Oliver Hilmes – Schattenzeit: Deutschland 1943: Alltag und Abgründe (Hörbuch)
Am 7. September 1943 wurden in der Strafvollzugsanstalt Plötzensee fast 250 Justizmorde verübt. In einem wahren Massaker auch wurden zahlreiche Gefangene, gegen selbst das kaum ernstzunehmende Recht des Nazi-Staates, im Schichtverfahren gehängt. Eines der vielen Opfer war der Pianist Karlrobert Kreiten. Oliver Hilmes nimmt sein Schicksal zum Anlass, eine Art Alltagsgeschichte des Jahres 1943 zu unternehmen und zu versuchen, die titelgebende Schattenzeit durch persönliche Schicksale und Quellenauszüge greifbar zu machen. Obwohl man annehmen sollte, dass die erdrückende Realität des Dritten Reiches hinreichend bekannt ist, bleibt selbst für viel belesene Menschen die tatsächliche Lebenswirklichkeit jener Zeit immer wieder eine Überraschung.
Hilmes beginnt seine Erzählung direkt im Januar 1943. Die Schlacht um Stalingrad liegt in ihren letzten Zügen und wird von der deutschen Propaganda bereits als ein heldenhaftes Martyrium mit starker Anlehnung an die Nibelungensage ausgestaltet. Während die frierenden und hungernden Soldaten in Stalingrad zu Tausenden verrecken, feiert Göring in einer rauschenden Party seinen Geburtstag. Der bis ins Mark korrupte Naziführer lässt eine gigantische Reihe von luxuriösen Lebensmitteln auftafeln und versammelt die Prominenz Nazideutschlands in seiner dekadenten Villa. In den Straßen Dresdens indes versucht Victor Klemperer, durch die Zeit zu kommen und seine Arbeit an seine Untersuchungen zur Sprache des Dritten Reiches fortzusetzen.
Der 27 jährige Pianist Karlrobert Kreiten lebt Zu dieser Zeit bei einer entfernten Freundin seiner Mutter als Untermieter. Er ist ein typisches Wunderkind der Musik: von jungen Jahren an trainierte er hart an seinen Fähigkeiten, gab Konzerte und wurde von diversen Stellen gefördert. Für die Musikszene ist er einer der deutschen Künstler mit Weltruhm. Hätte der Krieg nicht internationale Verbindungen abgebrochen, wäre es gut möglich, dass er diesen Weltruhm auf dem Feld der Pianisten auch einfahren könnte. So bleibt es bei Konzerten im vom Krieg verheerten Deutschland , denen ein gewisser dekadente Ruch anhaftet, wo so große Teile der Bevölkerung weder die Zeit und Muse noch das Geld haben, um Konzerte zu genießen und die meisten seiner Altersgenossen an der Front stehen und sterben.
Karlrobert Kreiten lebt auf eine gewisse Art ein behütetes Leben in einer Blase. Er ist nicht doof und ist sich grundsätzlich im Klaren darüber, dass er in einer Diktatur lebt, die einen nicht zu gewinnenden Weltkrieg führt. Gleichzeitig aber ist er das, was in jener Zeit so häufig als positives Charaktermerkmal verstanden wurde: unpolitisch. Er ist ein Paradebeispiel für jene Art von Menschen, die sich als Reaktion auf ein totalitäres Regime ins Private zurückziehen und möglichst wenig Berührungspunkte mit der Politik zu haben versuchen. Dies funktioniert für ihn auch gut. Er entstammt einer typischen Bildungsbürgerliche Familie und ist daher materiell einigermaßen gut abgesichert, auch im Krieg. Seine musikalischen Schwerpunkte decken sich nicht mit denen der Nazis, so dass es hier keine Berührungspunkte im Guten wie im Schlechten gibt.
Seine Vermieterin hier ist eine einfältige, aber überzeugter Nationalsozialistin, die vor allem in der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und der dafür notwendigen Konformität aufgeht. In jedem Zimmer ihrer Wohnung hängt ein Bild von Adolf Hitler. In Unterhaltungen baut sie mit praktisch unvermeidlicher Notwendigkeit Propagandaphrasen ein. An einem etwas gestressten Morgen über dem Frühstück platzt Karlrobert Kreiten die Hutschnur und er erklärt den Krieg für verloren und eine Revolution für in der Luft liegend. Dann geht er weiter seinem Taggeschäft nach. Die geschockte Vermieterin indes bespricht sich mit ihren Freundinnen aus der NS-Frauenschaft. Diese überreden sie zu einer Anzeige bei der Gestapo.
Damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Die Gestapo verhaftet und befragt Kreiten, der sich mit lahmen Entschuldigungen von einem Missverständnis aus der Affäre zu ziehen versucht und die erfahrenen Beamten damit wenig beeindrucken kann. Zudem ist er sich des Ernstes seiner Lage zu keiner Sekunde bewusst. Er geht davon aus, nach den Befragungen problemlos wieder nach Hause gehen zu können und ist deswegen sogar erfreut, als er aus der Gestapo Zentrale in ein normales Gefängnis verlegt wird, weil er sich im kommenden Prozess einen Freispruch erwartet. Diese Annahme wäre immer naiv gewesen, jedoch hat Kreiten dazu auch noch zeitliches Pech. Der Totale Krieg, den Goebbels im Frühjahr ausgerufen hat und durch zahlreiche Dekrete verschärft, unterwirft die Justiz einer wesentlich strengeren Kontrolle als vorher und zwingt Staatsanwälte und Richter zu deutlich schärferen Urteilen. Die Annahme, dass sein bürgerlicher Hintergrund und sein künstlerischer Ruhm ihm helfen würden, verwandelt sich angesichts des immer deutlicheren Feldzugs der Nazis gegen eben diese bürgerliche Welt und Kultur tatsächlich in einen Nachteil.
Im Gefängnis erlebt Karlrobert Kreiten ein böses Erwachen: erlebt die Enthumanisierung durch das Dritte Reich mit überfüllten Gefängniszellen, unzureichender Ernährung und schlechter Behandlung. Gleichwohl bleibt er dank der Herkunft seiner Klasse ein Gefangener mit Sonderrechten. Er erhält immer noch die besten Zellen und bleibt von Folter verschont. Dadurch ist er ein merkwürdiger Wanderer zwischen den Welten: zwar geriet er in die Terrormaschinerie der Nazis, bleibt aber dank seiner Klasse immer noch deutlich besser gestellt, als dies etwa für Sozialdemokraten oder Kommunisten gelten würde, von den genozidal verfolgten Gruppen ganz zu schweigen.
Für diese gibt es im Jahre 1943 immer weniger Entkommensmöglichkeiten. Wer es nicht bisher irgendwie aus dem Land geschafft hat, wird in diesem Jahr verhaftet und abtransportiert. Allen Beteiligten ist klar, dass es dabei auf eine Reise ohne Wiederkehr geht, was die leider immer noch verbreitete Vorstellung, die Deutschen hätten in der überwiegenden Mehrheit vom Holocaust nichts gewusst, einmal mehr ad absurdum führt. Hilmes verfolgt neben dem Schicksal Victor Klemperers auch das eines jüdischen Flüchtlings, der von einer wohlmeinenden und couragierten Frau in der Gartenlaube versteckt wird und erzählt immer wieder das Schicksal jüdischer Familien nach, die verhaftet und in die Vernichtungslager transportiert werden.
Im Gegensatz zu vielen anderen politischen Gefangenen hat Karlrobert Kreiten dank seiner wohlhabenden Familie nicht nur einen nutzlosen Pflichtverteidiger, sondern zwei erfahrene Strafverteidiger zu seiner Unterstützung. Diesen ist von Beginn an die Tragweite der Vorwürfe bewusst, wenngleich sie gewisse Hoffnungen haben, wenigstens die Todesstrafe abwenden zu können. Karlrobert Kreiten Indes geht immer noch davon aus, nach einem Prozess entlassen zu werden, weil seine Untersuchungshaft schon jegliche Strafe abgelten dürfte. Die Naivität im Umgang mit dem System ist bemerkenswert und für mich ein interessantes Beispiel dafür, dass das Bürgertum den Rechtsextremismus zwar nicht goutiert, aber auch nicht als elementare Bedrohung für sich betrachtet – eine Dynamik, die man auch am heutigen Umgang damit sehen kann.
