Das Urteil des Verfassungsgerichts hat historische Dimension und epische Ausmaße. Zur Halbzeit der Ampel Regierung zerfetzen acht Richter die finanzwirtschaftliche Basis dieser ungewöhnlichen Kombination aus ausgabefreudigen Sozialdemokraten und Grünen und fiskalpolitisch konservativen Liberalen. Nachdem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde (Robert Habeck), muss eine neue Geschäftsgrundlage geschaffen werden.
Der Wahlsieg kam unerwartet. Vor der neuen Regierung steht eine Herkulesaufgabe, nachdem die Mehrheit die alten Patrone aufs Altenteil geschoben hat. Die Jungwähler fühlen sich um ihre Zukunft betrogen und haben die Wahl entschieden. Der neue Regierungschef verspricht die Abkehr von der langjährigen staatsinterventionistischen Politik, die Beseitigung der Bürokratie mit der Abrissbirne und totale Marktradikalität.
Okay, spätestens an dieser Stelle wissen Sie, von Deutschland ist hier nicht die Rede. Das junge Argentinien hat in diesen Wochen genug, um seine Chancen betrogen zu werden. Anders als in Deutschland geht es dabei nicht um fortgeschrittene Staatskunst wie der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in eine klimaneutrale Zukunft. Es geht um die Basics Geldwertstabilität, Armutsbekämpfung, Prosperität. Wie bei ihren Glaubensbrüdern in Westeuropa versucht das traditionell linksorientierte Lateinamerika seit Jahrzehnten die Probleme mit immer mehr Staatsinterventionismus zu bekämpfen. Der Misserfolg irritiert nicht, er führt zu Warnungen von der Abkehr. Milei, obwohl als einziger südamerikanischer Anführer dem Westen zuwandt, wird von den deutschen Linken als große Gefahr, als Wiedergänger des brasilianischen Nationalisten Bolsonaro begriffen. Dass es sich bei Milei um einen Libertären handelt, wird völlig ignoriert.
Von dem Neustart, den junge Argentinier gerade gewählt haben, wagen Liberale hierzulande nicht einmal zu träumen. Die Staatsfinanzen werden gerade erwürgt von planwirtschaftlichen Konzepten, die Bürger ächzen unter einer lange nicht gekannten Inflation, die ihnen die Politik eingebrockt hat, und die Zukunft des Landes steht auf dem Spiel. Der Analogien sind derzeit viele. Am besten passt noch eine Metapher des legendären Giovanni Trapattoni: die Ampel hat fertig.
Die Geschäftsgrundlage, der selbst ernannten Fortschritts Koalition war: die Sozialdemokraten dürfen ein Füllhorn sozialer Wohltaten nebst Aufarbeitung ihres Agenda 2010-Komplexes ausschütten. Die Grünen setzen ihre subventionsgetriebene Transformation der Industrie ins Werk und die Liberalen wachen über die Staatsfinanzen. Oder dürfen zumindest so tun als ob. Rote und Grüne wurden hierbei gut bedacht. Die meisten Politikwissenschaftler verstehen, dass die Wähler der FDP nicht nur enttäuscht, sondern regelrecht frustriert sind.
Die Regierung braucht ein Reset und das, nachdem sie sich seit Monaten wie die Kesselflicker gestritten haben. was geht denn nun, die Ausgabenprogramme von Rot-Grün oder das Mantra seriöser Staatsfinanzen? In diesem Artikel werden die Optionen von Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner beleuchtet. Mehr Schulden, höhere Steuern oder Ausgaben Kürzung?
Auf den ersten Blick wirkt es als pure Übertreibung, in Bezug auf Deutschland von zerrütten Staatsfinanzen zu sprechen. die Bundesrepublik zählt zu den am niedrigsten verschuldeten Staaten der Eurozone, der EU und der OECD. Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte in Deutschland liegt nach EU Regeln derzeit bei 68 Prozent. In der gesamten Eurozone sind es knapp 100 Prozent. Auch der kurzzeitige Ausblick mit Kursziel 60 Prozent liest sich mehr als beruhigend.
Die Expansion der Staatsschulden bis 2060
Doch diese kurzzeitige Entwicklung bis in das Jahr 2030 hinein ist nicht das Ergebnis kluger und weitschauender der Politik. Die Verringerung der Schuldenquote wurde schon vor über zehn Jahren so prognostiziert und resultiert aus der demographischen Entwicklung. Bereits bei der ersten Aufstellung des Berichts zur Tragfähigkeit der Staatsfinanzen gingen die staatlichen Prognostiker davon aus, dass die Erwerbstätigkeit um das Jahr 2025 ihren Peak erreichen würde. es ist der einfache Dreisatz: Hohe Erwerbstätigkeit bei geringer Anzahl von Transferbeziehern bedeutet geringe Belastung der öffentlichen Finanzen.
Das deutsche Problem der Staatsschulden ist nicht das Jahr 2030, sondern 2050 und folgende. Im Jahr 2011, wir befanden uns vor Beginn einer zehn Jahre währenden Phase sinken der Zinsen, kalkulierten die Beamten im Bundesfinanzministerium mit einer Gesamtschuldenquote von knapp 200 Prozent in 30 Jahren. Als 2020 unter dem Finanzminister Olaf Scholz der letzte Tragfähigkeitsbericht aufgestellt wurde, ging die Haushälter von einer weiteren langen Phase niedriger Zinsen aus. Sie erwarteten deswegen nur eine Gesamtschuldenquote von 100 Prozent im Jahr 2050. Diese Annahme ist längst überholt.
Die Migration der letzten zehn Jahre in Deutschland nicht aus dem Misere retten. Im Gegenteil. Zwar erwarten Ökonomen generell von Migration einen positiven Effekt auf die Einnahmen des Staates. Ein solcher Effekt tritt jedoch nur ein, wenn die Zuwanderer tatsächlich erwerbstätig sind und am besten noch produktiver als die einheimische Bevölkerung. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die meisten der 2015/2016 zugewanderten Flüchtlinge sind bis heute im Transferbezug, die hierher geflüchteten Ukrainer erhalten weitgehend Bürgergeld. Die deutsche Politik wird auf die zweite Generation der Migranten hoffen müssen. Doch auch hier gibt der Tragfähigkeitsbericht der Bundesregierung Auskunft: eine Erhöhung der Fertilisationsquote – und um nichts anderes handelt es sich, wenn der Staat für die Ausbildung von Migrantenkindern aufkommen muss – führt in den ersten Jahrzehnten zu steigenden Kosten für die aufnehmende Gesellschaft. Soweit die zweite Generation der stattfindenden Migrationswelle überhaupt Nutzen für das Gemeinwesen erbringen kann, so liegen diese Erträge deutlich in der zweiten Hälfte diesem Jahrhunderts.
Der Segen der Schuldenbremse
Wenn wir weiter Steuern und Abgaben so ausgeben wie bisher, werden unsere Kinder nichts mehr haben, womit sie das Gemeinwesen gestalten können. Wer behauptet, die heutige Finanzierung von Straßen, Gebäuden und Energiewenden dienten auch den Menschen in 20 Jahren, belügt die Bürger. Der Bundesrechnungshof spricht in diesem Zusammenhang von der Versteinerung der Staatsfinanzen. Die staatlichen Rechnungsprüfer schreiben sehr eindringlich, was jeder Finanzwirtschaft da seit sehr vielen Jahren weiß: die Politik kann bereits heute nur noch über 10 Prozent der gesamten Einnahmen gestalterisch verfügen. Die übrigen 90 Prozent sind langfristig durch Verpflichtungen gebunden.
Wie aber will die Politik ihren Handlungsspielraum erweitern, indem sie weitere langfristige Verpflichtungen in Form von Schulden eingeht? Da funktioniert nur eine Begründung Orwellschen Ausmaßes. Und es wird noch schlimmer, denn der Bundesrechnungshof zeigt genau auf, dass auch dieser geringe Handlungsspielraum der Politik in den nächsten Jahren weiter sinken wird.
Vor Jahresfrist schrieben die Rechnungsprüfer des Bundes:
Die grundgesetzliche Schuldenregel ist eine geeignete Grundlage, um die langfristige Tragfähigkeit der Haushalte von Bund und Ländern zu sichern. Sie ist kein Selbstzweck. Vor dem Hintergrund knapper Ressourcen zwingt sie dazu, die haushaltspolitischen Prioritäten abzuwägen. Dafür bedarf es jedoch zusätzlicher Informationen zu den bereits heute absehbarenkünftigen fiskalischen Belastungen.
Die Folgen des realen Degrowth
Die potentiellen zukünftigen Ausgaben, die sich der Staat in den vergangenen 20 Jahren durch Leistungsversprechen aufgehalst hat, sind das Eine. Gleichzeitig hat die Politik alles getan, damit die staatlichen Einnahmen zukünftig so gering wie möglich ausfallen. Das Potenzialwachstum, das die langfristige Veränderung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bei normaler Auslastung der Produktionskapazitäten misst, befindet sich inzwischen laut Gutachten des Sachverständigenrates mit 0,4 Prozent auf einem Allzeit-Tief.
Stieg diese wichtige Kennzahl nach den Arbeitsmarktreformen der Schröder-Regierung von 1,1 Prozent auf über 2 Prozent Mitte der Zehnerjahre, so befindet sie sich längst in einem dramatischen Abwärtstrend. für den Versuch, mittels kräftiger Verschuldung das Wachstumspotenzial eines Staates steigern zu wollen, gibt es einige historisch schlechte Beispiele. Nachdem Griechenland 2002 der Eurozone beigetreten war, zeigte es über einige Jahre ein überdurchschnittlich hohes, allerdings schuldengetriebenes Wachstum. Die Geschichte endete nach einem Jahrzehnt mit einem de facto Staatsbankrott.
Das kann sich wieder Deutschland, aber auch nicht die Eurozone leisten. Sowohl die Kredite der EU als auch die nationalen Bonds der hoch verschuldeten Mitgliedsländer Italiens, Spaniens, Portugals als auch zunehmend Frankreichs hängen an der deutschen Bonität. Nur weil das größte und als einzige mit einem Tripple-A-Status ausgestattete Mitgliedsland der Eurozone haftet, können sich die europäischen Staaten noch zu moderaten Zinsen verschulden. Doch beste Bonitätsnoten bei einer Schuldenquote von 100 Prozent und einem Potenzialwachstum nahe Null sind ausgeschlossen. Die Ampelparteien spielen mit der Zukunft Deutschlands und Europas.
