Das Schisma des gerechten Lohns

Prosperität als wirtschaftspolitisches Ziel ist kein Selbstzweck. An der Steigerung des Wohlstandes sollen möglichst viele Bürger beteiligt werden. Doch nur wer beiträgt, kann auch profitieren, ein einfaches Prinzip jeder Gemeinschaft. In einem Land mit 44 Millionen Erwerbstätigen und 5 Millionen, die langfristig vom aktiven Erwerbsleben ausgeschlossen sind, ist die Festlegung eines gerechten Maßstabs ein fast unmögliches Unterfangen. Und wie können Verlierer eigentlich zu Gewinnern werden?

Die ökonomische Theorie beantwortet die Frage, welche Einkommensverteilung gerecht sei, ziemlich pragmatisch. Gerecht ist das, was die die Bürger als Nachfrager und Kunden ihrem Mitbürger, Unternehmer und Arbeiter als Lohn zu zahlen bereit sind. Der Markt ist ein einfaches und doch so kluges Spiel. Ob dabei ein Kartoffelmarkt oder Arbeitsmarkt betrachtet wird, ist dabei einerlei, die Regeln sind die Gleichen. Ja, ich weiß, ich weiß: Als der Prof das in der ersten Vorlesung behauptete, war der Aufruhr groß. Auch junge BWL-Studenten sind Wesen mit einem sozialen Gewissen und begehren manchmal gegen harte Realitäten auf.

Arbeiternehmer wie Kartoffeln

Der Preis als Dreh- und Angelpunkt ist nicht starr, sondern muss ständig neu verhandelt werden. Das Ziel der Parteien ist dabei, den Preis so festzulegen, dass die Verkäufer alle ihre Produkte verkauft bekommen und die Kunden nicht mehr Produkte kaufen können als angeboten werden. Auch der Kartoffelverkäufer möchte so viel wie möglich mit seinen Verkäufen verdienen und die Kunden für viele Kartoffeln wenig ausgeben.

Ersetzen Sie Kartoffeln durch den Faktor Arbeit, Verkäufer durch Arbeitnehmer und Kunde durch Arbeitgeber. Es tut weh, aber Sie gewinnen an Verständnis. Für bestimmte Arbeiten sind Arbeitgeber nicht bereit, hohe Löhne zu bezahlen. Zum einen ist die Ware beschädigt, zu einfach in der Herstellung, zum anderen gibt es zu viele, die die Ware anbieten. Der Bedarf an einfachen Tätigkeiten ist in Deutschland ziemlich konstant bei 6-8 Prozent der Erwerbsarbeit. Allerdings gibt es aufgrund geringer Bildung und Intelligenz weit mehr als 8 Prozent in der Erwerbsbevölkerung, die an solcher Arbeit interessiert sind. Hinzu kommen Schüler und Studenten, die mittelfristig zu höherwertiger Arbeit qualifiziert sind und eine Menge an Zuwanderern, die in ihren Herkunftsländern komplexere Aufgaben erledigt haben, denen aber Anforderungskriterien in westlichen Märkten fehlen.

Im Ergebnis wetteifern weit mehr Interessierte um einfache Arbeit als solche Arbeitsplätze angeboten werden. Das ist die Realität. Der Staat dreht nun die Marktverhältnisse um. Er zahlt hohe Ersatzlöhne an jene Bürger, die meist nur für die einfachen Aufgaben in Frage kämen. Für sie ist es seit Jahrzehnten weitgehend uninteressant, 40 Stunden arbeiten zu gehen um so viel Einkommen zu haben als wären sie auf der Couch geblieben. Nichts macht dies so deutlich wie die Politik der Ampel-Regierung. Erst wurde der Mindestlohn um sagenhafte 26 Prozent auf 12 Euro für einfache Arbeit angehoben, nun soll der Lohnersatz mit Bürgergeld nicht nur einen neuen Namen erhalten, sondern um 10 Prozent steigen. Das sind Größenordnungen, wie sie in Tarifverhandlungen normalerweise nicht zu erzielen sind. Einfache Arbeit, die wahrlich nicht knapp ist, wird dramatisch verteuert und eine anstrengungslose Alternative angeboten. Wenig verwunderlich finden Gastronomen, Reinigungsfirmen und Handwerker nur noch unter manchen unbedarften Gruppen von Flüchtlingen Arbeitswillige, die das Spiel noch nicht durchschaut haben.