Zu genau einer solchen elementaren Bedrohung allerdings wird das Regime für Karlrobert Kreiten. Die zahlreichen Verschärfungen, die im Rahmen des Totalen Krieges in die Nazibürokratie einfließen, verschließen nach und nach jegliche Möglichkeit für den weitreichenden Bekanntenkreis der Familie, ihre Verbindungen spielen zu lassen, um den jungen Pianisten zu retten. Am Fatalsten wirkt sich sicherlich die Übertragung seines Falles vor den Volksgerichtshof aus. Vor Roland Freisler gibt es fast kein Entkommen, und jegliche Reste des Rechtsstaates verlieren vor diesem Gremium ihre Wirksamkeit. Karlrobert Kreiten bekommt seine Anwälte nicht mehr zu Gesicht, die nicht einmal über den Prozess informiert werden. Das Urteil steht von vornherein fest. Als die Familie es erfährt, Unternehmen die Anwälte einen letzten Rettungsversuch: ein Todesurteil darf erst vollstreckt werden, wenn die Möglichkeit einer Begnadigung durch Adolf Hitler persönlich abgelehnt wurde. Doch wiederum machen sie ihre Rechnung nicht mit der sich drastisch verschärfenden Umgebung des Jahres 1943.
Karlrobert Kreiten wird nach Plötzensee verlegt, noch bevor die Anwälte überhaupt Gelegenheit haben, einen Antrag auf Begnadigung einzubringen. Durch eine Laune des Schicksals zerstört ein Bombenangriff auf Berlin – ein Vorkommnis, das im Lauf des Jahres 1943 von einer Kuriosität zum Alltag wird und die Bevölkerung einem unglaublichen Terror unterwirft, der die Legitimität des Regimes rapide untergräbt – die Guillotine in Plötzensee. Diverse Zellen werden beschädigt, so dass die Gefangenen gemeinsam untergebracht werden müssen. Um diesen Zustand schnellstmöglich zu beheben werden alle zum Tode Verurteilten in der Nacht in einer riesigen Aktion im Schichtverfahren an Fleischerhaken gehenkt. Dies läuft selbst dem jeden rechtsstaatlichen Maßstäben spottenden Recht des Nazistaates zuwider, entspricht aber den Absichten der Führung und ist logischer Ausdruck des Totalen Krieges. Unter den rund 250 Opfern dieses massiven Justizmordes findet sich auch Karlrobert Kreite.
Der Rest des Buches widmet sich hauptsächlich dem weiteren Geschehen. Sowohl Victor Klemperer als auch der untergetauchte Flüchtling überleben als einige der wenigen deutschen Juden den Krieg. Roland Freisler stirbt in einer Art Akt der karmischen Gerechtigkeit bei einem alliierten Bombenangriff. Die gesammelte Naziführung begeht wie Goebbels zum Teil Selbstmord oder wird wie Göring zum Teil verhaftet und in Nürnberg vor Gericht gestellt. Gerechtigkeit allerdings bleibt im Nachkriegsdeutschland Mangelware: Karlrobert Kreitens Mutter versucht, die Denunziantinnen ihres Sohnes vor Gericht zu bringen. Die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft jedoch sind von Anfang an eher auf Seiten der Täterinnen als Aufdehnen des Opfers. Zudem sprechen sich die Beschuldigten untereinander ab, während Mutter Kreiten sich in Widersprüche verstrickt – keine zentralen, aber doch genug, um die ganzen Verhandlungen zum Scheitern zu bringen. Wie in Millionen anderer Fälle gehen die Denunzianten straflos aus.
Für mich blieb das Buch insgesamt eine faszinierende Lektüre. Hilmes‘ Ansatz, anhand biografischer Details ein spezifisches Jahr zu beleuchten und fassbar zu machen, funktioniert sehr gut. Die Auswahl seines Untersuchungsgegenstandes in Karlrobert Kreiten führt natürlich zu einigen Verzerrungen, die ich teilweise bereits im Laufe der Rezension betont habe. Diese müssen sich die Lesenden selbst erschließen. Sehr gut gelungen ist auch die Einbindung anderer Quellen in das Narrativ. Die Erzählungen sind immer wieder von Auszügen unterbrochen, die von Artikeln aus den Frauenmagazinen (wie stellt man aus abgetragenen Kleidern taugliche und modische Winterkleidung her) über Gesetzestexte hinzu Anweisungen an die Propagandamaschinerie (nach Stalingrad ist es erwünscht, die USA und GB als „Hilfsvölker der Sowjetunion“ zu bezeichnen) Über biographische Notizen anderer Personen reichen. Auf diese Art entsteht in Ansätzen ein Mosaik.
