Rezension: Hartmut Kaelble – Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945-1989, Teil 1

Hartmut Kaelble – Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945-1989

Am Ende des Zweiten Weltkriegs teilte der Großteil Europas ein ähnliches Schicksal: vom Krieg verheert stand der Kontinent vor den Trümmern seiner Zivilisation. Seine Vorrangstellung war zerstört, und an ihrer statt beherrschten nun zwei Supermächte die internationale Politik. Wohl nur wenige Zeitgenoss*innen dürften sich damals erhofft haben, dass wenigstens im westlichen Europa binnen 20 Jahren eine neue, gemeinsame Zukunft erbaut werden würde, die allen früher gekannten Wohlstand in den Schatten stellen würde. Selbst im östlichen Europa lebte es sich besser und sicherer als vor dem Krieg, wenngleich die Knute der Sowjetherrschaft eine klare Obergrenze einzog. Hartmut Kaelble versucht in diesem Buch, die kulturelle und wirtschaftliche Geschichte der Nachkriegszeit (großzügig bis 1989 definiert) nachzuzeichnen, ohne dabei die politische Dimension komplett aus den Augen zu verlieren. Den Blick stets auf Gesamteuropa gerichtet hält er die beiden entscheidensten Faktoren dieser Epoche im Blick: einerseits die Teilung des Kontinents durch den Ost-West-Konflikt, andererseits den durch den Wohlfahrtsstaat erreichten neuen Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten.

Das Narrativ beginnt im ersten Teil mit dem unmittelbaren Kriegsende, das Kaelble als eine wesentlich gesamteuropäische Erfahrung fasst, wenngleich natürlich das Ausmaß von Tod und Zerstörung regional sehr unterschiedlich waren und in Deutschland den Verursacher der ganzen Misere traf. Er streicht allerdings heraus, wie sehr bei vielen Akteuren der damaligen Zeit die Vorstellung eingebrannt war, dass die Zukunft nur als eine europäische Zukunft vorstellbar war. Der Nationalismus hatte ausgedient.

Gleiches galt für den Kapitalismus, der tief in Verdacht geraten war. In den meisten europäischen Staaten galt eine staatliche Planung als unabdingbar. Dies war eine Konsequenz, die die USA für sich nicht gezogen hatten und die interessanterweise in Deutschland ebenfalls nicht durchdrang – vermutlich, weil staatliche Planung durch den Nationalsozialismus diskreditiert und zusätzlich mit der Sowjetunion verbunden wurde. Aber gerade in Frankreich und Großbritannien war man der Überzeugung, dass zumindest in den Schlüsselindustrien eine größere staatliche Planung und eine Verstaatlichung der entsprechenden Zweige dringend erforderlich waren. Das bezog sich nicht nur auf die Wirtschaft. Auch etwa bei der Stadtplanung glaubte man an den rationalen Geist.

In der Kultur sieht Kaelble mehrere Neuanfänge nach dem Krieg, die auch europäische Neuanfänge waren. Generell sei die Epoche die „Stunde der Intellektuellen“ gewesen. Die Debatten dieser Intellektuellen wurden europaweit geführt. Auch die Kirchen erlebten in der Nachkriegszeit – zum vorerst letzten Mal – einen europaweiten Zulauf, und mit dem Radio etablierte sich nun ein Massenmedium, das in Konkurrenz zu allen anderen trat (und bald seinerseits vom Fernsehen abgelöst werden sollte). Diese europäische Öffentlichkeit wurde durch den Kalten Krieg jäh geteilt, das der Ostblock sich vom Rest der Welt abschirmte und allen möglichen Debatten ein Ende bereitete.