Das Drama mit niedrigen Löhnen

Die einfache Formel linker Politiker lautet: Dann hebt doch einfach die Löhne an. Schließlich habe Knappheit von Arbeit doch steigende Lohnangebote zur Folge. Moment, da spielt jemand falsch. Es gibt ja Anbieter einfacher Arbeit zu hohen Löhnen, und er verlangt dafür nicht einmal, zur Arbeit zu erscheinen. Der Staat sorgt mit seiner Sozialpolitik für mehr als Markträumung. Für die Gastronomen bleibt einfach niemand mehr übrig, denn besser als 10 Euro für das Ausschenken am Tresen zu kassieren ist, 10 Euro für das Zuhausebleiben zu bekommen. Die Erhöhung des Mindestlohns und die Erhöhung der Sozialhilfe bedingen da einander.

Die Branchen, in denen sich die meisten Niedriglöhner tummeln, verdienen außerordentlich schlecht. Die meisten Unternehmer sind froh, wenn sie keine Verluste machen. Höhere Löhne gehen da nur mit mehr Arbeitsdruck einher, was dann den Staat als Arbeitgeber umso attraktiver macht. Dies ist der Grundkonflikt, weshalb in diesen Tagen wieder auf ein lange vergessen geratenes Prinzip hingewiesen wird, das Lohn-Abstands-Gebot. Danach habe der Staat bei seiner Sozialpolitik zu beachten, dass seine Leistungen nicht zu nah an dem liegen, was die Bürger als Unternehmer überhaupt zahlen könnten.

Wirtschaftswissenschaftliche Theorien über die Angemessenheit des Lohns drehen sich verständlicherweise immer um die Frage, was kann erwirtschaftet werden. Für soziale Aspekte ist schließlich eine andere Fakultät zuständig. Die Effizienzlohntheorie beispielsweise beleuchtet den Zusammenhang zwischen der Effizienz der Arbeit und dem gezahlten Entgelt. Nachvollziehbar ist der Ansatz zweifellos bei Akkordlöhnen. Aber auch Vertriebsmitarbeiter erhalten im Prinzip einen an der Effizienz angelehnte Entlohnung. Je mehr Umsatz und Kunden herbeigeschafft werden, desto besser stellt sich der Mitarbeiter im Einkommen.

Arbeitnehmer können sich kurzzeitig finanziell besser stellen, in dem sie besonders hohe Löhne verlangen. Wenn jedoch die Produktivität des Einzelnen, des Bereichs und des Unternehmens nicht mithalten kann, Kunden ob langer Lieferzeiten, schlechter Qualität und hoher, nicht wettbewerbsfähiger Preise unzufrieden sind, führen Umsatzeinbußen zu Entlassungen und Gehaltsverzichten. Spätestens dann ist die Minderleistung einiger oder gar vieler spürbar.

Die Nähe zum Mindestlohn ist offensichtlich. Das Gesetz über eine Lohnuntergrenze wurde in einer langen Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs beschlossen. Steigende Preise und Nachfrage nach Arbeit kennzeichnen solche Zeiten. Wenig verwunderlich waren die Folgen des relativ hohen Arbeitsmarkteinstiegs für Geringqualifizierte in der Übersicht nicht spürbar. Sie waren aber in den Details ablesbar. Die politisch vorgegebenen Ziele („von der eigenen Arbeit leben können“) wurden nicht annähernd erreicht und das Arbeitsvolumen nahm ab. Die Leute verdienen pro Stunde mehr, arbeiten jedoch weniger und haben am Ende kaum mehr Geld in der Tasche.

Der Markt – ein fairer Maßstab

Auch wenn es vielen gegen den politischen Strich gehen mag, die Festlegung von Einkommen und Löhnen durch die Launen von Märkten führt immer noch zu den gerechtesten Ergebnissen. Der Markt als Spiegel unserer Wertungen und Bereitschaft, für Produkte und Leistungen zu bezahlen, wirkt fair gegen die Willkür des Einzelnen. Schwer vorstellbar? Versuchen Sie mal, den gerechten Lohn für eine Gruppe von Mitarbeitern zu finden. Jeder von Vorgesetzten gewählte Schlüssel führt zu Ungerechtigkeit und Härten.

Da wäre die prozentuale Erhöhung, jeder bekommt mehr in Relation zu seinem bisherigen Gehalt. Nur verändern sich Leistungen, Motivation und Einsatz innerhalb eines Jahres, kein Mensch ist fähig über mehrere Jahre exakt die gleiche Leistung abzuliefern. Einige werden besser, andere schlechter. Junge Menschen lernen schneller, haben Potential und Ambitionen und zeigen kein Verständnis für das Senioritätsprinzip. Tätigkeiten und Bereiche gewinnen an Bedeutung, andere verlieren. Wie soll ein Mensch, weise und in vollem Bewusstsein, hier gerechte Löhne festlegen, die von jedem akzeptiert werden?

