Rezension: Shmuel N. Eisenstadt – Die Vielfalt der Moderne (Teil 2)

Teil 1 hier.

Shmuel N. Eisenstadt – Die Vielfalt der Moderne

Als Nächstes wendet sich Eisenstadt der Grundlegung der amerikanischen Institutionen in der Jackson Ära zu. In dieser Zeit Anfang des 19. Jahrhunderts bildeten sich die meisten der von ihm beschriebenen Strömungen heraus. Der große Unterschied zwischen der Jacksonian Ära und der vorangegangenen republikanischen liegt für Eisenstadt vor allem im Expansionsstreben der USA. Nicht nur breitete sich das Land geographisch und territorial aus, sondern es begann durch eine breitere Einwanderung auch eine Art demographische Expansion.

Die amerikanische Elitenbildung unterschied (und unterscheidet) sich stark von der europäischen: es gibt keine klaren Pfade zum Zugang zu Elite. Selbst die Universitäten der Ivy League es sind nur für den Zutritt zu bestimmten Teilen der Elite relevant. Ihre verhältnismäßig große Durchlässigkeit hat die krasse Ungleichheit in den USA schon immer wenigstens teilweise mitigiert. Diese Entwicklung wurde schnell durch die anwachsende Ungleichheit abgebremst, die diese soziale Durchlässigkeit stark begrenzte, hält sich aber als identitätsstiftender Mythos bis heute. Dazu gehört auch die Gleichstellung (und gleichzeitige Konfrontation) von Produktion und Handel/Gewerbe, die erst im späteren 20. Jahrhundert als Konflikt unter dem Dach der „Mittelschicht“ neutralisiert wurde, das breit genug war, allen Strömungen ein ideologisches Zuhause zu bieten.

Das traf auch auf die – wie Eisenstadt bereits gezeigt hat: bedeutsame – religiöse Dimension zu. Der amerikanische Protestantismus spaltete sich in Denominationen, die nicht so strikt wie Amtskirchen, aber weniger geschlossen als Sekten waren und zu einem starken religiösen Pluralismus in den USA beitrugen, dem sich selbst die katholische Kirche unterwerfen musste. Dieser war einzigartig in der westlichen Welt.

Er basierte im 19. Jahrhundert auf einem immer stärker werdenden Nationalstaat, in dem die ersten modernen Parteien große Anhängerschaften mobilisierten und sich zum Massenparteien entwickelten. Dies sieht Eisenstadt als erste politische Stütze der amerikanischen Moderne. Die zweite besteht in der großen Rolle und der starken institutionellen Ausdifferenzierung des Rechtsystems. Die Grundrechte wurden von allen politischen Seiten als unglaublich wichtig definiert, von Links als Gestaltungs-, von rechts als Abwehrrechte gegen den Staat. Daran änderte auch der tiefe Konflikt über die Sklaverei nichts.

All dies rief zahlreiche Protestbewegungen hervor, die beispielsweise jene Sklaverei kritisierten, andererseits aber auch einen überbordenden Individualismus und Egoismus, ein Dauerthema amerikanischer Protestkultur. Ein weiteres solches Dauerthema war die durch Konzentration von Macht und Reichtum erzielte Ungleichheit. Gleichwohl stellt Eisenstadt fest, dass letzteres Thema immer sehr ambivalent auftrat, weil großer Reichtum und Ungleichheit nie per se abgelehnt, sondern stets nur in ihren Exzessen bekämpft wurden. Die amerikanischen Protestbewegungen teilten somit die kulturellen Prämissen ihres Landes. In dem einen Fall, in dem sie dies nicht taten, löste dies einen erbitterten Bürgerkrieg aus.

Der dritte Abschnitt nimmt als zweite große Vergleichsstudie das moderne Japan heran. Eisenstadt betrachtet es als das andere Extrem gegenüber den USA. Japan war das einzige Land mit einem eigenständigen Pfad in die Moderne im 19. Jahrhundert, das keine Achsenkultur war oder einer entstammte. Die größte Gemeinsamkeit Japans mit den USA sieht Eisenstadt in der Reichhaltigkeit der Protestkulturen, die die Prämissen des Zentrums gleichzeitig nicht infrage stellten. So gab es zwar zahlreiche Protestbewegungen für eine stärkere Liberalisierung der verkrusteten Institutionen oder mehr für Arbeiter*innenrechte (die einen Sozialismus in Japan zumindest möglich erscheinen ließen), während dem 20. Jahrhundert Frauen-, Umwelt- und andere Protestbewegungen auftraten.

