der auch eine Herde Mammuts gehören. Beorn, der vor Phileasson das Ziel erreicht, kann ein Mammutkalb fangen, weswegen Phileasson ihn auszustechen beschließt und ein ausgewachsenes Mammut fängt. Dank der Magie der Elfen und cleveren Ideen gelingt dies auch. Galandel beschließt, trotz düsterer Vorahnungen der Gruppe beim Erreichen des Himmelsturms zu helfen. Ein altes elfisches Artefakt in ihrem Besitz hilft im letzten Kapitel, „Die zweite Aufgabe„, den Weg zum Himmelsturm gewiesen zu bekommen.

Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zur Phileasson-Saga. Ich habe zweimal versucht, das Ding zu spielleitern, und beide Male ging es daneben. Einmal kamen wir immerhin bis zur neunten Aufgabe, das andere Mal brachen wir bereits bei der sechsten oder siebten ab. Allerdings habe ich auch mit der ersten Neuauflage gespielt und kann nur für diese sprechen. Ich werde an den relevanten Stellen auf meine Erfahrungen Bezug nehmen, soweit ich mich erinnern kann. Das Ganze ist jetzt schon 20 Jahre her.

Überhaupt, Jahre her. Man merkt der gesamten Story ihr Alter an. Das beginnt bereits bei solch offensichtlichen irdischen Anleihen wie der 80-Wochen-Rundfahrt mit PHILEASson FOGGwulf als Hauptcharakter, seinem Sidekick Ohm Follker (der Barde mit der Leier) und der arg konstruierten Rahmenhandlung einer Wettfahrt, die gleichzeitig irgendwie mit göttlich-magischen Questen verbunden ist – man sollte nie allzu hart darüber nachdenken, weil es insgesamt nur wenig Sinn ergibt. Manches, wie die Bedingung des „ihr dürft eure eigene Crew nicht verwenden“, ist offensichtlich der Abenteuerstruktur geschuldet (irgendwie müssen die Spielendencharaktere ja integriert werden), aber letztlich tritt der Beginn des Abenteuers in Thorwal und die ganze thorwal’sche Kultur schnell in den Hintergrund.

Auch der Handlungsverlauf ist ein wenig merkwürdig, da das Pacing eines Abenteuers nicht unbedingt dem einer klassischen Geschichte entspricht. Die Vorbereitungsperiode etwa zieht sich ziemlich. Die Fahrt durch das Eis ist ziemlich gut und spannend erzählt, während die Episode in Olport dann eher ein Info-Dump ist: Exposition, Exposition, Exposition. Solche Episoden zerreißen den Handlungsfaden immer wieder. Am problematischsten ist das Finale der Geschichte, weil das Fangen des Mammuts so absurd ist, dass es Kopfschmerzen bereitet. Ich erinnere mich daran, dass das im Tabletop-Abenteuer schon keine besonders gelungene Episode war; auch im Roman kann nie Ernsthaftigkeit aufkommen, weil jede Faser schreit, dass nichts von dem Geschehen Sinn macht. Von Beginn an ist die Geschichte wesentlich interessanter, wo sie auf den kosmischen Rahmen verweist – der aber in einem Konflikt zu der Wettbewerbsidee steht. Es wird noch interessant sein zu sehen, ob dieser grundsätzliche Widerspruch in den kommenden Romanen besser aufgelöst werden kann.

Ein weiteres ernsthaftes Problem ist die Schreibe selbst. Das betrifft einmal die Dialoge. Der typische DSA-Stil kommt bisweilen sehr hölzern herüber, und die Stilwechsel von dem Verwenden altmodischer Begriffe und gestelzter Sprachkonstruktion zu plötzlichen Vulgarismen wie „verrecken“, die dann einer Elfe in den Mund gelegt werden, sorgt für kognitive Dissonanz. Dialoge insgesamt sind, zumindest im ersten Band, nicht gerade eine Stärke Hennens und Corvus‘.