Dabei seien die Voraussetzungen für die Rückkehr zur Demokratie europaweit günstig gewesen. Das Klima war antit-totalitaristisch, die Menschen offen für die Regierungsform. Es war auch hier die Dominanz der Sowjetunion, die eine Demokratisierung Osteuropas verhinderte – wie sie ja dann nach 1989 kommen würde. Gleiches gelte für die europäische Integration. Auch wenn Frankreich und Großbritannien sich anfangs noch sperrten, so war der Rest Europas gegenüber der Integration sehr positiv eingestellt – auch hier inklusive Osteuropas, dem diese Chance dann genommen wurde. Diese europäische Zusammenarbeit sei bereits die Perspektive der Widerstandsbewegungen gegen die NS-Herrschaft gewesen.

Doch natürlich war nicht alles eitel Sonnenschein. Die Nachkriegszeit zeigte auch eine Reihe von Divergenzen auf. Kaelble macht fünf große Trennungsbereiche in Europa aus.

Der erste ist der Gegensatz von Zentrum und Peripherie. „Die Kluft ging tief“, eine These, die sich angesichts der vier- oder fünffachen Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung von Ländern wie Großbritannien gegenüber solchen wie Spanien kaum von der Hand weisen lässt. Die Herausforderung, die verschiedenen Teile Europas zusammenwachsen zu lassen, war angesichts solcher Zahlen seinerzeit wesentlich höher als in der Epoche der europäischen Einigung um die Jahrtausendwende, in der diese Debatten viel virulenter waren.

Der zweite Gegensatz ist der von Kolonialimperien und Nationalstaaten ohne Kolonien. In den 1950er und 1960er Jahren war die politische Situation von Ländern wie Großbritannien und Frankreich, aber auch den Niederlanden und Portugals, dank deren weit verstreuten Kolonialreichen eine völlig andere und blockierte die europäische Integration. Es brauchte das Zerbrechen dieser Kolonialreiche, bevor die betroffenen Länder sich vollständig dem Kontinent zuwenden konnten.

Als dritten Gegensatz macht er vom Krieg verschonte und vom Krieg betroffene Länder aus. Nationen wie Spanien oder Portugal, Irland und Schweden hatten keine direkten Kriegszerstörungen erlitten. Großbritannien war vergleichsweise glimpflich aus dem Krieg gekommen. Andere Länder dagegen lagen komplett in Schutt und Asche. Überraschenderweise war das kaum ein Indiktator für wirtschaftlichen Erfolg und Geschwindigkeit des Wiederaufbaus nach 1945: gerade einige der schwer zerstörten Länder kamen schneller wieder auf die Beine als solche, die vom Krieg verschont wurden.

Die vierte Kategorie spaltet Sieger und Verlierer. Diese ist ziemlich offensichtlich. Gerade unter den Verlierern gab es aber starke Abstufungen. Die moralische Stellung Deutschlands in Europa war naturgemäß eine völlig andere als die Italiens oder Rumäniens.

Die fünfte schließlich ist die zwischen östlichem und westlichem Europa. Diese Grenze wurde vor allem durch die Entstehung des Eisernen Vorhangs relevant und sollte sich als die zäheste und bedeutendste erweisen, die ihre Schatten bis in die Gegenwart wirft. Der Kalte Krieg trennte den Kontinent ökonomisch, kulturell, gesellschaftlich und politisch.

Europa lag in der Nachkriegszeit zum ersten Mal seit Jahrhunderten nicht an der Spitze der Weltereignisse. Die tiefe Krise Europas war zudem einzigartig; kein anderer Kontinent erlebte sie so. Für die USA war die Epoche sogar eine Zeit der Blüte. Kaelble geht an der Stelle durch einige Weltregionen hindurch.

Die größten Ähnlichkeiten zu Europa – Krise und Neuanfang – sieht er in Ostasien, wo der blutige Krieg und der Zusammenbruch des japanischen Imperiums große Verwerfungen mit sich gebracht hatten und der Höhepunkt des chinesischen Bürgerkriegs weite Schatten warf. Gleichwohl gab es zentrale Unterschiede: weniger Zerstörung, weniger Tote, kein Holocaust. In Ostasien war vielmehr die Durchsetzung der kommunistischen Regime das, was zu gewaltigen Todesopfern führte, ein Prozess, der in Europa zwar repressiv, aber vergleichsweise unblutig vonstatten ging. Ostasien erlebte auch keinen vergleichbaren wirtschaftlichen Aufschwung und, vor allem, keine vergleichbare Integration.