Eisenstadt konstatiert eine Serie des Scheiterns sämtlicher Protestbewegungen, vor allem der sozialistischen, politische Räume nachhaltig umzugestalten und in sie einzudringen. Die Dauerherrschaft der liberalen LDP stellt dem ein eindrucksvolles Zeugnis aus. Stattdessen seien die Erfolge dieser Protestbewegungen auf der Schaffung sozialer und kultureller Räume zu suchen. Dadurch entstand eine politische Protestdynamik, die sich deutlich von europäischen Verhältnissen unterschied und eben nicht auf eine Umgestaltung des Zentrums oder der Grenzen des Kollektivs zielte. Dies lag anders als in den USA laut Eisenstadt allerdings am Fehlen starker utopischer Orientierungen.

Stattdessen dominierten sowohl in der Politik als auch in der ihr entgegengesetzten Protestkultur Netzwerke. Diese überlagerten sich wechselseitig, wodurch die Politik die Anliegen der Protestbewegung häufig bereits aufnahm, bevor diese sich weitreichend artikulieren konnten. Dies wird von Forscher*innen als „formierter Pluralismus“ bezeichnet und führte zu einem vergleichsweise schwachen Staat, der nicht kommentiert, sondern auf ständiger Beratung mit verschiedenen Gruppen beruht und in dem beratende Gremien eine entscheidende Rolle spielen. Somit konnten die Protestgruppen im Kleinen viel verändern, im Großen allerdings niemals mächtigen Einfluss erreichen. Das erhielt die Netzwerke und die hierarchischen Problemlösungsstrategien.

Ein anderes japanisches Merkmal, die Bedeutung der Neuen Religionen, passt hier ebenso ins Bild, weil ihnen jegliche utopische Orientierung abging. Sie fügten sich in einen großen nationalen Konsens ein, der, und das ist die Kehrseite, sehr leicht zur Ausgrenzung von Gruppen aus der nationalen Gemeinschaft führte. Ähnlich wie in den USA herrsche auch in Japan eine „Disharmonieverheißung“, die allerdings eine andere Art der Konfrontation mit dem Zentrum hervorbrachte.

Um diese zu erklären, geht Eisenstadt in die Zeit der Meiji-Restauration im 19. Jahrhundert zurück. Dieser Prozess begann in der Bürokratie und der Oligarchie, die quasi die Basis der Meiji-Gesellschaft formten. Relativ schnell allerdings wurden weitere Gruppen, wenngleich ohne volle politische Rechte, in den Prozess einbezogen. Das neue Regime erfand eine komplett neue Ethik der Loyalität zum Staatswesen, das zwar auf bestehenden Systemen aufbaute, diese aber mit konfuzianischer Ethik übergoss und für seine eigenen Zwecke anpasste. Das Resultat war ein künstliches, neu geschaffenes Ethiksystem, das sich allerdings dadurch legitimierte, dass es behauptete, sich aus einer jahrtausendealten Geschichte abzuleiten, quasi eine Rückkehr zu den Wurzeln.

Dies wurde mit neuen bürgerlichen Tugenden wie Patriotismus Gehorsam gegenüber den allgemeinen Gesetzen und ähnlichem kombiniert. Diese neuen Werte wurden durch einen „Schulmeister“-Staat der Bevölkerung vermittelt, in einem stark hierarchischen System. Im Zentrum des Ganzen stand der Kaiser, der in einer merkwürdig ambivalenten Rolle war: einerseits war er ein ewiges, auf Jahrtausenden der Tradition beruhendes Wesen, andererseits hing seine Autorität in einem gewissen Grad vom Volke ab und leitete sich aus seiner Popularität her. Die liberale Verfassung war dadurch ein Geschenk des Kaisers an sein Volk, das allerdings den Kaiser selbst teilweise entmachtete.

In diesem Zusammenhang erklärt Eisenstadt einen zentralen Unterschied zwischen der nationalen und der politischen Struktur. Die nationale Struktur (kokutai) ist sakrosankt und ideologisch überhöht, die politische Struktur (seitai) profan und gegenüber Kritik und alltäglichen Wirken offen. Der Kaiser selbst repräsentierte dabei die nationale Struktur, war aber den Buchstaben der Verfassung nach die wichtigste Figur in der politischen Struktur. Diese merkwürdige Ambivalenz prägte die japanische Struktur bis zum Zweiten Weltkrieg und spielt selbst heute noch eine wichtige Rolle.