Denken Sie zurück an den Anfang. Einkommen entscheiden über unsere Lebenschancen. Kein einzelner Mensch sollte eine solche Macht über uns haben. Doch wie kann die Quadratur des Kreises gelingen, ärmeren Menschen mehr Lebenschancen, Teilhabe und Qualität zu geben ohne der Prosperität des Landes zu schaden? Wir haben schließlich gelernt, Ungleichheit ist eine wichtige Voraussetzung für Wachstum und Wohlstandsgewinn. Ungleichheit lässt sich nicht beliebig eskalieren. Löhne setzt am besten der Markt als Versammlung der Gesellschaft fest. Zu hohe Löhne lassen Chancen durch Arbeitslosigkeit schwinden und oft nicht steigern. Und: Noch nie sind Menschen durch Schulden und Sozialleistungen aufgestiegen und wohlhabend geworden. Zumindest nicht dauerhaft.

Die Lösung liegt in dem, was der Staat von jedem Bürger beansprucht und ihm durch Umverteilung zukommen lässt. Die Ausgangslage ist das, was jeder erwirtschaftet oder erwirtschaften kann. Sein Potential ist das Maß für das Gerechte. Der Staat greift mit seiner Steuer- und Sozialpolitik maßgeblich in die Einkommenszuordnung ein und damit in unser aller Lebenschancen. Glaubt man den langjährigen Umfragen, gelingt es Politik und staatlichen Stellen jedoch nicht, das Gefühl von mehr Gerechtigkeit herzustellen. Im Gegenteil, Millionen Menschen fühlen sich abgehängt, haben resigniert und sind in die innere Immigration gegangen.

Die Spaltung der Gesellschaft zurückdrehen

Als Gesellschaft nehmen wir es seit vielen Jahrzehnten hin, dass Millionen dauerhaft von der Erwerbsteilhabe ausgeschlossen bleiben. Die Linken sagen, das müsse so sein. Viele seien für die Arbeit nicht gemacht und man müsse den Müßiggang auch gönnen können. Doch Arbeit ist bis in unsere heutige Zeit die mit Abstand wichtigste Einkommensquellen der meisten. Folglich kann gesellschaftlicher Aufstieg auch nur durch den Gang in Büros und Fabriken gelingen. Bis heute ist das nicht verhandelbar.

Bis weit in mittlere Einkommensgruppen lohnt sich Arbeit häufig nicht. Die Theorien linker Parteien setzen am einzelnen Bürger an. Doch wir Menschen leben nicht allein, wir leben zumeist in Paaren und Familien. Wer heute im Einkommensbereich von 15.000 – 30.000 Euro im Jahr tatsächlich arbeitet, lebt zumeist in Doppelverdienerbeziehungen. Alleinerziehende gehören dazu definitionsgemäß nicht und sie sind die wichtigste Gruppe im prekären Bereich. Der Staat hat mit seinem Steuer- und Sozialsystem ein Bermudadreieck der Armut geschaffen, aus dem es häufig kein Entrinnen gibt. Grenzsteuersatz, Sozialabgaben und der Verzicht auf Sozialleistungen (Transferentzugsraten) addieren sich im Schnitt auf Belastungsquoten von 90% und mehr für jene, die nur Aussicht auf geringe Einkommen haben.

Zumindest für Ökonomen ist es da nicht verwunderlich, dass Deutschland bis heute eine der höchsten Quoten an Langzeit-, man kann auch sagen: Dauerarbeitslosigkeit aufweist. Der Staat als Chancenverteiler müsste eigentlich den Einstieg in geringbezahlte Arbeit bis in den Mittelbau hinein gleichmäßiger gestalten, wobei die Belastungskurve aus Steuern, Sozialabgaben und Transferentzug nicht über 50% liegen darf. Das ist sehr teuer und geht in den Bereich von einem mittleren zweistelligen Milliardenbetrag. Und das Modell ist nur tragbar und sinnvoll, wenn auch die Transferbeträge für völliges Nichtstun abgesenkt würden. Manche kennen dieses Konstrukt auch unter dem Namen „negative Einkommensteuer“.

