Bohrleute 36 – Ist das noch Geschichte oder kann das weg, mit Stefan Quandt
byStefan Sasseon29. Januar 2023
Die Geschichtsbildungspläne sind notorisch voll gestopft mit „Stoff“. Die Vermittlung dieses „Stoffes“ ist ungemein bedeutsam in der täglichen Praxis, aber gleichzeitig sind die Anforderungen an die Methodenkompetenz der Schüler*innen, milde ausgedrückt, ambitioniert. Wie soll das alles unter einen Hut gebracht werden? Darüber spreche ich mit Stefan, Geschichte- und Deutschlehrer aus Nordrhein-Westfalen.
Und wir kommen nicht mal dazu, dass da auch noch Gegenwartsbezüge reingebracht werden sollen.
cimourdain30. Januar 2023, 11:09
Für mich als doppelt interessierten Amateur (sowohl bei Menschenerziehung als auch Vergangenheitsbetrachtung) ein sehr erhellendes Gespräch. Was ihr sagt, klingt gut und einleuchtend und eure Ideen sind echt bedenkenswert. Insbesondere maximal grobe Rahmenpläne mit Entscheidung der Schule/Lehrer über konkrete Umsetzung gefällt mir. Trotz aller Lorbeeren ein paar Ergänzungen/Ideen/Thesen meinerseits:
1. Eure Vorstellung von Geschichte hängt fast komplett an schriftlichen Quellen. Richtig interessant wird es erst ab dem Moment, als durch Schnellpresse und Massenalphabetisierung auch die Zahl der Zeitungen und Dokumente explodiert ist. Und umgekehrt ist die vorschriftliche Geschichte für euch ‚uninteressant‘. Wäre es da nicht konsequent, diese in ein neues Fach (mal wieder so eine Forderung) „Big History“ auszulagern, die den Teil des „Woher kommen wir?“ beantwortet, der nur indirekt mittels Astrophysik, Planetologie, Geologie, Evolutionsbiologie, Anthropologie und Archäologie zu beantworten ist?
2. Was mir bei euren Gedanken fehlt, ist „Geschichte vor Ort“. Stefan Q. hat von der Ausgrabungsstätte erzählt, die viel mehr gebracht hat als der ‚normale‘ Unterricht. Ich weiß, dass ich bei zwei lokalgeschichtlichen Themen noch von dem Grundstock aus dem HSK-Unterricht der Grundschule(!) zehre.
3. Unterschätzt bitte nicht den ‚Fuß in der Tür‘. Mag sein, dass der typische Erwachsene vom dreißigjährigen Krieg nur rudimentäre Kenntnisse (aus der Schule) hat, aber vom präkolonialen Afrika (kein Schulstoff) hat er halt gar keine. Und wenn ich (zu recht) die Mittelaltermarkt -Geschichtsdarstellung kritisiert, liegt es an euch, da zumindest ein Fundament zu legen, dass Schüler sich auch jenseits dieser Klischees für die Vergangenheit interessieren.
4. Ein Problem ist, dass das Interesse und Denken vom Konkreten zum Abstrakten geht. In früheren Klassen sollten die Lebenswelten der betreffenden Epoche im Zentrum stehen. Staatsorganisation und Rechtsphilosophie interessieren schon Erwachsene kaum, warum knallen wir das 12-jährigen auf den Tisch.
5. Ihr beklagt den großen Unterschied zwischen dem Unterricht und dem ‚richtigen‘ akademischen Arbeiten. Fragt bitte irgendjemanden, der im MINT-Studium mit ‚Universitätsmathematik‘ zu tun hatte, wie viele Welten zwischen dieser und der Schulmathematik liegen.
1) Völlig, ja. Geschichtswissenschaft ist immer schriftliche und bildliche Quellen. Alles andere ist Archäologie 😉
2) Ja, darüber haben wir nicht gesprochen, richtig.
3) Ja, guter Punkt!
4) Tun wir ja auch nicht. Das ist ja bereits der Fall. Nur: „Lebenswelt des Mittelalters“ ist halt inhärent albern. Wir reden von kontinentumspannender Größe und tausend Jahren. Was ist da „die“ Lebensrealität?
5) Ich weiß nicht ob ich das beklage, ich nehme es zur Kenntnis. 🙂
cimourdain30. Januar 2023, 16:52
4) Da sind wir uns ja sehr einig (ohne das zu sehr zu vertiefen, sehe ich in Deutschland 4-5 unterschiedliche Mittelalterepochen), deswegen ja meine Punkte 2) und 3): Kleinteilig und ohne Klischees, die verschiedene Dinge über einen Kamm scheren. Das ist auch ein gutes Argument für vertiefende Themenschwerpunkte, wo man genau auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede eingehen kann: „Wie entwickelte sich die Militärorganisation im MA?“ oder „Welche Landwirtschaftssystem gab es im 14.Jahrhundert?“
Das bringt mich aber auf einen Nachtrag:
Warum nicht noch radikaler ? Warum nicht die Schüler über die Themensetzung im Rahmen der groben Vorgaben (mit)entscheiden lassen?
Bin ich grundsätzlich dabei. Ich müsste nur insofern Vorgaben machen, als dass ich in der Lage sein muss, das zu unterrichten. Wenn die SuS einen Schwerpunkt „Chilenische Geschichte des 19. Jahrhunderts“ wollen, muss ich passen.
cimourdain1. Februar 2023, 06:51
Dann lass sie selber arbeiten. Gib ihnen Projekttemen: „Der steinige Weg in die Unabhängigkeit“, „Schwierige Nachbarn. Wäre der Salpeterkrieg vermeidbar gewesen?“, „Mapuche: eine Ausnahme unter den indigenen Völkern?“, „Bodenschätze, Fluch oder Segen?“. Die Ergebnisse stellst du dann als Reihe hier in den Blog und lässt sie damit vonn Lemmy C. fachkundig redigieren. 😉
Ich habe kein Problem mit Projektthemen, aber wenn ich die fachkundig als Lernbegleitet begleiten und dann auch noch benoten soll, muss ich mich auskennen.
Lemmy Caution30. Januar 2023, 19:21
Bestimmt besser da einzelne Themen aus verschiedenen Epochen gründlich zu besprechen, als die gesamte geschichtliche Entwicklung von Adam und Eva bis zum Einmarsch Putins in der Ukraine zu vermitteln.
