Rezension: Frank Bösch – Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann (Teil 1)

Frank Bösch – Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann

Die Frage, wann die Moderne beginnt, ist eine in der Geschichtswissenschaft hochumstrittene. Der untere Rand des Spektrums wird üblicherweise durch die Aufklärung und die bürgerlichen Revolutionen ab der Mitte des 18. Jahrhunderts gebildet. Frank Bösch legt die Latte in seinem vorliegenden Buch wesentlich höher: er lässt unsere moderne Welt 1979 beginnen. Dabei behauptet er nicht, dass Schlag am 1.1.1979 ein neues Zeitalter anbrach, sondern eher, dass in dieses Jahr viele Ereignisse fielen, deren Genese und Folgewirkungen besonders prägend waren. Diese Ereignisse und Dynamiken, die üblicherweise fernab deutscher Grenzen stattfanden, hatten doch immer Rückwirkungen auf das damals noch geteilte Deutschland. Trotz des internationalen Ansatzes der Ereignisse legt er daher den Schwerpunkt darauf, ihre Auswirkungen auf die beiden Deutschland zu beschreiben. Inwieweit dieser Ansatz trägt, soll die folgende Rezension erkunden.

In Kapitel 1, „Die Revolution im Iran“, beginnt Bösch seine Darstellung. Diese hat ihre Genese in der langen Kooperation des Westens mit dem diktarorischen Schah-Regime, das im Land für eine antiwestliche und antimoderne Stimmung sorgte. Erste Reformversuche des Schah-Regimes selbst in den 70er Jahren wurden vom Westen bekämpft, weil sie aus seiner Sicht das Land destabilisierten und ein Einfallstor für kommunistische Agitation darstellten. Da der Schah selbst keinen sonderlich stringenten Reformkurs vor, sondern eher erratisch agierte, ermunterte er mit dem Schlingerkurs nur die Opposition, die sich immer größer und lautstärker formierte.

Ein entscheidender Kopf dieser Opposition war trotz der anfänglich geringen Größe seiner Anhänger*innenschaft der im Exil lebende Ayatollah Khomeini. Seine Fähigkeit war es, sich als Gesicht der Opposition uns als ihr Anführer zu gerieren und als zentrale Opposition des Schahs wahrgenommen zu werden. Das lag an seiner Fähigkeit, westliche Journalisten (und das waren alles Männer) um den Finger zu wickeln; vor allem Peter Scholl-Latour, der den Ayatollah im Flugzeug in den Iran begleiten durfte und von der eigenen Bedeutung besoffen unkritisch die Progaganda der Islamisten schluckte. Damit war er nicht allein; fast der ganze Westen ließ sich anfangs von moderater Rhetorik und scheinbar demokratischen Elementen täuschen, die Liberalen wie Konservativen gefielen, während die Linke schon allein wegen der klar antiamerikanischen Haltung des Ayatollahs von ihm begeistert waren.

Khomeini reagierte allerdings sobald er sicher im Iran und der Schah geflohen war schnell mit Gewalt und begann, die Bevölkerung und vor allem die anderen Strömungen der Opposition zu unterdrücken. Dabei war seine Stellung nicht unangefochten; die Geiselnahme in der US-Botschaft aus den eskalierenden Protesten etwa war nicht seine Idee, aber er nahm es hin und intervenierte nicht – schon allein, weil er gar nicht Macht hatte, irgendetwas zu unternehmen. Während des Geiseldramas versuchte die bundesrepublikanische Regierung, die zahlreiche Kontakte im Iran besaß, weitgehend erfolglos zu vermitteln.

Khomeini selbst versuchte, eine Ideologie des schiitischen Panislamismus zu propagieren, scheiterte damit jedoch schnell, schon allein, weil seine Nachbarländer alle von säkularen Diktatoren regiert und eher sunnitisch geprägt waren. Dieses Scheitern mündete im verheerenden  Krieg mit Irak, der allerdings außerhalb des Rahmens des Buchs liegt. Die BRD indessen unterhielt, unter Gefährdung ihrer Beziehungen zu den USA, ein hervorragendes Verhältnis zum sich rasch zur Theokratie entwickelnden Iran. Die Wirtschaft ging über alles, vor allem für Bundeskanzler Schmidt. Diese freundschaftliche Haltung zu einem mörderischen Regime zeigte sich etwa am neuen Botschafter in Teheran, der erklärte, die Berichterstattung über täglich mehr als 30 Todesurteile unterschlage, „wie sehr diese von linksextremen Militanten provoziert“ würden. Wenn etwas eine moralische Bankrotterklärung ist, dann wohl das. Erst unter dem im Zug des Antiterrorkampfs massiv zunehmenden Druck der USA ab 2003 endete dieses deutsche Sonderverhältnis, das im Übrigen keine iranische Ausnahme darstellt: bis dahin unterhielt die Bundesrepublik auch extensive Kontakte nach Libyen und ignorierte nur zu gerne Gaddafis Terrorfinanzierung.