Eine weitere Schwäche sind die Kämpfe und Actionszenen. Auch diese orientieren sich eher an der Dramaturgie eines typischen Abenteuers, dienen eher der Auflockerung, als dass sie an relevanten Stellen kommen würden. Entsprechend dröge und überlang sind sie auch. Keiner der Kämpfe offenbart irgendetwas über die Charaktere, wie es gute Kampfszenen tun, und die Verläufe sind auch nicht sonderlich spannend. Das Grundproblem aller Rollenspiele, Treffer mit Lebenspunkt- und Schadenspunktsystemen zu haben und diese in sinnige Narrative zu übersetzen, kommt auch hier zum Tragen. Leute werden getroffen, was mal schlimm ist und mal nicht. Genauso sind Verletzungen mal nur Kratzer und mal lebensbedrohlich, je nach Erfordernissen der Autoren, weniger nach interner Konsistenz. Dazu ziehen sie sich wie Leder.

Ein weiteres Problem dieses Romans ist der Subplot um Fiana, die als Zidaine bei Beorn anheuert. Dass Tjylstyrs und Tjornes Nemesis bei Beorn anheuern würde ist einer der vorhersehbarsten Plottwists. Das alleine ist kein Problem, aber die platte Ausführung des „Vergewaltigung macht dich hart“ und die Rückkehr des Opfers als Profikiller-Racheengel ist…problematisch, um es einmal milde zu sagen, und obwohl die Geschichte einen Großteil des Prologs und Tylstyrs Binnenhandlung einnimmt, passiert nie etwas damit. Das ist offensichtlich Setup für die kommenden Romane, führt aber an dieser Stelle zu einem eher unbefriedigenden Leseerlebnis.

Beorn ist zudem als Antagonist merkwürdig blass und farblos. In diesem Band (Rezensionen anderer Portale sprechen davon, dass sich das bessert) ist er ein eindimensionaler, offensichtlicher Bösewicht. Es bleibt unklar, worin seine Anziehungskraft auf seine Mannschaft besteht, und seine Fehler sind so verdammt offensichtlich, dass man ihn schütteln möchte; hier haben die Autoren allzu oft den Daumen auf der Schicksalswaage, und angesichts der anstehenden Unterwerfung unter den Willen Pardonas bin ich skeptisch, wie viel besser das werden wird.

Ein letzter Kritikpunkt folgt aus den Genannten und betrifft die Länge: für den Umfang des Romans passiert recht wenig; viele Seiten werden mit vergleichsweise mundänen und repetitiven Elementen gefüllt. Hier wäre weniger mehr gewesen, und angesichts der zunehmenden Länge der Romane schaue ich dem Fortgang etwas zwiespältig entgegen. Auch ist die Wahl einer auktorialen Erzählhaltung eine verpasste Chance. Ein personaler Erzähler hätte angesichts der Doppelstruktur der beiden Crews und der vielen verschiedenen kulturellen Hintergründe ein spannenderes Gesamtwerk ergeben können; so wird allzu oft in „Let me tell you about my character“-Manier die Hintergrundgeschichte ausgebreitet.

Was eine Stärke des Bandes ist, ist das Worldbuilding. Hennen und Corvus sind sehr gut darin, die Welt greifbar zu machen und die Gefahren, die aus der Natur erwachsen, hervorragend aufzubauen. Der Hohe Norden ist eine sehr gut fühlbare Landschaft, und auch Thorwal ist in den Szenen, die den Raum zum Atmen bekommen, ein lebendiges Setting. Ich hoffe, dass die Beiden mit besserem character building auf diese Erfolge aufbauen werden. Wenigstens den Himmelsturm will ich noch lesen, weil ich daran gute Erinnerungen aus dem eigentlichen Abenteuer habe – wenigstens für das Potenzial der Geschichte, wenn nicht für die Ausführung. Aber dazu später mehr.

Bernhard Hennen/Robert Corvus – Die Phileasson-Saga 2: Himmelsturm (Hörbuch)

Die zweite Aufgabe der Phileasson-Saga, die Entdeckung des Himmelsturms, gehört ohne Zweifel zu den Highlights dieser Geschichte. Vermutlich, weil der Entdeckung der Überreste alter Kulturen schon immer eine große Faszination innewohnte. Die monumentale Epik, die Mystik, die Atmosphäre von Größe und Bedeutung sind einfach unwiderstehlich, egal ob Indiana Jones oder Asleif Phileasson durch Ruinen stapft. Dasselbe gilt auch für Abenteuer. Wer erinnert sich nicht an den Moment, in dem die Argonath in „Der Herr der Ringe – Die Gefährten“ vor deren Booten auftauchen? Nun bot bereits das Abenteuer, das die Grundlage des Romans darstellt, das Problem, dass die Erkundung des Himmelsturms in einen Museumsrundgang verkommen könnte. Im Spiel ist das Erkunden der Räume, das Nachforschen der Geheimnisse und das Konfrontieren alter Fallen und Geister auch sicher spannend. Nur – trägt es auch für einen Roman?