Einen brauchbaren Überblick über die Epochen gewinnt man eh nur durch vertiefendes Selbststudium, wenn man sich halt dafür interessiert. In der Schule habe ich mich am Geschichtsuntericht immer interessiert beteiligt, aber man vergisst da natürlich sowieso vieles.
Lernen sollte man da Quellenkritik und die nachvollziehbare Darstellung komplexer Zusammenhänge.
Das Unterhaltsame an Büchern, Podcasts, Artikeln und ähnlichem zu geschichtlichen Themen ist ja gerade, dass der Konsum die bestehende innere Vorstellung über die historische Entwicklung oft völlig verändert.
Genau, das ist ja auch das Ziel des Geschichtsunterrichts. Aber genau diesem Ziel steht die Stofffülle entgegen.
Ralf18. Februar 2023, 20:44
Ich weiß, ich bin zu spät. Aber ich habe den Podcast gerade erst angehört …
Ich habe eine andere Definition von Geschichte als ihr und aus meiner Sicht erwachsen viele eurer Probleme aus eurer Perspektive auf dieses Fach. Für mich beschreibt „Geschichte“ die Periode vor meiner Zeit und grenzt sich somit von der „Gegenwart“ ab. „Gegenwart“ ist für mich das, wozu ich einen zumindest indirekten persönlichen Bezug habe. Die Wiedervereinigung habe ich z.B. persönlich und aktiv miterlebt. Das ist für mich keine „Geschichte“. Dasselbe gilt für den Kalten Krieg. Das Dritte Reich endete 30 Jahre vor meiner Geburt. Aber praktisch jeder in meiner Generation hatte einen Großvater, der im Krieg gekämpft hat. Praktisch jeder hatte eine Großmutter, die die Bombenzeit erlebt hat. Die Geschichten wurden lebendig am Abendtisch erzählt. Regelmäßig. Zahlreiche Holocaustüberlebende und ehemalige Häftlinge der KZs waren noch am Leben und berichteten in Schulklassen über ihre Erlebnisse. Menschen, die eine direkte Brücke in diese dunkle Zeit darstellten, waren greifbar und präsent. Das Dritte Reich war für mich deshalb immer „Gegenwart“, nicht „Geschichte“. Die Zeit davor – Weimarer Republik und Erster Weltkrieg – waren für mich verschwommener. Aus dieser Zeit wurde selten erzählt. Selbst mein Großvater war 1918 erst vierzehn Jahre alt gewesen. Und aktive Teilnehmer am Ersten Weltkrieg waren zwar noch vereinzelt am Leben, aber steinalt. Jemand der bei Kriegsende 20 Jahre alt gewesen war, war 90, als ich ein Teenager wurde. Und das zu einer Zeit, in der die Lebenserwartung bei Anfang 70 lag – und bei Männern nochmal weniger betrug als bei Frauen. Von denen kam – wenig überraschend – keiner mehr in die Klassenräume. Über die Periode hörte man fast nur noch aus Dokumentationen. Und zu allem davor, hatte ich gar keinen persönlichen Bezug mehr: Industrialisierung, Renaissance, Mittelalter, Antike, Steinzeit. Letztere sind für mich „Geschichte“.
Warum ist das wichtig? Ich denke, es ist wichtig, weil „Geschichte“ anders gelehrt werden muss und dass der Anspruch an die zu erreichenden Ziele bei „Geschichte“ anders ist, als bei der „Gegenwart“. Die „Gegenwart“, das sind wir heute, sowie die Vorgänge, die unmittelbar zu uns und unserer Situation geführt haben. Aus der „Gegenwart“ ziehen wir Lehren für die Zukunft. Die „Gegenwart“ ist nahe. Die deutsche Gesellschaft der Weimarer Republik war der unseren unheimlich ähnlich. Sehr viel ähnlicher als die germanischen Stammesgesellschaften in der vorrömischen Zeit. Was dem System der Weimarer Republik passiert ist, könnte uns auch heute passieren. Ein Ansturm der Goten, eine Pestepidemie oder ein Kreuzzug sind hingegen eher unwahrscheinlich. Ich erinnere mich noch an die allererste Geschichtestunde in der 5. Klasse. Die Lehrerin fragte „Warum lernen wir heute eigentlich noch Geschichte?“. Schließlich wurde die These herausgearbeitet, dass wir uns mit Geschichte beschäftigen, damit wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und diese als Gesellschaft nicht wiederholen. Und in der nächsten Stunde begannen wir dann mit der Steinzeit. Ich kann mich noch erinnern, wie ich mich als Kind gefragt habe, was zum Teufel ich denn jetzt bitte aus der Steinzeit lernen soll. Welchen Fehler der Steinzeit soll ich nicht wiederholen?
Dabei war nicht der grundsätzliche Anspruch der Lehrerin verkehrt. Er bezog sich nur auf die falsche Zeitperiode. Aus Fehlern sollten wir selbstverständlich lernen. Allerdings bezieht sich das primär auf die Periode, die ich oben als „Gegenwart“ definiert habe. Das soll natürlich nicht heißen, dass es in der Zeit vor dem 20. Jahrhundert keine Fehler gegeben habe oder dass man aus diesen Fehlern keine signifikanten Schlüsse ziehen könnte. Aber je weiter wir uns von unserer eigenen Zeit entfernen, desto weniger Relevanz haben die damaligen Gesellschaften für unseren heutigen Alltag; desto weniger Bezug haben die damaligen Herausforderungen zu unseren heutigen Problemen. Für jemanden, der nicht promovierter Historiker ist, steht bei der „Geschichte“ nicht im Vordergrund, welche Lehren wir aus ihr ziehen können. Vielmehr geht es bei „Geschichte“ darum ein Bild zu bekommen, wo wir her kommen, was unser Ursprung ist und wie wir zu dem geworden sind, was wir heute sind.