In Südasien war vor allem die indische Teilung und Hungersnot ein zentrales Ereignis, das die Epoche bestimmte. Reformen, wie man sie in Europa anging, gab es in der Gegend auch nicht. Der Nahe Osten dagegen sah eine frühe Epoche der Dekolonisierung und Staatenbildung. Die Zusammenarbeit der arabischen Staaten bot zudem das Potenzial für eine Europa vergleichbare Integration (das gleichwohl in der Folge verloren ging).

Generell sieht Kaelble eine „globale Entflechtung“ Europas, ein Trend, der bereits in der Zwischenkriegszeit begonnen hatte und sich nun rapide fortsetzte. Die Dekolonisieurng war der offensichtlichste Teil dieses Prozesses, aber der Kontinent verlor weltweit an Einfluss an Bedeutung, während im selben Zug der der USA und der UdSSR massiv zunahm.

Im zweiten Teil des Buches, „Kalter Krieg und Prosperität“, befasst sich Kaelble zuerst mit der Erfahrung einer europaweiten Prosperität durch starkes Wirtschaftswachstum. Obwohl regional sehr unterschiedlich ausgeprägt, fand die Erfahrung des Wachstums doch überall statt. Kaelble bietet dafür mehrere Erklärungen. Erstens als Wiederkehr des Kondratieff-Zyklus‘, zweitens als Strukturbruch, drittens als Rückkehr zum normalen Wachstumspfad. Was auch immer es war, die Prosperität führte zu niedriger Arbeitslosigkeit und ungekannt hohen Steuereinnahmen, die wiederum einen beispiellosen Ausbau des Wohlfahrtsstaats und damit erstmals gute Lebensbedingungen für den Großteil der Menschen ermöglichten. Natürlich hatte dies auch negative Seiten: Umweltzerstörung, Planungsutopie, naiver Zukunftsglaube sowie Strukturverlierer*innen (etwa in der Landwirtschaft) werden in populärer Erinnerung an die Zeit gerne ignoriert.

Kaelble wendet sich danach der gesellschaftlichen Entwicklung der Epoche zu. Einen Großtrend der Zeit macht er in der Massenkultur aus: Normierung des (neuen) Massenkonsums und Zugang zu einer breiteren Palette an Konsumwaren als jemals zuvor veränderte die Lebensrealität durchgreifend (und würde als Folge der Prosperität dann in den 1960er Jahren zu einer individualistischen Gegenbewegung führen). Die Familie schrumpfte auf die Kernfamilie zusammen, weil die alte Generation erstmals nicht mehr am oder unter dem Existenzminimum von Kindern und Enkeln abhängig war, sondern eigenständig leben konnte.

Der Fluchtpunkt war dabei in jener Zeit die Beschäftigung im Industriesektor; weder Landwirtschaft noch Dienstleistungssektor waren anziehend. Zudem wuchsen die Städte geradezu explosionsartig an, und mit ihnen die Stadtplanungsvisionen. Es war in dieser Zeit, dass die Verkehrsmoloche entstanden, die uns heute solche Kopfschmerzen bereiten. Die Gewerkschaften erlebten eine absolute Glanzzeit und sorgten für eine Gleichheit auf ungekannt hohem Niveau – eine Gleichheit, die Einwander*innen verwehrt blieb, die sich ab den späten 1950er Jahren vermehrt in Bewegung setzten, weil die Divergenzen zu attraktiv waren.