Im Prolog lernen wir Abdul el Mazar kennen, einen Novadi, der seine Magierausbildung an der Akadamie Rashdul erhielt. Diese besaß seinerzeit noch ihren dämonischen Zweig, und Abdul gehört zu seinen Abgängern. Was genau der Beschwörer früher tat bleibt außer Andeutungen auf „dunkle Pfade“ eher unklar; die Handlung wird aber von diesem Unterton permanent begleitet. Bei Kannemünde werden sein Bruder und seine Schwägerin von al’anfanischen Sklavenhändlern ermordet, seine Nichte in die Gefangenschaft verschleppt. Mit deren Zwillingsschwester reist er nach Al’Anfa, um sie zu befreien. Dort schleicht er sich in eine Zeremonie von Dämonenanbetern ein, die junge Frauen opfern, um verlorenes Augenlicht wieder zu erlangen. Die Rettung gelingt knapp, doch auf der Flucht muss Abdul feststellen, dass er genarrt wurde: er ist nicht mit seiner Nichte dort eingedrungen, sondern mit einer einen Illusionszauber nutzenden Elfe, die ihn nun gefangensetzt, damit er nicht einer weit größeren Verschwörung auf die Spur kommt.

In Kapitel 1, „Himmelwärts„, geht es dann zurück ins Ewige Eis. Beorn stößt auf ein Grab im Eis, in dem die Leichname von Elfen zur Ruhe gebettet sind, die gegen andere Elfen in einem Bruderkrieg fielen. Galayne warnt die Thorwaler, nichts von diesen zu plündern, aber einer von ihnen missachtet die Warnung. Nach einem kurzen Kampf gegen Beorns Mannschaft, die sie in der Nacht überfallen, um die Eissegler zu zerstören, stößt die Ottajasko Phileassons auf den Himmelsturm, als ihre Eissegler plötzlich von einer magischen Macht in die Höhe gezogen werden. Über Stunden gleiten die Segler weit über 100 Schritt in die Höhe, ehe sie im Turm landen. Dort bietet sich der Anblick eines Gemetzels; die Opfer sind alle eingefroren. Es ist unmöglich zu sagen, wie lange das zurückliegt. Kapitel 2, „Licht und Ton„, sieht dann die Erkundung des Obergeschosses durch Beorns Trupp. Sie finden einen Raum mit gewaltigem Lichtspiel, in dem den Plünderer aus dem Grab sein Schicksal ereilt: ein Wächtergeist tötet ihn, was den Rest allerdings nicht davon abhält, auch im Himmelsturm Leichen zu plündern.

In Kapitel 3, „Zeugen des Turms„, erkundet Phileassons Mannschaft die ersten Räume. Sie finden Reliefs, merkwürdige Hinterlassenschaften und magische Wunderwerke, die alle darauf hindeuten, dass der Turm ein hochelfisches Artefakt darstellt. Zwei Fraktionen scheinen einen Bruderkrieg gekämpft zu haben. Die Mannschaftsmitglieder sind zwischen Faszination und Schrecken hin- und hergerissen. Die titelgebenden Zeugen des Turms sind Raben, die Asdhira-Fetzen plappern, die für die Gemeinschaft aber noch wenig Sinn ergeben. Das vierte Kapitel, „Eine fremde Welt„, sieht weitere Erkundungen. Es wird immer klarer, dass der Turm sehr alt ist, aber ob er bewohnt ist, ist weiterhin unklar. Beide Mannschaften begegnen sich wieder und teilen in einer angespannten Stimmung ein Lager, bei dem sich beide Travia-Geweihte ebenso austauschen wie Galayne und Galandel – letztere erkennt dabei die Düsternis Galaynes, der magisch ihr Gedächtnis löscht, damit sein Geheimnis – das an dieser Stelle unklar bleibt – nicht enttarnt wird.