Ein Nachteil dieses Ansatzes ist, dass dieses Mosaik eben nur in Ansätzen besteht. Der Fokus bleibt klar auf der Familie Kreiten und damit auf einem sehr spezifischen Fall in einem sehr spezifischen Milieu. Ist man sich dessen gewahr, ist das kein großes Problem.
Gleichwohl ist es für mich auffällig, dass so viele deutsche Erzählungen über das Dritte Reich aus einem bürgerlichen Gesichtspunkt erzählt werden. Dies ist besonders auch bei Widerstandserzählungen offensichtlich. Es wäre an der Zeit, die Erfahrungen der Arbeiter*innenschaft oder die überzeugter Demokrat*innen (oder gar, Gott behüte, Kommunist*innen) stärker in den Vordergrund zu stellen. Zudem wäre es auch an der Zeit, bei der Quellenauswahl die ausgetretenen Pfade zu verlassen. So wichtig Victor Klemperer auch sein mag, allmählich wird sein Heranziehen in jedem Werk über diese Zeit ein wenig nervig. Das allerdings sind Luxusprobleme, die sicher auch meine ausführlichen Beschäftigung mit der Periode zuschulden kommen. Insgesamt ist die Lektüre absolut faszinierend und zieht die Lesenden in ihren Bann; die überschaubare Länge sorgt zudem dafür, dass das Buch die Geduld nicht überstrapaziert. Ich kann es daher nur empfehlen.
Hast du das Sternchen eigentlich wieder aufgegeben?
Nein, warum? geht nur beim diktieren gerne unter, weil die funktion das nicht kann. Was meinst du speziell? Vielleicht hab ich mir auch was bei gedacht.
Im ganzen Artikel fehlt es.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Demokraten, Kommunisten, Beamten, Arbeiter. Künstler und Pianisten streng genommen auch, wobei ich da nicht so sicher bin, wie das eigentlich funktioniert.
Künstler*innen und Pianist*innen. Ich hab es für die Demokrat*innen und Kommunist*innen angepasst. Der Rest ist bewusst männlich gegendert. Im 3. Reich gab es eine klare Geschlechtertrennung, die das Gendern überflüssig macht: bestimmte Bereiche waren rein männlich.
Woher soll der geneigte Leser eigentlich wissen, dass das „bewusst männlich gegendert“ sei? Wo doch der Rest offensichtlich unbewusst männlich gegendert wurde.
Außerdem gab es bei der Gestapo auch Frauen, ob als Beamte weiss ich nicht. Und natürlich gab es auch Arbeiterinnen. Die DAF hatte ein eigenes Frauenamt. Warum du die jetzt sprachlich unter den Tisch fallen lässt erschließt sich mir nicht.
Warum man sich damit auskennen oder recherchieren muss um „richtig“ formulieren zu können allerdings auch nicht.
Schöne Zusammenfassung, warum gendern im Alltag nicht funktionieren wird, es sei denn, man macht es mandatorisch ab Kindergarten und damit zur Lebensroutine. Was ja angeblich niemand niemals vorhat …
Dann wird es sich ja von alleine geben und wir haben kein Problem.
Völlig korrekt, nur wird es natürlich zur gesetzlichen Norm werden, sobald es sich in den kulturbestimmenden Institutionen durchgesetzt hat. Im angelsächsischen Raum sind die bereits vollständig in Wokie-Hand, in Deutschland auf dem Weg dahin.
Sprich, in etwa 10 Jahren von heute an wird gendern zur gesetzlichen Kindergarten- und Schulnorm.
Gruss,
Thorsten Haupts
Ich verstehe überhaupt nicht, wie ihr euch in so ein Szenario imaginieren könnt. Eine Landesregierung nach der anderen erlässt gerade Genderverbote. MEINE Freiheit zu schreiben und sprechen wie ich will wird gerade massiv angegriffen, nicht deine!
Eine Landesregierung nach der anderen erlässt gerade Genderverbote.
Ach was? Genderverbote wo? Hier im Blog? Oder auf twitter? Oder in der FAZ? Oder bei ARD? Oder in wissenschaftlichen Veröffentlichungen? In Werbeanzeigen und auf Plakaten?
Von wie vielen Landesregierungen mit „Genderverboten“ reden wir eigentlich genau? Eine?
