Rezension: Hillary Chute – Maus Now

Hillary Chute – Maus Now (Hörbuch)

„Maus“ bleibt einer der entscheidenden Texte aus dem Genre des „Graphic Novel“, jener nebulös undefinierten Gruppierung, in die viel zu viele Comics sich gerne einsortieren, um ihre pubertären Gewaltfantasien zu adeln. Es gibt aber wohl niemanden, der widersprechen würde, dass es sich bei „Maus“ um ein sehr spezielles Werk handelt, das bis heute seine Nachwirkungen hat. Ich habe es bereits mehrmals rezensiert, und es werden sicherlich weitere Besprechungen dazukommen (siehe dazu am besten die Gesamtliste). Die Literaturwissenschaftlerin Hillary Chute hat ihre Promotion über „Maus“ geschrieben und legt nun einen von ihr editierten Essayband vor, in dem zahlreiche Autor*innen zu Wort kommen und über „Maus“ sprechen. Der Anspruch dabei ist, dass es den Platz des Graphic Novel in unserer Gegenwart bestimmt.

In ihrer „Introduction „Mouse Now““ schreibt Hillary Chute über ihre persönliche Geschichte mit dem Werk und was sie bewogen hat, sich ausführlich damit zu beschäftigen. Es ist eine intellektuelle Reise, die vielen Lesenden des Graphic Novel bekannt vorkommen dürfte, der eine unglaubliche Sogwirkung ausübt und einen nicht mehr loslässt. Ich denke immer wieder über Maus und einzelne Panels nach. Zwar bin ich bisher noch nicht so tief eingestiegen, dass ich mich auf wissenschaftlicher Ebene damit beschäftige, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Chute in jedem Falle stellt vor allem die Ambivalenz zwischen der Simplizität der Zeichnungen – eine klare Anordnung des Grids und der Panels sowie bewusst simple, detailarme Zeichnungen auf der einen Seite und die unglaublich komplexe, in sich gefaltete Story auf der anderen Seite – heraus.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil, „Contexts“, enthält überwiegend ältere Essays über die Einordnung des Werkes, vor allem Rezensionen.

Den Anfang macht Philip Pullmann (ja, der Philip Pullman) mit „Behind the Mask„. In dem Essay spricht er über die Bedeutung von Masken (im Graphic Novel tragen die Mäuse (Juden) manchmal Masken von Schweinen (Polen), um sich zu verstecken) und den Wandel von Identitäten. Es ist die staatliche Klassifizierung, die solche Identitäten überhaupt erst in dieser Schärfe schafft, und die Tatsache, dass es möglich ist, sie wie eine Maske überzustreifen, legt auf eine gewisse Art ihre Absurdität offen.

Überhaupt sind die Identitäten in den anthropomorphisierten Tieren bereits den Zeitgenossen als erstes aufgefallen. In einer der ersten Rezensionen des Bandes, „Of Mice and Memory“ von Joshua Brown, erklärt dieser Spiegelmans Talent liege darin, uns zu zeigen, wie wir uns an ein Trauma erinnern. Es wird nicht in sauberen „Päckchen“ wahrgenommen, sondern eher in Erinnerungsblitzen, die uns überraschen. Brown glaubt, dass Spiegelman in der Lage war, uns zu zeigen, wie sein Vater sich klar an bestimmte Ereignisse erinnern konnte, aber nur eine fragmentierte Erinnerung an andere hatte. Brown ist auch der Meinung, dass Spiegelmans Entscheidung, Juden als Mäuse zu porträtieren, mit minimalistisch gezeichneten Gesichtern, die auf unergründliche Weise berührend sind, zeige, wie unsere Gehirne fest verdrahtet sein könnten, um auf solche Reize zu reagieren. Er ist der Meinung, dass Vladeks gebrochenes Englisch zu dieser Berührung beiträgt, indem es Vladeks Verletzlichkeit als gehetzter Jude, der zwar nun in Manhattan in Sicherheit ist, aber immer noch in seiner Vergangenheit gefangen ist, zum Ausdruck bringt. Brown bemerkt auch, wie akribisch Spiegelman in seinen Zeichnungen war, indem er einen sauberen, schwarzen, zurückhaltenden Stil verwendete, um jedes Bild seiner Geschichte darzustellen. Wenn er einen „tin shop“ zeichnen musste und nicht wusste, wie man das macht, suchte er jemanden auf, der in einem solchen Laden gearbeitet hatte, um es ihm zu erklären. Diese Liebe zum Detail verstärke seine eindringliche Erzählung.