In Kapitel 5, „Unbarmherziges Schicksal„, lässt die Mannschaften auf Ometheon selbst treffen, der in verflucht in einer Zeitschleife gefangen scheint. Er durchlebt permanent den Moment seiner Ermordung durch eine unbekannte Person. Eingreifen kann die Gruppe nicht, aber es wird immer offenkundiger, was vor tausenden Jahren im Himmelsturm geschah. Vorerst aber müssen sich die Recken den Angriffen eines Geistes erwehren: offensichtlich gibt es böse Einflüsse. Kapitel 6, „Spiegel von Mut und Verlassenheit„, bestätigt diese Vermutung: in einem Spiegelkabinett stößt Beorns Gruppe auf zwei Geister, die Opfer in die Spiegelwelt ziehen. Nur der Segen geweihter Waffen schützt vor der Bedrohung, was Galayne reichlich verunsichert.

Phileassons Gruppe findet indes in Kapitel 7, „Der Tempel der göttlichen Erleuchtung„, den titelgebenden Raum, der im Gegensatz zum Rest des bisher erforschten Turms weiter in Benutzung ist. Zwei Shakagra beten hier, doch da außer Galandel – die einen Schockzustand ob des Anblicks erleidet – die Dunkelelfen kennt, versucht man, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Tylstyr erkennt glücklicherweise, dass sie einen Beschwörungszauber unternehmen, und es kommt zum Kampf, in dessen Verlauf die Shakagra flüchten. Kapitel 8, „Die Krypta„, führt in die Experimentierräume Pardonas. Diese weisen neben grauenhaften Seziertischen auch ein Portal in die Niederhöllen auf. Es gelingt der Gruppe, der Gefahr zu entrinnen und zahlreiche Schriften sicherzustellen. Sie finden den hier gefangenen Abdul und befreien ihn; sein Geist ist allerdings von Wahnsinn umnebelt. Die allgegenwärtige dämonische Aura stellt für die Elfen eine Pein, für Tylstyr und Vascal eine Versuchung dar. Der Lösung des Rätsels näher kommt man in Kapitel 9, „Die Kammern des Schutzes vor göttlicher Ungnade„. In diesen gefängnisartigen Kammern aus Blei, die komplett von der Außenwelt abgeschnitten sind, gingen die letzten Hochelfen langsam zugrunde und hinterließen Botschaften in den Wänden. Der Gruppe wird klar, dass Pardona sie versklavte und sich ein Volk von ihr hörigen Nachtalben erschuf.

Beorn indessen stößt in Kapitel 10, „Weißer Stein und schwarzer Stahl„, ebenfalls auf eine Gruppe Shakagra. Wie bei Phileasson versuchen diese, Freundlichkeit vorzutäuschen. Beorn geht zum Schein darauf ein, vertraut ihnen aber keine Sekunde und plant, sie anzugreifen, wenn die Gelegenheit günstig ist. Phileasson indessen erreicht in Kapitel 11, „Die Hallen des Feuers„, unterirdische Kammern voll Dampf und Magma. Hier zeigt sich, wie der Himmelsturm geheizt wurde (ein Dampfdrucksystem), aber wichtiger sind die zahlreichen Sklav*innen, die hier von den Shakagra zur Herstellung abnormer Mengen Glas gezwungen werden. Durch Vascalls Neugier und Phileassons Willen, so viele Gefangene wie möglich zu befreien, kommt es zur Entdeckung und zuk Kampf. Das lange Rückzugsgefecht führt zuerst in Kapitel 12, „Der große Park„, durch den titelgebenden Park zurück, wo die Gruppe einem lebendigen Steingreifen begegnet, den sie beinahe nicht bezwingen können. Es ist Salarin, der plötzlich wie ein Berserker kämpft und in Phileasson seinen König zu erkennen glaubt – offenkundig beherrscht von Erinnerungen, die nicht die seinen sind -, der die Gefährten retten kann.

