Bohrleute 41: I am not convinced, this is my problem, mit Ariane Sophie

Der Beginn des Irakkriegs jährt sich diesen März zum zwanzigsten Mal. Der blutige Höhepunkt des „Kriegs gegen den Terror“ war für die Geopolitik wie auch für Deutschland selbst eine Wasserscheide. Wenn immer die Rede von „vor 9/11“ und „nach 9/11“ ist, dann betrifft das zu großen Teilen den amerikanischen Quasi-Alleingang im Irak. Ariane und ich werfen einen subjektiv erinnerenden Blick zurück in eine Zeit, in der sich die politischen Vorstellungen unserer Generation gerade erst formten – und betrachten die Langzeitwirkungen des Krieges, von der betroffenen Region zu der amerikanischen Innenpolitik und den vielen deutschen Neurosen, die sich daraus entwickelt haben.

Shownotes:

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{ 16 comments… add one }
  • Lemmy Caution 29. März 2023, 23:30

    Ich war durch Dostojewskis „Schuld und Sühne“ und „Die Dämonen“, Albert Camus und George Orwells Buch über den Spanischen Bürgerkrieg sehr jung gegen politischen Radikalismus geimpft. Auf der Uni war ich mit einem Kurden befreundet, den die Anbaggerversuche der PKK nervte. Interessant war auch die Zeit mit einer Gruppe palästinensischer Ingenieur-Studenten in einer Backwaren-Fabrik zum Gelderwerb, die ihre Heimat zu polarisiert empfanden.
    So schlimm fand ich die Abservierung eines Nahost-Diktators dann auch nicht, wobei ich von Anfang meine Zweifel hatte, was denn nach dem militärischen Sieg in dem Land geschehen würde. Das traute ich den USA korrekterweise nicht zu.

    In der Zeit war ich damit beschäftigt, mich beruflich zu etablieren. Der Krieg liess mich relativ kalt. Ich besuchte damals viel ein amerikanisches Java Programmier Forum. Da gabs auch Leute mit US-Army Vergangenheit. Aufgrund deren Fanatismus habe ich mich im offtopic forum dann doch sehr schnell auf die Seite von ein paar Indern geschlagen. Wir haben uns zu Begriffen wie „demon rats“ (für Demokraten) und Themen wie „wann hat die Französische Armee jemals einen Krieg gewonnen, höhö?“ Witze ausgedacht.
    Ich denke, dass der US-Unilateralismus kein stabiles System darstellt, weil das einfach zu viel Gegenkörper erzeugt. Die werden dann echt für alles verantwortlich gemacht.
    Die Grünen konnten sich im Angriffskriegs Rußlands gegen die Ukraine deshalb so schnell positionieren, weil in der ihrer politischen Sozialisation die globale Gültigkeit von Menschenrechten eine so prominente Rolle spielt. Hier gelange ich nun zu einer ziemlich deutlichen und vielleicht unsympathischen Überzeugung, dass sich das nämlich einfach nicht durchsetzen läßt und wir uns unsere gutgemeinte Blauäugigkeit nicht mehr leisten sollten. Als materiell wesentlich besser gestellte Gesellschaften mit vielfachen Zugangsbeschränkungen und funktionierendem Militärbündnis erhalten wir für Themen wie „Menschrechte für die Uiguren“ in dieser Welt keine Mehrheit der Herzen. Viele Bewohner Lateinamerikas, Afrikas und Asiens vertrauen uns da einfach nicht hinreichend.

    • Stefan Sasse 30. März 2023, 08:16

      Oh, die Franzosenwitze, richtig. ^^

      Ich sehe da weniger das Vertrauen der Uighuren als Problem als das Interesse Beijings an einer Unterdrückung derselben.

      • Thorsten Haupts 30. März 2023, 08:51

        Geht Lemmy erkennbar nicht um das Vertrauen der Uighuren, sondern um das Vertrauen der Welt ausserhalb Europas in die Menschenrechtspolitik des Westens insgesamt am Beispiel der Uighuren?

      • Lemmy Caution 30. März 2023, 11:14

        Ich denke aktuell in der für in meiner weltpolitischen Wahrnehmung echt ziemlich zentralen Frage der globalen Durchsetzung der Menschenrechte echt um.
        Nächste nun dieses Video von Amnesty: https://twitter.com/visegrad24/status/1640834102776537092
        Das ist für mich damit keine freundliche Organisation mehr.

        Dies ist über China, sehr lang und sehr hörenswert:
        https://www.youtube.com/watch?v=CHeDA7lL6dc&t=10s
        Danach direkt zur Relativierung das hier: https://www.youtube.com/watch?v=FJINBIg58nM

        Der china-phile Gesprächspartner kritisiert die Behandlung der Uiguren im Grunde scharf, aber er versucht es aus der chinesischen Geschichte zu erklären: Fanatische religiöse Gruppen politisierten und versetzten dem angeschlagenen chinesischen Reich in einer Phase zwischen Mitte des 19. Jhdts und Anfang des 20. Jhdts den Todesstoss. Die chinesische KP sieht den politischen Islam einiger Uiguren wohl in diesem für China sehr schmerzhaften Kontext, weil er die systematische Demütigung der Kolonialmächte beförderte. Ich will und kann der Haltung der chinesischen KP nicht folgen, aber die Welt ist im Kern nicht rational.

