Rezension: Alexander Thiele – Der konstituierte Staat: Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit

Alexander Thiele – Der konstituierte Staat: Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit

Eines der positiven Produkte der Corona-Pandemie war eine Flut von Podcasts, die von Leuten gemacht wurden, die viel zu sagen hatten, aber bis dato das Medium nicht für sich entdeckt hatten. Eine dieser Personen war Alexander Thiele, Verfassungshistoriker an der Universität Göttingen, der angesichts des Lockdowns für seine Studierenden und das interessierte Publikum einen Podcast zur Verfassungsgeschichte der Neuzeit produzierte. Dieser war – völlig zu Recht – sehr erfolgreich, und Thiele tat das, was Wissenschaftler*innen in solchen Fällen immer zu tun pflegen: er machte ein Buch daraus, indem er seine (ohnehin schon druckreifen) Skripte überarbeitete und um einen Fußnotenapparat ergänzte. Das Ergebnis ist ein sehr lesbares Buch zu einem (zumindest aus meiner nerdigen Perspektive) sehr spannenden Thema, das unbedingt empfehlenswert ist.

Thiele beginnt seine Darstellung mit einigen grundlegenden Definitionen von Verfassungen. So sieht er eine ihrer zentralen Funktionen in der Abgrenzung von Herrschaftsrechten, also einer Kontrolle der Regierenden. Als weiteres Merkmal moderner Verfassungen sieht er ihre grundsätzliche Revidierbarkeit, üblicherweise durch einen geregelten Veränderungsprozess. Verfassungen schreiben einen vergangenen Zustand nicht für alle Ewigkeit fest (ein Gedanke, der uns später bei der amerikanischen Revolution wieder begegnen wird). Ein weiteres Merkmal moderner Verfassungen ist die Garantie von Grundrechten. Zuletzt befasst sich Thiele noch mit der Frage der Souveränität im Verfassungsprozess: es ist ein Paradox, dass demokratische Verfassungen eigentlich nie demkratisch zustandekommen, sondern von einer schmalen Elite geschaffen und oktroyiert werden. Ihre demokratische Legitimation erreichen sie üblicherweise nicht durch ihre Verabschiedung, sondern erst hinterher durch Akzeptanz aller gesellschaftlichen Gruppen. Die Legitimation muss also historisch wachsen.

Den Beginn der modernen Verfassungsgeschichte setzt Thiele mit der US-Verfassung, die als erste die obigen Bedinungen erfüllt (deren Willkürlichkeit Thiele übrigens klar ist, nur: irgendeine Definition muss man verwenden). Der Fokus der amerikanischen Verfassungsväter lag klar auf den bürgerlichen Freiheitsrechten. Diese wurden in zwei Richtungen verteidigt: einerseits gegen den Zugriff eines zunehmend als fremd und illegitim empfundenen Staates, andererseits aber gegen Korrekturversuche von unten. Von einer demokratischen Verfassung kann man mithin also nicht sprechen, wie auch die Verfassungsväter immer Wert darauf legten, eben KEINE Demokratie schaffen zu wollen. Das amerikanische Verfassungsprojekt war von Anfang an konservativ und auf die Beschränkung des Staates gerichtet.

Das ist gut daran erkennbar, dass zu Anfang auch keine Grundrechte enthalten waren, weil die Verfassungsväter verhindern wollten, dass ihre beherrschende gesellschaftliche Stellung durch diese eingeschränkt werden könnte. Erst die Verabschiedung der ersten zehn Amendments sorgte also dafür, dass die US-Verfassung als moderne Verfassung angesehen werden kann. Neben den Grundrechten ebenfalls hochumstritten war die Veränderbarkeit: das Problem, dass die Generation der Verfassungsväter zukünftige Generationen nicht an ihre Vision binden konnte, war ihnen allen bewusst. Man diskutierte lange über ein Verfallsdatum nach 15 oder 30 Jahren, nach dem eine neue Verfassung hätte ausgearbeitet werden müssen; aus praktischen Gründen entschied man sich stattdessen dann dafür, den Amendment-Prozess einzuführen, der seither eigentlich alle modernen Verfassungen auszeichnet.