Bildung ist der Schlüssel für gesellschaftlichen Aufstieg. Für diese Floskel zahle ich an dieser Stelle schon einmal 3 Euro ins Phrasenschwein. Doch was das bedeutet, haben deutsche Sozialpolitiker nicht begriffen. Es bedeutet nämlich nicht, den Unibesuch für verwöhnte Akademikerkinder kostenlos zu halten. Es bedeutet, frühzeitig mit Kindern zu arbeiten, bei denen Eltern die fundamentalen Erziehungsaufgaben nicht leisten können. Es bedeutet, Menschen Zugang zu Bildung zu gewähren, die sie bewältigen können.

Deutsche Linke starren bis heute nach Schweden und Dänemark als Sehnsuchtsorte hoher Zahlungen als Lohnersatz. Nur noch halbherzig bestreitet die Avantgarde, dass ihr wahres Ziel eine Gesellschaft ist, in der nur noch wenige nach Lust arbeiten. In den nördlichen EU-Ländern gelten die Transfers jedoch nur als Re-Entry in den Arbeitsmarkt. Gleichzeitig fördert der Staat die Häppchen-Bildung. Geringverdienern mangelt es nämlich an diesem Stoff und an der Disziplin, ihn über Monate zu sich zu nehmen. Tageweise können sich Bildungsarme fortbilden. Nicht das Sabbatical ist das Ideal, sondern der kleine Lernerfolg für Zwischendurch.

Eine Gesellschaft, die jahrelanges Studium im Spitzenbereich für lau bietet, Bildungsferne aber sich selbst überlässt, eine Gesellschaft, die mit Sprachverirrungen alle meinen will, aber schon Kinder beim Lernen vergisst, braucht sich nicht zu wundern, wenn Einkommensunterschiede wachsen und nicht schrumpfen. Und wenn in dieser Gesellschaft dann die wenigen Erfolgreichen alle Stillegeprämien zahlen sollen, kann es passieren, dass diese wenigen sich dorthin wenden, wo nicht alle finanzielle Last auf ihnen abgeladen wird.

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  • Kning4711 16. November 2022, 17:46

    An einer Stelle würde ich gerne dem Autor widersprechen – die Rolle des Marktes bei der Gehaltsbildung. Insbesondere im pflegerischen Bereich kommt der Gehaltsbildungsmechanismus an seine Grenzen. Warum: Weil die Beschäftigen von den Arbeitgebern emotional erpresst werden. Ich sage nicht, dass es ein bewusstes Spiel der Arbeitgeber ist, jedoch ist es eine Nebenbedingung, dass den Preisbildungsmechanismus wirksam außer Kraft setzt: Kranken- und Altenpflegende können in der Regel nicht streiken oder für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, da der Ausstieg von der Arbeit buchstäblich lebensbedrohlich ist. Ich kenne viele Arbeitnehmende im Pflegebereich, die aus einem guten Ethos-Gefühl Arbeitsbedingungen erdulden, bei denen andere schon lange weggelaufen wären.
    Hier würde ich mir auch Marktmechanismen wünschen, dass nämlich die Arbeitgeber für diese schlechten Arbeitsbedingungen stärker in Veränderungsverantwortung genommen werden – bspw. durch Rechtsansprüche, und notfalls Judikative Entscheidungen…

    • Stefan Pietsch 16. November 2022, 22:25

      Ich habe ja angeführt, dass Unternehmenserträge sich nicht in allen Bereichen auf Mitarbeiter herunterbrechen lassen. Aber der Markt ist auch für Pfleger entscheidend. Nur, was haben wir dort für einen Markt? Fast 90% der Nachfrage wird von staatseigenen Organisationen ausgeübt, die Tarifverhandlungen werden von den staatlichen Verhandlungsführern dominiert. Es ist ein monopolisierter, vermachteter Markt.

      Dennoch sind die Löhne in den letzten 10 Jahren überdurchschnittlich gestiegen. Und das, obwohl die Argumentationsmuster der Gewerkschaften versagen: Inflation plus Produktivität. Doch nicht nur ist die Produktivität in der Produktivität weit geringer als in anderen Wirtschaftsbereichen. Sie wird auch kaum gesteigert, weil der Staat traditionell wenig investiert, Automatisierungen also keine Bedeutung haben.

      Die Löhne in der Pflege sind also Ausdruck von Marktmacht, nicht vom Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Der Konflikt zwischen Engpässen, Lohnerhöhungen und politischen Forderungen an den Bereich werden durch Arbeitsdruck (vermeintlich) gelöst. Alles logisch und nachvollziehbar. Und: wir wollen es so.

      Gestreikt wird übrigens (fast) ausschließlich in gut verdienenden Unternehmen und Branchen. Arbeitnehmer sind auch keine Selbstmörder. Übrigens: Aussperrungen gibt es in Deutschland seit den Achtzigerjahren praktisch nicht mehr. Denn auch Unternehmer sind keine Selbstmörder.