Lehren der Vergangenheit
Das Urteil war aus Karlsruhe kaum über den Äther gesandt, da begann die politische Diskussion über eine „Modifizierung“. In vorderster Reihe der Kämpfer, die Schuldenbremse zu schleifen, steht der Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. Wer ein treffendes Beispiel sucht, wo Politiker ihre Rolle von Exekutive und Legislative verwechseln, wird bei den Grünen immer fündig. Die Regierung ist gehalten, die Verfassung unter allen Umständen zu verteidigen. Der Deutsche Bundestag kann als Regelsetzer das Grundgesetz ändern.
Die Idee, die alte Verschuldungsregel des Grundgesetzes zu verschärfen, entstand Anfang diesen Jahrhunderts. Damals musste der Finanzminister jeden siebten Euro, den der Staat ausgab, für Zinszahlungen verwenden. Die Finanzpolitik war ziemlich am Ende, die erste Merkel-Regierung musste ein drastisches Ausgabenkürzungsprogramm auflegen. Für die meisten in Politik und Wissenschaft war damals offensichtlich, dass der Haushalt auf diese Art in kurzer Zeit in die Knie gehen würde.
Auf dem gleichen Pfad befindet sich Deutschland heute wieder. Inzwischen gehen 10 Prozent der Ausgaben des Bundes für Zinsen drauf, Tendenz: schnell stark steigend. Doch leider stehen an der Spitze der Bundesregierung eine Reihe von Politiker, die die Zeichen der Zeit einfach ignorieren wollen. Die meisten Sozialdemokraten und Grüne tun so, als habe der Staat seit 2020 nicht am Stück Verschuldungsorgien gefeiert und zuvor das Steuergeld mit vollen Händen verprasst.
Was linkem Gestaltungswillen entgegensteht, muss weg. Die Argumente gegen die Schuldenbremse sind so alt wie der Unwillen der Politik mit dem Geld auszukommen, was man vom Bürger bekommt. Ganz vorne steht die Theorie, eine Ausgabenbeschränkung des Staates würde Investitionen verhindern. Seltsamerweise ist bisher jedoch kein Journalist auf die Idee gekommen, die Behauptung auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Als ausreichende Beweise werden die unterlassenen Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung und Klimaschutz erachtet.
Wachstum der Investitionen trotz Schuldenbremse
Wenn die Begrenzung der Schuldenaufnahme die Investitionstätigkeit des Bundes behindert, dann müsste sich dieses durch eine sinkende Investitionsquote nach 2012 in den Ausgaben zeigen. In den achtziger Jahren sank die Investitionsquote des Bundes (Investitionen /Gesamtausgaben) von 15 Prozent auf 10 Prozent zum Ende des Jahrzehnts. Nach der Bewältigung der Wiedervereinigung pendelte sich die Investitionstätigkeit auf knapp 10 Prozent der Gesamtausgaben ein. In der zweiten Hälfte der Zehnerjahre stiegen die Ausgaben für Investitionen langsam, aber stetig auf über 11 Prozent an.
Auch in absoluten Zahlen haben sich die Investitionen des Bundes erhöht. Lag der Mittelwert in den Nullerjahren bei 26 Milliarden Euro, erhöhte sich dieser in den Zehnerjahren auf 35 Milliarden Euro und bewegt sich inzwischen durchschnittlich in Höhe von 47 Milliarden Euro. Am Geld fehlt es nicht. Dass der Bund Kredite vorrangig für Investitionen verwendet, ist ebenfalls eine Mär. In den letzten 20 Jahren wurde nur ein Teil der aufgenommenen Kredite tatsächlich für Investitionen verwandt, der andere Teil wanderte in den Sozialetat.
Zwischenfazit: Die These, der Staat habe nicht genügend Mittel für Investitionen, kann ins Reich der Legenden verwiesen werden. Die Begrenzung der Schuldenaufnahme hat die Bundesregierung nicht in ihrer Investitionstätigkeit ausgebremst, im Gegenteil. Es zeigt sich jedoch auch, wenn der Finanzminister die Möglichkeit zu unbegrenzten Schuldenaufnahme hat, dann nutzt er sie in der Regel zu nicht-investiven Zwecken. Es besteht kein echter Spielraum zur Erhöhung der Kreditaufnahme, soweit nicht die Finanzbasis des Landes nachhaltig ruiniert werden soll. Teile der Bundesregierung missachten mit ihren Forderungen nach Lockerung oder gar Aufhebung der Schuldenbremse ihre eigenen Fachleute, ihre eigenen Analysen und ihre eigenen Ökonomen des BRH. So viel Ignoranz war selten.
Danke für die interessante Darstellung. Wird die Schulden-Hasardeure aber wohl nicht beeindrucken. Sie lieben es so sehr, das Geld anderer Leute auszugeben, dass sie es selbst dann mit den Händen zum Fenster rauswerfen, wenn es noch gar nicht verdient wurde.
Mich würde noch interessieren, welcher Anteil der (Bundes-)Investitionen tatsächlich in produktivitätssteigernde Investitionen fließt. Ist „Investition des Bundes“ irgendwo definiert?
Danke für die Darstellung.
In einigen Punkten sehe ich schon eine tendenziöse Vereinfachung:
…die Bürger ächzen unter einer lange nicht gekannten Inflation, die ihnen die Politik eingebrockt hat…
Die Ereignisse Corona und Ukrainekrieg, die maßgeblich die Inflation getrieben haben, kann man nun nicht solitär der deutschen Politik anlasten.
Die meisten Sozialdemokraten und Grüne tun so, als habe der Staat seit 2020 nicht am Stück Verschuldungsorgien gefeiert und zuvor das Steuergeld mit vollen Händen verprasst.
Die Stützungen der Wirtschaft im Kontext der Coronahilfen und später durch die Energiepreisbremsen waren rückblickend betrachtet zwar eher Füllhorn, aber haben gleichsam politische und soziale Stabilität begünstigt. Die fehlgeleitete Finanzpolitik geht deutlich weiter zurück, als man sich Späße wie Autobahnmaut, Mütterente und Rente mit 63 gönnte (wohlwissend gegen den Rat von ökonomischen Experten aller Lager zu handeln).
Zwischenfazit: Die These, der Staat habe nicht genügend Mittel für Investitionen, kann ins Reich der Legenden verwiesen werden.
Da würde ich widersprechen wollen. Natürlich erlaubt die Schuldenbremse Inevstitionstätigkeiten des Staates – die Frage ist nur, erlaubt sie ausreichende Spielräume. Anders ausgedrückt: Wenn unsere Infrastruktur ein leck geschlangendes Boot ist und die Investition ist der Eimer, um das Boot vom Sinken zu bewahren, dann mag die Schuldenbremse zwar einen Eimer bereitstellen, aber er ist zu klein, um einen positiven Effekt zu bewirken.
Zum Glück stehen dem Finanzminister ja drei Stellschrauben zur Verfügung: Investitionen ausbauen über mehr Schulden, Konsumausgaben begrenzen und Steuern und Abgaben erhöhen.
Es ist meine feste Überzeugung, dass es unvermeidbar ist, an allen drei Schrauben zu drehen um die langfristige Attraktivität und Handlungsfähigkeit des Landes sicherzustellen. Daher bin ich sehr gespannt auf Teil 2 ihres Beitrags, in dem sie sicherlich die übrigen Stellschrauben skizzieren.
Man kann nur behaupten, die dreistelligen Milliardenausgaben für Corona – in Summe eine halbe Billion Euro meiner Kenntnis nach – habe dem gesellschaftlichen Frieden gedient. Und uns muss Angst und Bange beim Auslaufen der Preissubventionen werden, wenn Ihre These stimmt.
Ein Blick über den Tellerrand entlarvt das als Legende. Kein Land der OEDCD hat so viel zur Linderung der Pandemiefolgen ausgegeben. Aber auch kein anderes Land hat so lange an Beschränkungen festgehalten wie Deutschland. Das hat, schaut man in die politische Landschaft, das Land wesentlich mehr gespalten als die Corona-Milliarden hätten heilen können.
Wer den Preis eines Gutes niedrig halten will, hält das Angebot hoch. Deutschland geht auch hier seinen eigenen Weg. Das Angebot an Strom und anderer Primärenergie wird verknappt. Wenn die Preise hoch sind, werden die Bürger beruhigt, irgendwann werde der Ausbau der Erneuerbaren für sinkende Preise sorgen. Das Problem ist das irgendwann, wo die meisten gerne hätten: Heute.
Obwohl Deutschland so viel „investiert“ hat, bekommt es seit Ende der Neunzigerjahre kein Wachstum mehr hin. Deutschland ist nicht erst seit 2022 Schlusslicht bei der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern bereits seit 2018. Anscheinend haben die Milliarden mehr gelähmt als angefeuert.
Ich will den Lesern die Fakten nennen, denn gerade die Befürworter der Lockerung / Abschaffung der Schuldenbremse diskutieren beharrlich daran vorbei. Wenn Regierungspolitiker meinen, angesichts der sehr niedrigen Staatsverschuldung sei eine gute Zeit, Schulden aufzunehmen, frage ich mich: Liest die eigentlich nicht die eigenen (!) Berichte? Die Frage ist doch nicht, wie kann ich heute die Staatsschulden ausweiten, sondern wie halte ich sie nach 2030 unter Kontrolle?
Auch Schulden, die für Investitionen aufgewandt werden, sind Schulden, die die Möglichkeiten in der Zukunft einschränken. Das gilt zumindest so lange wir uns verhalten wie die letzten 70 Jahre. Noch hat mich niemand überzeugt, dass es diesmal anders werden könnte. Deutschland hat zweimal in seiner Nachkriegsgeschichte ein großes Verschuldungsprogramm zur Verbesserung der Infrastruktur und der öffentlichen Leistungen aufgelegt. In den Siebzigern wurden Schulen und Universitäten renoviert, Straßen ausgebaut, Lehrer eingestellt. Das trieb Deutschland in eine lang anhaltende Wachstumsschwäche. Die damals modernisierten Schulen und Universitäten sind längst baufällig oder geschlossen. Die Straßen 10 mal neu geteert und die Lehrer in Pension. Aber die Schulden sind immer noch da. Das gleiche Spiel bei der Finanzierung der Deutschen Einheit.
Kein Unternehmer könnte überleben, wenn er immer seine Schulden aufbaut, aber nicht tilgt. Ist die Straße baufällig, muss auch das Darlehen auf Null zurückgeführt sein. Dazu muss immer eine strenge Ertragskontrolle nachgehalten werden. Beide Bedingungen treffen auf Staatsschulden nicht zu. Es bedurfte wissenschaftlicher Studien und nicht staatlicher Buchhaltung, um die Verwendung der Kredite Deutsche Einheit nachzuvollziehen. Der Staat hat keinerlei Interesse an Leistungskontrolle. Wenn er die Bedingungen für schuldeninduzierte Investitionen nicht erfüllen will, kann er auch nicht die Argumente für fremdfinanzierte Ausgaben in Anspruch nehmen.