Es ist gegen diese Folie der einschränkenden und konservativ-abwehrenden US-Verfassung, vor der Thiele die französischen Verfassungen der Revolutionszeit setzt. Ihre bleibende Wirkung war, universale Menschenrechte direkt an den Beginn des Dokuments zu setzen und einen umfassenden Auftrag und Anspruch des Staats zu ihrer Durchsetzung zu formulieren. Das Scheitern der Revolution und ihre Rückabwicklung von der Terrorherrschaft erst zum Direktorat, dann zu Napoleons Diktatur lässt Thiele eine These formulieren, die sich wie ein Roter Faden durch das Buch zieht: zu demokratische Prozesse führen meist nicht zu mehr Demokratie, sondern schnell zu Diktatur. Belastbar sind tatsächlich eher von Eliten aufoktroyierte Verfassungen, die dann ihre Legitimation über Zeit erhalten und sich demokratisieren. Dieser skeptische Blick auf Revolutionen ist derzeit stark im Aufwind und begegnet uns etwa in der Demokratieforschung Hedwig Richters ebenfalls.

Thiele ist auch deutlich darin, dass der Sonderfall der europäischen Verfassungsgeschichte nicht Deutschland ist, sondern Großbritannien. Als einziger moderner westlicher Staat verfügt das Vereinigte Königreich über kein schriftliches Verfassungsdokument. Thiele erklärt dies damit, dass es in Großbritannien dank eines kontinuierlichen (wenngleich langsamen) Entwicklungsprozesses hin zu einer Ermächtigung des Bürgertums niemals genug Unzufriedenheit für eine Revolution gab. Auch eine eine Fremdherrschaft existierte nie, weswegen in Großbritannien nie ein radikaler Bruch stattfand, der ein zentrales Dokument erfordert hätte. Gerade angesichts des Brexits steht dies aber in Großbritannien mehr und mehr in Frage, und es bleibt offen, ob die Briten in Zukunft nicht diesen Sonderweg aufgeben und ebenfalls eine geschriebene Verfassung annehmen werden.

Nach diesen Grundlagen im angelsächsischen und französischen Bereich wendet sich Thiele umfassend der deutschen Verfassungstradition zu. Diese lässt er mit dem Kampf gegen Napoleon und der Formierung des Deutschen Bunds 1815 beginnen. Die Verabschiedung von Verfassungen war eines der zentralen Ziele der entstehenden Nationalbewegung (neben der Schaffung eines Zentralstaats), und sie wurde besonders in den süddeutschen Staaten auch früh erreicht, die sich in diesen Jahren konstitutionalisierten. Demgegenüber weigerte sich Österreich beharrlich, eine Haltung, der sich bald auch Preußen anschloss. Metternich nutzte den Deutschen Bund, dessen Machtdynamik Thiele als mit der UNO vergleichbar beschreibt, um den Konstitutionalismus zurückzudrängen.

Es gelang ihm zwar nicht, die süddeutschen Staaten gänzlich zur Aufgabe ihrer Verfassungen zu bewegen (im Gegenteil, Bayern gab sich eine, um sich, in typischem Partikularismus, dem Einfluss Metternichs zu entziehen). Aber die Karlsbader Beschlüsse von 1819 schufen ein extrem repressives Klima, gegen das zwar immer wieder aufbegehrt wurde – das Hin und Her von liberalen Forderungen und konservativer Reaktion prägte den gesamten Vormärz -, das aber bis 1848 weitgehend Bestand hatte. Der Reformdruck in Preußen, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Hand in Hand mit dem Konstitutionalismus ging, löste sich von diesem: unter dem Druck der politischen Verhältnisse erfüllten Hardenberg und die anderen Reformer zwar viele liberale Wünsche für die Ausgestaltung des Wirtschaftslebens, enthielten aber sowohl die nationale als auch die konstitutionelle Perspektive vor, die ein Desiderat der Liberalen blieb und diesen eine große Einheit und anhaltende Popularität bescherte.

An dieser Situation änderte die Julirevolution in Frankreich 1830 erstaunlich wenig. Es gab, anders als 1789, kein Überschwappen nach Deutschland, was Thiele vorrangig darauf zurückführt, dass trotz aller Repression die Situation erträglich war – noch hatte die Industrielle Revolution in Deutschland nicht Fuß gefasst, die Soziale Frage war noch nicht drängend. Ähnlich sieht es auch in Frankreich aus, wo die Revolution ebenfalls eher Episode blieb und die Monarchie nicht grundsätzlich angriff.