Oder meinst Du mit „Genderverbot“ nur das Aufrechterhalten der bisher gültigen Rechtschreibung in Schulen?
Gruss,
Thorsten Haupts
Ich weiß nicht, meinst du mit Genderpflicht vielleicht nur Formvorschriften bei Hausarbeiten an einigen wenigen Unis? Hypocricy much?
Fragen ausgewichen?
Oder meinst Du mit „Genderverbot“ nur das Aufrechterhalten der bisher gültigen Rechtschreibung in Schulen?
In Sachsen-Anhalt (glaub ich) haben die tatsächlich ein sehr weitreichendes Genderverbot durchgesetzt. Das betrifft sowohl die behördliche Schreibweise als auch Auftragsvergabe nur noch an Unternehmen, die nicht gendern.
Da hatte ich schon ne längere Diskussion drüber, weil mir völlig unklar ist, wie sowas umgesetzt werden soll. Neben dem Aufwand, dass das ja erst jemand herausfinden muss, gibts ja auch die Vorgabe, das günstigste Angebot zu nehmen. Kann mir einfach nicht vorstellen, dass jetzt jemand teureres Klopapier oder Kugelschreiber kauft, nur weil die Unternehmen nicht gendern.
Also den Sprachpolizei-Schuh dürfen sich die Gendergegner jetzt gerne selbst anziehen, wenn daraus solche Freakgesetze entstehen.
Abgesehen davon, dass ich davon nichts weiß, ist, so hatte ich das mal im Deutschunterricht gelernt, Sprache eine Konvention. Schreibe ich falsch, ist das ein Fehler. Ohne Konvention verstehen wir uns nicht, weshalb Teenager ihre eigene Sprache erfinden.
Hat sich das geändert und wo ist die Konvention dazu?
Ist immer schön, wie man das alles rechtfertigen kann, wenn es einem reinläuft, nicht?
Ist das falsch und wenn ja, warum? Ich sehe Deinen Punkt nicht.
Es ist ein Prozess.
Die Routine ja. Wobei man sich schon wundern kann, warum Dir das immer noch so schwer fällt.
Der Rest ist eher ein immanentes Problem.
Dachte die Prozess Antwort wäre auf Thorsten gewesen.
Als Antwort auf mich, erschließt sie sich mir ehrlich gesagt nicht.
Was ich meine ist, dass das Herausfinden von Normen beim Gendern ein Prozess ist.
Das ist glaube ich eine Ausnahme bei dem Thema. Wenn ich über historische Perioden schreibe, gendere ich nicht so gerne. „Arbeiter“ sind einfach männlich codiert, auch wenn es natürlich Arbeiterinnen gab. Aber die Arbeiterkultur, das Proletariat, war männlich. Genauso Künstler: klar gab es Künstlerinnen, aber die sind auch effektiv alle männlich. Ich habe das Gefühl, da würde gendern die Geschichte verfälschen.
Gut, dann ist man aber auch schnell dabei die historischen Rollen von Frauen, positiv und negativ, zu verbergen.
Letztendlich unterstreicht all das weiter mein Unbehagen, das Geschlecht durch „grschlechtergerechte“ Sprache dermaßen in den Vordergrund zu rücken, wo es eigentlich kaum oder gar keine Rolle spielt. So wie bei diesem Beitrag.
Aber die Diskussion hatten wir ja schon öfter.
Ja, stimme ich dir völlig zu. Deswegen sage ich ja, ist ein Prozess. Vielleicht gendere ich in zwei, drei Jahren nicht mehr. Ich probiere das aus, und wenn es funktioniert, gut, wenn nicht, auch recht. Ich habe keine Aktien darin. (Natürlich wünsche ich mir dass es klappt, aber erneut, nicht schlimm wenn nicht)
Bisher würde ich sagen es funktioniert bei dir nur so halbwegs
Die positiven Effekte sind m.E. übertriebem optimistisch. Und da würde ich sagen der „Preis“ in Form von Missverständnissen, Unklarheiten und v.a. verschobenem Fokus ist es nicht wert. Ich meine anstatt über das an sich sehr interessante Thema nachzudenken bin ich am (fehlenden) Sternchen hängen geblieben. Dann habe ich selbst recherchiert und weiß jetzt mehr über Frauen in Gestapo und Arbeiterschaft. Auch spannend aber eigentlich nicht das Thema.