Im Bereich der Kultur macht Kaelble sechs große Trends aus. Der erste ist der Wertewandel, hin zu Optimismus, Emanzipation, Säkularisierung und Jugendlichkeit. Der zweite resultiert aus dem letztgenannten Aspekt: der Generationenkonflikt. Erstmals begehrte eine Jugend (die „Halbstarken“) gegen die Elterngeneration auf und konnte einen eigenen Lebensweg gehen. Bereits vorher angesprochen ist der dritte Trend, nämlich die relativ starke Position von Intellektuellen und Hochkultur, die allerdings bereits durch Populärkultur langsam herausgefordert wurde. Der vierte Trend ist das Erstarken der Medien, etwa der Jugendzeitschriften (man denke an „Bravo“) und des Fernsehens. Der fünfte Trend ist die kulturelle Amerikanisierung, die in meinen Augen kaum überschätzt werden kann und bis heute anhält. Der letzte, sehr leicht und zurecht unterschätzbare Punkt ist die Europäische Kulturpolitik, die bis heute gegenüber der Amerikanisierung deutlich zurückstecken muss und nie dieselbe Attraktivität erreichte.

Auf der politischen Ebene macht Kaelble fünf große Trends aus. Der erste war die Stabilisierung der politischeb Ordnungen. Die Demokratien waren etabliert und überstanden die Herausforderungen (etwa durch die Spiegel-Affäre), autoritäre Politikertypen wurden seltener, der Ruf nach dem starken Staat leiser. Auch die kommunistischen Regimes in Osteueropa stabilisierten sich, wenngleich unter wesentlich größeren Schwierigkeiten. Der zweite Trend war der Rückgang der Gewalt. Anders als in den 1920er und 1930er Jahren war politische Gewalt praktisch überhaupt kein Thema mehr, ein markanter Wechsel. Der dritte politische Trend war die Planung von Gesellschaft und Wissenschaft: die Planungseuphorie der damaligen Zeit ging über sämtliche gesellschaftlichen Bereiche hinweg und sollte in den 1960er Jahren krachend in sich zusammenfallen. Der vierte Großtrend war der Kalte Krieg, der eine Ausrichtung an der jeweiligen Supermacht und ihrem System erzwang. Und der fünfte Großtrend war, natürlich, die europäische Integration im Westen Europas, die gemeinsame Institutionen, den Binnenmarkt und den Kern eines gemeinsamen Staates schuf. Zu dem kam es dann bekanntlich nicht, aber die Vereinigten Staaten von Europa sind bis heute wirkmächtiges Fernziel und zumindest auf dem Papier immer noch für die EU verbindlich.

Weiter geht’s in Teil 2.

{ 6 comments… add one }
  • Dennis 31. Januar 2023, 11:43

    Zitat Stefan Sasse:
    „….galt eine staatliche Planung als unabdingbar. Dies war eine Konsequenz, die die USA für sich nicht gezogen hatten und die interessanterweise in Deutschland ebenfalls nicht durchdrang “

    Zunächst schon, IMHO. Die CDU (der britischen Zone) ließ sich in ihrem Parteiprogramm von 1947 noch so vernehmen:

    „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. “

    Gemäß dem Gründungsaufruf der CDU (Berlin) müsse „der Bergbau und andere monopolartige Schlüsselunternehmungen unseres Wirtschaftslebens klar der Staatsgewalt unterworfen wenden“. Dieser Tenor geht eigentlich durch alle frühen Texte der Christenunion.

    Später kam es zwar nitt unbedingt zu einer „Neuordnung von Grund aus“ ^, gleichwohl legte man Wert auf die Feststellung, dass „soziale Marktwirtschaft“ etwas deutlich anderes als „Kapitalismus“ sei. „Planungsfrei“ war die Lage mitnichten, die Montanunion z.B. war Planwirtschaft pur. Heutzutage würden jedenfalls Vorschläge, die lediglich die tatsächliche Lage der frühen Dezennien wieder herstellen wollten, z.B. Kapitalverkehrskontrollen bzw. überhaupt das, was „Deutschland AG“, hieß, als sozialistisches Teufelszeug gelten.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Deutschland_AG

    Das, was heute „neoliberal“ heißt, also ab ca. 80er, ist eine Nachnachkriegszeit und ein deutlicher Bruch mit davor. Aber es gab ja eh verschiedene „Nachkriegszeiten“. Unterabteilungen zu bilden – je nach Gesichtspunkt – ist also sinnvoll.

