Rezension: Boris Dreyer – Als die Römer frech geworden. Varus, Hermann und die Katastrophe im Teutoburger Wald

Boris Dreyer – Als die Römer frech geworden. Varus, Hermann und die Katastrophe im Teutoburger Wald (Hörbuch)

Im 19. Jahrhundert kannte jedes Bürgerkind die Sage von Hermann dem Cherusker. Der stolze germanische Recke hatte die Urvölker Germaniens geeint, um sie in einem nationalen Befreiungskampf gegen die „Welschen“ zu führen, romanische Besatzer, deren numerische und technologische Überlegenheit er mit List und teutonischem Kampfesmut ausglich, indem er den arroganten römischen Statthalter Varus und seine drei Legionen in der Schlacht im Teutoburger Wald aufrieb. Ähnlich Siegfried erlitt er dann das typisch deutsche Schicksal, in der Stunde des Triumphs verraten zu werden – die deutsche Nationalstaatsbildung wurde um 1900 Jahre verzögert. An dieser Geschichte stimmt so gut wie nichts, aber für einige Jahrzehnte war sie äußerst wirkmächtig und gehörte wie der Nibelungenepos zum kulturellen Standardrepertoir des Kaiserreichs. Heute spielt die Instrumentalisierung Arminius‘ – wie Hermann in Wirklichkeit hieß, bevor Luther ihn zum Deutschen adelte – keine Rolle mehr. Generell kennt kaum ein Kind die Schlacht im Teutoburger Wald mehr; der Popularitätsverfall der Antike als eskapistischer Fluchtpunkt zugunsten von Marvel und Co hat dazu nicht unwesentlich beigetragen. Trotzdem bleibt das Rätsel des Untergangs Varus‘ ebenso spannend wie die Germanienpolitik der Römer. Warum gaben sie ihre Versuche auf, Germanien zu erobern? Der Verlust von drei Legionen allein kann es kaum gewesen sein; Verluste schreckten die Römer nicht. Boris Dreyer versucht dem hier auf den Grund zu gehen.

In Kapitel 1, „Das Komplott – Varus und seine falschen Freunde“, stellt Dreyer uns die handelnden Personen vor. Da wäre einmal Varus selbst, der römische Statthalter. Anders als die frühe Geschichtsschreibung und diverse Quellen es uns glauben machen möchten, handelte es sich nicht um einen tölpelhaften Emporkömmling, der quasi zufällig in das Amt gestolpert war. Dreyer argumentiert überzeugend, dass solche Posten nur an Personen aus den engsten Kreisen des Kaiserhauses vergeben wurden. Man wird das dann an der Besetzung des Postens mit Drusus und Germanicus später noch sehen, aber es versteht sich angesichts des römischen Staatsaufbaus von selbst, dass man die Herrschaft über drei Legionen nicht an jemandem übergibt, dessen Loyalität man sich sicher sein kann.

Armininius indessen war ein romanisierter Fürst. Obwohl cheruskischer Abstammung, hatte er im Kaiserreich Karriere gemacht und war in den Stand der equites aufgestiegen (Dreyer benutzt die Eindeutschung „Ritter“, die ich so gar nicht leiden kann). Er war Führer der germanischen Auxiliareinheiten und hochrangig. Varus hat sich aus gutem Grund auf ihn verlassen: es gab wenig Gründe für Arminius, die Seiten zu wechseln. Tatsächlich ist seine Motivation bis heute mysteriös geblieben. Fakt ist, dass es ihm gelang, eine Allianz unter den notorisch zerstrittenen Germanenfürsten zu schmieden und Varus darüber komplett zu täuschen – ein Manöver, das vorrangig durch Ausnutzen seiner Position als eine Art rechte Hand des römischen Statthalters gelang.

Kapitel 2, „Rhein oder Elbe, Defensive oder Expansion“, behandelt dann die römische Germanienpolitik zwischen Cäsar und Augustus. Cäsar hatte zwar zweimal den Rhein überschritten, aber stets betont, dass er dies allein als defensive Machtdemonstration tat. Inwieweit dem Glauben zu schenken ist und es nicht nur als Rechtfertigung einer Niederlage zu gelten hat, ist unklar. Cäsar jedenfalls konnte es sich leisten, angesichts seiner sonstigen militärischen Siege zurückzustecken. Augustus war das nicht möglich; seine militärische Bilanz, wo er persönlich involviert war, war alles andere als glücklich. Dazu kam, dass ausgerechnet, als er ein neues saeculum – ein Zeitalter – Roms ausrief, eine Legion unter dem Kommando Lollius‘ von einer kleinen germanischen Stammesgruppe aufgerieben wurde. Augustus begab sich persönlich an die Grenze, ordnete Strukturen neu und übergab das Oberkommando der dortigen Streitkräfte seinem designierten Erben, Drusus. Dem gelang es auch, in mehreren Feldzügen Germanien bis an die Elbe zu unterwerfen, der erklärten Zielgrenze. Die strategische Absicht dahinter war die Sicherung Galliens, das durch Einfälle germanischer Stämme ständig bedroht war.