1848 dagegen sah die Lage anders aus. Thiele betont stark die Änderung der der sozialen Situation – die Lebensverhältnisse hatten sich durch Urbanisierung, technologischen Wandel und unmenschliche Bedingungen in den Fabriken massiv verschlechtert -, die einen großen Veränderungsdruck geschaffen hatte, der mit liberalen Wünschen ein Bündnis einging. Noch allerdings waren die Menschen tief im Honoratiorensystem verwurzelt; bei den Wahlen zum Vorparlament etwa siegten vorrangig hervorgehobene liberale Persönlichkeiten moderater oder konservativer Einstellung (bereits das Paulskirchenparlament war dann deutlich demokratischer aufgestellt, Resultat eines Radikalisierungsprozesses).

Das Scheitern der Revolution führt Thiele hauptsächlich auf die Einzelstaaten zurück. Die Revolutionäre hatten die doppelte Herausforderung, nicht nur bestehende Systeme umwerfen beziehungsweise reformieren zu müssen – was angesichts monarchischer Doppelspiele und der fehlenden Kontrolle der Paulskirche über das Militär ohnehin praktisch unmöglich war; Thiele stellt klar fest, dass die Monarchen dank ihrer Entschlossenheit, die Revolution mit dem Militär niederzuschlagen, kaum zu besiegen waren – sondern auch, ein Territorium zu konstituieren. Dieses aber hätte naturgemäß die Einzelstaaten entmachtet, und diese, nicht so sehr der preußische König, blockierten die Schaffung eines deutschen Nationalstaats.

Abschließend kommt Thiele zu dem Ergebnis, dass die Paulskirchenverfassung typisch für ihre Zeit war, indem sie einen Dualismus zwischen einer monarchischen Exekutive einerseits und einer liberalen Legislative andererseits konstruierte. Beide Gewalten arbeiteten nicht zusammen, sondern standen sich als Antagonisten gegenüber. Auch begründete 1848 nicht das Volk die Verfassung, sondern eine Elute. Diese Konstruktion wird besonders an der preußischen Verfassung von 1850 sichtbar, deren entsprechende Anlagen dann von Bismarck auf Spitze getrieben werden. Thiele ist es aber wichtig hervorzuheben, dass das für das Europa jener Zeit typisch war; die Sonderwegsthese lehnt er also auch hier entschieden ab.

An dieser Stelle bietet er zudem einige Ausblicke auf den Verfassungs- und Nationasbildungsprozess in Italien, Lateinamerika und Kanada. Er konstatiert Deutschland sehr ähnliche Prozesse in Italien, wo eine kriegerische Einigung durch einen Hegemonialteilstaat erfolgte, der dann die Verfassung oktroyierte. Diese blieb formal bis 1949 in Kraft, war aber eigentlich spätestens seit Mussolinis Machtübernahme (über die Antonio Scurati hervorragend schrieb) Makulatur. Auffällig ist die Orientierung an bestehenden Vorbildern auch bei den im 19. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit erreichenden Staaten Lateinamerikas, die weitgehend Verfassungen nach dem amerikanischen Modell übernahmen (mit, sagen wir, eher gemischten Ergebnissen). Zuletzt betrachtet er Kanada, das schrittweise mehr Autonomie bekam, wodurch die Fehler im Umgang mit den späteren USA vermieden wurden und Kanada bis heute enge Bindungen zu Großbritannien behält.

Thieles Darstellungen zum deutschen Einigungsprozess sind wenig spektakulär und fassen vor allem die bekannten Vorgänge zusammen. Auch seine Analyse der Verfassung des Kaiserreichs enthält keine Überraschungen, die man nicht bereits bei Oliver Haardt und Hedwig Richter gelesen hätte. Das macht das Kapitel nicht schlecht. Die Herausbildung eines Ministerialsystems, gegen das Bismarck sich lang gestemmt hatte, gehört seither zur deutschen Verfassungswirklichkeit, ebenso wie die starke Stellung des Kanzlers oder der föderale Staatsaufbau (den natürlich die Paulskirchenverfassung bereits vorweggenommen hatte). Das größte Problem bleibt der Antagonismus zwischen Exekutive und Legislative, der sich aber im Verlauf des Kaiserreichs immer mehr abschmirgelte und spätestens 1917 zu einer Art parlamentarischer Verantwortlichkeit führte, die im Oktober 1918 dann auch formalisiert wurde – für jene kaum vier Wochen, in denen das Reich eine konstitutionelle Monarchie wurde, das große „was wäre wenn“ der deutschen Verfassungsgeschichte.