In Deutschland selbst führte die Revolution nach einer kurzen Begeisterungsphase wie im ganzen Westen schnell zu einem Backlash gegen den Islam in der öffentlichen Meinung. Man identifizierte den gesamten Nahen Osten nun zunehmend als kulturell fremd und bedrohlich, wo man ihn zuvor eher als unterentwickelt, analphabetisch und die Segnungen der Zivilisation erwartend begriffen hatte. Dieser Wandel des islamischen Fremdbilds betraf auch die Türkei und damit die Millionen von Deutschtürk*innen auf negative Weise.

In Kapitel 2, „Papst Johannes Paul II. in Polen„, könnten geneigte Beobachtende versucht sein, aufgrund der Gleichzeitig der Ereignisse Parallelen zu religiöser Radikalisierung zu ziehen: der 1978 gewählte neue Papst trat seine große Auslandsreise nach Polen an. Seine Rolle bezüglich der Menschenrechte war ambivalent: auf der einen Seite prangerte er Menschenrechtsverstöße kommunistischer Regime an, auf der anderen Seite war der konservative Papst sicherlich kein Freund von Frauenrechten.

Die Hoffnung der polnischen Kommunisten, die den Besuch überhaupt zuließen, war der auf Stabilisierung ihres Regimes, indem sie den Glanz des ersten polnischen Papstes für sich nutzen konnten. Entsprechend großes Gewicht hatte die detaillierte Vorbereitung des Besuchs. Bösch warnt vor Überinterpretationen des Ereignisses, aber die Begeisterung der Bevölkerung war gewaltig. Ihre Bedeutung liegt für Bösch darin, als eine erste Übung in Massenversammlungen und ihrer Organisation gedient zu haben, die der polnischen Opposition noch zugute kommen würde. Der Papst selbst hielt sich bewusst politisch zurück und zeigte keine Solidarität mit Solidarnosc, um die Machthaber nicht zu provozieren und weil er Gewerkschaften misstraute; erst bei seinen Besuchen 1983 und 1987 würde er sich offener auf die Seite der Opposition stellen. In der öffentlichen Erinnerung sind diese Besuche natürlich mittlerweile verschmolzen.

Der Besuch mobilisierte vor allem junge Menschen und war von einer Aura des polnischen Nationalismus durchwoben, die sich kaum trennen ließ. Er gehörte zudem in den Kontext der Entspannungspolitik mit Jaruzelski, der so versuchte, das Ansehen der Volksrepublik Polen zu verbessern.

Die BRD versuchte ihrerseits ebenfalls, den Papst für sich zu vereinnahmen, aber der blieb im Kalten Krieg äquidistant und unpolitisch. Die Begeisterung bei seinem ersten Besuch in der BRD war auch bei weitem nicht so groß wie in Polen, was vermutlich auch mit der zu diesem Zeitpunkt rapide fortschreitenden Säkularisierung zu tun hat (siehe auch hier). Selbst die DDR versuchte sich an der Vereinnahmung des Papstes, indem sie dessen antikoloniale Aussagen für sich zu interpretieren versuchte. Wie auch in Polen wurden in der DDR in den 1980er Jahren die Kirchen relevanter, weil sich unter ihrem Dach der Protest der Jugend artikulieren konnte; wie die Zeit nach 1990 allerdings zeigte, war das aber kein Ausdruck von Religiosität.

Wesentlich säkularer geht es in Kapitel 3, „Die Revolution in Nicaragua„, zu. Die Diktatur Nicaragua wies gewisse Ähnlichkeiten zum Iran auf: Auch hier gab es einen Diktator, von den USA unterstützt, der mit Gewalt, Folter und Tod regierte. Wenig überraschend war die Opposition nicht sonderlich US-freundlich. Die Revolution durch die Sandinisten genoss dann wegen des offensichtlichen Charakter des alten Regimes große internationale Solidarität, die auch lagerübergreifend war; die Politik dagegen war ebenso lagerübergreifend eher distanziert – auch hier drängen sich die Parallelen zum Iran auf, da die BRD wie bei Iran vor allem an Wirtschaftskontakten interessiert war. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung schwenkte sie dann aber auf Entwicklungshilfen um; die USA dagegen änderten ihre feindselige Haltung nie.