Diese Ideologie – oder, in den Worten Eisenstadts, Ziviltheologie – war grundsätzlich staatsfern, als dass sie sich in der Nationsidee ausdrückte. Sie schaffte überhaupt erst den modernen Japaner. Diese nationalstaatliche Identität, ausgebildet in einer Zivilreligion, kennen wir auch aus Frankreich oder der Sowjetunion; in Japan allerdings geht sie wesentlich stärker von einem Kollektiv aus, dass sich Nationalstaatlich ausdrückt und legitimiert. Die überbordende Kaisersymbolik bildete hier die verbindende Klammer.

Dadurch entstand paradoxerweise die Situation, dass der Kaiser außerhalb des Staats stand und die Gesamtheit der Nation, nicht aber das Staatswesen repräsentierte. Er repräsentierte also den Willen der Allgemeinheit, während der politische Prozess Partikularinteressen und alltägliche Meinungsstreits abbildete. Eine weitere Folge dieser ideologischen Positionierung war, dass sich die Bürokratie als ein Machtzentrum des Staates entwickeln konnte, das unabhängig von politischen Prozessen war und sich als Verkörperung der Nation betrachten konnte. Dem lag ein großes Misstrauen gegenüber der Politik zugrunde, das mich ziemlich an das deutsche Kaiserreich erinnert.

Die Bürokratie konnte sich so als vom politischen Prozess losgelöst und nur vom Kaiser legitimiert darstellen, was gleichzeitig eine große Betonung von Bildung und Kompetenz innerhalb ihrer Ränge und damit zu einer Aufstiegsmöglichkeit für breitere Schichten sowie einem Ethos von Bildung innerhalb der Elite führte. Das einzige Machtzentrum, das mit der Bürokratie konkurrieren konnte, war die Armee, die ihre Stellung ebenfalls vom direkten Zugang zum Kaiser ableitete.

Das sich entwickelnde kollektive Bewusstsein jener Zeit basierte stark auf der Idee der Einzigartigkeit Japans, eine Nation unter dem Schutz der Gottheiten. Die Japaner definierten sich stets in Abgrenzung anderer Kulturen, vor allem der koreanischen und chinesischen, denen sie zwar ihre eigene Berechtigung zugestanden, denen sie aber entschieden absprachen, selbst die alleinigen Träger jener Werte zu sein, die sie in Japan in einzigartiger Weise verwirklicht sahen. So entstand eine beinahe fanatische Strömung von Nationalismus, der auf der einen Seite die unvergleichliche Einzigartigkeit Japans betonte, auf der anderen Seite aber kein Problem darin sah, in der eigenen Identität die Verkörperung universeller Menschheitswerte zu sehen. Ein zweiter Bestandteil dieser kollektiven Identität war die Höflichkeit, ihren größten Ausdruck in der Treue gegenüber den jeweiligen Herren fand. An der Spitze dieses Treuesystems stand natürlich der Kaiser.

Auffällig im Vergleich zu China ist die Rolle des Konfuzianismus. Dieser führte nie zu einer Identität mit dem Beamtensystem oder dem Staat, sondern befand sich in einer ständigen Diskussion mit dem Buddhismus. Es entstand so keine Klasse konfuzianisch gebildeter Personen wie in China; stattdessen wurde das Bildungsideal auf die Aristokratie übertragen, die sich zu bilden gedachte und dadurch die bürokratische und organisatorische Grundlage des Staates bildete und bilden konnte. Die große Rolle der Familie im japanischen System ging eine Partnerschaft mit dem Buddhismus ein und sorgte für Klüngel politischer Macht, dir auch vererbbar waren. Konfuzianismus und Buddhismus überformten so theologisch die in Japan ohnehin angelegte Treue gegenüber dem Zentrum und der gemeinsamen nationalen Identität und heiligten so die japanische Identität.

Dadurch waren die konfuzianischen und buddhistischen Ideen in Japan nie unabhängig und formten nie eigene Strukturen, sondern waren stets in bestehende Machtverhältnisse eingebettet. Der Versuch von konfuzianischen Gelehrten, Orthodoxien in Japan aufzubauen, scheiterte, was Eisenstadt unter anderem darauf zurückführt, dass Japan eben keine typische Achsenkultur sei.

Weiter geht es in Teil 3.

{ 1 comment… add one }

Leave a Comment

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.