Dafür reicht es aus meiner Sicht eine kurze Tour durch die Jahrhunderte zu geben. Wenn ein Abiturient am Ende seiner Schulzeit jeweils in zwei Sätzen erklären kann, weshalb Alexander der Große, Cäsar, Augustus, Konstantin, Karl der Große und Napoleon wichtig waren, ist das aus meiner Sicht genug. Wenn ein Abiturient am Ende seiner Schulzeit die Hochzeit der Mesopotamier, Ägypter, Perser, Griechen, Römer und Franken in die richtige Reihenfolge bringen kann, ist das aus meiner Sicht genug. Wenn ein Abiturient am Ende seiner Schulzeit einige wenige zentrale Wendepunkte unserer Geschichte erinnert, wie etwa die Reformation, den Dreißigjährigen Krieg, oder die Industrialisierung, ist das aus meiner Sicht genug. Es reicht, den Kontext, aus dem unsere moderne Gesellschaft erwachsen ist, grob skizzieren zu können. Und das zu vermitteln, sollte aus meiner Sicht das Kernanliegen von Geschichtsunterricht zu sein. Der Anspruch „Geschichte“ aus raren, alten, oft mangelhaften Primärquellen zu erschließen, inklusive Quellenkritik und Kenntnisse über den Hintergrund der Autoren, ist aus meiner Sicht ein viel zu weit gefasstes Ziel. Diese Fähigkeiten erwarte ich beim Geschichtsprofessor, beim Museumsdirektor, beim studierten Geschichtsjournalisten, aber nicht beim Gymnasiasten.
Anders ist das bei der „Gegenwart“. Die „Gegenwart“ darf nicht nur eine schlichte Aufzählung von Ereignissen in korrekter zeitlicher Reihenfolge sein. Der Anspruch kann hier nicht sein, lediglich in zwei Sätzen grob erklären zu können, wer Hitler war. Oder wann der Zweite Weltkrieg begann. Im Vordergrund stehen Fragen wie „Wie konnte es so weit kommen?“. Und diese Fragen sind ungeheuer wichtig für das hier und heute, gerade auch weil man sieht, wie sich manche Muster der Anfänge hier und in anderen Ländern wiederholen. Allerdings sind die Überschneidungen mit Fächern wie Politik, Sozialwissenschaften oder auch Deutsch massiv. Gehört zum Beispiel Quellenkritik, die im Podcast ja mehrfach genannt wurde, nicht eher in den Deutschunterricht? Etwa statt Effi Briest?
Mein (Laien-)Vorschlag wäre in der Unterstufe (5.-7. Klasse) das zu lehren, was ich „Geschichte“ nenne. Eine grober Durchlauf durch die Zeiten, beginnend mit den alten Mesopotamiern bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Das Ziel wäre nicht, irgendeine der betroffenen Perioden in signifikanter Tiefe zu vermitteln, sondern die wichtigsten Ereignisse, die bedeutendsten Persönlichkeiten, die folgenhaftensten Wendepunkte auf einem plausiblen Zeitstrahl zu verstehen. In der Mittelstufe (8.-10. Klasse) könnte man sich dann der „Gegenwart“ zuwenden. Hier würde es darum gehen umfassend zu studieren, wie es zum Ersten Weltkrieg kommen konnte; weshalb die Weimarer Republik scheiterte; wie es zum Dritten Reich, dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg kam; wie die Welt anschließend in den Kalten Krieg schlitterte; und wie mit dem Zerbrechen der Sowjetunion, der Osterweiterung der EU und dem Aufstieg von China ein neues Zeitalter anbrach. Sprachliche Quellenanalysen würde ich in den Deutschunterricht auslagern. Politik würde ich als Fach abschaffen und Inhalte teilweise im „Gegenwartsunterricht“ integrieren. In der Oberstufe (11.-13. Klasse) könnte man dann querschnittmäßig einige Themen mit wichtigem Gegenwartsbezug historisch herausarbeiten. Zum Beispiel beginnend mit Russlands Angriffskrieg in der Ukraine fragen, wo die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum deutschen Angriffskrieg 1939, zu den Kolonialkriegen der Briten und Franzosen und zu den Expansionskriegen der Römer, der Perser und Alexanders des Großen liegen.
Wir gehen in Geschichte üblicherweise 20 bis 30 Jahre zurück; aktuell endet sie also irgendwo zwischen 1991 und 2001.
Klar lernen wir aus der Völkerwanderung für heute nichts direkt. Aber das ist ja auch nicht der Anspruch. Es geht ja um Kompetenzen.
Deswegen bin ich auch kein Freund von „zwei Minuten, wer Alexander der Große war“. Die relevante Frage ist: verdient es Alexander, dass wir ihn „groß“ nennen, und sollten wir ihn überhaupt erinnern? Dahin soll der Geschichtsunterricht führen. Wo ich grundsätzlich bei dir bin ist, dass eine gewisse Faktenunterfütterung notwendig ist.
Ralf20. Februar 2023, 12:17
Die relevante Frage ist: verdient es Alexander, dass wir ihn „groß“ nennen, und sollten wir ihn überhaupt erinnern? Dahin soll der Geschichtsunterricht führen.
Sehe ich völlig anders.
Ob wir Alexander überhaupt erinnern sollen, ist bereits damit beantwortet, dass Du ihn in einer extrem dicht gepackten Stofflawine erwähnst. Wäre Alexander irrelevant, wäre diese Beschäftigung mit ihm Zeitverschwendung und die wertvolle Schulzeit sollte anders ausgefüllt werden.
Abgesehen davon: Was an Alexander wissenswert ist, ist nicht das Epithet, das an seinen Namen angehängt wurde, sondern dass die (damals bekannte) Welt im Schatten seiner Eroberungen völlig neu aufgeteilt wurde und die griechische Kultur die Leitkultur der Antike wurde.
Ob das Anhängen von “der Große” an seinen Namen gerechtfertigt ist (wobei zu fragen wäre, was “gerechtfertigt” in diesem Kontext überhaupt heißen soll – historisch gerechtfertigt? moralisch gerechtfertigt? militärisch gerechtfertigt?), ist völlig nebensächlich und diese Frage an Alexander zu diskutieren darüber hinaus willkürlich. Genauso hätte man Friedrich, Alfred oder Karl den Großen nehmen können. Ist so ein willkürlich herausgepickter Name wirklich das, was man möchte, dass ein 40jähriger, 50jähriger später noch von seinem Geschichtsunterricht erinnert?