Angeblich soll durch die Schuldenaufnahme die Investitionstätigkeit des Staates ausgeweitet werden. Empirisch wurde diese Bedingung nie erfüllt. Aber die wichtigere Frage ist: Kann der Staat im Zusammenspiel mit dem Markt überhaupt ein solches Investitionsvolumen wuppen? Die Antwort sieht man an dem Staatsunternehmen Deutsche Bahn: Nein. Das formal privatisierte Unternehmen ist nicht in der Lage, die vom Eigentümer Staat weit über das normale Volumen zur Verfügung gestellten Mittel schnell und produktiv einzusetzen. Die Kapazitäten sind einfach nicht vorhanden. Wenn aber vor allem Geld in eine Volkswirtschaft gepumpt werden ohne dass zuvor die Ressourcen zur Nutzung geschaffen wurden, endet das nur in Inflation.
Angeblich soll durch die Schuldenaufnahme die Investitionstätigkeit des Staates ausgeweitet werden. Empirisch wurde diese Bedingung nie erfüllt.
Yup! Der für mich mit Abstand wichtigste Grund, mich gegen neue Schuldenorgien zu wenden. Schulden werden, politischer (nicht buchhalterischer oder wirtschaftlicher) Logik folgend IMMER und vorhersehbar für Konsumausgaben aufgewendet, die politischen Anreiz- und Sanktionssysteme lassen in parlamentarischen Systemen gar keinen anderen Schluss zu, was historisch nun auch mehrdutzendfach bestätigt wurde.
Gruss,
Thorsten Haupts
Ein Beispiel: Die 0,6 Billion Euro Staatsschulden durch die Deutsche Einheit waren zu über der Hälfte durch Konsumausgaben verursacht. Die Infrastruktur muss längst wieder erneuert werden, aber die Schulden sind immer noch da.
Obwohl Deutschland so viel „investiert“ hat, bekommt es seit Ende der Neunzigerjahre kein Wachstum mehr hin. Deutschland ist nicht erst seit 2022 Schlusslicht bei der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern bereits seit 2018. Anscheinend haben die Milliarden mehr gelähmt als angefeuert.
1999 betrug das Bruttoinlandsprodukt (ich schaue auf OECD Zahlen) 2,158 Billionen US$ – 2020 lag es bei 5,23 Billionen US$ – das ist mehr als eine Verdoppelung, insb. auch im Hinblick auf die relativ niedrige Inflation. Es gab sicherlich dynamischere Volkswirtschaften, aber in Europa ist Deutschland nach wie vor unter den Top 5 Volkswirtschaften beim BIP pro Kopf.
In den Siebzigern wurden Schulen und Universitäten renoviert, Straßen ausgebaut, Lehrer eingestellt. Das trieb Deutschland in eine lang anhaltende Wachstumsschwäche.
Spannende Lesart, ich dachte immer, das lag an der Ölkrise, dem Zusammenbruch von Bretton Woods, dem Auslaufen des Nachkriegsbooms, dem einsetzenden Strukturwandels und nicht zuletzt überzogener Lohnabschlüsse. Kann es nicht sogar sein, dass diese Bildungsoffensive Grundstein war für einen Arbeitsreservoir, dass die deutsche Wirtschaft in den 80er und 90er Jahren mit guten Arbeitskräften versorgt hat und es vielen Arbeiterkindern ermöglichte sozial aufzusteigen?
Kein Unternehmer könnte überleben, wenn er immer seine Schulden aufbaut, aber nicht tilgt.
Stimmt, Deutschland ist aber ein zuverlässiger Schuldentilger, wäre sonst schwer mit dem Tripple A Rating. Ein kluger Unternehmer wartet auch nicht mit der Investition bis die Maschine kaputt ist, sondern ersetzt sie rechtzeitig, um nicht in Ausfälle zu gelangen.
Nein. Das formal privatisierte Unternehmen ist nicht in der Lage, die vom Eigentümer Staat weit über das normale Volumen zur Verfügung gestellten Mittel schnell und produktiv einzusetzen.
Zustimmung, könnte aber auch an einer völlig verkorksten Unternehmenstruktur und mangelnder Kontrolle durch das Aufsichtsgremium liegen. Wobei auch die Privatwirtschaft nicht vor solchen Wagnissen gefeilt ist: Siehe Bayer, oder die China Abenteuer von BASF, VW und Mercedes die schwer auf Sand gebaut sind.
Ich teile ihre Skepsis beim Staat als Investor – auf der anderen Seite muss das ein sehr deutsches Ding sein, denn andere europäische Länder: z.B. Niederland oder Schweden sind in Punkto Investitionssteuerung deutlich erfolgreicher. Ich vermute hier erhebliche Defizite in Strukturen und einen erheblichen Mangel an Aufsicht.
@Kning4711: Gute und sicherlich lesenswerte Gedanken. Ich bin bislang in meinem Leben mit der folgenden Kurzformel am Besten gefahren:
„Soviel Staat wie nötig; sowenig Staat wie moeglich..“
Das ist das Rezept fuer erfolgreiche Gesellschaften und Nationen..
Klar. Stimme ich dir sogar problemlos zu. Nur: wie viel ist nötig, wie wenig ist möglich, da ist der Streit…
@StefanS: Im Zweifel immer fuer WENIGER Staat votieren und handeln. ..Man kann immer-wenn notwendig- nachbessern. Man wird aber kaum bei „Zuviel “ Staat zurückdrehen koennen. In der Falle sitzen wir ja derzeit in 2023 mit der Ample und einer „Verpaemperten“ und wenig belastbaren Jugend
Das erste ist ein Formulierungsfehler. In der zweiten Hälfte der Nullerjahre war Deutschland gerade pro Kopf betrachtet eines der wachstumsstärksten OECD-Länder. Ich meinte „seit 2018“, was ich ja direkt danach noch präzisiert habe. Sorry!
Spannende Lesart, ich dachte immer, das lag an der Ölkrise, dem Zusammenbruch von Bretton Woods, dem Auslaufen des Nachkriegsbooms, dem einsetzenden Strukturwandels und nicht zuletzt überzogener Lohnabschlüsse.
Das war alles weitgehend erste Hälfte der Siebzigerjahre. Deutschland kam sehr verspätet aus der in der zweiten Hälfte der Siebziger um sich greifenden Wachstumsschwäche, was selbst verschuldet war. So kam es ja schließlich zum Regierungswechsel und ab 1985 zu einer sehr langen Boomphase. Auch da zogen die Löhne sehr stark an, was die „Sockelarbeitslosigkeit“ immer weiter ansteigen ließ und schließlich die erste größere „Outsourcing-Phase“ in der Wirtschaft einläutete.
Wäre es nach den Beamten der damaligen Zeit gegangen, hätte ich weder Abitur gemacht noch später studiert und keinen Uniabschluss. Ich wäre auch nicht Change Manager geworden. Eine besondere Förderung ist mir nicht erinnerlich. Den Großteil meiner Schulzeit verbrachte ich in überdimensionierten Schulklassen, die Bildungskatastrophe der SPD in Hessen bereitete mir große Schwierigkeiten. Und dieses schon damals kaputte Schulsystem soll ursächlich für spätere Aufschwünge gewesen sein? Interessante Perspektive. 😉 Tatsächlich erlebte Deutschland Anfang der Neunzigerjahre, als ich noch studierte, eine Sonderkonjunktur und versank ab 1993 in deiner depressiven Phase. Die wurde durch den Boom der New Economy kurzzeitig unterbrochen, die getrieben war durch die Entwicklung in den USA und ersten Ansätzen zum Aufbau von Risikokapital in Deutschland. Es folgte eine weitere lange Phase der Depression von 2001 bis 2005. Am Ende war mein Jahrgang bereit an der Schwelle der 40.
Richtig ist nur, dass meine Generation wesentlich von Karrierebestrebungen getrieben ist, weshalb sie heute noch – mit Mitte bis Ende 50 – einen außerordentlich guten Ruf am Arbeitsmarkt besitzt. Ganz im Gegensatz zur GenZ. Das gründet aber auf Charakter und Erziehung und hat nichts, definitiv nichts mit den Leistungen des Schulsystems zu tun.
Deutschland hat nicht deswegen ein Triple-A, weil es seine Schulden abbaut. Es baut permanent Schulden auf. Aber von den führenden Wirtschaftsnationen ist ist eines der am geringsten verschuldeten in Relation zum BIP. Das ist die Maßgröße. Unter ökonomischen Gesichtspunkten können wir sehr gut feststellen, woher die 2,5 Billionen Euro Staatsschulden stammen – und sie haben nichts mit dem Kapitalstock zu tun. Oder doch. Schaun‘ Sie doch selbst: Das Kapitalvermögen des deutschen Staates ist weit weniger wert als 2,5 Billionen Euro, wenn wir der Bundesbank Glauben schenken. Das Sachkapital des Staates wird mit 2,7 Billionen Euro bewertet. Darin enthalten sind aber schon 0,9 Billionen Euro an Grund und Boden, wofür der Staat meist nichts bezahlt hat. Wenn Sie das abziehen, dann ist das Sachkapital des Staates mit weit über 100% Schulden belastet. Da hätte jeder wirtschaftlich Handelnde ein Solvenzproblem.
Ein kluger Unternehmer wartet auch nicht mit der Investition bis die Maschine kaputt ist, sondern ersetzt sie rechtzeitig, um nicht in Ausfälle zu gelangen.
Wer sagt das? Haben Sie sich mal die langen Reihen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und dort die Investitionen und Abschreibungen angesehen?
Ein klug handelnder Mensch / Organisation weiß um seine Kernkompetenz. Was kann ich, was kann ich nicht. Und von letzterem sollte ich tunlichst die Finger lassen.
@ Kning4711 8. Dezember 2023, 12:26
Die Ereignisse Corona und Ukrainekrieg, die maßgeblich die Inflation getrieben haben, kann man nun nicht solitär der deutschen Politik anlasten.
Zugegeben – nicht solitär, aber maßgeblich. Für Corona konnte die damalige Bundesregierung nix, zugegeben. Aber viele Maßnshmen erfolgten nach dem Motto „wir müssen irgendetwas tun, irgendetwas“. Aber hier will ich mich nicht aus dem Fenster hängen; im Nachhinein lässt sich besser kritisieren, was man selbst angesichts der Kriose vielleicht genauso entschieden hätte.