In Ken Tuckers Essay „Cats, Mice and History: The Avant-Garde of the Comic Strip“ aus dem Jahr 1985 beschäftigt sich Tucker mit Spiegelmans Magazin „Raw Magazine“ (das Spiegelman mehrere Jahre editierte und in dem „Maus“ als Fortsetzungscomic erschien) und enthält Gespräche mit dem Künstler und seine eigene Meinung darüber, wie die Verwendung von Mäusen als Juden eine Parallele zu Hitlers Betrachtung aller Juden als Ungeziefer darstellt. Das Essay war damals sicher eine wertvolle Ressource für jene, die den Weg zu „Maus“ finden konnten, enthält aber aus heutiger sicht wenig Neues; Chute hat es hauptsächlich zur Dokumentation der ersten positiven Reaktionen in den Band gepackt.

Adam Gopnik spricht in seinem Essay „Comics and catastrophe: Art Spiegelman’s Maus and the history of the cartoon“ über seine Liebe zu Spiegelmans Darstellung seines Vaters Vladek als „pinched, meanspirited, and hilariously miserly old man„. Gopnik ist der Meinung, dass Spiegelmans Bereitschaft, seinen Vater als fehlerhaft zu zeigen, viel überzeugender sei als die beinahe schon heroischen Darstellungen von Überlebenden, die wir aus vielen Holocaust-Medien kennen. Spiegelman mache deutlich, dass sein Vater nicht immer der netteste Mensch war, ob vor dem Krieg, während des Krieges oder danach. Er ist beeindruckt von Spiegelmans überquellenden Sprechblasen, die ausdrucksstark und geradezu explosiv wirkten. Er ist beeindruckt von Spiegelmans Weigerung, in all dem einen Sinn zu suchen, und seinem Beharren darauf, dass wir es als das sehen, was es seiner Meinung nach war: ein bösartiger Angriff und endloses Leiden ohne jeglichen Grund. Weder Spiegelman noch sein Vater sprechen während des gesamten Textes von Gott, außer einmal, als Vladek eine besonders erschütternde Geschichte vorträgt und sie mit den sanften Worten beendet, dass dieses Mal „Gott nicht gekommen ist“.

Kurt Scheel zeigt sich in „Mauschwitz? Art Spiegelman’s „A Survivor’s Tale““ beeindruckt von Spiegelmans „kruden“ Zeichnungen, die sich durch eine meisterhafte Perspektive, Komposition und Hintergrund auszeichneten (die von Chute angesprochene Ambivalenz). Scheel findet Spiegelmans Darstellung seiner Frau Francoise überzeugend. Sie spielt im Verlauf der Geschichte eine friedensstiftende Rolle, aber auch jemand, der die psychologischen Verstrickungen Spiegelmans mit seinem Vater nicht wahrnimmt. Spiegelmans Frau Francoise sei selbst in eine chaotische Familie hineingeboren worden, aber ihre Familie war eine nichtjüdische Familie. Sie konvertierte zum Judentum. Francoise scheint die schwere Last der jüdischen Abstammung nicht in sich zu tragen, und Scheel bemerkt die feinen Unterschiede in Spiegelmans Zeichnungen von ihr. In einer Szene nimmt Francoise einen schwarzen Anhalter mit, und Vladek ist beschämt. Nachdem er ihn abgesetzt hat, schimpft Vladek mit Francoise über ihre Entscheidung, dies zu tun, und sie sagt ihm, dass sie solch rassistisches Gefasel nicht von einem Juden erwarten würde, der erlebt hat, was er erlebt hat. Vladek, der immer noch vor Wut kocht, antwortet: „It’s not even to compare. The shvartzers and the Jews.“ Das Faszinierende an „Maus“ ist, dass solche Widersprüche nicht aufgelöst werden und ständig nebeneinander her bestehen.

Die Kritikerin Dorit Abusch fügt in „The Holocaust in Comics?“ die offensichtliche Fragestellung an, ob der Holocaust in Comicform überhaupt erzählt werden kann und darf. Die Antwort ist ein klares „Ja“, was angesichts der überragenden Bedeutung des Werks und des Konsens‘ der Kritiker*innen kaum in Frage stehen dürfte, seinerzeit aber für einige Aufregung sorgte. Bedenkt man, welch andere, schlechtere Graphic Novel es über den Holocaust gibt (Yossel und Auschwitz fielen mir ein), verwundert diese Fragestellung nicht. Eine ähnliche Diskussion führt auch Thomas Doherty in „Art Spiegelman’s Maus: Graphic Art and the Holocaust„.