Wie gesagt: wir werden sehen. Ich bin auf jeden Fall offen für die Evaluation. Die Gewinne in manchen Bereichen sind aber schon recht hoch, gerade bei „Alltags“-Gendern wie Schüler*innen, Lehrkräfte etc.
Die angebotenen Gewinne. Was die tatsächlichen angeht bin ich halt skeptisch.
Bleib das gerne. So oder so werden wir eine Weile brauchen, um es zu wissen.
Gleich mal gespeichert, danke für die Rezension.
Gleichwohl ist es für mich auffällig, dass so viele deutsche Erzählungen über das Dritte Reich aus einem bürgerlichen Gesichtspunkt erzählt werden.
Jep nervt mich auch, obwohl das oft storytechnische Gründe hat, bei den Bürgerlichen gibt es Entscheidungen und Erkenntnisprozesse, die man erzählen kann, während bei Kommunisten gleich feststeht, dass die in der Naziherrschaft durch ihre reine Existenz in Lebensgefahr sind.
In Folletts Trilogie gibts zB einen Sozialdemokraten und ein schwules Pärchen und die werden in den 30ern schon von den Nazis totgeprügelt.
Dagegen musste ich bei der Erzählung oft an Sebastian Haffner denken, für ihn stand ja früh fest, dass er ins Ausland wollte (war gar nicht so leicht), aber er hätte sich auch – wie er es in den 30ern gemacht hat – sehr leicht eine Position in der inneren Migration als unpolitischer Modejournalist einrichten können. Und diese Entscheidungsfreiheit (und die Möglichkeit, daraus dann Konsequenzen zu ziehen) finden wir hauptsächlich bei den Bürgerlichen.
Ja, aber dafür sind die Erzählungen wahnsinnig einseitig. Denn die interessante Frage – wie sich das bürgerliche Milieu arrangiert hat, wo es Anknüpfungspunkte gab und wo nicht – wird meist ja gar nicht gestellt. Stattdessen imaginiert man sich in eine Widerstandserzählung hinein.
@ Stefan Sasse 30. September 2023, 13:50
Denn die interessante Frage – wie sich das bürgerliche Milieu arrangiert hat, wo es Anknüpfungspunkte gab und wo nicht – wird meist ja gar nicht gestellt.
Den Punkt (um mal nicht übers gendern zu schreiben 🙂 ) kann ich nachvollziehen. Aber das Arrangement des bürgerlichen Milieus halte ich für einen Prozess.
Grundsätzlich hat das Dritte Reich (vorausgesetzt, dass das Gros der Bevölkerung genauso unpolitisch war wie heute – jeder hat irgendwie eine Meinung zuallem, aber praktisch keine Ahnung von nix) am Anfang ja für die Mehrheit ja „gut“ funktioniert: Die unruhigen Weimarer Jahre waren durch, Inflation war durch, es gab wieder Arbeit, und im preussisch / kaiserlich geprägten Deutschland herrschte wieder „Ordnung“. Für die damals noch ausgeprägte Landbevölkerung war das klar eine gute Sache, für die bürgerlichen Milieus in den Städten erstmal auch (erst recht, wenn man als Alternative eine sozialistische bzw. kommunistische Herrschaft annimmt). Wüsste auch nicht, welche verschlimmernden Auswirkungen das anfangs auf die Arbeiterschaft gehabt haben könnte (aber wahrscheinlich auch keine verbessernden).
Als man dann nach und nach die Schrauben angezogen hat, waren die ersten Schritte klein genug, um sie mitgehen zu können, um sich zu arrangieren. Irgendwann vielleicht nicht mehr, aber da war man schon zu weit mitgelaufen, um auf einmal in den aktiven Widerstand zu gehen; man zog sich zurück und wollte nicht mehr wissen.
Stattdessen imaginiert man sich in eine Widerstandserzählung hinein.
Was übersetzt wahrscheinlich heißt: „Fanden wir nicht gut (aber was hätten wir schon machen können).
Was meines Erachtens bei heutigen Diskussionen immer wieder unter den Tisch fällt, ist, dass wir damals keinem demokratisch geschulte Bevölkerung hatten. Die meisten sind unter dem Kaiser groß geworden und waren in diese Richtung geprägt (1933 war nur 15 Jahre nach dem Ende des ersten Weltkriegs). Reichspräsident Hindenburg hasste die Demokratie, setzte rechtsextreme Regierungen ein und ermöglichte ihnen das Regieren per Dekreten, also ohne Parlament.