Wobei ich Dir garnicht widersprechen möchte, dass die “Heldenverehrungen”, zu denen unsere Gesellschaften neigen meist kontraproduktiv sind und viele “Helden” sich bei genauerem Hinsehen – zumindest im Lichte unserer heutigen Standards – als bestenfalls zweifelhafte Charaktere entpuppen. Aber diese Frage gehört nicht in den Geschichtsunterricht, sondern in die Sozialwissenschaften. Und diese Frage diskutiert man mit Schülern aus meiner Sicht auch wesentlich effektiver an lebendigen Beispielen der Gegenwart als an historischen Figuren, die vor 2500 Jahren gelebt haben. Da ist dann weniger relevant, ob Alexander wirklich ein “Großer” war, sondern warum der Münchner Flughafen eigentlich “Franz Josef Strauss” heißt …
Du hast ihn erwähnt, deswegen habe ich ihn aufgegriffen. Ich würde ihn nicht in den Bildungsplan einbauen. – Bezüglich der Rechtfertigung: die Aufgabe der Schüler*innen ist es ja genau, solche Maßstäbe zu entwerfen. Denn die Erkenntnis, die du gerade formuliert hast – dass diese nicht gibt – sollen die ja überhaupt bekommen.
Es erforscht sich diese Frage leichter an historischen Figuren, weil die unkontroverser sind. Heute entzünden sich keine Streits im Klassenzimmer über die Frage der Größe Alexanders; ob Greta Thunberg „groß“ ist, würde ich im Unterricht nicht debattieren wollen.
Ralf20. Februar 2023, 19:27
die Aufgabe der Schüler*innen ist es ja genau, solche Maßstäbe zu entwerfen. Denn die Erkenntnis, die du gerade formuliert hast – dass diese nicht gibt – sollen die ja überhaupt bekommen.
Hmmm … aber doch nicht im Geschichtsunterricht. Wobei Du auch noch falsch liegst mit der These, dass es keinen Maßstab gäbe, nach dem man “Größe” messen könne. Tatsächlich ist das einfach Ansichtssache – ein Random-Thema, zu dem man unzählige sinnvolle Meinungen haben kann. Man muss sie einfach nur begründen. Deshalb kann man hier auch keine historischen Inhalte lernen. Stattdessen ist es eine Übung in Rhetorik. Nun ist Rhetorik natürlich auch wichtig. Aber wichtig eben im Deutschunterricht. Nicht in Geschichte.
Und was Greta Thunberg angeht: Die ist weder eine historische Figur, noch hängen ihr ihre Verehrer das Epithet “die Große” an. Die Analogie ist also etwas merkwürdig. Aber zu Greta Thunberg – und damit zu einem aktuellen, bedeutenden Zeitgeschehen – eine Meinung zu haben, ist extrem wichtig. Alexander der Große ist zugegebenermaßen reine Allgemeinbildung. Ich gehe auf die 50 zu und dies ist das erste Gespräch meines Lebens, in dem der makedonische Feldherr auftaucht. Man kann sicher ohne Wissen über ihn und ohne Meinung zu ihm sehr gut leben. Auch in bürgerlichen Kreisen. Aber nicht zu wissen wer Greta Thunberg ist oder keine Meinung zu ihr zu haben, wäre in diesem Land und in dieser Zeit eine beschämende Wissenslücke, die den entsprechenden Schüler einigermaßen dysfunktional zurücklassen würde. Ganz egal übrigens, ob man sich letztlich für sie oder gegen sie positioniert. Jemand der zu den bedeutendsten Fragen unserer Zeit keine Meinung, keine Perspektive, keinen Hintergrund hat, kann nicht als verantwortungsvoller Bürger seinen Beitrag zur Gesellschaft leisten, z.B. als Wähler.
Eigentlich sollte man doch gerade das in der Schule lernen …
Gerade diese Begründungen aber sind doch das Relevante! Ich kann so was ja nur mit historischem Hintergrundwissen machen.
Thunberg wäre kein Thema für den Geschichtsunterricht, sondern allenfalls für Politik oder Deutsxch.
Ralf21. Februar 2023, 15:22
Da finden wir nicht zueinander. Dass ein Schüler beweisen soll, dass er bei einem x-beliebigen Thema eine x-beliebige Begründung für “irgendwas” finden kann, hat aus meiner Sicht mit Geschichte nichts zu tun – das ist Rhetorik. Alexander der Große ist nicht wegen seines Epithets relevant, sondern wegen seiner Feldzüge und deren Folgen. Kann man ohne ihn leben? Klar. Wenn Allgemeinbildung keine ausreichende Begründung ist, ihn zu studieren, kann man ihn von der Liste der Stoffe streichen. Allerdings kann man dann konsequenterweise das Fach Geschichte auch gleich komplett abschaffen und stattdessen das “Dritte Reich-Thema” irgendwo in den Politikunterricht integrieren. Denn für das alte Ägypten, die Römer, das Mittelalter und die Industrialisierung gilt dasselbe wie für Alexander. Ohne die kann ich ebenfalls leben …
Nun, ich würde die ganzen Bildungspläne auch wesentlich stärker auf das 20. Jahrhundert zentrieren, wenn es nach mir ginge, aber das ist auch eine persönliche Präferenz 😉
Ralf21. Februar 2023, 22:22
Mich verblüfft ausgerechnet von einem Geschichtslehrer die These zu hören, Geschichte sei irrelevanter Ballast. Wenn der Sinn von Schule nur noch ist, die unmittelbare Funktionalität der jungen Menschen in der gegenwärtigen Gesellschaft zu gewährleisten, dann reichen vier Klassen Volksschule: Addieren, Subtrahieren, Spaghetti kochen und Steuererklärung machen. Dann braucht es keine Kunst. Keine Musik. Keine Chemie und Moleküle.
Keine Evolution oder Dinosaurier. Keine Planeten und Sterne. Keine Atome. Keine Geographie außerhalb von Europa und Amerika. Und eben keine Geschichte.
Schließlich leben so ja auch die Affen … 😉 Die haben sich früher – hört man – dadurch vom Menschen unterschieden, dass sie nichts Schönes und keinen Sinn für Kunst, kein Interesse an ihrer Herkunft, kein Verständnis ihrer Welt und keine Träume über ihre Zukunft hatten …
Ich sage doch nicht, dass die Geschichte irrelevanter Ballast ist!