      • cimourdain 17. November 2022, 08:36

        Im konkreten Fall Pflege ist die Situation etwas anders: Da ist wichtigster Arbeitgeber nicht der Staat, sondern die Kirchen. Und die zahlen inzwischen zwar gut, blockieren mit ihrer Marktmacht aber Tarifverträge. Hier ein Artikel:
        https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-02/pflege-tarifvertrag-loehne-arbeitsbedingungen-arbeitsrechtliche-kommission/komplettansicht

        • Stefan Pietsch 17. November 2022, 10:26

          Mein Punkt ist: es ist von Seiten der Arbeitgeber ein absolut vermachteter Markt. Ähnlich sieht es bei Erziehern aus: Alle Arbeitgeber zahlen ähnlich. Da der Bedarf und damit die Nachfrage nach Erziehern in den vergangenen 15 Jahren stark gestiegen sind, reagieren die Anbieter von Arbeit durch hohe Fluktuation – schließlich können sie sich im Einkommen ja nicht verbessern.

          Ganz anders in Märkten mit vielen Anbietern (Arbeitnehmern) und Nachfragern (Unternehmern): Die Gehälter für die gleiche Arbeit (Logistik, Buchhaltung, Vertrieb) variieren in einer Spanne von oft weit über 100 Prozent, abhängig von Unternehmensgröße, Branche, Profitabilität, Region, Unternehmensleitung. In vom Staat kontrollierten Arbeitsmärkten gibt es das nicht.

  • Thorsten Haupts 17. November 2022, 08:14

    Ich breche die mir bekannte Argumentation des Autors mal auf das ganz einfache, grundlegende, Problem herunter:

    Wenn die Marktlöhne für Erwerbslose gegenüber Sozialleistungen angeblich zu niedrig sind, um ausreichend Druck/Anreize zur Arbeitsaufnahme zu bieten, dann ist die logische Konsequenz, die Stefan P. hier auch implizit zieht, die Sozialleistungen zu senken.

    Verstanden. Wir sehen uns also mal Hartz IV an: 449 Euro/Monat plus die Kostenübernahmen für Krankenversicherung und Miete (warm).

    Und ich hätte jetzt gerne von Herrn Pietsch gewusst, a) auf welchen Satz er das senken will, b) wie er danach mit Leuten umgeht, die trotzdem keine Arbeit finden.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Pietsch 17. November 2022, 11:21

      Der Staat erhöht binnen einen Jahres die Transferleistungen um über 10%, kann sich aber kaum auf die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Erhöhung des steuerlichen Existenzminimums wie der inflationsbedingten Verschiebung des Einkommensteuertarifs einigen. Damit wird jedes Jahr Arbeit unattraktiver gegenüber den Alternativlöhnen des Staates.

      Die Sozialleistungen für eine vierköpfige Familie liegen heute bei zweieinhalbtausend Euro. Um diesen Betrag netto zu erreichen, muss ein Arbeitnehmer ein gutes durchschnittliches Einkommen beziehen. Das ist Millionen Menschen nicht möglich, schon allein aus statistischen Gründen.

      Müssen wir als Staat wirklich damit kalkulieren, dass Millionen (!) Menschen trotz Erwerbsfähigkeit 10 Jahre oder gar nicht arbeiten? Ich denke nein. Und das tut auch fast kein Staat dieser Welt. Selbst in der EU sind die Zahlungen an diese Gruppe oft nicht gegeben. Ansonsten: Asylbewerber erhalten auch nicht den vollen Hartz-IV-Satz und verhungern nicht.

      • Thorsten Haupts 17. November 2022, 12:59

        War alles nicht meine Frage. Die war klar und konkret – auf welche Sätze wollen Sie Sozialleistungen senken? Packen Sie bitte mal Butter an ihre Fische.

        • Stefan Pietsch 17. November 2022, 14:56

          Ich habe auf Ihre Frage geantwortet. Nur, wenn Sie eine rechtswidrige Antwort erwarten, dann kann da nichts kommen. In unserem Rechts- und Verfassungsstaat sind Leistungskürzungen weitgehend ausgeschlossen. Ich kann nicht auf der grünen Wiese argumentieren.

          Der Staat hat aber Ermessensspielräume. So können die verschiedenen Leistungskategorien Bezug für laufende Kosten, Mieten, Mietnebenkosten, Gesundheitsausgaben zu einem Leistungsbezug zusammengezogen werden. Soweit EU-Staaten überhaupt Sozialhilfe zahlen, erfolgt dies anders als in Deutschland fast immer in einem Betrag.