Zum Ukraine-Krieg: Die „Reaktion“ der Regierung Merkel auf den Überfall Russlands auf die Ukraine 2014 sowie die Vereinnahmung der Donbass-Region und der Krim war, den Vertrag für Nordstream 2 zu unterzeichnen; Nordstream 2 hatte die Aufgabe, das russische Erdgas an der Ukraine vorbei nach Deutschland zu bringen. Wie man das damals anders interpretieren konnte denn als Ermutigung und als „macht mit der Ukraine, was ihr wollt, interessiert uns nicht“, weiß ich bis heute nicht.
Wenn mir hier einer erzählen will, dass er oder sie „nicht geahnt“ habe, dass – sorry, knallharte(r) Lügner(in) oder einfach nur strunzdumm. Aber für dumm habe ich Frau Merkel nie gehalten.
Da würde ich widersprechen wollen. Natürlich erlaubt die Schuldenbremse Inevstitionstätigkeiten des Staates – die Frage ist nur, erlaubt sie ausreichende Spielräume. Anders ausgedrückt: Wenn unsere Infrastruktur ein leck geschlangendes Boot ist und die Investition ist der Eimer, um das Boot vom Sinken zu bewahren, dann mag die Schuldenbremse zwar einen Eimer bereitstellen, aber er ist zu klein, um einen positiven Effekt zu bewirken.
Nur mal gefragt: Sollte das Konzept nicht sein, mit dem Geld auszukommen, was man hat? Wenn nicht, wenn man nur mit alljährlich neuen Schulden den Kopf über Wasser halten kann, was folgt daraus?
Es wird immer so getan, als sei alles in Ordnung, aber ausgerechnet jetzt, an dieser einen Stelle, müssen wir mal eben Schulden aufnehmen, um …“.
Nein. Schulden machen, um über die Runden zu kommen, ist inzwischen Prinzip. Und das liegt nicht an zu wenig Geld, das hereinkommt, sondern an viel zu viel Geld, dass verkonsumiert wird.
Zum Glück stehen dem Finanzminister ja drei Stellschrauben zur Verfügung: Investitionen ausbauen über mehr Schulden, Konsumausgaben begrenzen und Steuern und Abgaben erhöhen.
Es ist meine feste Überzeugung, dass es unvermeidbar ist, an allen drei Schrauben zu drehen um die langfristige Attraktivität und Handlungsfähigkeit des Landes sicherzustellen.
Ich danke für den Optimismus.
Der Spielraum für Schulden ist extrem gering und bei weitem nicht ausreichend, die anstehenden Probleme zu lösen; auch deshald, weil unsere Strukturen sehr ineffizient arbeiten. Auch der Spielraum für Steuererhöhungen ist begrenzt. Die wirlich Reichen können ausbüchsen, und man wird sich wie gewohnt am wohlhabenden Mittelstand vergreifen, um überhaupt was zu erreichen. Aus meiner Wahrnehmung nur ein Kunstgriff, um einem bestimmten Teil der Wählerklientel zu suggerieren, dass man etwas tut. Und nennenswerte Kürzungen von Sozialausgaben werden vor dem Bundesverfassungsgericht entschieden; da haben sich frühere Regierungen so gebunden, dass ich keinen Ausweg sehe.
„Aber für dumm habe ich Frau Merkel nie gehalten.“
Das alles auf Frau Merkel abzuladen, entlastet ungemein. Die Kanzlerin ganz allein? Hatte sie „nicht wenigstens einen Koch bei sich“? Ihre Partei, fast alle anderen Parteien, die Wirtschaft, die Öffentlichkeit? Die Argumente: Die Amis wollten ihr Fracking-Gas verkaufen, die Ukraine habe immer wieder Gas abgezwackt, die Ukraine könne die Gasversorgung unterbrechen usw.
Die Warnungen aus USA wurden als Eigeninteresse interpretiert, die der Balten als Hysterie: Wir Deutschen entscheiden selbst über die zentral wichtige Energieversorgung.
Wer (im Inland fast allein) vor Nordstream 2 gewarnt hat, waren diejenigen, die jetzt im Forum ständig als strunzdumm geschmäht werden. Vielleicht sind sie es jetzt, in dem Punkt war’n sie’s nicht.
Auf dem SPD-Parteitag wird der Vorsitzende des Außenausschusses Michael Roth unter großem Jubel der Deligierten aus dem Vorstand gewählt.
So viel dazu, wer hier „strunzdumm“ ist.
Sollte es dieser Link sein?
https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/parteien/id_100299206/spd-parteitag-ukraine-unterstuetzer-fliegt-unter-jubel-aus-vorstand-armselig-.html
Demnach ist nicht sicher, dass sich der „Jubel“ auf die Abwahl bezog. Würde ich abwarten – und das Prädikat „strunzdumm“ eher für die Reps in den USA reservieren.
Ich war nicht dabei, aber alle professionellen Beobachter haben das so verstanden. Dazu zählt Michael Roth zu den wenigen Bodenständigen in der erweiterten Parteiführung, die nicht immer nur „mehr vom Gleichen“ fordern.
Die Abwahl von Roth is weiter Beweis dafuer das die Genossen halt nur eine Partei der Apparatschiks und auch der Parvenues geworden ist. Das war mal ein wichtige Partei in der Republik..
@ CitizenK 10. Dezember 2023, 06:42
Das alles auf Frau Merkel abzuladen, entlastet ungemein.
Das entlastet niemanden. Aber dort liegt aufgrund der Richtlinienkompetenz die Verantwortung.
Ich will es an einem anderen Beispiel gerne erläutern: Die Regierung Schröder hat die Agenda 2010 ausgelöst. Wenn ich das richtig verstanden habe (ich bin da offen für Richtigstellungen), lag die Hauptarbeit für Konzept und Umsetzung bei Franz Müntefering (war noch Frank-Walter Steinmeier dabei?).
Aber ohne Gerhard Schröders Willen hätte es die nie gegeben, gegen seinen Willen auch nicht. Dass die Agenda 2010 kam, lag in der Verantwortung von Gerhard Schröder – egal, wer de facto die Ausarbeitungen geleistet hat.
Genauso bei Frau Merkel: Ihre Politik, die Leute zu sedieren, war ihre Entscheidung; Nordstream 2 hätte es ohne oder gegen Angela Merkels Willen nicht gegeben. Offene Grenzen oder Griechenland-Rettung hätte es ohne oder gegen Angela Merkels Willen nicht gegeben. Richtung der Corona-Politik, Ehe für alle (ob man das nun gutheißt oder nicht) …
Du verstehst den Punkt?
WIE dann die Umsetzungen erfolgten, ist sicherlich nicht (ausschließlich) ihr Werk, aber DASS diese grundlegenden Entscheidungen kamen, dann schon.
Die Kanzlerin ganz allein? Hatte sie „nicht wenigstens einen Koch bei sich“? Ihre Partei, fast alle anderen Parteien, die Wirtschaft, die Öffentlichkeit? Die Argumente: Die Amis wollten ihr Fracking-Gas verkaufen, die Ukraine habe immer wieder Gas abgezwackt, die Ukraine könne die Gasversorgung unterbrechen usw.
Da bin ich auch bei dir, buck stops with her.
Jepp.
Ja. Aus Überzeugung durchstehen, notfalls um den Preis des Amtsverlustes oder der Abwahl wie Schröder.
Aber wer wäre ihr gefolgt? Die eigene Partei, die Wirtschaft (mit starken Interessen im Osten), die Medien, die Wähler? Hinterher ist man immer klüger. Wenn es wirklich um „Lügner oder strunzdumm“ ging, dann gab es viele davon.
Genau, „Lügner“ wie „strunzdumm“ ist wesentlich zu stark.
@ Stefan Sasse 10. Dezember 2023, 18:10
Genau, „Lügner“ wie „strunzdumm“ ist wesentlich zu stark.
Wie gesagt, finde ich nicht. Als Kohl seinen damaligen Sozialminister Norbert Blüm anwies zu verkünden, dass die Rente sicher sei, erfolgte das in dem Wissen, dass sie es nicht sind. Als Colin Powell heftig bedrängt von George Bush jr., Donald Rumsfeld und Richard Cheney vor dem Sicherheitsrat der UN verkündete, dass der Irak über ABC-Waffen verfügte, wusste er, was er da tat.
Das sind Lügner in einem derart großen Stil, mit derart großen Auswirkungen auf andere, dass andere Wörter meiner Meinung nach zu schwach sind.
Weiß nicht. Die Sicherheit der Rente ist eine vollständig politische Entscheidung. Blüm und Kohl konnten das Versprechen logischerweise ohnehin nur für ihre eigene Regierung machen; die Natur der Demokratie verbietet irreversible Festlegungen (auch wenn, der Seitenhieb sei gestattet, Schuldenbremsenfans das gerne vergessen). Und für die Regierungszeit Kohl war die Aussage ja durchaus richtig. Blühm versprach ja nie eine sichere Rente bei gleich bleibenden Beiträgen. Die Frage ist ja immer eine der Prioritäten, und ich glaube Blühm und Kohl grundsätzlich, dass sie niemals die Axt so an die Rente gelegt hätten wie Rot-Grün und dann Schwarz-Rot; die hätten das Geld irgendwo aufgetrieben.
Powell wurde meines Wissens nach von Bush und Rumsfeld belogen, aber da bin ich in den Details nicht firm. In jedem Fall haben letztere beide gelogen. Da gehe ich sofort mit. Als Schäuble behauptete, dass er sich nicht an die Herkunft des Geldkoffers erinnern könnte, log er mit Sicherheit, genauso wie Olaf Scholz mit seinen Erinnerungslücken. Das sind Lügen.
Ich finde auch wichtig, dass zwischen unhaltbaren Versprechen und Lügen unterschieden wird. Wenn man davon ausgeht, dass Politiker immer lügen, können wir die Demokratie vergessen.
Zu Blüm (übrigens ohne h): Der hat das geglaubt (ich hatte mal eine kurze Korrespondenz mit ihm). Und „sicher“ ist die Umlagerente in dem Sinn, dass sie nicht ganz verloren gehen kann wie Kapitalanlagen.
Kapitalanlagen können in dem Sinne, wie Sie es für die Umlage anwenden, auch nie ganz verloren gehen.
Kannst du das näher ausführen? Anlagen können doch verloren gehen?
Nun, CitizenK hat den extremsten Fall der Kapitalanlage gewählt: Jemand investiert sein gesamtes Erspartes in ein einziges Unternehmen, bleibt auch dann dabei, wenn jahrelang Verluste anfallen und das Unternehmen irgendwann insolvent geht. Ja, in diesem Extremfall verliert jemand sein gesamtes Vermögen.