CitizenK1. März 2023, 15:22
Spät, aber vielleicht nicht zu spät:
Die Idee mit der umgekehrten Chronologie (Wie kam es dazu?) hatte ich auch schon. Geht nicht, aus den genannten Gründen.
Frage: Wurde das andernorts (Land, Schulsystem) schon mal versucht?
Während die schlechten Nachrichten von der Front in der Ukraine nicht abreißen, kommen unerwartet dramatische Nachrichten aus Syrien, wo das... Lesen →
Und wir kommen nicht mal dazu, dass da auch noch Gegenwartsbezüge reingebracht werden sollen.
Für mich als doppelt interessierten Amateur (sowohl bei Menschenerziehung als auch Vergangenheitsbetrachtung) ein sehr erhellendes Gespräch. Was ihr sagt, klingt gut und einleuchtend und eure Ideen sind echt bedenkenswert. Insbesondere maximal grobe Rahmenpläne mit Entscheidung der Schule/Lehrer über konkrete Umsetzung gefällt mir. Trotz aller Lorbeeren ein paar Ergänzungen/Ideen/Thesen meinerseits:
1. Eure Vorstellung von Geschichte hängt fast komplett an schriftlichen Quellen. Richtig interessant wird es erst ab dem Moment, als durch Schnellpresse und Massenalphabetisierung auch die Zahl der Zeitungen und Dokumente explodiert ist. Und umgekehrt ist die vorschriftliche Geschichte für euch ‚uninteressant‘. Wäre es da nicht konsequent, diese in ein neues Fach (mal wieder so eine Forderung) „Big History“ auszulagern, die den Teil des „Woher kommen wir?“ beantwortet, der nur indirekt mittels Astrophysik, Planetologie, Geologie, Evolutionsbiologie, Anthropologie und Archäologie zu beantworten ist?
2. Was mir bei euren Gedanken fehlt, ist „Geschichte vor Ort“. Stefan Q. hat von der Ausgrabungsstätte erzählt, die viel mehr gebracht hat als der ‚normale‘ Unterricht. Ich weiß, dass ich bei zwei lokalgeschichtlichen Themen noch von dem Grundstock aus dem HSK-Unterricht der Grundschule(!) zehre.
3. Unterschätzt bitte nicht den ‚Fuß in der Tür‘. Mag sein, dass der typische Erwachsene vom dreißigjährigen Krieg nur rudimentäre Kenntnisse (aus der Schule) hat, aber vom präkolonialen Afrika (kein Schulstoff) hat er halt gar keine. Und wenn ich (zu recht) die Mittelaltermarkt -Geschichtsdarstellung kritisiert, liegt es an euch, da zumindest ein Fundament zu legen, dass Schüler sich auch jenseits dieser Klischees für die Vergangenheit interessieren.
4. Ein Problem ist, dass das Interesse und Denken vom Konkreten zum Abstrakten geht. In früheren Klassen sollten die Lebenswelten der betreffenden Epoche im Zentrum stehen. Staatsorganisation und Rechtsphilosophie interessieren schon Erwachsene kaum, warum knallen wir das 12-jährigen auf den Tisch.
5. Ihr beklagt den großen Unterschied zwischen dem Unterricht und dem ‚richtigen‘ akademischen Arbeiten. Fragt bitte irgendjemanden, der im MINT-Studium mit ‚Universitätsmathematik‘ zu tun hatte, wie viele Welten zwischen dieser und der Schulmathematik liegen.
1) Völlig, ja. Geschichtswissenschaft ist immer schriftliche und bildliche Quellen. Alles andere ist Archäologie 😉
2) Ja, darüber haben wir nicht gesprochen, richtig.
3) Ja, guter Punkt!
4) Tun wir ja auch nicht. Das ist ja bereits der Fall. Nur: „Lebenswelt des Mittelalters“ ist halt inhärent albern. Wir reden von kontinentumspannender Größe und tausend Jahren. Was ist da „die“ Lebensrealität?
5) Ich weiß nicht ob ich das beklage, ich nehme es zur Kenntnis. 🙂
4) Da sind wir uns ja sehr einig (ohne das zu sehr zu vertiefen, sehe ich in Deutschland 4-5 unterschiedliche Mittelalterepochen), deswegen ja meine Punkte 2) und 3): Kleinteilig und ohne Klischees, die verschiedene Dinge über einen Kamm scheren. Das ist auch ein gutes Argument für vertiefende Themenschwerpunkte, wo man genau auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede eingehen kann: „Wie entwickelte sich die Militärorganisation im MA?“ oder „Welche Landwirtschaftssystem gab es im 14.Jahrhundert?“
Das bringt mich aber auf einen Nachtrag:
Warum nicht noch radikaler ? Warum nicht die Schüler über die Themensetzung im Rahmen der groben Vorgaben (mit)entscheiden lassen?
Bin ich grundsätzlich dabei. Ich müsste nur insofern Vorgaben machen, als dass ich in der Lage sein muss, das zu unterrichten. Wenn die SuS einen Schwerpunkt „Chilenische Geschichte des 19. Jahrhunderts“ wollen, muss ich passen.
Dann lass sie selber arbeiten. Gib ihnen Projekttemen: „Der steinige Weg in die Unabhängigkeit“, „Schwierige Nachbarn. Wäre der Salpeterkrieg vermeidbar gewesen?“, „Mapuche: eine Ausnahme unter den indigenen Völkern?“, „Bodenschätze, Fluch oder Segen?“. Die Ergebnisse stellst du dann als Reihe hier in den Blog und lässt sie damit vonn Lemmy C. fachkundig redigieren. 😉
Ich habe kein Problem mit Projektthemen, aber wenn ich die fachkundig als Lernbegleitet begleiten und dann auch noch benoten soll, muss ich mich auskennen.
Bestimmt besser da einzelne Themen aus verschiedenen Epochen gründlich zu besprechen, als die gesamte geschichtliche Entwicklung von Adam und Eva bis zum Einmarsch Putins in der Ukraine zu vermitteln.