Ähnlich sieht es auch bei der Betrachtung der Weimarer Reichsverfassung aus, die wohl bekannteste deutsche Verfassung überhaupt (was die Analyse angeht). Thiele macht deutlich, dass es sich um keine schlechte Verfassung handelte. Die Legende, wonach Konstruktionsfehler in der Weimarer Verfassung ausschlaggebend für den Untergang der Republik waren, führt er vor allem auf eigennützige Narrative der frühen Bundesrepublik zurück, die sich einerseits in Abgrenzung zu Weimar legitimierte und andererseits versuchte, die Schuld an Hitler von den eigenen Eliten abzuschieben. Thieles Zerstörung einiger Mythen, die sich wahnsinnig hartnäckig halten, ist sehr willkommen. Dazu gehört auch die angeblich fehlende Verbindlichkeit des Grundrechtekatalogs.

Im Zusammenhang mit Hitlers „Machtergreifung“ befasst er sich vor allem mit der Legalitätsfrage. Um es kurz zu machen: die Präsidialkabinette, vor allem aber Hitlers Kanzlerschaft, waren verfassungswidrig und illegal. Der oft wiederholte Mythos, dass sie im Rahmen der Weimarer Reichsverfassung abgelaufen wären – was gerne als Beleg für ihre Konstruktionsfehler hergenommen wird – ist einfach nicht zu halten.

Wenig überraschend daher konstatiert Thiele für die NS-Zeit eine Auflösung des konstituierten Staats; die NS-Diktatur existiere IN einer Verfassung, HATTE aber keine. Mit Ernst Fraenkel spricht er von dem „Doppelstaat“ aus Maßnahmen- und Normenstaat: zwar existierte letzterer grundsätzlich weiter, lag aber immer unter dem Zugriff des extralegalen Maßnahmenstaats, der jede Verfasstheit ad absurdum führte. Dem Zusammenbruch 1945 ging somit ein längerer Zerfallsprozess jeder verfassungsmäßigen Ordnung voraus, in dem sich die deutsche Staatsrechtslehre nicht unbedingt glänzend positionierte.

Nach dem Krieg entstanden zwei deutsche Staaten. Beide bekamen Verfassungen, aber beide Verfassungen wurden, einmal mehr, aufoktroyiert. Dem Grundgesetz hat das genausowenig geschadet wie die mangelnde Souveränität Deutschlands bis 1990; für die DDR dagegen wird man kaum von einer Verfassung in den etablierten Normen sprechen können. Das Selbstverständnis als „sozialistische Demokratie“ machte freie Wahlen ebenso unmöglich wie Gewaltenteilung. Das Konzept einer Opposition war auch ein Widerspruch in sich, akzeptiert man die Prämisse der DDR als Vertretung des gesamten Volkes. Grundrechte, so macht Thiele klar, gab es in der DDR nur für das Kollektiv, und da dieses durch den Staat vertreten wurde, konnte dieser schrankenlos walten. Auch die Zentralisierung der DDR einerseits und er föderale Aufbau der BRD andererseits zeigen deutlich, dass Autokraten und Bundesstaaten nicht zusammengehen, was Thiele Anlass für einen Aufruf zu mehr Begeisterung für den Förderalismus nimmt.

Bezüglich des Grundgesetzes betont Thiele einerseits eben jenen Föderalismus, weist aber andererseits auf die recht niedrigen Hürden von Verfassungsänderungen hin. Von Schuldenbremse bis Förderalismusreform wurde das Grundgesetz häufig, und allzu oft unnötig, geändert. Der politische Spielraum in Deutschland ist deswegen relativ klein, woran auch das Bundesverfassungsgericht nicht unerheblich Anteil hat; ich habe das hier im Blog auch bereits diskutiert.