Ich halte es für sehr schwer, mit heutigen Sozialisierungen ein seriöses Urteil über damalige (Lebens-)Verhältnisse und Verhalten abzugeben, da man die Situation zwar intellektuell begreifen, aber nicht emotional erfassen kann. Mein politisches Denken wird doch stark von Emotionen und Grndwerten geprägt, die dann von meinem Intellekt unterstützt werden – nicht anders herum.
Ich halte es für sehr schwer, mit heutigen Sozialisierungen ein seriöses Urteil über damalige (Lebens-)Verhältnisse und Verhalten abzugeben
Unbedingt. Und wir wissen eben, wie die Geschichte ausgeht, 1933 dachte die Mehrheit logischerweise, dass die neue Regierung genauso schnell wieder weg ist wie die drölfzig davor. Diesen Erkenntnisprozess, der damals bei allen stattgefunden haben muss, können wir nur annähernd nachvollziehen, weil man – gerade bei Hitler – immer vom Ende her denkt.
Irgendwann vielleicht nicht mehr, aber da war man schon zu weit mitgelaufen, um auf einmal in den aktiven Widerstand zu gehen; man zog sich zurück und wollte nicht mehr wissen.
Ich bleibe dabei, dass Romane/Erzählungen hier oft Schwierigkeiten haben, weil die immer zwischen Bösewichtern und Widerstandshelden ne Story bauen müssen und 90% der Menschen sind nun mal in allen Graustufen dazwischen.
Für einen kleinen Bauern war es natürlich viel einfacher, sich zurückzuziehen und einfach sein Feld zu bestellen. Der hatte eh keinen Einfluss. Diesen „Luxus“ hatten Bürgerliche häufig nicht. Die hatten vielleicht ein Unternehmen oder waren Anwälte etc. Da konnte man selbst bei allem Unwillen, nicht auf Dauer unpolitisch bleiben.
Hier finde ich tatsächlich oft die nachträglichen Aufarbeitungen spannender. Dieses typische „Außenministerium und BMW waren mehr ins Naziregime verstrickt als gedacht“
Also für meine Generation ist das jetzt nicht so überraschend, aber da saßen in den 30ern natürlich nicht überall überzeugte Nazis rum, sondern die NSDAP hat alles „unpolitische“ nach und nach auf Linie gebracht. Und auch nicht gegen deren Willen, sondern da hat häufig einfach der Opportunismus gewonnen.
Und „ich bin Nazi geworden, weils einfacher war und mir Vorteile gebracht hat“ eignet sich nicht für Heldenerzählungen. Leider war es in den meisten Fällen aber so banal.
@ Ariane 1. Oktober 2023, 12:04
Und „ich bin Nazi geworden, weils einfacher war und mir Vorteile gebracht hat“ eignet sich nicht für Heldenerzählungen. Leider war es in den meisten Fällen aber so banal.
Zustimmung.
Die (recht große) Familie meine Großmutter (mütterlicherseits) war recht wohlhabend, großes Gut im Ruhrgebiet, viele landwirtschaftliche Mitarbeiter, ein paar Dienstboten (nicht viel von geblieben). Alle Verwandten waren irgendwie Arzt, Anwalt, Notar, Doktor von und zu irgendetwas, Professor o.ä. Die waren sich zu fein für diesen Pöbel, und hielten sich naserümpfend zurück. Vermutlich arrangierten sie sich bei Bedarf, widerstrebend, wie bei einer Arbeit, wo man sich die Hände schmutzig machen muss. Bis auf einen weit entfernten Ur-Onkel, der General in der Wehrmacht war, Mitläufer, weit entfernt von Widerstand.
Mein Großvater (väterlicherseits) war Schmied, selbstständig. Er erlitt einen Unfall, der in mehrere Jahre halbseitig lähmte. Machte dann eine Art Taxi-Unternehmen auf, dass auch Juden zu Viehmärkten fuhr. Als die regionale, von Nazis dominierte Tageszeitung deswegen einen abfälligen Bericht brachte, schrieb er eine Antwort und nagelte sie an die Tür des lokalen NSDAP-Büros. Es musste bald darauf umziehen. War irgendwie schon Widerstand, aber nicht politisch gegen das System, gegen Mord und Verfolgung, sondern gegen die Bedroher seiner beruflichen Existenz.