Einen brauchbaren Überblick über die Epochen gewinnt man eh nur durch vertiefendes Selbststudium, wenn man sich halt dafür interessiert. In der Schule habe ich mich am Geschichtsuntericht immer interessiert beteiligt, aber man vergisst da natürlich sowieso vieles.
Lernen sollte man da Quellenkritik und die nachvollziehbare Darstellung komplexer Zusammenhänge.
Das Unterhaltsame an Büchern, Podcasts, Artikeln und ähnlichem zu geschichtlichen Themen ist ja gerade, dass der Konsum die bestehende innere Vorstellung über die historische Entwicklung oft völlig verändert.
Genau, das ist ja auch das Ziel des Geschichtsunterrichts. Aber genau diesem Ziel steht die Stofffülle entgegen.
Ich weiß, ich bin zu spät. Aber ich habe den Podcast gerade erst angehört …
Ich habe eine andere Definition von Geschichte als ihr und aus meiner Sicht erwachsen viele eurer Probleme aus eurer Perspektive auf dieses Fach. Für mich beschreibt „Geschichte“ die Periode vor meiner Zeit und grenzt sich somit von der „Gegenwart“ ab. „Gegenwart“ ist für mich das, wozu ich einen zumindest indirekten persönlichen Bezug habe. Die Wiedervereinigung habe ich z.B. persönlich und aktiv miterlebt. Das ist für mich keine „Geschichte“. Dasselbe gilt für den Kalten Krieg. Das Dritte Reich endete 30 Jahre vor meiner Geburt. Aber praktisch jeder in meiner Generation hatte einen Großvater, der im Krieg gekämpft hat. Praktisch jeder hatte eine Großmutter, die die Bombenzeit erlebt hat. Die Geschichten wurden lebendig am Abendtisch erzählt. Regelmäßig. Zahlreiche Holocaustüberlebende und ehemalige Häftlinge der KZs waren noch am Leben und berichteten in Schulklassen über ihre Erlebnisse. Menschen, die eine direkte Brücke in diese dunkle Zeit darstellten, waren greifbar und präsent. Das Dritte Reich war für mich deshalb immer „Gegenwart“, nicht „Geschichte“. Die Zeit davor – Weimarer Republik und Erster Weltkrieg – waren für mich verschwommener. Aus dieser Zeit wurde selten erzählt. Selbst mein Großvater war 1918 erst vierzehn Jahre alt gewesen. Und aktive Teilnehmer am Ersten Weltkrieg waren zwar noch vereinzelt am Leben, aber steinalt. Jemand der bei Kriegsende 20 Jahre alt gewesen war, war 90, als ich ein Teenager wurde. Und das zu einer Zeit, in der die Lebenserwartung bei Anfang 70 lag – und bei Männern nochmal weniger betrug als bei Frauen. Von denen kam – wenig überraschend – keiner mehr in die Klassenräume. Über die Periode hörte man fast nur noch aus Dokumentationen. Und zu allem davor, hatte ich gar keinen persönlichen Bezug mehr: Industrialisierung, Renaissance, Mittelalter, Antike, Steinzeit. Letztere sind für mich „Geschichte“.
Warum ist das wichtig? Ich denke, es ist wichtig, weil „Geschichte“ anders gelehrt werden muss und dass der Anspruch an die zu erreichenden Ziele bei „Geschichte“ anders ist, als bei der „Gegenwart“. Die „Gegenwart“, das sind wir heute, sowie die Vorgänge, die unmittelbar zu uns und unserer Situation geführt haben. Aus der „Gegenwart“ ziehen wir Lehren für die Zukunft. Die „Gegenwart“ ist nahe. Die deutsche Gesellschaft der Weimarer Republik war der unseren unheimlich ähnlich. Sehr viel ähnlicher als die germanischen Stammesgesellschaften in der vorrömischen Zeit. Was dem System der Weimarer Republik passiert ist, könnte uns auch heute passieren. Ein Ansturm der Goten, eine Pestepidemie oder ein Kreuzzug sind hingegen eher unwahrscheinlich. Ich erinnere mich noch an die allererste Geschichtestunde in der 5. Klasse. Die Lehrerin fragte „Warum lernen wir heute eigentlich noch Geschichte?“. Schließlich wurde die These herausgearbeitet, dass wir uns mit Geschichte beschäftigen, damit wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und diese als Gesellschaft nicht wiederholen. Und in der nächsten Stunde begannen wir dann mit der Steinzeit. Ich kann mich noch erinnern, wie ich mich als Kind gefragt habe, was zum Teufel ich denn jetzt bitte aus der Steinzeit lernen soll. Welchen Fehler der Steinzeit soll ich nicht wiederholen?
Dabei war nicht der grundsätzliche Anspruch der Lehrerin verkehrt. Er bezog sich nur auf die falsche Zeitperiode. Aus Fehlern sollten wir selbstverständlich lernen. Allerdings bezieht sich das primär auf die Periode, die ich oben als „Gegenwart“ definiert habe. Das soll natürlich nicht heißen, dass es in der Zeit vor dem 20. Jahrhundert keine Fehler gegeben habe oder dass man aus diesen Fehlern keine signifikanten Schlüsse ziehen könnte. Aber je weiter wir uns von unserer eigenen Zeit entfernen, desto weniger Relevanz haben die damaligen Gesellschaften für unseren heutigen Alltag; desto weniger Bezug haben die damaligen Herausforderungen zu unseren heutigen Problemen. Für jemanden, der nicht promovierter Historiker ist, steht bei der „Geschichte“ nicht im Vordergrund, welche Lehren wir aus ihr ziehen können. Vielmehr geht es bei „Geschichte“ darum ein Bild zu bekommen, wo wir her kommen, was unser Ursprung ist und wie wir zu dem geworden sind, was wir heute sind.