In Kapitel 13, „Gefrorene Segel„, erreicht die Gruppe im Erdgeschoss bei den Eisseglern der Elfen eine kurze Rast, bei der ihr ein Travia-Wunder Shayas hilft. Beorn indessen schließt mit Galayne den Plan, ein Mitglied seiner Ottajasko verletzt zurückzulassen, das als Spitzel Phileassons Gruppe beitreten soll. Zidaine meldet sich dafür freiwillig, weil sie hofft, auf diese Weise Revanche and Tronde und Tylstyr üben zu können. Galayne bereitet sie darauf vor, wobei Lesenden klar wird, dass er sein eigenes Spiel spielt: er ist ein Fey’lama, ein Elfenvampir, der von den Shakagra ausgestoßen wurde und in der Gefangennahme von Beorns Mannschaft auf Wiederaufnahme hofft. Auf dem Weg weiter nach oben begegnen sich die Gruppen in Kapitel 14, „Vereinter Kampf„, und stellen sich den Verfolgern. Nach einem heftigen Gefecht gelingt es Phileassons Gruppe, sich abzusetzen und weiter nach oben zu fliehen, wo der Kapitän die Entscheidung trifft, das „Kleine Meer“ zu zerstören und so den Weg zu blockieren, was Beorns Gruppe zum Untergang verdammt. Auch Eichwardt bleibt zurück. In Kapitel 15, „Die Flucht„, gelangt die Gruppe zurück zu den Eisseglern und verlässt den Himmelsturm. Zwei verfolgende Gletscherwürmer werden durch ein Praioswunder (von einem befreiten Praiosgeweihten) vernichtet und von einem begeisterten Phileasson als Beute eingepackt, der sich weiter nach Riva macht. Der Epilog, „Die Göttin„, zeigt, wie der gefangene Eichwardt von Pardona im „Raum der Offenbarung“ aufgeschnitten wird, die sein Herz in eine tulamidische Zauberin verpflanzt. Der Zweck bleibt unklar.

Ich begann die Rezension mit der Frage, ob die Rahmenhandlung und der Aufbau des Abenteuers für einen Roman taugen. Die Frage kann auch erweitert werden: taugen die Erzählkonventionen eines Rollenspielabenteuers überhaupt für andere Medien wie einen Roman? Nach der Lektüre von „Himmelsturm“ kann die Frage mit einem entschiedenen „Nein“ beantwortet werden, zumindest in der Form, wie Hennen und Corvus die Sache angehen.

Da wäre allein das Pacing der Geschichte. Der Großteil der Handlung besteht in dem Betreten neuer Räume, ihrem Untersuchen und dem Wiederholen dieses Vorgangs. Immer wieder wird das durch Actionsequenzen unterbrochen. Für ein Rollenspielabenteuer ist das ein völlig akzeptabler Aufbau. In einem Roman ist es an Langeweile kaum zu überbieten. Wir sehen mindestens dreimal Vascal beim Wirken seines Wunders der Verständigung zu, sind ebenso oft bei Tylstyrs Anwendung des XENOGRAPHUS dabei, erfahren alle paar Seiten aufs Neue, dass Phileasson ein Breitschwert und einen eisengefassten Rundschild hat, den er in Erwartung von Gefahren hebt, dass Salarin und Galandel die magische Melodie des Ortes spüren oder dass Shaya ihren Wanderstab schützend vor die Brust hält. Die Monotonie, Eintönigkeit und ständige Wiederholung der Kämpfe, in denen es um nichts geht, die aber in endlosem Detail geschildert werden, ist kaum auszuhalten.

Das ist auch ein grundsätzlicher Punkt, der bei weitem nicht nur diesen Roman betrifft; mir fielen spontan viele Produktionen seit der vierten Phase des MCU ein, die das gleiche Problem haben: Kämpfe sind kein Selbstzweck, sie dienen der Charakterisierung. In einem Kampf drückt sich ein innerer oder äußerer Konflikt von Charakteren aus oder erhalten Charaktermerkmale Gelegenheit, ausgedrückt zu werden. Das unterscheidet ihn in Geschichten fundamental von Rollenspielabenteuern, wo er zum Spiel gehört und ein zentraler Bestandteil des Spielerlebnisses ist. Nichts davon trifft auf ein passives Medium wie Buch oder Film zu. Es hat schon seinen Grund, dass der Versuch, Videospiele wie Tomb Raider oder Assassin’s Creed zu verfilmen, beständig scheitert.

Dazu kommen hier Probleme wie die völlig oberflächliche Charakterisierung der Figuren. Die Romanreihe ist nun bereits 900 Seiten lang; das ist ungefähr die Länge eines „A Game of Thrones“ oder „A Clash of Kings“. Wo mir diese Romane über 14 Charaktere einführen, in einem Detail und einer Komplexität, dass sie mir wie Mitglieder meiner Familie wirken, habe ich immer noch nicht die geringste Ahnung, wer Phileasson ist. Ich weiß noch nicht einmal, warum er den Beinamen „Foggwulf“ hat! Warum sollte mich irgendwie das Schicksal Eichwardts interessieren, wenn ich über den Mann so gut wie nichts weiß?