    Zitat:
    „Gerade unter den Verlierern gab es aber starke Abstufungen. Die moralische Stellung Deutschlands in Europa war naturgemäß eine völlig andere als die Italiens oder Rumäniens.“

    Das „Moralische“ war vollkommen unwichtig, wie immer. Finnland übrigens nicht vergessen. Anlässlich der so genannten Friedensverträge mit den mit Hitler verbündeten Staaten (Frankreich war das zwar auch, da galt aber offiziell was anderes^) anno 46/47 hatten die Amis nichts dagegen, Uncle Joe (Stalin) großzügig Karelien zu überlassen. Natürlich wurden die Finnen gar nicht gefragt; die anderen, die die Veranstaltung auch betraf, namentlich Italien, natürlich auch nicht. Das Ganze war eigentlich eine Art Versailles II (wurde sinnigerweise ja auch in Paris ausbaldowert), einschl. Reparationen, die zu zahlen waren und heute längst vergessen sind. Hat alles nur bescheidenes Aufsehen erregt, weil es wirtschaftlich danach allenthalben bergauf ging, jedenfalls im Nicht-Ostblock.

    Zitat:
    „Großbritannien war vergleichsweise glimpflich aus dem Krieg gekommen.“

    Oh, es gab zwar relativ wenig an sichtbaren Zerstörungen, dafür war das Land genauso Pleite wie Deutschland. Keynes musste 1947 im Auftrag der Regierung Seiner Majestät mit dem Hut in der Hand in Washington vorsprechen und um Kredite bzw. um großzügige Regelungen bei den Kriegsschulden (das waren zwar keine „Reparationen“, kommt aber aufs selbe raus) betteln (er ist kurze Zeit später gestorben; vermutlich nicht deshalb). Das war nur mäßig erfolgreich; die britische Staatsverschuldung lag 1950 bei schlappen 200 % des BIP. Später hat das auch in GB deutliche Wachstum und übrigens auch massiv hohe Steuern (galt damals nicht als „sozialistisch“, gab es auch bei den Tories) einiges bereinigt, so dass bei der breiten Öffentlichkeit das Abstottern der Kriegsschulden gar kein Thema war; das interessierte nur Fachleute. Die letzte Rate war 2006, zwischenzeitlich gab’s auch schon mal Stundungen.

    Witzigerweise wurde jedenfalls aufgrund der „neuen Lage“ (Ost/West und so) , beginnend ab ca. 47, Deutschland (West) von den Amis intensiver gepampert als UK; Moral hin oder her^. Das Thema Reparationen wurde ja bekanntlich anno 53 offiziell fallen gelassen – bis zum Friedensvertrag, den später Kohl/Genscher natürlich als absolutes No-Go zu vermeiden wussten und den es nie geben wird.

    Zitat:
    „Strukturverlierer*innen (etwa in der Landwirtschaft) werden in populärer Erinnerung an die Zeit gerne ignoriert.“

    Ja, wichtiger Punkt. 1950 in Westdeutschland noch 20 % der Erwerbstätigen mit Tätigkeit in der Landwirtschaft! Anders als die spätere Deindustrialisierung hat der rasante Abbau hier überhaupt kein nennenswertes Aufsehen erregt. Die Arbeitskräfte wurden von der Industrie geräuschlos aufgesaugt.

    Zitat:
    „die Planungseuphorie der damaligen Zeit ging über sämtliche gesellschaftlichen Bereiche hinweg und sollte in den 1960er Jahren krachend in sich zusammenfallen. “

    Das Zusammenfallen war eigentlich erst später ab Mitte 70er. Zu Brandts Zeiten war die Machbarkeitsherrlichkeit noch in voller Blüte („Wir schaffen das moderne Deutschland“ – natürlich u.a. mit Atomkraftwerken, die als besonders „modern“ galten). „Modern“ (technokratisch verstanden) war im Übrigen das Schlüsselwort der Saison. Kanzleramtsminister Ehmke wollte supermodern sein und im Kanzleramt einen riesigen Planungsstab aufbauen. Sein Intimfeind Helmut Schmidt nannte das „Ehmkes Kinderdampfmaschine“. Ab Mitte 70er war dann eh Schluss mit lustig.