Dafür reicht es aus meiner Sicht eine kurze Tour durch die Jahrhunderte zu geben. Wenn ein Abiturient am Ende seiner Schulzeit jeweils in zwei Sätzen erklären kann, weshalb Alexander der Große, Cäsar, Augustus, Konstantin, Karl der Große und Napoleon wichtig waren, ist das aus meiner Sicht genug. Wenn ein Abiturient am Ende seiner Schulzeit die Hochzeit der Mesopotamier, Ägypter, Perser, Griechen, Römer und Franken in die richtige Reihenfolge bringen kann, ist das aus meiner Sicht genug. Wenn ein Abiturient am Ende seiner Schulzeit einige wenige zentrale Wendepunkte unserer Geschichte erinnert, wie etwa die Reformation, den Dreißigjährigen Krieg, oder die Industrialisierung, ist das aus meiner Sicht genug. Es reicht, den Kontext, aus dem unsere moderne Gesellschaft erwachsen ist, grob skizzieren zu können. Und das zu vermitteln, sollte aus meiner Sicht das Kernanliegen von Geschichtsunterricht zu sein. Der Anspruch „Geschichte“ aus raren, alten, oft mangelhaften Primärquellen zu erschließen, inklusive Quellenkritik und Kenntnisse über den Hintergrund der Autoren, ist aus meiner Sicht ein viel zu weit gefasstes Ziel. Diese Fähigkeiten erwarte ich beim Geschichtsprofessor, beim Museumsdirektor, beim studierten Geschichtsjournalisten, aber nicht beim Gymnasiasten.
Anders ist das bei der „Gegenwart“. Die „Gegenwart“ darf nicht nur eine schlichte Aufzählung von Ereignissen in korrekter zeitlicher Reihenfolge sein. Der Anspruch kann hier nicht sein, lediglich in zwei Sätzen grob erklären zu können, wer Hitler war. Oder wann der Zweite Weltkrieg begann. Im Vordergrund stehen Fragen wie „Wie konnte es so weit kommen?“. Und diese Fragen sind ungeheuer wichtig für das hier und heute, gerade auch weil man sieht, wie sich manche Muster der Anfänge hier und in anderen Ländern wiederholen. Allerdings sind die Überschneidungen mit Fächern wie Politik, Sozialwissenschaften oder auch Deutsch massiv. Gehört zum Beispiel Quellenkritik, die im Podcast ja mehrfach genannt wurde, nicht eher in den Deutschunterricht? Etwa statt Effi Briest?
Mein (Laien-)Vorschlag wäre in der Unterstufe (5.-7. Klasse) das zu lehren, was ich „Geschichte“ nenne. Eine grober Durchlauf durch die Zeiten, beginnend mit den alten Mesopotamiern bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Das Ziel wäre nicht, irgendeine der betroffenen Perioden in signifikanter Tiefe zu vermitteln, sondern die wichtigsten Ereignisse, die bedeutendsten Persönlichkeiten, die folgenhaftensten Wendepunkte auf einem plausiblen Zeitstrahl zu verstehen. In der Mittelstufe (8.-10. Klasse) könnte man sich dann der „Gegenwart“ zuwenden. Hier würde es darum gehen umfassend zu studieren, wie es zum Ersten Weltkrieg kommen konnte; weshalb die Weimarer Republik scheiterte; wie es zum Dritten Reich, dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg kam; wie die Welt anschließend in den Kalten Krieg schlitterte; und wie mit dem Zerbrechen der Sowjetunion, der Osterweiterung der EU und dem Aufstieg von China ein neues Zeitalter anbrach. Sprachliche Quellenanalysen würde ich in den Deutschunterricht auslagern. Politik würde ich als Fach abschaffen und Inhalte teilweise im „Gegenwartsunterricht“ integrieren. In der Oberstufe (11.-13. Klasse) könnte man dann querschnittmäßig einige Themen mit wichtigem Gegenwartsbezug historisch herausarbeiten. Zum Beispiel beginnend mit Russlands Angriffskrieg in der Ukraine fragen, wo die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum deutschen Angriffskrieg 1939, zu den Kolonialkriegen der Briten und Franzosen und zu den Expansionskriegen der Römer, der Perser und Alexanders des Großen liegen.
Wir gehen in Geschichte üblicherweise 20 bis 30 Jahre zurück; aktuell endet sie also irgendwo zwischen 1991 und 2001.
Klar lernen wir aus der Völkerwanderung für heute nichts direkt. Aber das ist ja auch nicht der Anspruch. Es geht ja um Kompetenzen.
Deswegen bin ich auch kein Freund von „zwei Minuten, wer Alexander der Große war“. Die relevante Frage ist: verdient es Alexander, dass wir ihn „groß“ nennen, und sollten wir ihn überhaupt erinnern? Dahin soll der Geschichtsunterricht führen. Wo ich grundsätzlich bei dir bin ist, dass eine gewisse Faktenunterfütterung notwendig ist.
Die relevante Frage ist: verdient es Alexander, dass wir ihn „groß“ nennen, und sollten wir ihn überhaupt erinnern? Dahin soll der Geschichtsunterricht führen.
Sehe ich völlig anders.
Ob wir Alexander überhaupt erinnern sollen, ist bereits damit beantwortet, dass Du ihn in einer extrem dicht gepackten Stofflawine erwähnst. Wäre Alexander irrelevant, wäre diese Beschäftigung mit ihm Zeitverschwendung und die wertvolle Schulzeit sollte anders ausgefüllt werden.
Abgesehen davon: Was an Alexander wissenswert ist, ist nicht das Epithet, das an seinen Namen angehängt wurde, sondern dass die (damals bekannte) Welt im Schatten seiner Eroberungen völlig neu aufgeteilt wurde und die griechische Kultur die Leitkultur der Antike wurde.
Ob das Anhängen von “der Große” an seinen Namen gerechtfertigt ist (wobei zu fragen wäre, was “gerechtfertigt” in diesem Kontext überhaupt heißen soll – historisch gerechtfertigt? moralisch gerechtfertigt? militärisch gerechtfertigt?), ist völlig nebensächlich und diese Frage an Alexander zu diskutieren darüber hinaus willkürlich. Genauso hätte man Friedrich, Alfred oder Karl den Großen nehmen können. Ist so ein willkürlich herausgepickter Name wirklich das, was man möchte, dass ein 40jähriger, 50jähriger später noch von seinem Geschichtsunterricht erinnert?