In „Of Maus and Memory: The structure of Art Spiegelman’s graphic novel“ beschäftigte sich Stephen E. Tabachnik bereits 1985 mit der Struktur des Graphic Novel, der damals noch ein völlig neues Genre war. Dank der Freiheit des Graphic Novel von der typischerweise kurzen Dauer, den flachen Themen, den standardisierten Panels, den eingeschränkten Techniken, den stereotypen Charakteren und den vereinfachten Handlungen und Haltungen des konventionellen Comics würden die Lesenden ein reicheres Gefühl für Zeit und Raum und eine tiefere Einbeziehung der Sinne als bei jedem anderen romanhaften oder sequenziellen Kunstmedium erreichen. Das sei ihm unbenommen. Wir geraten hier in das Problem, dass genau dieser Anspruch und diese Begeisterung für das Genre zu einer völligen Überqualifizierung geführt hat, wie ich sie bereits eingangs bejammerte.

Im zweiter Teil des Buchs, „Problems of Representation„, beschäftigen sich die Essays vor allem mit den Darstellungen von Gruppen, vor allem natürlich den Juden, aber auch der anderen Nationen sowie (soziokulturellen) Minderheiten wie Frauen und Schwarzen.

Fotos spielen innerhalb von „Maus“ eine große Rolle, etwa das Bild Richieus oder eine alte Fotografie von Ania. In „My travels with Maus“ arbeitet Marianne Hirsch diese Bezüge heraus und zeigt, welche Bedeutung Fotos für Holocaustüberlebende haben, gerade auch angesichts dessen, dass die allermeisten Fotos im Krieg verloren gingen. Wie der Einbruch eines echten Fotos in das Narrativ wirkt, ist eine weitere interessante Untersuchung.

Die Rolle von Gender wird in „Cartoons of Self: Portrait of the artist as a young murderer – Art Spiegelman’s Maus“ von Nancy K. Miller thematisiert. Da Vladek die Aufzeichnung Anias verbrannt hat, ist seine Geschichte der einzig existierende Zugang zu der Lebensgeschichte der beiden, und er ist ein unzuverlässiger Erzähler. Die weibliche Perspektive ist konsequent ausgeblendet, weil weder Art noch Vladek Zugang zu ihr haben. Das ist für Holocaust-Berichte typisch; diese sind überwiegend männlich dominiert, weil die Erinnerungen von Frauen oftmals nicht genug wertgeschätzt wurden – wie so oft werden sie aus der Geschichte herausgeschrieben.

Der Holocaust als spezifisch jüdische Geschichte wird in „We were talking Jewish: Art Spiegelman’s Maus as Holocaust Production“ von Michael Rothberg kontextualisiert. Zahlreiche Elemente jüdischer Sprache und Kultur sind im Graphic Novel miteinander verwoben, Selbstkonzeptionen und Konflikte der Community im Umgang mit der eigenen Vergangenheit werden exemplarisch verhandelt. Besonders gut kann man das an dem Kontrast zwischen Vladek und Mala oder den Vladek und seinen jüdischen Nachbarn untersuchen, die allesamt sehr unterschiedlich aus dem Holocaust herausgekommen sind und andere Deutungszugänge aufweisen.

Die sprachliche Dimension des Graphic Novel untersucht Alan Rosen in „The langauge of survival: English as a metaphor„. Die Geschichte handelt überwiegend von polnischen Charakteren, aber alle Texte sind in Englisch gehalten. Die englische Sprache dient zugleich als Metapher: Vladek spricht Englisch, weil er den Traum von einem anderen Leben in den USA hatte. Beständig hilft ihm die Beherrschung der Sprache, weil diese von den Menschen um ihn herum mit allerlei Bedeutung aufgeladen wird. Sie ist, vielmehr als Deutsch, die Sprache der Elite, die ihm zu überleben hilft.

Aber das Englische wird von Spiegelman auch eingesetzt, um andere Unterschiede aufzuzeigen. Die Sprache seines Vaters beschreibt der Autor stets als kondensierte Version dessen, wie er wirklich spricht, aber die Tonbänder zeigen, dass er in Wahrheit flüssiger redete. Das gebrochene Englisch Vladeks in der Vorlage wird so zu einem eigenen Stil, der Vladek von den anderen Charakteren absetzt – auch und gerade vom Immigranten der zweiten Generation, Art.