          Hartz-IV war im Ursprung an die Einkommensentwicklung bei den unteren 15% gekoppelt. Dies wurde in den letzten 10 Jahren zunehmend aufgeweicht. Es spricht nichts dagegen streng zu diesem Maßstab zurückzukehren. Durch die prozentuale Erhöhung wäre sichergestellt, dass sich der Abstand zu den niedrigsten Einkommen nicht verkürzen kann.

          • Thorsten Haupts 17. November 2022, 18:46

            Ich habe auf Ihre Frage geantwortet. Nur, wenn Sie eine rechtswidrige Antwort erwarten, dann kann da nichts kommen.

            Sir, das ist a weng feige. Wenn Sozialleistungen aus Ihrer Sicht zu hoch sind, können Sie auch antworten, was Sie für angemessen halten. Eine Antwort (=Meinung) ist übrigens nur dann „rechtswidrig“, wenn Sie zu Mord und Totschlag aufrufen oder Volksverhetzung betreiben, sonst ist sie das nicht.

            Sie sind meiner Frage ausgewichen und tun das hier erneut. Das ist schade, denn im luftleeren Raum argumentiert es sich schlecht.

            Gruss,
            Thorsten Haupts

            • Stefan Pietsch 17. November 2022, 19:16

              Ich halte es von Beginn meines Bloggens an, dass ich nichts verbreite, was ich als rechtlich fragwürdig oder nicht umsetzbar halte. Schade, dass Sie das enttäuscht.

              Aber denken Sie doch mal nach: Ich mache den Vorschlag, die Hartz-IV-Sätze um 20 Prozent zu kürzen. Sie fragen mit ein paar Krokodilstränen, was diejenigen machen sollen, die trotz 20 Jahren Dauermotivation nicht mal zum Straßekehren gut sind. Anschließend kommt einer unserer nicht so dummen Mitkommentatoren und haut mir um die Ohren, dass meine Vorstellungen grob verfassungswidrig seien. Und Sie verteidigen mich mit „ist doch nur eine legitime Meinung“.

              Wo nochmal ist da der Sinn drin?

              • Thorsten Haupts 17. November 2022, 20:53

                Wenn es also keine praktikablen, rechtssicheren, Vorschläge zur Reduktion der Sozialleistungen gibt, war Ihre Beitrag also nur ein nicht zur Diskussion geeigneter, folgenloser, Rant. Versteh ich, muss auch mal sein :-).

                Gruss,
                Thorsten Haupts

                • Stefan Pietsch 17. November 2022, 21:52

                  Ich habe doch Vorschläge gemacht. Nur fragen Sie nach „bitte sofort“. Das wiederum ist in einem Rechtsstaat selten der Fall.

                  Merke: es gibt auch Alternativen, die man nicht auf dem Schirm hat.

  • cimourdain 17. November 2022, 16:59

    Zum Tag der Philosophie eine eher abstrakte Überlegung über die Asymmetrie bei Arbeitsverhältnissen, auf die Sie mich mit dem Filmhinweis vom ersten Teil („In Time“) gebracht haben. Es besteht ein gewichtiger Unterschied in der Betrachtung, was das in einem Arbeitsverhältnis gehandelte Gut ist.

    Für die Arbeitgeberin ist, wie Sie beschrieben haben, die Sachlage klar: Sie möchte – auf Kartoffelmarkt abstrahiert- eine Leistung erwerben, die dazu dient, Mehrwert zu generieren.

    Der Arbeitnehmer verkauft jedoch etwas anderes: seine Lebenszeit. (Für Rechts-Pedanten: Er stellt in diesem Teil seiner Zeit seine Arbeitskraft zur Verfügung) Diese Zeit ist aber insofern ein problematisches Handelsgut, weil es nicht als Überschussgut produziert oder geschöpft werden kann und deshalb (auf Anbieterseite) ein knappes und nicht ersetzbares Gut ist. Folglich müsste es ‚eigentlich‘ ohne gesellschaftlichen Druck oder externe Motivation (Wert der Arbeit an sich) zu keinem Preis handelbar sein. Hier bildet das linksanarchistische Kunstmärchen „Momo“ die Realität besser ab als oben erwähnte kapitalistische Dystopie.