Wobei ich Dir garnicht widersprechen möchte, dass die “Heldenverehrungen”, zu denen unsere Gesellschaften neigen meist kontraproduktiv sind und viele “Helden” sich bei genauerem Hinsehen – zumindest im Lichte unserer heutigen Standards – als bestenfalls zweifelhafte Charaktere entpuppen. Aber diese Frage gehört nicht in den Geschichtsunterricht, sondern in die Sozialwissenschaften. Und diese Frage diskutiert man mit Schülern aus meiner Sicht auch wesentlich effektiver an lebendigen Beispielen der Gegenwart als an historischen Figuren, die vor 2500 Jahren gelebt haben. Da ist dann weniger relevant, ob Alexander wirklich ein “Großer” war, sondern warum der Münchner Flughafen eigentlich “Franz Josef Strauss” heißt …
Du hast ihn erwähnt, deswegen habe ich ihn aufgegriffen. Ich würde ihn nicht in den Bildungsplan einbauen. – Bezüglich der Rechtfertigung: die Aufgabe der Schüler*innen ist es ja genau, solche Maßstäbe zu entwerfen. Denn die Erkenntnis, die du gerade formuliert hast – dass diese nicht gibt – sollen die ja überhaupt bekommen.
Es erforscht sich diese Frage leichter an historischen Figuren, weil die unkontroverser sind. Heute entzünden sich keine Streits im Klassenzimmer über die Frage der Größe Alexanders; ob Greta Thunberg „groß“ ist, würde ich im Unterricht nicht debattieren wollen.
die Aufgabe der Schüler*innen ist es ja genau, solche Maßstäbe zu entwerfen. Denn die Erkenntnis, die du gerade formuliert hast – dass diese nicht gibt – sollen die ja überhaupt bekommen.
Hmmm … aber doch nicht im Geschichtsunterricht. Wobei Du auch noch falsch liegst mit der These, dass es keinen Maßstab gäbe, nach dem man “Größe” messen könne. Tatsächlich ist das einfach Ansichtssache – ein Random-Thema, zu dem man unzählige sinnvolle Meinungen haben kann. Man muss sie einfach nur begründen. Deshalb kann man hier auch keine historischen Inhalte lernen. Stattdessen ist es eine Übung in Rhetorik. Nun ist Rhetorik natürlich auch wichtig. Aber wichtig eben im Deutschunterricht. Nicht in Geschichte.
Und was Greta Thunberg angeht: Die ist weder eine historische Figur, noch hängen ihr ihre Verehrer das Epithet “die Große” an. Die Analogie ist also etwas merkwürdig. Aber zu Greta Thunberg – und damit zu einem aktuellen, bedeutenden Zeitgeschehen – eine Meinung zu haben, ist extrem wichtig. Alexander der Große ist zugegebenermaßen reine Allgemeinbildung. Ich gehe auf die 50 zu und dies ist das erste Gespräch meines Lebens, in dem der makedonische Feldherr auftaucht. Man kann sicher ohne Wissen über ihn und ohne Meinung zu ihm sehr gut leben. Auch in bürgerlichen Kreisen. Aber nicht zu wissen wer Greta Thunberg ist oder keine Meinung zu ihr zu haben, wäre in diesem Land und in dieser Zeit eine beschämende Wissenslücke, die den entsprechenden Schüler einigermaßen dysfunktional zurücklassen würde. Ganz egal übrigens, ob man sich letztlich für sie oder gegen sie positioniert. Jemand der zu den bedeutendsten Fragen unserer Zeit keine Meinung, keine Perspektive, keinen Hintergrund hat, kann nicht als verantwortungsvoller Bürger seinen Beitrag zur Gesellschaft leisten, z.B. als Wähler.
Eigentlich sollte man doch gerade das in der Schule lernen …
Gerade diese Begründungen aber sind doch das Relevante! Ich kann so was ja nur mit historischem Hintergrundwissen machen.
Thunberg wäre kein Thema für den Geschichtsunterricht, sondern allenfalls für Politik oder Deutsxch.
Da finden wir nicht zueinander. Dass ein Schüler beweisen soll, dass er bei einem x-beliebigen Thema eine x-beliebige Begründung für “irgendwas” finden kann, hat aus meiner Sicht mit Geschichte nichts zu tun – das ist Rhetorik. Alexander der Große ist nicht wegen seines Epithets relevant, sondern wegen seiner Feldzüge und deren Folgen. Kann man ohne ihn leben? Klar. Wenn Allgemeinbildung keine ausreichende Begründung ist, ihn zu studieren, kann man ihn von der Liste der Stoffe streichen. Allerdings kann man dann konsequenterweise das Fach Geschichte auch gleich komplett abschaffen und stattdessen das “Dritte Reich-Thema” irgendwo in den Politikunterricht integrieren. Denn für das alte Ägypten, die Römer, das Mittelalter und die Industrialisierung gilt dasselbe wie für Alexander. Ohne die kann ich ebenfalls leben …
Nun, ich würde die ganzen Bildungspläne auch wesentlich stärker auf das 20. Jahrhundert zentrieren, wenn es nach mir ginge, aber das ist auch eine persönliche Präferenz 😉
Mich verblüfft ausgerechnet von einem Geschichtslehrer die These zu hören, Geschichte sei irrelevanter Ballast. Wenn der Sinn von Schule nur noch ist, die unmittelbare Funktionalität der jungen Menschen in der gegenwärtigen Gesellschaft zu gewährleisten, dann reichen vier Klassen Volksschule: Addieren, Subtrahieren, Spaghetti kochen und Steuererklärung machen. Dann braucht es keine Kunst. Keine Musik. Keine Chemie und Moleküle.
Keine Evolution oder Dinosaurier. Keine Planeten und Sterne. Keine Atome. Keine Geographie außerhalb von Europa und Amerika. Und eben keine Geschichte.
Schließlich leben so ja auch die Affen … 😉 Die haben sich früher – hört man – dadurch vom Menschen unterschieden, dass sie nichts Schönes und keinen Sinn für Kunst, kein Interesse an ihrer Herkunft, kein Verständnis ihrer Welt und keine Träume über ihre Zukunft hatten …
Ich sage doch nicht, dass die Geschichte irrelevanter Ballast ist!
Spät, aber vielleicht nicht zu spät:
Die Idee mit der umgekehrten Chronologie (Wie kam es dazu?) hatte ich auch schon. Geht nicht, aus den genannten Gründen.
Frage: Wurde das andernorts (Land, Schulsystem) schon mal versucht?
Wäre mir nicht bekannt.