Zuletzt noch ein kurzer Verweis auf die EU: ihr spricht Thiele, wenig überraschend, jede Verfassungsmäßigkeit ab. Er übernimmt stattdessen den Begriff des StaatenVERbunds. Es ist möglich, dass sich daraus in Zukunft noch ein Staatenbund entwickeln wird, der dann auch eine eigene Verfassung besitzt; aktuell sieht es nicht so aus, als würde das passieren. Dies delegitimiert die EU nicht, ist aber für das Verständnis der Geschehnisse wichtig.

Abschließend sei noch einmal die absolute Empfehlung für den Band wiederholt, mit der ich die Rezension begonnen habe.

{ 18 comments… add one }
  • Tim 5. Juli 2022, 09:31

    Danke für die Rezension, klingt sehr spannend!

    Eine kleine Korrektur:
    Auch eine eine Fremdherrschaft existierte nie, weswegen in Großbritannien nie ein radikaler Bruch stattfand

    Es gab in Großbritannien durchaus eine Fremdherrschaft und einen Bruch, nämlich nach der erfolgreichen Invasion Wilhelm von Oraniens 1688 im Zuge der europäischen Religionswirren:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Glorious_Revolution#Die_Revolution_von_1688/1689

    Das wird in Großbritannien nur deshalb nicht als Fremdherrschaft betrachtet, weil sie sowohl in der Bevölkerung als auch in Teilen der Herrschaftselite erwünscht war.

    Man kann sagen: Die Briten betrachten die Invasion 1688 nicht als Invasion, weil sie erfolgreich war. Geschichte ist immer die Geschichte der Gewinner. 🙂

    • Stefan Sasse 5. Juli 2022, 12:15

      Das war ja eine Invasion auf Einladung. Das zählt nicht.

      • Tim 5. Juli 2022, 12:44

        Ah, verstehe. Dann war also auch die russische Invasion Afghanistans keine. Oder die amerikanische Unterstützung für Südvietnam. Oder oder oder. 🙂

        • Stefan Sasse 5. Juli 2022, 14:44

          Wenn ich mich nicht täusche, ging dem sowjetischen Einmarsch ein sowjetischer Putsch voraus. Aber ja, die US-Unterstützung Südvietnams ist keine Invasion.

      • cimourdain 5. Juli 2022, 13:40

        Zählt die ‚Glorious Revolution‘ davor auch nicht als Revolution ? „dass es in Großbritannien […] niemals genug Unzufriedenheit für eine Revolution gab“

  • Tim 5. Juli 2022, 09:34

    die NS-Diktatur existiere IN einer Verfassung, HATTE aber keine. Mit Ernst Fraenkel spricht er von dem „Doppelstaat“ aus Maßnahmen- und Normenstaat: zwar existierte letzterer grundsätzlich weiter, lag aber immer unter dem Zugriff des extralegalen Maßnahmenstaats, der jede Verfasstheit ad absurdum führte.

    Witzig, das erinnert mich irgendwie an Leninismus und die heutige Situation Chinas: Die KPCh ist keine Partei in China, sondern hält sich China als Staat. 🙂

  • Detlef Schulze 5. Juli 2022, 10:20

    Es ist ein Problem der Geschichtswissenschaften, dass man Ideen und theoretische Modelle nicht mit hinreichend Daten belegen oder widerlegen kann. Solche Ideen wie, dass Verfassungssysteme stabiler sind wenn sie konservativ ausgerichtet sind oder dass foederale Staaten stabiler sind, sind zwar glaubhaft aber sicher nicht durch Empirie belegt.

    Das ist gut daran erkennbar, dass zu Anfang auch keine Grundrechte enthalten waren, weil die Verfassungsväter verhindern wollten, dass ihre beherrschende gesellschaftliche Stellung durch diese eingeschränkt werden könnte.

    War das wirklich so? Die Grundrechts-Zusaetze wurden in der ersten Sitzung des Kongresses vorgeschlagen. Mir scheint, die urspruengliche Verfassung wurde geschrieben um Ordnung und Organisation erstmal herzustellen. Die USA waren ja bis dahin nichts mehr als eine Ansammlung von 13 autonomen Gebieten die nur dadurch geeint waren, dass sie gemeinsam die Unabhaengigkeit von England erkaempft hatten .