In seinem Essay „Holocaust Laughter?“ spricht Terrence des Pres über Humor in Maus. Er sieht die düstere Atmosphäre des Graphic Novel immer wieder von schwarzhumorigen Einlagen unterbrochen, etwa wenn Art in einer Passage über die Gaskammern lästige Fliegen mit Insektenspray beseitigt, und sieht in diesen Einsprengseln essenzielle Bestandteile für die Funktion des Graphic Novel. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit ich da mitzugehen bereit bin, denn wirklich humorig empfand ich diese Episoden nicht.

Komplett intertextuell wird es mit „Of Mice and Memesis: Reading Spiegelman with Adorno“ von Andreas Huyssen. Diesen Essay habe ich weitgehend übersprungen. Weder kenne ich mich Adorno aus, noch finde ich die Bezüge sonderlich interessant.

Der dritte Teil des Aufsatzbandes fasst unter dem Schlagwort „Legacy“ die Nachwirkungen des Graphic Novel zusammen.

In „The Shadow of Past Time: History of Graphic Representation in Maus“ spricht Hillary Chute über die verschiedenen Ansätze Spiegelmans, Geschichte visuell aufzubereiten. Sie bezieht sich viel auf ein späteres Werk von ihm über 9/11, „In the Shadow of No Towers“, in dem er die Leerstelle, die der Anschlag hinterließ, deutlich macht. Solche Leerstellen durchziehen auch die Geschichte des Holocaust. Insgesamt war mir als jemand, der von Spiegelmans Oevre nur „Maus“ kennt, der Aufsatz aber nicht sonderlich ergiebig.

Tief in die Meta-Geschichte des Graphic Novel dringt Ruth Franklin in „Art Spiegelman’s genre-defying Holocaust work, revisited“ ein, indem sie aus einem 2011 neu erschienen, langen Interview mit Spiegelman einerseits und der Quellenfundgrube „MetaMouse“, einer DVD mit fast allen Quellen, tonnenweise Entwürfen und Verweismaterial herausarbeitet, wie der dreizehnjährige Arbeitsprozess für Spiegelman verief. Sein obsessiver Zugang, die schmerzhaft detailgetreue Recherche und vieles mehr werden hier kontextualisiert, um bei dem Fazit anzugelangen, dass niemand anderes als er dieses Werk verfassen konnte.

Weniger interessant fand ich auch das „Q&A with Art Spiegelman, creator of Maus“ von David Samuels. Einmal abgesehen davon, dass es im Hörbuch einfach anstrengend war, weil nur die Initialien benutz wurden (AS und DS klingen jetzt auch nicht so unterschiedlich) und nur von einer Person vorgelesen wurden, waren die Themen für mich zu speziell, weil auch hier gilt, dass ich kein Spiegelman- oder Undergroundcomics-Experte bin.

Hans Kruschwitz‘ „Everything depends on images: reflections on language and image in Spiegelman’s Maus“ ist demgegenüber schon interessanter, wenngleich es einige Dopplungen mit den Betrachtungen Alan Rosens Essay im zweiten Teil hatte. Ein ähnliches Problem mit Dopplungen gibt es in Alisa Solomons „The Haus of Maus: Art Spiegelman’s twitchy irreverence„. Die Autorin fasst noch einmal die Karriere Spiegelmans zusammen, analysiert Teile von MetaMaus, aber ohne allzuviel Neues hinzuzufügen.

Insgesamt waren zwar einige der Essays durchaus interessant. Der Band hätte aber von einem wesentlich entschlosseneren Lektorat profitiert, das die Originaltexte besser zusammenfasst und kürzt. Die Autor*innen wiederholen sich permanent. Ich hätte irgendwann schier in die Tastatur gebissen, als mir zum sechsten Mal erklärt wurde, dass Spiegelman in „Maus“ den Charakteren Tieridentitäten gegeben hat. Ach was! Auffällig war hier auch, wie sehr sich die Formulierungen glichen. Es gibt eben nichts Neues unter der Sonne, und in so einem Band fällt das besonders auf. Auch in anderen Erkenntnissen findet sich das immer wieder, etwa in der Verwendung von Schweinsmasken zur Tarnung, auf die in sicherlich drei Essays identitisch hingewiesen wird, oder die Familiengeschichte Spiegelmans, aus der die immer gleichen Details zitiert werden. Ich fand das extrem nervig.

Letztlich aber ist natürlich die intensive Beschäftigung mit „Maus“ trotz allem immer der Mühe wert. Der Graphic Novel bleibt stets bei mir, und ich werde bei meiner nächsten Lektüre sicherlich auf manche hier diskutierten Aspekte besonders achten.

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