Fair ist fair, dann nehmen wir bei der Rente auch den Extremfall. Auch diese hat Bedingungen. Die eine ist, dass es genügend Erwerbstätige gibt, die relevant Einkommen erwirtschaften können, um hiervon andere unterhalten zu können. Die andere ist die Bereitschaft, dies zu tun. Laut einer brandaktuellen Unternehmensumfrage gewinnt das Modell Employer of Record an Popularität. Hierbei beschäftigt ein im Inland tätiges Unternehmen Beschäftigte im Ausland. Diese sind formal nicht einmal Arbeitnehmer, womit auch keine Steuern und Sozialabgaben anfallen. Wir haben bereits vor der großen Verrentung den Trend in den Sozialkassen, dass die Arbeitnehmer sehr hoch belastet sind, die Empfänger aber nur relativ niedrige Leistungen erhalten. Das wird sich verschärfen. Und mehr als 100% Abgaben geht nicht. Wenn dies nicht reicht, die Rentner zu versorgen, geht der Wert ihrer Rente gegen Null.
Tatsächlich zeigen alle Studien, dass sowohl Anleger als auch Staaten mit kapitalgedeckten Systemen besser fahren und höhere Renditen für die Rentner erwirtschaften als Umlagesysteme. Der Extremfall ist da eben fast immer nur ein theoretisches Gebilde. Wer z.B. in einen ETF Global investiert, kann praktisch nie sein gesamtes Erspartes verlieren. Denn das hieße, die gesamte Weltwirtschaft würde nichts mehr erwirtschaften. Und das ist nicht einmal mehr ein theoretischer Extremfall, das ist praktisch unmöglich.
Ups, sorry.
Genau, und damit hat er ja auch voll Recht!
Ich denke, dass Merkel (wie die meisten) nicht mit einem militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine, sondern mit einem eingefrorenen Konflikt im Donbass rechnete und hoffte, dass Nordstream 2 Leverage geben würde. Das wäre meine Erklärung dafür.
Und bitte nicht die in Deutschland durchaus häufig zu hörende Erklärung vergessen – dass Donbas tatsächlich eine Befreiungsbewegung der eher russischgeneigten Bevölkerung war, der Russland nur zur Hilfe kam, gegen ein halbes Nazi-Regime (einziger Beleg dafür – das Azov-Battaillon). Das haben viele, sehr viele, auch Akademiker, in Deutschland nur zu gerne geglaubt. Russophilie hat im Bildungsbürgertum bei uns eine lange Tradition, die bis ins alte Preussen zurückreicht.
Habe nie wirklich verstanden, warum. Ich neige mittlerweile dazu, es dem spezifisch deutschen Widerstand gegen die Moderne zuzuschreiben, die nun mal mit den USA als Protagonist verbunden ist. Russland ist dann das idealisierte Gegenbeispiel, völlig egal, wie sehr das mit der Realität kollidiert.
Gruss,
Thorsten Haupts
Ja, ist auch meine Denke. Ich hab das Phänomen schon 2012 beschrieben: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/11/der-ursprung-des-anti-amerikanismus.html
Dass für jeden Finger, mit dem ihr auf Russland zeigt (Angriffskriege, schmutzige Geheimdienstarbeit, besetzte Länder) auch drei auf die USA zeigen können, hat damit natürlich nichts zu tun.
Tatsächlich? Genau welche Angriffskriege haben die USA denn in den letzten Jahrzehnten so geführt?
Irak 2003. Sorry, aber der ist ziemlich klar.
Yup, aber selbst bei dem sehe ich – deutliche – Unterschiede zum Ukraine-Krieg Russlands.
Ich auch! Ich denke nur, das ist und bleibt ein Schandfleck, der völlig zu Recht kritisiert wird.
Macht es das einen Deut weniger schlimm?
Nicht der Punkt. C glaubt, das sei eine hinreichende Erklärung für Russophilie oder wenigstens Anti-Amerikanismus.
@ Stefan Sasse 10. Dezember 2023, 18:06
Ich denke, dass Merkel (wie die meisten) nicht mit einem militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine, sondern mit einem eingefrorenen Konflikt im Donbass rechnete …
Ich gehörte lange zu denjenigen, die sich das auch nicht vorstellen konnten. Aber Thorsten hat den Angriff angekündigt mit der Begründung, dass der Aufmarsch der militärischen Truppen zwar ebenso gut zu einem Manöver oder einer Drohgeste passen würde, dass aber der Rest der aufgebotenen Infrastruktur (Militär-Krankenhäuser etc.) klar auf einen Angriff deuten. Hat mich als militärischen Laien voll überzeugt. Und ich bin mir sicher, dass die Informationen nicht schlechter gewesen sind.
In solchen Situationen nur auf die Karte Hoffnung zu setzen, während Putin einen anreisenden Staatschef nach dem anderen abbügelte, ist aus meiner Wahrnehmung Versagen.
Ein ähnliches Verhalten von Angela Merkel ist mir übrigens auch bei anderen entscheidenden Situationen aufgefallen, etwa beim Brexit oder bei der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten. Merkel war im Laufe des langwierigen Brexit-Prozesses nicht einmal in England, um zu sagen „bleibt bei uns“ o.ä.
Und bei Trumps Wahl trat Verteidigungsministerin Ursula von der
LaienLeyen von der Kamera und haute noch ein paar böse Sprüche raus; Merkels Anruf an Trump zur Gratulieren erfolgte erst Tage später, weil man es im Vorfeld versäumt hatte, sich die Telefonnummer zu besorgen.Nie gab es einen Plan B, sondern nur Prinzip Hoffnung.
… und hoffte, dass Nordstream 2 Leverage geben würde. Das wäre meine Erklärung dafür.
Nun ja. Gib dem Druck eines Populisten nach, und Du bekommst mehr davon.
Ergänzung:
Und ich bin mir sicher, dass die Informationen der Bundesregierung nicht schlechter gewesen sind.
Genau, Prinzip Hoffnung, nehme ich sofort. Aber „strunzdumm“ oder „Lügnerin“ halt nicht.
Ja.
@ Stefan Sasse 11. Dezember 2023, 12:16
Genau, Prinzip Hoffnung, nehme ich sofort.
Dann fällt Deine Entscheidung also für „strunzdumm“ aus.
Frau Merkel hat den Angriff auf die Ukraine billigend in Kauf genommen und sogar durch ihr Verhalten gefördert. Warnende Stimmen gab es genug; das war nicht nur Gemecker, das waren sehr gut und ausführlich begründete Einwände, die auch die Folgen für die Ukraine aufzeigten.
Darauf so zu reagieren, wie sie es tat, zu reden, wie sie es tat, ist grob fahrlässig, gelogen oder dumm (wenn es Dich glücklich macht, kannst Du „strunz“ gerne streichen). „Hoffnung“ mag bei verliebten Teenagern angebracht sein, aber nicht in der Weltpolitik. Such Dir gerne den Blickwinkel aus – es bleibt ein intellektuelles Armutszeugnis.
Was die Wahrnehmung und Einschätzung der Politik Russlands angeht, fällt mir immer McNamara ein:
(…) „Yet we were wrong, terribly wrong. We owe it to future generations to explain why. I truly believe that we made an error not of values and intentions, but of judgment and capabilities“.
Und das gilt nicht nur für Merkel.
Good quote.
@ CitizenK 11. Dezember 2023, 19:17
[(…) „Yet we were wrong, terribly wrong. We owe it to future generations to explain why. I truly believe that we made an error not of values and intentions, but of judgment and capabilities“.]
Und das gilt nicht nur für Merkel.
Ich sag’s ja: Strunzdumm.
Warnende Stimmen gibt es IMMER, deswegen haben zwangsläufig auch irgendwelche warnenden Stimmen immer Recht. Es gab auch massenweise warnende Stimmen, die schon Merkels Minimalreaktion als völlig gefährlich und quasi den Dritten Weltkrieg vorbereitend sahen. Ich finde ihre Politik falsch, aber zu 100% vorhersehbar war es halt auch nicht. Und 2014 war eine Zeitenwende in der Verteidigungspolitik viel weniger zu verkaufen als 2022.
„Und 2014 war eine Zeitenwende in der Verteidigungspolitik viel weniger zu verkaufen als 2022.“
Gar nicht. Trotzdem bleibt es für mich nachträglich unverständlich, warum in einer offenen Gesellschaft mit Informationsfreiheit die „warnenden Stimmen“ überhört wurden.
Donbass: Es gab ja tatsächlich Separatisten, Alltagssprache Russisch. Anfänglich nur „Unterstützung“ Moskaus. Dann geriet das aus dem Blick.
Krim: War da doch diese „Chruschtschow’sche Schenkung“, also doch eigentlich irgendwie russisch. Und Moskau würde niemals Sewastopol einem kündbaren Pachtvertrag aussetzen.
Ukraine als souveräner Staat: Selbst Karl Schlögel räumt ein, lange Zeit die Ukraine nur als Vorfeld Russlands wahrgenommen zu haben.
https://www.youtube.com/watch?v=8adwNYyAaxQ
Keine Entschuldigung, gewiss. Aber vielleicht doch eine Teil-Erklärung?
Weil man sie nicht hören wollte, nehme ich an. Ich habe mich damals ja auch nicht mit dem Thema beschäftigt.
Dieses „aus dem Blick geraten“ war ja gerade, warum ich (wie die meisten) keinen Angriff erwartet habe. Ich habe nie verstanden, warum Putin das Thema ohne Not zurück in die Weltaufmerksamkeit zog, statt davon zu profitieren, dass er im Donbass machen konnte, was er wollte, solange er es nicht zu offensichtlich tat.
„Die „Reaktion“ der Regierung Merkel auf den Überfall Russlands auf die Ukraine 2014 sowie die Vereinnahmung der Donbass-Region und der Krim war, den Vertrag für Nordstream 2 zu unterzeichnen;“ Bitte keine „Zeitenwende“-Geschichtsklitterung: Nord Stream 1 wurde 2011 fertiggestellt. Die Planung von nordstream2 ging von 2011 bis 2013, als die Regierung Janukowitsch noch fest im Sattel saß. Januar 2015 verhängte die Bundesregierung als Reaktion auf die russische Ukraine-Politik einen Baustopp, der 2018 unter allgemeiner Zustimmung aufgehoben wurde. (Mai 2021 waren 75% der Bevölkerung dafür, selbst bei den grünen „Russenfressern“ waren es fast 70).
Fazit dieser Ausfuehrungen: Die Ampel muss weg. Dazu sollte die FDP nun mit Verve liberale und verantwortlich Finanz Politik betreiben. Das wird die Rot-Gruenen „Partner“ zur Weissglut treiben. Die werden darauf hin die Ampel platzen lassen. Das gibt dann Neuwahlen. Da kann sich die FDP dann als Retter präsentieren und verhindert, das sie sonst in 2 Jahren aus dem BT fliegt..
Die FDP hat das Lieferkettengesetz mitgetragen und viel verbrannte Erde hinterlassen. Diese Partei hat sich als nicht vertrauenswürdig erwiesen.