    […] für die DDR dagegen wird man kaum von einer Verfassung in den etablierten Normen sprechen können. Das Selbstverständnis als „sozialistische Demokratie“ machte freie Wahlen ebenso unmöglich wie Gewaltenteilung. Das Konzept einer Opposition war auch ein Widerspruch in sich, akzeptiert man die Prämisse der DDR als Vertretung des gesamten Volkes.

    Ich kenne die DDR-Verfassung nicht, denke aber, dass das Problem vielmehr die Kontrolle des Staates durch die UdSSR war, also fehlende Souverenitaet. Es war recht egal, was in der Verfassung stand. Falls die Regierung eine Opposition geduldet haette, die Besatzer haetten es nicht (sie Juni-Aufstaende 1953). Es ist auch bezeichnend, dass es eine neue Verfassung 1974 gab, die „in volle Übereinstimmung mit der Wirklichkeit“ gebracht wurde. Offensichtlich hat man es nicht geschafft ( gewollt), die eigene Verfassung durchzusetzen.

    Auch die Zentralisierung der DDR einerseits und er föderale Aufbau der BRD andererseits zeigen deutlich, dass Autokraten und Bundesstaaten nicht zusammengehen, was Thiele Anlass für einen Aufruf zu mehr Begeisterung für den Förderalismus nimmt.

    Das kling eigentlich ueberzeugend. Vor allem wenn man Frankreich und die USA bezueglich ihrer Stabilitaet vergleicht. Wenn man sicher aber dann Deutschland (vor 1871), die UdSSR oder auch das heutige Russland anschaut, hat man Beispiele, wo Autokratie und Foederalismus offensichtlich kein Widerspruch sind. Tschetschenien ist ein autokrater Staat in einem autokraten Foederalstaat.

    • Stefan Sasse 5. Juli 2022, 14:43

      Der Mangel an Empirie ist genauso wie die Unmöglichkeit vergleichender Experimente natürlich eine Schwachstelle der ganzen Wissenschaft, klar. Das liegt halt in der Natur der Sache.

      Ich bin in den Details nicht 100% firm, aber mein Stand ist, dass ursprünglich beschlossen wurde, die Grundrechte NICHT zu verabschieden, und das bewusst und nicht als ein „lass das später nachholen“, aber dass die Debatte sich sehr schnell gedreht hat. Die Argumentation war glaube ich, dass die Gegner sagten, die Grundrechte zu verabschieden hieße implizit dem Bundesstaat zuzugestehen, dass er sie nehmen könnte. Aber diese Logik ist Unfug, und das ging denen auch schnell auf.

      Die Verfassungsänderungen 1968 und 1974 taten zwei Dinge: den Föderalismus abschaffen (soweit er als Feigenblatt noch existierte), vor allem die kommunale Selbstverwaltung, und die Rolle der SED und der „Freundschaft zur Sowjetunion“ verfassungsrechtlich zu verankern. Was die Souveränität angeht: klar, die UdSSR machte da klare Vorgaben, keine Frage. Aber du kannst keine stalinistische Diktatur mit Pluralismus haben, Besatzungsmacht hin oder her.

      Gute Punkte, da bin ich überfragt.

  • cimourdain 5. Juli 2022, 14:10

    Ich weiß nicht, ob es an deiner Besprechung liegt, aber es sind mir einige Ungenauigkeiten und Verallgemeinerungen (Recht und Geschichte leben – so ganz anders als andere Wissensgebiete – von Ausnahmen und Spezialfällen) aufgefallen:

    a) Schon in der Definition vernachlässigt er den zentralen funktionalen Aspekt einer Verfassung, dass sie die Zuständigkeiten und Interaktionen der Staatsorgane (zu denen ich auch die Bürger zähle) regelt. Alles weitere sind Extras.
    b) Der andere vernachlässigte Aspekt ist die herausgehobene Stellung im Rechtssystem, weswegen viele ‚moderne‘ Staaten eigene Verfassungsgerichtsbarkeit und erschwerte Änderungsbedingungen haben (Amendments a la USA sind da nur ein Spezialfall)
    c) Grundrechte sind in diesem Rahmen eben kein must-have, sondern können in eigenen Dokumenten (z.B. in Frankreich oder USA) erklärt werden. Auch die EU (oder eigentlich der Europarat) sind diesen Weg gegangen (EuMRK) mit einem eigenen Menschenrechtsgerichtshof.
    d) Beim Entstehungsprozess setzt Thiele die kleine Gruppe einer verfassungsgebenden Versammlung mit einer schmalen Elite gleich. In der Moderne werden diese aber im Metagame als Vertreter verschiedener Interessengruppen besetzt. Das beginnt beim korporatistisch besetzten Konvent für den österreichischen Staatsvertrag und ist gerade in Chile zu beobachten, wo nicht nur Standes- und Regionalvertreter, sondern auch verschiedene indigene Gruppen mitreden. Inzwischen wird auch das ‚Endprodukt fast immer direktdemokratisch legitimiert ( Beispiele der letzten Jahre: Thailand, Kuba, Ägypten).

    e) [Ab jetzt historische Details] Es wäre nett gewesen, wenn die ‚aufgeklärten‘ Verfassungen Korsikas und Schwedens erwähnt werden, die der US-Verfassung vorausgehen. ( Kuriosität: Im Rahmen der Ukraine-Hintergrundberichte habe ich gelesen, dass sich der Saporoger Sitsch bereits Anfang des 18.Jahrhunderts eine protodemokratische Verfassung gegeben hat. Ob es stimmt, kann ich nicht sagen, aber es klingt cool)
    f) Die bayerische Verfassung (1819) war keine Reaktion auf Metternich, sondern eine Fortentwicklung der Montgelas-Verfassung von 1809.
    g) Die Unruhen im Gefolge der Julirevolution 1830 hatten immerhin neue Verfassungen in Hessen und Sachsen zur Folge.
    h) Die Einigung Italiens ging nur bedingt von einer Hegemonialmacht aus. Eher könnte man von einem Wettrennen zwischen Piemont-Savoyen (Cavour, konstitutionelle Monarchie) und Neapel-Sizilien (Garibaldi, populistische Diktatur) sprechen. Nur der Kriegsmüdigkeit ist geschuldet, dass diese Entwicklung nicht im Bürgerkrieg geendet ist.
    i) Die drei (!) Verfassungen der DDR enthielten auch individuelle Bürgerrechte. Der Unterschied war ein anderer: Zum einen waren diese nicht einklagbar. Zum anderen war bei allen dem Staat explizit die Möglichkeit vorbehalten, sie einzuschränken. (Diese Möglichkeit hat der Staat auch in freiheitlichen Verfassungen, sie müssen aber -siehe b) – von unabhängigen Gerichten abgesegnet werden.)

    Fazit: Es drängt sich mir der Verdacht auf, dass Thiele mittels einer ‚Sharpshooter-Fallacy‘ sein Idealbild der ‚liberalen‘ Verfassung (unzulässig?) verabsolutiert.

    • Stefan Sasse 5. Juli 2022, 14:49

      Ich muss zwangsläufig zusammenfassen und verallgemeinern, sonst würde ich das Buch ja nochmal schreiben; dazu will ich nie ausschließen, etwas falsch verstanden oder erinnert zu haben. Im Zweifel ist es meine Schuld.

      a) Klar, aber das tut die DDR-Verfassung auch. Ihm ging es um neuzeitlich-westliche Verfassungen.

      b) Ne, davon spricht er, das habe ich ja mit der Revidierbarkeit anklingen lassen. Er unterscheidet auch verschiedene Methoden der Verfassungsänderung; ist in manchen Staaten ja wesentlich leichter als in anderen.

      c) Korrekt, nur irgendwo müssen sie halt vorhanden und einklagbar sein.

      d) Ich würde sagen, die Jury berät noch, ob das Erfolg haben wird.

      e) Weiß ich ehrlich gesagt auch gar nichts drüber. Aber Thiele hat auch keinen Vollständigkeitsanspruch, das ist ein Einsteigerwerk.

      f) Schließt sich ja nicht aus! Mag auch sein, dass ich das zu sehr pauschalisiert habe und die Reaktion auf Metternich nur für bestimmte Teile galt; das müsste ich nochmal genauer nachlesen.

      g) True.

      h) Danke für die Info. Nicht mein Spezialgebiet.

      i) Ja genau, das meinte er mit „gelten für das kollektiv“. Wenn sie nicht einklagbar sind, dann sind sie nicht individuell.