    • Thorsten Haupts 30. März 2023, 08:49

      Ich selbst war ein Gegner des Krieges, weil ich ihn aussen- und sicherheitspolitisch für enorm schädlich hielt. Mit der Beseitigung eines der weltweit brutalsten Diktatorenschlächters dagegen hatte ich deutlich weniger Probleme, für mich persönlich ist keine Regierung „legitim“, deren Macht nur aus Gewehrläufen kommt.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

      • Lemmy Caution 30. März 2023, 11:27

        Welche Regierung im Nahen Osten ist dann legitim?

        • Stefan Sasse 30. März 2023, 12:23

          Israel.

          • Thorsten Haupts 30. März 2023, 14:52

            Yup.

            • Lemmy Caution 30. März 2023, 16:33

              Mit Netanyahu & Freunden kann man sich da für die Zukunft auch nicht mehr so sicher sein.
              Aber damit gibt es kein einziges muslimisch geprägtes Land im Mittleren Osten, dessen innere Machtverhältnisse von euch als irgendwie legitim angesehen werden kann. Ich persönlich sehe übrigens die Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate als nicht demokratisch aber legitim an. Übrigens auch Bangladesch und Indonesien als muslimische Länder außerhalb des Mittleren Ostens, wobei ich da kein Experte bin.
              Wir sind uns vermutlich auch darin einig, dass unsere Militäroperationen die Lage langfristig nicht besser machen.
              Verhinderung von Atombomben-Proliferation verliert als Argument auch an Gewicht, weil sich die Dinger absehbar sowieso noch stärker verbreiten als in den letzten 20 Jahren.

              Unter diesen Bedingungen gewinnen für mich die Prinzipien der Blockfreien im Kalten Krieg der strikten Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten als Leitprinzip an Überzeugungskraft und ganz sicher nicht feministische Außenpolitik. Natürlich nicht, weil ich im Prinzip dagegen bin, sondern weil es keinen Weg der praktischen Durchsetzung gibt.

              • Stefan Sasse 30. März 2023, 18:13

                Israel hat Probleme aktuell, aber das haben die USA auch. Trotzdem bleiben beide unzweifelhaft Demokratien und in freien Wahlen legitimiert.

                Ich halte das für einen Irrtum, insofern es unsere eigenen Handlungsspielräume ignoriert. Mit wertebasierter Außenpolitik hätten wir gegenüber Russland jetzt wesentlich bessere Karten gehabt.

            • Ariane 1. April 2023, 12:12

              Fieserweise müsste man an den äußerst geringen Nahost-Standards gezählt sogar den Iran als Zweites nennen. Das ist natürlich keine demokratische Regierung in westlichem Sinne, gerade weil da der durchgeknallte Religionsrat extrem viel Macht hat, aber die parlamentarische Seite ist zumindest halbwegs demokratisch gewählt.

              Also demokratischer als wenn in Syrien ne „Wahl“ stattfindet.

      • Stefan Sasse 30. März 2023, 12:17

        Gehe ich voll mit.

    • Ariane 1. April 2023, 12:30

      Zustimmung zu Deiner und Thorstens Meinung. Wenn man irgendeine positive Sache aus dem Irakkrieg ziehen will, dann das Ende von Saddam Hussein.

      Ich hab mir die Frage auch bei Libyen oft gestellt, da haben wir ja im Kleinen eine ähnliche Situation und immerhin war Ghaddafi tatsächlich gerade dabei einen Massenmord zu begehen. Auch definitiv jemand, dem man keine Träne nachweinen sollte. Nur ist Libyen auch kein Paradies jetzt (immerhin hat da gar nicht erst jemand den Versuch unternommen, eins zu schaffen) Um mich selbst zu zitieren: Es ist nur anders scheiße

      Ist vom sicheren Sofa aus immer schwer zu beurteilen, wie es dem einfachen Mann auf der libyschen oder irakischen Straße nun wirklich geht finde ich. Gerade weil der Westen ja gerne zu der Doppelmoral neigt, irgendwelche brutalen Diktatoren in Schutz zu nehmen, weil „Stabilität!“
      Ist halt auch was, was eher für die westlichen Realpolitiker bequem ist und was man eben auch nicht einfach so kaufen darf.

      Hier gelange ich nun zu einer ziemlich deutlichen und vielleicht unsympathischen Überzeugung, dass sich das nämlich einfach nicht durchsetzen läßt und wir uns unsere gutgemeinte Blauäugigkeit nicht mehr leisten sollten.

      Danke für die Links.
      Ja, ist wie mit dem Uno-Sicherheitsrat, theoretisch super Sache, in der Praxis unbrauchbar. Deswegen find ichs auch oft schwierig, die Völkerrechtswidrigkeit eines Krieges nur daran festzumachen, weil es immer drauf ankommt, wer da gerade mit wem kann oder eben nicht.

      Ich bin da auch ein wenig absichtlich naiv, weil ich schon denke, dass man immer auf das Ideal der Menschenrechte für alle schauen sollte. Wenn man diesen Anspruch – so undurchsetzbar er auch sein mag – komplett aufgibt, wird eben auch nichts besser. Im Gegenteil.

      Man darf da nur nicht stehenbleiben, sonst hat man das gleiche Problem wie mit den Pazifisten. Jeder will Weltfrieden und eine Welt ohne Waffen. Nur muss man im Tun dann pragmatisch ran und gucken, was möglich ist und da braucht man kleinere Ziele.
      Die auch paradox sein können. Frieden für die Ukraine heißt nun mal Waffen. Und Menschenrechte für Uighuren heißt vielleicht, sich mit China anzulegen.

      Das ist unbequemer und anstrengender als ein hohes Ideal und ich glaube, man braucht beides.

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