In Kapitel 3 skizziert Dreyer dann „Die Römer in Germanien – Taktiken der Provinzialisierung“. Die Debatten innerhalb der Althistoriker*innenschaft, ob Augustus Cäsars Vorbild folgen und lediglich ein Glacis, also ein militärisch gesichertes Vorfeld schaffen wollte, oder ob er tatsächlich Germanien in römische Provinzen unterteilen wollte, entscheidet er mit einem klaren Votum für Letzeres. Er verwirft die häufig gehörte Behauptung, es habe in Germanien keine Städtebaupolitik gegeben, und erklärt, dass Augustus sehr wohl die Elbe als Grenze des Römischen Reichs geplant habe.

Dabei kommen auch die germanischen Mächtegruppen in den Fokus. Die nordwestlichen Germanenstämme, denen auch Arminius entsprang, hatten direkte Kontakte zu den Elbgermanen, die wiederum eng mit dem Markomannenherrscher Marbod verbandelt waren, der im heutigen Böhmen seinen Herrschaftssitz hatte. Marbod ist eine Schlüsselfigur in dem Drama, weil sein Reich wesentlich zentralistischer geordnet war als die Germanenstämme und es eine ständige Bedrohung für Rom darstellte, weil Marbord sowohl nach Süden in Richtung Balkan als auch nach Westen in Richtung Gallien oder gar direkt über die Alpen nach Italien schlagen konnte. Augustus führte deswegen mehrere Feldzüge gegen Marbod, ohne großen Erfolg: am Ende schloss man eine Art gleichgestellten Friedensvertrag (foedes aquum), was die Römer wegen des damit verbundenen Ansehensverlusts nur äußerst ungern taten.

Kapitel 4 findet dann den „Weg in den Untergang – Rekonstruktion einer Niederlage“. Wir folgen Varus, der als Statthalter nicht in der Lage war, die Provinzialisierungsstrategie sicher zu betreiben. Die Falle Arminius‘ jedenfalls war beeindruckend. Die germanischen Stämme erhoben sich koordiniert gegen Rom, die nordwestlichsten zuerst. Zuvor hatten alle unterworfenen Stämme wegen irgendwelcher Bedrohungen oder Streitereien römische Unterstützung angefordert, so dass zahlreiche Beamte und Legionäre überall verstreut waren – und massakriert wurden. Die Armee selbst musste, um die Aufständischen zu erreichen, tief in unausgebautes, weitgehend unbekanntes Gebiet vorstoßen, weit entfernt von den üblichen Wegen und Versorgungslagern. Als die Legionen die Gegend des heutigen Osnabrück erreichten, schnappe die Falle zu. Im Dauerregen war viel römische Ausrüstung (etwa die Schilde) nutzlos; die über 20km gestreckte Marschkolonne konnte sich nicht formieren. Trotzdem gelang es den Legionen unter hohen Verlusten, sich zu behaupten, ein Lager zu errichten und es gegen die Feinde zu verteidigen.

Es war der zweite von vier Schlachttagen, der entscheidend sein sollte. Varus brach das Lager in dem Glauben ab, den Angriff abgeschlagen zu haben, und setzte seine ursprüngliche Mission fort. Hätte er hier den Rückweg angetreten, so hätte er zweifellos schwere Verluste erlitten, aber die Legionen wohl intakt zurück ins Winterlager gebracht. Arminius aber hatte ihn über das Ausmaß des Aufstands geschickt getäuscht. So wurden die Römer drei Tage lang auf dem Marsch unnachlässig angegriffen und aufgerieben. Am Ende begingen die Offiziere Selbstmord, und viele Soldaten taten es ihnen nach. Dieser Schlachtverlauf ist durch archäologische Untersuchungen und die sechs Jahre nach der Niederlage erfolgte Aufklärungs- und Vergeltungsmission Germanicus‘ hinreichend sicher erschlossen. Durch diese Niederlage lag Germanien komplett offen; sämtliche bisherigen Erfolge waren mit einem Schlag zunichtegemacht. Die Frage war nun, wie die Römer darauf reagieren würden.

Kapitel 5, „Eroberung oder Rückzug – Germanicus oder Tiberius“, sieht die große Debatte um die folgende Strategie, die in Rom sehr umstritten war. Sie konzentrierte sich auf zwei Personen: Drusus‘ Sohn Germanicus, dessen Ehrenname bereits zeigt, wie verbunden er mit diesem Krieg war, und Tiberius, Augustus‘ ungeliebter Nachfolger. Tiberius wollte den Rhein als Grenze etablieren – was angesichts der offenkundigen Verbindungen zwischen Elbgermen und Nordwestgermanen von Dreyer als die korrekte Strategie eingeschätzt wird, die die Elbe viel weniger zur geeigneten Grenze machten als den Rhein -, während Germanicus Germanien unterwerfen wollte.