Aber das ist nicht einmal das schlimmste. Denn wann immer die Charaktere tatsächlich irgendwie auf die Geschehnisse um sie herum oder die Personen, mit denen sie sich umgeben, reagieren, sterben die Gehirnzellen im Dutzend schlimmer. Das Verhalten Beorns im Besonderen ist so unglaublich albern, dass man nur noch schreien möchte. Die Thorwaler schwenken permanent zwischen pennälerhafter Macho-Aggression und einem unverdienten „No Thorwaler Left Behind“-Ethos hin und her, der in keiner der beiden Varianten irgendeine Verankerung in narrativer Grundlagenarbeit hat. Charakterbeziehungen werden in geradezu schmerzhafter Lattenzaunigkeit erzählt: „Lenya war immer mehr zum schlagenden Herz der Ottajasko geworden.“ Ach was? Und woran würde ich als Leser das merken, wenn Hennen und Corvus es nicht einfach als Tatsache präsentieren würden? Show, don’t tell! Diese Grundregel des Erzählens scheint der Bestsellerautor hier völlig vergessen zu haben.

Auch ist Subtilität nicht eben eine Stärke der Geschichte. Dass der Blutmagie wirkende Galayne, der nie seinen Helm mit Visier abnimmt, wahrscheinlich nicht eben vertrauenswürdig ist, dürfte selbst Neulingen des Fantasygenres aufgefallen sein. Auch dass Zidaine die neue Identität des Vergewaltigungsopfers aus Thorwal ist, war bereits im ersten Roman schmerzlich offenkundig geworden. Warum Hennen und Corvus darauf bestehen, solch offensichtliche Twists als überraschend zu behandeln, ist mir völlig schleierhaft, wie es auch die Entscheidung für eine auktoriale Erzählperspektive generell bleibt – oder die Tatsache, dass die Handlung Phileassons Mannschaft rund 80-90% der Seiten einräumt und Beorn kaum eigenen Raum bekommt – den er vor allem dazu nutzt, eine von einem 14jährigen ausgedachte Version eines harten Kerls zu performen.

Dazu kommt noch eine hörbuchspezifische Kritik: der Sprecher liest nicht nur unendlich langsam (ich habe das Ding auf 1,5facher Geschwindigkeit gehört und immer noch das Bedürfnis, schneller zu machen!), sondern betont auch noch alles auf eine grausige Art. Die Elfen sprechen monoton und ziehen JEDE. EINZELNE. SILBE. UNENDLICH. IN. DIE. LÄNGE., während praktisch alle anderen Charaktere einen rau-aggressiven Deklamationstonfall haben, als würden sie weltbewegende Ereignisse verkünden, selbst wenn Shaya gerade nur Honig in den Brei rührt.

Ein letztes Problem ist die interne Logik der Rahmenhandlung, die der Abenteuervorlage geschuldet ist. Das Wettrennen und der Streit um den Titel „König der Meere“ ist angesichts der kosmischen Bedeutung der Ereignisse, in die sie verstrickt werden, und der Geheimnisse, die sie lüften, lächerlich bedeutungslos. Die Charaktere thematisieren dies auch immer wieder pflichtschuldig, ohne den Widerspruch je auch nur annähernd zu adressieren oder gar zu lösen. Offensichtlich leiten irgendwelche Götter den Weg der Mannschaft. Die Zwölfe? Die alten Elfengötter? Der Namenlose persönlich? Es bleibt unklar, aber mich würde das wesentlich mehr beunruhigen als die Verfolgung durch Gletscherwürmer, und selbst das beunruhigt die Mannschaft angesichts der kaum zehn Seiten, die für die Begegnung bleiben, wohl zurecht kaum. Vielleicht sorgt die manifeste Schwäche des dritten Abenteuers als Rollenspielabenteuer ironischerweise dafür, dass der dritte Roman besser wird; ich habe keine Ahnung, wie ein weiterer 500-Seiten-Schmöker aus der dünnen Handlung um die Nivesenseuche zu stricken ist. Ob ich es überhaupt herausfinden will, weiß ich nach der Lektüre der ersten beiden Bände noch weniger.

{ 2 comments… add one }
  • cimourdain 29. Januar 2024, 12:41

    Hinweis: Die Besprechung von „Frauen im Mittelalter“ hast du doppelt reingenommen.

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