Das Lieferkettengesetz geht auf eine EU-Richtlinie zurück. Da ist die FDP bei aller Liebe eher ein kleines Licht.
Wenn es irgendwo Unsinn gibt, erwarte ich von einer liberalen Partei, dagegen anzukämpfen. EU-Vorgaben sind nicht gottgegeben, auch wenn Politiker es nur zu gern so darstellen.
@ Tim 9. Dezember 2023, 08:05
EU-Vorgaben sind nicht gottgegeben, auch wenn Politiker es nur zu gern so darstellen.
Wenn sie erst mal da sind, sind sie „gottgegeben“.
Und die FDP ist halt nur eine Nischen-Partei, da der größte Teil der Wähler lieber von den großen Volksparteien verwöhnt werden will.
Stimme völlig zu, möchte aber hinzufügen, dass das natürlich auch für die Grünen gilt – und letztlich jede andere einzelne Partei in Deutschland.
@ Stefan Sasse 9. Dezember 2023, 17:44
[Und die FDP ist halt nur eine Nischen-Partei, da der größte Teil der Wähler lieber von den großen Volksparteien verwöhnt werden will.]
Stimme völlig zu, möchte aber hinzufügen, dass das natürlich auch für die Grünen gilt – und letztlich jede andere einzelne Partei in Deutschland.
Sehe ich anders. Wenn jede Partei keinen durchschlagenden Einfluss hat, haben wir keine Demokratie. Die Grünen sind sicherlich deutlich stärker bei der Musik, was das Erwecken von (häufig unrealistischen) idealistischen Weltsichten angeht.
Keine einzelne Partei kann was reißen. Es braucht immer eine Koalition. Die FDP ist der kleinste Koalitionspartner, von daher hat sie sicherlich etwas weniger Gewicht als die Grünen, aber das ist difference in degree, not in kind. Und unrealistische Weltsichten erwecken kann die FDP ja auch super; das liegt immer nur im Auge des Betrachters. Schaut man die Zustimmungsraten für das Halten der Schuldenbremse an könnte man sogar argumentieren, die FDP sei WESENTLICH wirkmächtiger als Rot-Grün (die sie beide reformieren wollen). Das wäre zwar Quatsch, aber das ist die andere Argumentation auch; mein Punkt ist vielmehr der: die Parteigänger oder fellow travellers einer Partei sehen immer viel deutlicher, wo sie selbst verlieren und viel undeutlicher, wo sie gewinnen. Das geht in beide Richtungen.
@ Stefan Sasse 10. Dezember 2023, 18:08
Keine einzelne Partei kann was reißen.
Für die Alltagspolitik, für die Gestaltung von konkreten Gesetzen magst Du recht haben.
Für die großen Linien muss ich widersprechen. Ganz klar ist, dass die Grünen (vielleicht aufgrund langer Regierungs-Abstinenz) deutlich stärker als jede andere Partei das Gefühlsleben und die Erwartungshaltung der Menschen an die Zukunft geprägt haben.
Nur ein Beispiel: Saubere, erneuerbare Energien ohne Kosten, ohne Folgen für die Gesellschaft, als Vorbild für die restliche Welt, ist die so geprägte Erwartungshaltung, an der nun alle – auch die Grünen – scheitern.
Es braucht immer eine Koalition. Die FDP ist der kleinste Koalitionspartner, von daher hat sie sicherlich etwas weniger Gewicht als die Grünen, aber das ist difference in degree, not in kind. Und unrealistische Weltsichten erwecken kann die FDP ja auch super; das liegt immer nur im Auge des Betrachters. Schaut man die Zustimmungsraten für das Halten der Schuldenbremse an könnte man sogar argumentieren, die FDP sei WESENTLICH wirkmächtiger als Rot-Grün (die sie beide reformieren wollen). Das wäre zwar Quatsch, aber das ist die andere Argumentation auch; mein Punkt ist vielmehr der: die Parteigänger oder fellow travellers einer Partei sehen immer viel deutlicher, wo sie selbst verlieren und viel undeutlicher, wo sie gewinnen. Das geht in beide Richtungen.
Die Partei, die die Republik in den letzten Jahren am meisten geprägt hat, ist ohne Zweifel die AfD, btw.
Aber Erwartungen zu wecken, die nicht erfüllt werden können – das machen doch alle? Zwangsläufig sogar?
Wie kommst Du darauf?
Alle Beobachter inklusive Grünen-Politiker attestieren der Partei, dass sie die (einzigen) Treiber der Regierung seien. Und es besteht ja wohl kein Zweifel, dass die Politik diametral den Überzeugungen der AfD entgegensteht. Also hast Du Deine Meinung sehr exklusiv.
Als die Linkspartei aufkam, änderte die SPD (und die Grünen) ihren Kurs. Der Mindestlohn wurde zum zentralen politischen Ziel, die Rückabwicklung der Agenda-Reformen ebenso. 2013 kämpfte die SPD mit dem Bild des Dachdeckers (von der LINKEN entlehnt) für die Rente mit 63, welche die eigene Reform der Rente mit 67 karrikierte. Etwas in der Richtung suchen wir heute vergebens in der Politik. Im Gegenteil: Berlin hat erkennbar große Schwierigkeiten, ihre den europäischen Mehrheitsposition entgegenstehende Migrationspolitik etwas anzupassen. Damit bringt Deutschland ganz Europa in große Schwierigkeiten.
SPD und Grüne haben auf ihren Parteitagen Versprechungen gemacht, die nicht im entferntesten mit der Verfassungslage und der EU in Übereinstimmung zu bringen sind. Das nennt man gemeinhin Populismus. Das gibt es bei Union und FDP nicht.
Ich bin schon echt beeindruckt, wie weit die parteipolitischen Überzeugungen blind machen können. Ideologische Scheuklappen sind die besten Scheuklappen.
Substanz wäre nicht schlecht.
@ Stefan Sasse 11. Dezember 2023, 12:17
Die Partei, die die Republik in den letzten Jahren am meisten geprägt hat, ist ohne Zweifel die AfD, btw.
Über die wurde am meisten geredet, ja. Auch richtig: seit sehr kurzer Zeit (eher in Monaten als in Jahren gezählt) schlagen sich Forderungen der AfD in der aktuellen Politik nieder (etwa bei den etwas tappsigen Versuchen, die Zuwanderung in das Sozialsystem zu begrenzen).
Aber die Grünen mit ihrer Erzählung von der heilen Welt, in der alle in Schönheit und Wohlstand, in einer „sauberen“ Welt mit vielen lieben Tieren leben können, ohne dass es uns was kostet, bestimmt nun seit Jahrzehnten die Wünsche unserer Gesellschaft.
Verstehe mich da bitte nicht falsch: dieses Narrativ ist auch mein Ideal. Aber im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen weiß ich, dass dafür ein Preis gezahlt werden muss, und ich habe eine grobe Ahnung, wie unglaublich hoch der sein wird.
Gleichzeitig alle Menschen auf das Niveau der jetzigen Mittelklasse zu hieven, alle Umweltschäden reparieren, gesund und gut versorgt dem Alter entgegen sehen, so viele saubere Energie zu erzeugen, dass sich niemand einschränken muss etc., während niemand finanzielle Einbußen hinnehmen muss und die Wirtschaft unbeschadet weiterhin zu den führenden in der Welt zählt, während alle neidisch auf uns gucken (bis auf die, die sich uns zum Vorbild nehmen) ist und bleibt Utopia. Hab noch den Weltfrieden vergessen …
Ich halte das für ein völliges Zerrbild der Partei und ihrer Kommunikation.
@Tim; die DP hat sicherlich in der Ample triste ausgesehen, aber sie hat dennoch viel grösseren Schaden verhindert. Die „Partner“ haben nicht nur Vertrauen verloren, die fahren den karren an die Wand. Alles ist eben relativ ..
Das exakt gleiche können Grüne sagen. Kompromisse gehören zur Regierung. Willkommen bei den Erwachsenen.
@Tim; es ist muesig nun darueber mit :Keien-Klein: zu palavern wer was und wie und wann versaut hat. Die FDP hat noch Schlimmeres verhütet. Daher mein Vorschlag via „elegantem“ Tabula Rasa die Ample zu beenden und Neustart initiieren.
@Tim: Die FDP mag sich zwar hier sehr oft fragwürdig verhalten haben; die beiden Anderen -durch Ideologien angetrieben- sind aber viel gefaehrlicher fuer die Gesellschaft, die Buerger und die Nation ( Den begriff Nation habe Ich bewusst gewählt weil damit Ich fuer die Ideologen ja sogleich in die Nazi Ecke gedruckt werden kann.. Hihi )
Da denkt man sich. Stefan Pietsch und ich gehören zu den wenigen Deutschen, die für Javier Milei eine Menge Sympathie haben und wir Mileinistas müssen zusammenhalten und dann dieser Satz:
„versucht das traditionell linksorientierte Lateinamerika seit Jahrzehnten die Probleme mit immer mehr Staatsinterventionismus zu bekämpfen“
Ich weiss noch wie bei einer Online-Veranstaltung nach dem grandios gescheiterten Verfassungsreferendum in Chile zwei ultralinke Journalistinnen meinten „Wir dachten immer Chile wäre ein linkes Land. Vermutlich müssen wir darüber noch einmal nachdenken.“
Ich beteilige mich ja bei solchen Veranstaltungen recht lebhaft, aber da musste ich sofort mein eigenes Mikro ausschalten, weil mit der Keule erreicht man bei solchen Diskussionen nichts. Und die hatte ich zu dem Punkt rausgeholt.
Sag jetzt dazu auch nur: Stefan, das ist Quatsch. Hätte man vielleicht vor der Verschuldungskrise und den folgenden Transformationen sagen können. Seit Ende der 80er ganz bestimmt nicht mehr. In jedem Lateinamerikanischen Land sind Staatsskeptiker in einer z.T deutlichen Mehrheit.
In Deutschland gibt es eine Mehrheit für die Schuldenbremse. Ich hab einige Sympathie für diese fiskal- und geldpolitische Orthodoxie. Allerdings sehe ich auch, dass die neue Bedrohungen durch Umweltzerstörung und aggressive Geopolitik für eine Zeit einen besonderen Bedarf nach eher schnellen und kostspieligen Operationen seitens des Staates erforderlich machen werden.
Bei aller berechtigter Kritik einer für mich auch zu flüchtlingsfreundlichen Politik von Teilen der Grünen und der linken SPD müssen wir mit den Menschen, die gekommen sind, konstruktiv umgehen. Einer meiner Großväter kam als schlesischer Bauer nach Westdeutschland. Würde man diesen Menschen rein auf seinen Humankapital-Aspekt reduzieren, war das sicher keine Granate, wurde aber via Lastenausgleich großzügig subventioniert.