Ist so schwierig, das alles einzuordnen. Die große Frage, wie man sich selbst in der zeit, in diesen Situationen verhalten hätte, musste ich gottseidank nie beantworten.
Jepp. Meine Familie ist glücklicherweise so arm und unbedeutend, dass da keine Frage bestanden hat, und von den Jahrgängen her weitgehend raus. Meine Familie mütterlicherseits sind Bauern aus dem schwäbischen Outback, die Familie väterlicherseits ungelernte Arbeitskräfte aus der Kleinstadtregion und Arbeitsmigranten aus dem Fichtelgebirge. Dazu wie gesagt meine Großeltern zu jung.
Genau, das meine ich. Viele dachten, dass es kein Problem oder zumindest nicht so schlimm wird (anders als die offensichtlich verfolgten Gruppen), und wie du richtig sagst änderte sich das erst später.
Was ich meine ist, dass diese Erzählungen alle immer vom Standard des Widerstands bzw. der Nonkonformität ausgehen. Du hast Recht, diese Urteile sind schwierig, aber dafür haben wir ja Historiker*innen. Ich beschäftige mich mit diesen Fragen ja intensiv.
Was ich meine ist, dass diese Erzählungen alle immer vom Standard des Widerstands bzw. der Nonkonformität ausgehen.
Völlig richtig. Ich fand das schon in sehr jungen Jahren albern – die grosse Mehrheit der Menschen war, ist und bleibt Opportunisten. Und die Vorstellung von richtig und falsch hängt stark davon ab, was die Funktionseliten vorgeben – nur wenige Menschen haben eine Wertegerüst mit einem betonharten Fundament in einer ethisch halbwegs sauberen Quelle. Sprich, es war (und bleibt) zu erwarten, dass die meisten Menschen sich irgendwie mit der existierenden Obrigkeit arrangieren würden (und werden). Ich kam auch nie auf die absurde Idee, ich wäre unter den Bedingungen der dreissiger und vierziger ein Widerstandskämpfer geworden.
Was mich auf eine Frage bringt, die ich mir bis heute noch nie beantworten konnte – warum haben so verdammt viele Leute Illusionen von sich selbst?
Gruss,
Thorsten Haupts
Weil wir gerne die Helden unserer eigenen Geschichte sind. Ich sage meinen SuS auch immer: wenn du mir 1943 die Wahl gibst: Ostfront oder Wache in Auschwitz, ich kann dir nicht zuversichtlich sagen, dass ich nicht sofort den Wachposten mime…
Weil wir gerne die Helden unserer eigenen Geschichte sind.
Die Entschuldigung/Erklärung ist gut für Zwanzigjährige. Weniger gut für Erwachsene …
Weist du nicht sonst immer darauf hin, dass die menschliche Psychologie halt ist, wie sie ist?
@ Thorsten Haupts 1. Oktober 2023, 14:11
… die grosse Mehrheit der Menschen war, ist und bleibt Opportunisten. Und die Vorstellung von richtig und falsch hängt stark davon ab, was die Funktionseliten vorgeben – nur wenige Menschen haben eine Wertegerüst mit einem betonharten Fundament in einer ethisch halbwegs sauberen Quelle.
Zustimmung
Ich kam auch nie auf die absurde Idee, ich wäre unter den Bedingungen der dreissiger und vierziger ein Widerstandskämpfer geworden.
Ich habe mir selbst die Frage ein paarmal gestellt und nie eine schmeichelhafte Antwort gefunden.
… warum haben so verdammt viele Leute Illusionen von sich selbst?
Warum glauben 99 Prozent der Leute, die von ihrer Reinkarnation überzeugt sind, dass sie „früher“ irgendeine große, bedeutende Person waren, wo doch damals 99 Prozent aller Menschen Bauern in armseligen Lebensumständen waren?
Ist halt sooo einfach …
@ Stefan Sasse 1. Oktober 2023, 12:53
Was ich meine ist, dass diese Erzählungen alle immer vom Standard des Widerstands bzw. der Nonkonformität ausgehen.
Hatte ich verstanden, sehe ich genauso. Die meisten waren hell- bis dunkelgrau, nur wenige schwarz oder weiß.
Jepp.