    Und an diesem Punkt möchte ich wieder auf die konkrete Wirklichkeit zurückkommen: Eine externe Motivation glaubwürdig zu präsentieren, gelingt der Gesellschaft unabhängig von der materiellen Druckposition immer weniger. Ich kenne mehrere Personen, die – trotz klar bürgerlichen Wertvorstellungen – in den letzten zwei Jahren das Handtuch geworfen haben und früher in Rente gegangen sind oder einen funktionierenden Betrieb aufgegeben haben. (Stichwort: „Das tu ich mir nicht mehr an.“)

    • Stefan Pietsch 17. November 2022, 19:27

      Das Gut Zeit ist in dem Film „In Time“ eine Analogie, keine Identität. Da liegt der Unterschied.

      Im Fußball würde man sagen, Sie spielen so offensiv, da ist jede Menge grüne Wiese hinter Ihnen. Sie scheinen nicht auf die Verteidigung zu achten. Beginnen wir damit, dass ich keineswegs ein Verfechter einer Bezahlung nach Zeit bin. Wie sonst auch sollten Arbeitnehmer ein Produkt verkaufen, nicht ihre Zeit. Wie lange sie für eine Tätigkeit brauchen, ist doch im Prinzip egal, der Job muss erledigt sein, oder?

      Diese Zeit ist aber insofern ein problematisches Handelsgut, weil es nicht als Überschussgut produziert oder geschöpft werden kann und deshalb (..) ein knappes und nicht ersetzbares Gut ist. Folglich müsste es ‚eigentlich‘ ohne gesellschaftlichen Druck oder externe Motivation (Wert der Arbeit an sich) zu keinem Preis handelbar sein.

      Damit kommen wir zur grünen Wiese. Wie bedenklich ein Argument ist, erkennt man daran, wenn man es ins Extrem treibt. Was wäre denn, wenn niemand es für Wert befinden würde, seine Zeit zu verkaufen, weil, wie Sie nicht völlig falsch schreiben, die Lebenszeit zu kostbar ist um sie mit Arbeit zu verschwenden? Zwei Alternativen bieten sich an: Wir würden verhungern. Dagegen steht der Überlebenswille des Menschen. Oder wir arbeiten alle auf eigene Rechnung, was das Rechtskonstrukt des Arbeitnehmers obsolet macht.

      Alternative 1 zeigt, dass Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten, Schmarotzer der Gemeinschaft sind. Sie beuten die Lebenszeit anderer aus. Alternative 2 stellt Millionen von Menschen vor existenzielle Schwierigkeiten. Sie sind plötzlich für alles selbst verantwortlich, die moderne Arbeitsteilung funktioniert nicht mehr.

      Ihr Gedanke impliziert noch mehr. Wenn Lebenszeit so enorm kostbar ist, dass niemand dazu „gezwungen“ werden dürfe, sie zu verkaufen, bedeutet das auch, dass es moralisch höchst verwerflich ist, das Produkt aus diesem Verkauf einer Besteuerung zu unterwerfen. Schließlich besteuern wir auch nicht den Organverkauf, im Gegenteil, wir verbieten es.

      Wie gesagt, viel grüne Wiese.

      • Thorsten Haupts 17. November 2022, 20:48

        … Alternative 2 …

        ist jetzt selbst theoretisch unmöglich. Nicht bei unserer Bevölkerungsdichte. Ohne kapitalintensive, arbeitsteilige, Produktion schaffen wir mangels Platz nicht mal die Steinzeit …

  • Thorsten Haupts 17. November 2022, 18:56

    Ich kenne mehrere Personen, die – trotz klar bürgerlichen Wertvorstellungen – in den letzten zwei Jahren das Handtuch geworfen haben und früher in Rente gegangen sind oder einen funktionierenden Betrieb aufgegeben haben. (Stichwort: „Das tu ich mir nicht mehr an.“)

    Schön. Das ist nichts anderes als ein Zeichen dafür, dass es uns gut geht. Sollte das weiterhin zunehmen, wird es uns nicht mehr gutgehen und dann nimmt das zwangsläufig wieder ab. Im übrigen ist das mitnichten irgendwie neu, sondern war die Standarderwartung von langjährigen Konzernbeschäftigten, z.B. bei Siemens. Noch in den achtzigern vom Staat ausdrücklich gefördert, um Junge ins Berufsleben zu bringen.