Wir sollten diese ganzen Immigranten nicht alle über einen Kamm scheren.
Sorry Lemmy, wollte Dich nicht verärgern. 😉 Ich habe von Südamerika ganz sicher weit weniger Ahnung als Du. Wie sollte es auch anders sein. Und ich höre (lese) Dir immer sehr aufmerksam zu. Die Länder, die ich im Blick habe, sind auf der politischen Ebene antiamerikanisch, antiwestlich und tendenziell links eingestellt. Ich weiß natürlich, dass Brasilien eine sehr starke Rechte hat. Ich weiß, dass dort Staat oft nicht stattfindet in diesem riesengroßen Flächenland. Ich weiß, dass Chile seit der Pinochet-Diktatur außerordentlich wirtschaftsliberal organisiert ist. Vielleicht war das einfach unglücklich formuliert, was ich meinte, nämlich dass weit häufiger als in Kontinentaleuropa linke Regierungen an der Macht sind.
Das sieht nur so aus.
Außer in Mexiko hat keine Regierung der zweiten sogenannten „pink tide“ ein Bein auf die Erde bekommen. Und angesichts der Größe des Landes ist der Manövrier-Spielraum einer mexikanischen angesichts der wirtschaftlichen Abhängigkeit von den USA faktisch nicht groß. Petro hängt in Kolumbien völlig in der Luft. In Peru ist der linke Präsident mit rechtem Parlament abgesetzt. In Uruguay sitzt der mitte rechts Präsident Lacalle Pou fest im Sattel. In Paraguay haben wir über 10 Jahre gemäßigt rechte Regierungen. In Ecuador auch schon seit einiger Zeit.
In der Boric Regierung in Chile wurden die woken Kräfte nach dem verlorenem Verfassungsreferendum aus der Regierung gedrängt. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik unter Mario Marcel ist sehr stabilitätsorientiert. Die starke neue Kraft des letzten Jahres waren die „Republicanos“ unter José Antonio Kast. Das sind Rechte. Allerdings trieben die es im zweiten Verfassungskonvent auch zu doll und befinden sich wieder etwas im Abstieg.
In Argentinien agierten die Kirchneristen als Getriebene ihres vorher selbstverursachten makroökonomischen und geldpolitischen Chaos. Ab Sonntag regiert da Milei.
Politisch erscheint die Region aktuell eher getrieben und ankerlos.
In Europa sind linke Latinos deutlich überrepräsentiert. In Lateinamerikanischen Wahlen wählen die ja mit und die Ergebnisse dieser Lokale trudeln als erstes ein. Oft führen dann die Linken mit 80:20% und verlieren dann im eigentlichen Land.
@ Lemmy Caution 8. Dezember 2023, 18:16
Allerdings sehe ich auch, dass die neue Bedrohungen durch Umweltzerstörung und aggressive Geopolitik für eine Zeit einen besonderen Bedarf nach eher schnellen und kostspieligen Operationen seitens des Staates erforderlich machen werden.
Grundsätzlich, denke ich, sieht das jeder, auch ich. Was ich nicht sehe, ist, welche konkreten Operationen das sein sollen, dass man aber das Geld dafür schon jetzt verfügbar haben will. Was ich auch nicht sehe, ist, wie wir mit unseren Strukturen irgendetwas Sinnvolles erreichen wollen,
Solange hier die Denke besteht, das viel Geld / viele Schulden helfen, und man erfolgreich war, sobald das Geld weg ist, wird das nichts.
Bei aller berechtigter Kritik einer für mich auch zu flüchtlingsfreundlichen Politik von Teilen der Grünen und der linken SPD müssen wir mit den Menschen, die gekommen sind, konstruktiv umgehen.
Einverstanden. Aber warum sind dann bei uns nur 19 % der Ukrainischen Flüchtlinge beschäftigt, in anderen Ländern teilweise mehr als doppelt so viele (Europa-Schmnitt: etwa 30 %)?
Wir gehen eben nicht konstruktiv mit ihnen um, sondern schicken sie in die Sozialhilfe. Aber wenn wir es nicht schaffen, Flüchtlinge konstruktiv in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sollten wir nicht so viele zulassen.
Ich weiß sehr gut, dass wir auf Verstärkung von außen angewiesen sind. Aber wenn wir keine verstärkung hinbekommen, müssen wir nicht aus reinem Aktionismus stattdessen eine Schwächung anstreben.
Völlig bei dir. Es sind aber nicht linke Politiker*innen, die unbedingt wollen, dass die keine Arbeitserlaubnisse haben, dass sie ortsgebunden sind, etc. Diese kontraproduktiven, strafenden Politiken kommen aus dem konservativen Stall. Bei dem Thema bedeckt sich wirklich niemand mit Ruhm.
Das ist doch Unsinn, Stefan. Asylbewerber dürfen I.d.R. Nach drei Monaten arbeiten. Es gibt keine nennenswerten Arbeitshemmnisse. Das haben sich zuletzt die linken Parteien ausgedacht, auf die Legende zurückzugreifen, weil sie sonst so begründungsschwach sind. Gibt ja keine Pull-Faktoren.
@ Stefan Sasse 9. Dezember 2023, 17:45
Es sind aber nicht linke Politiker*innen, die unbedingt wollen, dass die keine Arbeitserlaubnisse haben, dass sie ortsgebunden sind, etc. Diese kontraproduktiven, strafenden Politiken kommen aus dem konservativen Stall.
Wir haben eine Gesetzlage und eine Bürokratie, die ist, wie sie ist. Soweit ich (hüstel, hüstel) die konservative Seite beurteilen kann, wird dort gewollt, dass sich Flüchtlinge nicht in die sozialen Netzen verfangen. Da das aber permanent geschieht, will man sie erst garnicht hereinlassen. Von linker Seite (aber hier bin ich parteiisch) nehme ich wahr, dass man sich über solche Themen keine Gedanken macht, bis die Leute erstmal da sind. Und dann wird nach dem Staat geschrien, nach Schulungen (Fachkräftemangel, fehlender gelder etc.!) und man hofft, dass Sozialhilfe und Einbürgerung den Prozess der Integration beschleunigen. Schöne, aber nicht gerade realistische Gedanken
Bei dem Thema bedeckt sich wirklich niemand mit Ruhm.
Wirklich widersprechen kann ich hier leider nicht.
Ich stimme dir in der Kritik an den Linken völlig zu; aber das habe ich in meiner Artikelserie zum Thema auch schon getan.
@ Stefan Sasse 10. Dezember 2023, 18:09
Ich stimme dir in der Kritik an den Linken völlig zu; aber das habe ich in meiner Artikelserie zum Thema auch schon getan.
Ja, hast Du.
Dass hier bislang nur 19% der Flüchtlinge arbeiten, in anderen europäischen Ländern aber 30%, müsste genauer en detail untersucht werden. Vielleicht sind zu uns besonders viele Mütter mit mehreren Kindern und Alte gekommen, die einfach nicht so gut arbeiten können. Wenn ich Ukrainer(in) mit diesen Merkmalen wäre, würde ich auch nach Deutschland gehen. Die soziale Unterstützung ist halt in Osteuropa noch nicht so doll.
Ich habe klare anekdotische Evidenz von Ukrainerinnen im Bekannten/Verwandtenkreis, die full time arbeiten, obwohl die finanziell überhaupt nicht müßten. Mit erstaunlichen Deutschkenntnissen.
Angesichts unserer Moskowien-Politik 1991 bis 2022 sehe ich uns da in einer klaren Verantwortung. Wenn ich in diesem Land etwas zu sagen hätte, würde etwa Manuela Schweswig jede Woche in einem ukrainischen Fernsehstudio live von Investigativ-Journalisten gegrillt. Sie wäre bestimmt nicht die einzigste.
Nicht 30 Prozent, im Schnitt arbeiten in den anderen EU-Ländern 70 Prozent. Vielleicht haben wir wie in so vielem einfach Pech? 😉
SPD Parteitag: „Überschäumende Migrationsromantik“ Damit entlarvt sich die SPD. Das ist naiv, das ist unverantwortlich, das ist ebenso kleinkariert und wider den Willen der Buerger. Das ist darüberhinaus gegen den Auftrag „fuer das Wohl der Bundesrepublik“ zu arbeiten. Last no least; sitzen die AfD Leute in ihren Sesseln und koenenn ihr Glueck fuer 2024 garnicht fassen. Mit einer solchen Regierungs Partei reissen die „Blauen“ ganz schnell die 40% Hürde..
Ich beziehe mich auf die Daten, die Erwin oben genannt hat. Wo hast Du deine 70 Prozent her?
https://www.br.de/nachrichten/wirtschaft/wie-viele-ukrainische-gefluechtete-arbeiten-faktenfuchs,TqrqqaN
danke.
Kurzer take zu der Lage in Argentinien vor der Amtsübernahme von Javier Milei am Sonntag.
Keiner weiss, was passieren wird. Es kann gewalttätig werden.
Bereits in der letzten Wochen sind die Preise gerade für Grundbedürfnisse stark angestiegen. Fleisch +35%, Spagetti, Reis +50% in einer Woche, etc. Die Preise für Lebensmittel sind stark staatlich gemanaged. Milei wird das auflösen und die Preise bewegen sich bereits in diese Richtung. Angesichts nicht indexierter Löhne und Renten wird eine Preisvergabe offensichtlich sehr existentielle Auswirkungen auf reale Leben haben.
Sozialen Bewegungen und Gewerkschaften mobilisieren. Die Rechte wirft ihnen vor, dass sie in dem letzten 4 Jahren haben die trotz starker Kaufkraftverluste gerade der ärmeren Teile der Bevölkerung stillgehalten haben. Milei will auf jeden Fall sein Schockprogramm durchziehen.
Absolut jeder egal ob lechts oder rinks erwartet ein sehr raues Fahrwasser für die nächsten 6 Monate. Es erscheint alles andere als klar, ob sich Milei mit seinem Kurs wirklich durchsetzen kann. Ein weiteres Durchwursteln erscheint aber auch nicht als Option. 56% der Argentinier hatten Gründe, für den radikalen Ausstieg aus dem Kirchnerismus zu stimmen.
Hallo Stefan,
Hab gerade nicht viel Zeit, deswegen erstmal nur ein kurzer Einwand:
So sehr ich Dein Urteil zur ampel-Koalition in weiten Teilen nachvollziehen kann, muss ich doch sagen, dass selbst eine reine FDP- oder eine Union-/FDP-Regierung erst mal nichts würde reißen können. Die würden ebenfalls mit weitgehend gebundenen Händen vor den gleichen Problemen stehen.