    Ansonsten danke für die Rezension, alles sehr trefflich. So war’s ^. Anscheinend ein solides Buch. Der Niedergang der Kirchen als kulturelle Hegemonialmacht beginnend ab ca. 60er ist – glaub ich – in der Rezension nicht erwähnt. Mach ich hiermit ^.

    • Stefan Sasse 31. Januar 2023, 12:13

      Ich halte das Ahlener Programm von 1947 für völlig überbewertet. Es wird besonders in linken Kreisen gerne herangezogen, aber es ist wenig repräsentativ. Innerhalb der CDU war es schon 1947 kaum mehr das Papier wert, auf dem es geschrieben war, und die Währungsreform 1948 machte es völlig zur Makulatur. Die Weichen wurden schon 1947 gestellt.

      Natürlich spielte das Moralische eine Rolle. Dass Finnland als Verbündeter Deutschlands a) nicht ungestraft da rausgehen würde und b) die USA nichts gegen sowjetische Annexionen tun konnten, ist doch selbsterklärend. Wie in Polen auch. Was die USA von sowjetischen Handlungen hielten war egal. Wo sie es militärisch durchsetzen konnten, konnten sie machen, was sie wollten. Das sagte Stalin ja selbst.

      Dass das UK pleite war ist völlig korrekt, aber es lag wenigstens nicht in Schutt und Asche. Länder wie Polen waren pleite UND zerstört.

      Was Deutschland beim Strukturwandel natürlich massiv half war, dass große Teile der Landwirtschaft in der Ostzone lagen und die ehemaligen Beschäftigten jetzt Flüchtlinge waren. Da kannst sie natürlich auch wesentlich leichter integrieren.

      Ne, zu Brandts Zeiten hörte das schon auf. Aber ja, Anfang der 1970er war der Konflikt noch wesentlich ausgeprägter.

      • Dennis 31. Januar 2023, 17:42

        Zitat:
        „Natürlich spielte das Moralische eine Rolle. Dass Finnland als Verbündeter Deutschlands a) nicht ungestraft da rausgehen würde….“

        ….Was danach kommt , also b), mit den „vollendeten Tatsachen“ Stalins stimmt schon, das M-Wort würd ich eher weglassen. Hier ein weiteres Beispiel für die Hochmoral:

        https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Overcast

        Karelien wurde übrigens von Stalin in ähnlicher „völkerrechtswidriger“ Weise überfallen wie später die Krim durch Putin und an „Bestrafung“ Finnlands hat zunächst mal keiner gedacht:

        https://en.wikipedia.org/wiki/Foreign_support_of_Finland_in_the_Winter_War

        Zum Zeitpunkt des Geschehens war Uncle Joe noch böse, weil mit Hitler verbündet und Adolf aus diesem Grund KEIN Verbündeter Finnlands. Das kam erst später im Fortsetzungskrieg, so wie auch der Seitenwechsel von Uncle Joe, der damit temporär zum Good Guy wurde.

        Was das opportunistische politische Umsortieren von „Freunden“ und „Feinden“ (geschieht häufig, wie Historiker vermutlich wissen^) mit Moral zu tun haben soll, müsste noch geklärt werden. Die Kriterien für die „richtigen“ und die „falschen“ Freunde dürften mit dem M-Wort wenig zu tun haben.

        Dass der „Westen“ aus Opportunitätsgründen zu gegebener Zeit auch ukrainemäßig mal locker „umdenkt“ ist jedenfalls nicht gänzlich unmöglich 🙁

    • Dennis 31. Januar 2023, 18:03

      Zitat Dennis:
      „Keynes musste 1947 im Auftrag…….“

      Das war ’46 und nicht ’47. Mea culpa.

Leave a Comment

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.