    … ohne gesellschaftlichen Druck
    ROFL. Der Druck ist nicht „gesellschaftlich“, sondern existentiell. Wenn niemand mehr seine Lebenszeit für Geld tauschen will (um bei Ihrer Interpretation zu bleiben), werden wir sterben, und zwar sehr schnell und sehr weit vor unserem natürlichen Lebensende. Wir alle.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

  • cimourdain 19. November 2022, 11:58

    @Stefan Pietsch, Thorsten Haupts
    Danke, dass Sie beide die wichtige offene Flanke (oder ‚grüne Wiese‘) in der Überlegung ansprechen: Es sind nicht nur Individuen, die eine Bedürfnispyramide haben, sondern auch bei Gesamtgesellschaften müssen erst einmal die materiellen Grundlagen stimmen. Und diese können nur durch Arbeit erzeugt werden.
    Und an diesem Punkt war mein letzter Abschnitt eigentlich als Frage gemeint: Wie schafft es eine Gesellschaft, ihre Mitglieder dazu zu motivieren – über die (individuell) materielle Notwendigkeit hinaus. Es geht eben nicht nur um den niedrig bezahlten Paketboten, sondern auch um einen 60-jährigen Anwalt, der weitermacht, obwohl es materiell nich notwendig ist.
    Es gibt Teilantworten. Kning hat die moralische Wertigkeit speziell in der Pflege angesprochen. Die erlernten ‚Sekundärtugenden‘ sind auch ein wichtiger Teil. Am wichtigsten ist jedoch bisher gewesen, dass Arbeit als gesellschaftlicher Wert an sich wahrgenommen wurde. Und das ist eben (persönliche Wahrnehmung) in den letzten paar Jehren weniger stark gegeben. Meine (ergebnisoffene) Frage ist, ob es für diese Gesellschaftsmoral einen Ersatz gibt.

    • Stefan Pietsch 19. November 2022, 19:21

      Es gibt keine perfekte Formation. Jede Mannschaftsaufstellung hat ihre Stärken und Schwächen. Aber die gewählte Aufstellung zeigt die Einstellung des Trainers, seine Handschrift.

      Womit wir vom Fußball zur Politik kommen. Seit wann muss eine Gesellschaft ihre Mitglieder motivieren? Das ist doch ein Widerspruch in sich. Die Gesellschaft sind wir. Und die Mitglieder sind auch wir. Sie fragen also, wie motivieren wir uns selbst? Das werden Sie nicht gemeint haben, aber es ergibt sich aus der Formulierung.

      Unsere Handschrift ist die der Individualrechte. Unsere Verfassung blickt nicht aus der Perspektive der gesamten Gesellschaft auf die Mitglieder, sondern jedes Mitglied ist frei, sich in die Gesellschaft einzufügen – oder alleine zu bleiben. Wenn es jemand schafft, Erwerbsleben und Lebenseinkommen so zu gestalten, dass er sich mit 40 zur Ruhe setzen kann, dann ist das so. Bedenklich ist, wenn wir als Gesellschaft Gemeinschaftsmittel dafür aufbringen, dass er sich früh zur Ruhe setzen kann.

      Ein guter Trainer erkennt die Defizite seiner Mannschaft und wählt Aufstellung und Taktik so, dass sie bestmöglich überdeckt werden. Wenn ich keinen guten Mittelstürmer habe, aber spielstarke Mittelfeldakteure, spiele ich nicht schnell in die Spitze. Unsere Gesellschaft hat eine wachsende Knappheit an Erwerbspersonen. Ist es da sinnvoll, die wenigen für einfachste Tätigkeiten wie Paketbotendienste einzusetzen mit geringen Verdienstmöglichkeiten? Und wie schaffen wir es, allen komplexe Aufgaben übertragen zu können, die sie meistern können?

      Das sind die eigentlich relevanten Fragen. Wir konzentrieren uns noch zu sehr auf das Gegenteil: mehr einfache Arbeit zu schaffen.

      P.S.: Ich schätze Sie außerordentlich, weil Sie sehr klug agieren und Gegenargumente herausfordern. Standardreaktionen passen nicht und genau so macht es sehr viel Spaß nachzudenken.

  • Thorsten Haupts 19. November 2022, 17:33

    Und das ist eben (persönliche Wahrnehmung) in den letzten paar Jehren weniger stark gegeben.

    Ist schon fraglich. Ich bin ja ebenfalls bereits über 60 – und treffe seit 30 Jahren konsistent und konstant mehr oder weniger dieselbe Anzahl von Leuten, die hoch- bzw. weniger motiviert sind (in der Mehrheit Fach- und Führungskräfte im Anlagenbau). Ich teile also Ihre Prämisse nicht.

    Meine (ergebnisoffene) Frage ist, ob es für diese Gesellschaftsmoral einen Ersatz gibt.

    Nein. Sollte das wirklich eintreten, wird Deutschlands Wohlstand – langsam, aber kontinuierlich und unaufhaltsam – abnehmen.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

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