Der Sozialstaat wurde seit den 70er Jahren (von einem kurzen Einschnitt unter Kanzler Gerhard Schröder mal abgesehen) derart aufgebläht, dass sich ein Zurückschneiden ähnlich langwierig gestalten würde. Jedenfalls würde es länger dauern als eine Legislaturperiode. Da sich unsere Bevölkerung an die staatlichen Wohltaten und einen hohen Lebensstandard gewöhnt hat, würde jeder Versuch, das abzuwürgen, mit einer Wahlkatastrophe ändern.
„Soziale Gerechtigkeit“ in Deutschland bedeutet halt in erster Linie „
GerechtigkeitVersorgung für mich“; zu wessen Lasten, ist den Leuten erst mal egal.Und wenn man ehrlich ist, würde eine brauchbare, zukunftssichere Korrektur des Sozialstaats das Wohlstandsniveau für untere und mittlere Einkommensschichten (ob das Einkommen nun vom Staat oder durch Beschäftigung kommt) nicht von 100 auf 90 Prozent, sondern auf 60 bis 70 Prozent senken, während Gut- und Besserverdiener halbwegs ungeschoren davonkommen.
Dir ist klar, dass das als „ungerecht“ empfunden wird, selbst wenn es nicht bedeutet, dass man etwas weggenommen bekommt; man kriegt nur weniger „geschenkt“ (wie ich staatliche, nicht an Leistung gebundene Zuwendungen mal provokant bezeichnen möchte).
Solange man keinen breiten gesellschaftlichen Konsens findet, dass es Leuten, die (warum auch immer) finanziell nicht auf eigenen Füßen stehen, schlecht geht, wird sich nichts ändern. Und da die Mittelklasse die Sorge hat, da hineinzurutschen, wird sie nicht mitgehen.
Ich sehe keine Lösung, auch da unsere Gesellschaft (will das nicht nur auf die Regierung beziehen) es nicht hinbekommt, eine chancen-orientierte Bildung hinzubekommen, oder derart üppige Zuwanderung in unsere Sozialsysteme zu verhindern.
Wir werden mit dem Rest der EU den griechischen Weg gehen.
@Erwin Gabriel: Voll d’accord hier zu diesen Ausfuehrungen. Allerdings wird die EU incl Deutschland NICHT den griechischen Weg gehen koennen. Die Leute in Hellas hatten Deutschland zum anzapfen und zu melken. Wir werden eben diesen „guten und finanzkraeftigen Onkel“ nicht haben. Es wird kalt und bitter in Europa werden. Dabei denke Ich noch garnicht mal an die tektonischen Bewegungen, wenn die Ukraine fällt..War bislang uebrigens immer Optimist..
Unter den traditionellen Industrienationen gehört Deutschland zu den am wenigsten verschuldeten Staaten. Trotz der sehr kostspieligen Wiedervereinigung. Es existiert eine hohe Steuermoral. Die unteren und mittleren Einkommen sind in den letzten 30 Jahren bereits deutlich unterproportional gestiegen.
Die aktuellen Probleme sind auch einer gewissen Selbstzufriedenheit von an die hiesige Umwelt sehr gut angepasste Existenzen geschuldet. Plötzlich merkt man, dass die Zukunft des Verbrennungsmotors nicht so dolle und in der IT vieles verschlafen wurde. In der IT habe ich bei Kunden sehr-FDP-Ideologie-nahe „Entscheidungsträger“ erlebt, deren rhetorischen Geschick und Durchsetzungsfähigkeit ihre Kapazitäten für strategisch sinnvolle IT-Entscheidungen deutlich überstieg.
Letztens hörte ich folgende Konzern-Story: Der Leiter einer Marketingabteilung beschwerte sich bei der Vertriebsabteilung darüber, dass die seit einiger Zeit mehr Meeting mit ihren „Fricklern“ als mit den eigentlichen Marketing-Granden durchführten.
Der Vertriebsmanager fragte daraufhin den Marketing-Manager, was er von datengestützter Kundenbindung(*) halte. Der Marketing-Manager antwortete: Das ist das Thema der Zukunft. Steht bei uns auf jeder Präsentation.
Vertriebsmanager: Genau. Und für die Umsetzung brauchen wir die „Frickler“. Die heissen übrigens Business-Analysten. Nenn die bitte nie wieder Frickler.
Ich habe geweint, als ich das gehört habe.
Meine Erfahrung nach über 25 Jahren Büros: Der Fisch stinkt in diesem Land nicht selten vom Kopf.
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(*) oder sowas ähnliches. Vielleicht treffe ich das exakte buzzwording vielleicht nicht ganz
Frickler…? Ich versteh das Wort nicht. Worauf spielt das an bzw. warum ist es pejorativ?
Frickler sind Leute, die sich mit nerdigen Detailfragen auseinandersetzen, die keiner so richtig verstehen will. Das können KI-Themen sein, Frameworks für Business Anwendungen oder die Zukunftsfähigkeit der real existierenden IT Architektur eines Unternehmens oder einer Organisation.
Jedenfalls beschäftigen die sich nicht mit Themen für erwachsene Menschen wie etwa die Farbe der Servietten für ein Premium-Kundenevent.
Ich versuch ein paar youtube-Beispiel-Videos über die Leiden der IT dranzuhängen.
Noch nie gehört, danke!
Frickler kommt von frickeln = sich mit kleinteiligen mechanischen Arbeiten beschäftigen.
Danke!
@ Stefan Sasse 11. Dezember 2023, 08:22
Frickler…? Ich versteh das Wort nicht.
Oh Mann …, Lehrer … 🙂
„Frickler“ (die bezeichnung ist ähnlich abfällig wie „Tüftler“ oder „Bastler“ für Profis mit starkem Praxisbezug) sind z.B. die Könner, die jeden wie auch immer verwanzten Computer wieder zum Laufen kriegen, oder die jeden Motor reparieren können – die MacGyvers dieser Welt.
Wenn Du halbwegs verstehst, was die können, ziehst Du Deinen Hut. Verstehst Du es nicht, nennst Du sie halt Frickler.
In Schwaben ist „Tüftler“ ein Kompliment.
Ich bin nicht so der Technik-Mensch 😀
Und wenn man ehrlich ist, würde eine brauchbare, zukunftssichere Korrektur des Sozialstaats das Wohlstandsniveau für untere und mittlere Einkommensschichten (ob das Einkommen nun vom Staat oder durch Beschäftigung kommt) nicht von 100 auf 90 Prozent, sondern auf 60 bis 70 Prozent senken, während Gut- und Besserverdiener halbwegs ungeschoren davonkommen.
Das muss ja nicht zwangsläufig so sein – in Wahrheit wissen doch die Menschen, dass es nicht mehr so weitergehen kann. Natürlich will niemand etwas abgeben und wird schreien – deswegen muss sich die Politik übergreifend hier zum Konsens zusammenfinden. Für die Akzeptanz ist eben wichtig, dass alle Gruppen ihren Beitrag leisten – Bürgergeldempfänger durch mehr Handlungsdruck eine Lohnarbeit aufzunehmen, Normalverdiener werden auf das ein oder andere Steuergeschenk verzichten müssen, dass heute per Gieskanne kommt und Topverdiener und Inhaber großer Vermögen müssen ebenfalls miteinbezogen werden, ohne dass die Vermögenssubstanz zerstört wird. Mit dem Lastenausgleichsgesetz ist bereits schon einmal in unserer Geschichte dieser schwierige Konsens gelungen und zu einem Erfolg gebracht worden.
Die Alternative ist, dass wir weiterhin über den dysfunktionalen Staat lamentieren, die die es sich leisten können, zunehmend in private Exits gehen (Privatschulen, Auswanderung) und am Ende unser demokratisches Gemeinwesen vollends den Bach heruntergehen wird.
Das heisst nicht, dass wir die Strukturen unangetastet lassen müssen, ganz im Gegenteil – auch der Staat hat massive Möglichkeiten sich zu verschlanken und mit Digitalisierung endlich die Produktivitätszuwächse zu erzielen, die es ermöglichen Manpower die heute in Verwaltung gebunden ist, sukzessive dort einzusetzen, wo ein unmittelbarer Mehrwert für den Bürger entsteht.
LA ARGENTINA -> Bei der Amtseinführung klatscht das Volk zu Aussagen, dass kein Geld da ist und man jetzt den Geldhahn zudreht. Die denken natürlich an die finanziell großzügigst ausgestatteten korrupten Politiker.
Nächste Woche muss das gleiche Volk dann mit ihren auf alte Preise ausgerichteten Löhne Dinge wie Benzin und Spagetti zu neuen Preise zahlen. Dann wirds spannend.
Das ist etwas, das mir völlig unklar ist. Leute klatschen IMMER bei diesen Zeilen, weil sie irgendwie immer hören, dass das Geld anderen Leuten weggenommen wird. They never learn. Ich sag nur „keep the government’s hands off my Medicare“.
Ja gut, aber da kommen noch Aspekte der spezifischen Situation Argentiniens hinzu. Deutschland benötigte 1923 ein hartes Stabilisierungsprogramm, um Geld- und Fiskalpolitik wieder eine solide Basis zu geben. Argentinien jetzt auch.
Eine gewisse Bereitschaft dafür, daß es erstmal schlechter wird bevor es besser wird, ist durchaus vorhanden.
Ok.
LA ARGENTINA: Politisch spitzt sich Mileis Präsidentschaft auf ein Thema zu: Er benötigt eine Zustimmung für ein Programm der Kürzung der Haushaltsausgaben von 5%. Es wird angezweifelt, ob er da für Mehrheiten erhalten kann. Das Parteiensystem ist wesentlich unübersichtlicher als es auf den ersten Blick aussieht. Sowohl Peronisten als auch der in der deutschen Presse als mitte Rechts bezeichnete Block „Juntos Por el Cambio“ sind heterogen. „Juntos por el Cambio“ ist keine Partei sondern eine Koalition.
Ohne die Zustimmung zur 5% Kürzung wird Milei nicht regieren können. Das Thema ist kurzfristig vielleicht sogar wichtiger als Proteste auf der Straße, die sich nun bald aufbauen werden.
Danke für deine Updates! Wenn du Lust hast, mal einen eigenen Artikel dazu zu schreiben, veröffentliche ich ihn gerne.
Danke. Zurzeit ist zu viel im Fluss. Vielleicht in der Woche nach Weihnachten.
@ Stefan Pietsch
Bestreite ich nicht. Ich erinnere mich halt an Berichte aus USA: Rentner mussten wieder arbeiten, weil ihr Pensionsfonds entweder pleite war oder weniger auszahlen konnte. Und die Frage war ja, ob Blüm (bewusst) gelogen hatte. Ich denke: Nein.