Im Westen bildeten sich zahlreiche Solidaritätsgruppen mit Nicaragua, die ungemeine Mengen privater Entwicklungshilfen aufbrachten, die schnell mit großen staatlichen Hilfen gepaart wurden. Die Masse dieser Sympathie kam natürlich aus der politischen Linken, aber auch junge Christen engagierten sich für Nicaragua; ich gehe davon aus, dass es hier eine Schnittstelle mit der Befreiungstheologie gibt. Auch der Osten unterstützte Nicaragua massiv, vor allem die DDR und Kuba, obwohl deren Budgets das eigentlich nicht hergaben – der Prestigegewinn stand über allem.

Nicaragua wurde dabei von allen Seiten romantisiert, was dabei half, zahlreiche Freiwillige zu rekrutieren, die als Entwicklungshelfer für einige Wochen oder Monate nach Nicaragua gingen, um dort mitzuarbeiten. Dabei zeigten sich allerdings schnell Konflikte mit der örtlichen Bevölkerung. Die westlichen Linken kamen mit der machoistischen und religiösen Kultur Mittelamerikas nicht zurecht, während die jungen Christen starke theologische Differenzen ausmachen mussten.

Die Sandinisten wurden zudem zunehmend autoritärer, so dass die Unterstützung abzunehmen begann. Das Intereresse an dem Land blieb aber überparteilich, schon allein, weil die CDU Nicaragua dazu nutzen konnte, um die Linken mit dem Menschenrechtsknüppel zu schlagen, den diese im Iran und an anderen Orten gegen von den USA unterstützte Diktatoren benutzt hatten. Hier endlich war eine aufstrebende Linksdiktatur, die Menschenrechte verletzte – und die Linken schwiegen.

Auffällig war, dass besonders die junge Partei der Grünen in Nicaragua sehr engagiert blieb. Sie betrieb in den 1980er Jahren vielfach eine „kommunale Nebenaußenpolitik“, indem sie Partnerschaften mit Nicarauga schloss, wo ihr dies wie nach den Wahlerfolgen in Hessen durch die Teilhabe an der kommunalen Macht möglich wurde. Dadurch gewannen viele grüne Politiker*innen erste außenpolitische Erfahrung, die sie später gewinnbringend würden einsetzen können.

Nicaragua führte auch zu einer weiteren und schweren Desavouierung der USA, die im Ausmaß ähnlich wie Vietnam war, weil die USA die Gewalt der Contra-Rebellen stützten, die offenkundig noch schlimmer als die Sandinisten waren. Diese Unterstützung trug maßgeblich dazu bei, dass Nicaragua in eine Spirale der Bürgerkriegsgewalt rutschte, aus der sie erst die politische Niederlage der Sandinisten 1990, nach der sich das Land dem „Washington Consensus“ anschloss (zur Enttäuschung aller Aktivist*innen), befreien konnte. Auch die Hoffnungen der jungen Christen wurden enttäuscht, als zunehmend ein reaktionärer Katholizismus gegenüber den reformorientierten Graswurzelbewegungen die Macht übernahm.

In eine ganz andere Richtung geht Kapitel 4, „Chinas Öffnung unter Deng Xiaoping„. Die Öffnung selbst begann zwar bereits 1978; Bösch rechtfertigt die Aufnahme neben der offensichtlichen Bedeutung aber, indem er als Anlass Dengs Besuch in den USA im Januar 1979 nimmt. Das Kapitel selbst öffnet mit einem Rückblick auf Maos katastrophale Wirtschaftspolitik und Abschottung. Diese hatten neben den offensichtlichen Effekten auf China auch die Wirkung, dass der Westen praktisch keinen Einblick in das Land hatte. Die wenigen Expert*innen, die sich mit dem Land beschäftigten, waren oft darauf zurückgeworfen, Textexzegese aus Zeitungsschnippseln zu betreiben und auf diese Art den Kurs der KPCh herauszufinden.

Weiter geht es in Teil 2.

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