Augustus selbst hatte in seinen Regelungen für seine Nachfolger bewusst offengelassen, welche Strategie sie fahren sollten. Das Oberkommando, das Germanicus noch innehatte, benutzte dieser nun für weitere Offensiven über den Rhein, um Fakten zu schaffen. Zwar gelang es ihm, militärische Siege gegen die Germanen zu erzielen, den Verlauf der Varusniederlage aufzuklären und die verlorenen Feldzeichen wiederzuerobern (sehr wichtig für die Moral der Römer); eine Entscheidung allerdings erreichte er nicht. Gleichzeitig wurde er für Tiberius politisch gefährlich, weil er offensichtlich um Sympathien warb und so eine politische Basis gewann. Tiberius kommandierte ihn deswegen mit einem nominell höheren Posten nach Syrien ab und beendete die Expansionspolitik.

Kapitel 6, „Dreierlei Ende – Tam diu Germania vincitur“, sieht den Tod Germanicus‘ in Syrien, der immer noch von Legenden umrankt ist. Tiberius nutzte ihn für eine beinahe göttliche Überhöhung des Toten und definierte seinen Germanienfeldzug als defensive Unternehmung um, die so nun die eigene neue Politik adelte. Gleichzeitig brach Marbods Herrschaft in sich zusammen und wurde Arminius ermordet, was die Lage generell sehr beruhigte. Die Römer waren ohnehin anderweitig beschäftigt: sie eroberten Großbritannien. Auch von dort gingen Bedrohungen für Gallien aus, und es war, da es in der römischen Weltsicht auf einer anderen oekomene, Weltinsel, lag als Rom und Germanien, propagandistisch ohnehin interessanter.

In Germanien indes wurde die Grenze durch den Limes befestigt. Dieser war keine Befestigung im militärischen Sinne – die Kontrolle des Vorfelds blieb weiterhin essenziell – sondern diente der Kontrolle der Wanderungsbewegungen und als Signal. Die Rolle Germaniens für Rom allerdings blieb bedeutsam. Während des Vierkaiserjahrs spielten aufständische Bataver, die erst für Vitellius und dann auf eigene Rechnung kämpften, eine große Rolle. Der Ausbau des Limes indessen änderte die Infrastruktur des römischen Heeres derart, dass es auf Defensive festgelegt und zu offensiven Operationen gar nicht mehr in der Lage war. Die andauernde Bedrohung der Donaugrenze führte dann unter Trajan zur Eroberung Dakiens.

Das siebte Kapitel, „Hermann, der deutsche Recke – eine Rezeptionsgeschichte“, zeichnet eben diese nach. Arminius wurde in der Renaissance „wiederentdeckt“, die Schlacht zuerst als Widerstand gegen den als fremd empfundenen habsburgischen Herrscher gedeutet, der als spanischer Monarch den Deutschen damals als romanischer Fremdherrscher vorkam. Im 17. Jahrhundert wurden die Römer dann zunehmend als „welsch“ gelesen, wurden die Franzosen als Erben der Römer und natürliche Gegner der Deutschen gesehen. Den Höhepunkt erreichte diese deutschtümelnde Interpretation dann nach der Reichsgründung, als man das Hermannsdenkmal nach Westen ausrichtete und in „Hermann“ den Ahnherren der Deutschen zu erkennen glaubte, allesamt irreführende Anachronismen. Die Nazis dagegen mochten den Mythos nicht so, schon allein, weil der der Idealisierung der italienischen Faschisten so offen zuwiderlief. Zum Abschluss skizziert Dreyer noch kurz die archäologische Rekonstruktion der Schlacht, unter anderem durch die Numismatik.

Insgesamt bin ich etwas zwiegespalten über dieses Buch. Ich mag die zugrundeliegende Struktur: die Herausarbeitung der zugrundeliegenden Motivationen der Akteure, die strategischen Überlegungen, die Logistik und Infrastruktur – all das ist super, und auch dass die eigentliche Schlacht nicht überbetont, sondern in einen größeren Kontext eingebettet wird, weiß zu gefallen. Auf der anderen Seite teilt Dreyer den häufig altmodischen Sprachstil der Althistoriker*innen, und sein Glaube an die Verlässlichkeit der Quellen ist immer wieder merkwürdig. Dazu kommt, dass viel Grundwissen vorausgesetzt wird. Wer noch nie von Drusus oder Germanicus gehört hat, wird öfter stirnrunzeln innehalten müssen. Trotz diesen Schwächen bleibt das Werk ein empfehlenswerter Einstieg in die größere Debatte um die römische Germanienpolitik.

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