      Wahr ist natürlich, dass er die liberale Verfassung auf eine gewisse Art einengt und idealisiert, aber das gibt er offen bereits im Vorwort zu.

  • Dennis 6. Juli 2022, 00:03

    Klingt alles ganz überzeugend, allerdings nur bis Weimar^.

    Zitat:
    „Die Legende, wonach Konstruktionsfehler in der Weimarer Verfassung ausschlaggebend für den Untergang der Republik waren, führt er vor allem auf eigennützige Narrative der frühen Bundesrepublik zurück, die sich einerseits in Abgrenzung zu Weimar legitimierte…“
     
    Wenn Letzteres so war, war das in vielerlei Hinsicht keineswegs eine schlechte Idee.

    „…und andererseits versuchte, die Schuld an Hitler von den eigenen Eliten abzuschieben“

    Hmm, wessen eigene Eliten eigentlich? Das einfache Volk interessiert sich weitgehend nicht für verfassungsrechtliche Debatten. Es ist ja an anderer Stelle ganz richtig davon die Rede, dass das eh die Eliten unter sich ausmachen um erst anschließend die da unten sozusagen einzuladen, die es dann aber nicht zu dolle treiben dürfen, weil das zur Diktatur führe, in die die Doofen da unten wg. Unmündigkeit ggf. reinstolpern. Also ist die Einladung womöglich nur scheinbar, eine Art dirty trick? Die Verfassung als wohlwollende Führungsaufsicht in netter Form, statt wie weiland herkömmlich verfassungsfrei in brutaler Form? Ein weites Feld^.

    Zitat:
    „Thieles Zerstörung einiger Mythen, die sich wahnsinnig hartnäckig halten, ist sehr willkommen.“

    Es kann auch so gehen: Man behauptet von gewissen Sachverhalten, dass es sich um Mythen handeln würde, und „zerstört“ diese sodann. Noch besser: Man erfindet den Mythos gleich selbst. Die „Legende“, dass die WRV „ausschlaggebend“ für das Desaster gewesen wäre, vertritt kein Mensch ernsthaft. Weimar war ein Mängelwesen in vielerlei Hinsicht. Die Mängel in der Verfassung gehörten dazu.

    Zitat:
    „Thiele macht deutlich, dass es sich um keine schlechte Verfassung handelte.“

    Doch! Das Ding war war mangelhaft. Aber diese Debatte hatten wir schon mal an anderer Stelle. Warum ist der Parlamentarische Rat anno 48/49 überhaupt auf die Idee gekommen, viele wichtige Dinge wesentlich anders zu regeln? Das hatte Gründe, und zwar berechtigte.

    Zitat: 
    „Um es kurz zu machen: die Präsidialkabinette, vor allem aber Hitlers Kanzlerschaft, waren verfassungswidrig und illegal.“

    Kann man so sehen. allerdings handelt es sich bei „verfassungswidrig“ und „illegal“ um politische Kampfbegriffe. „Verfassungsgemäß“ wäre hier nicht weniger gültig. Es muss jemanden, respektive eine Institution geben, deren Meinung diesbezüglich rechtlich verbindlich und sozusagen vollstreckungsfähig ist, also einen Hüter in Form eines entsprechend abgerichteten Hundes, der kein Streicheltier ist. Das gab es in Weimar schon mal nicht, deswegen geht „verfassungswidrig“ ins Leere.

    Wie dem auch sei, der Art. 48 ist nicht mythologisch zu verstehen. Es gab ihn tatsächlich^ – mit erheblicher Schadensbilanz, obzwar Art. 48-Gesetze vom Reichstag aufgehoben werden konnten. Hat die mit Abstand relativ größte Fraktion SPD im Falle des Haushaltsgesetzes Brünings („Präsidialkabinett“) 1930 auch gemacht; mit einer interessanten Mehrheit aus SPD, NSDAP, KPD und DNVP. Das war nur mäßig klug, aber verfassungsgemäß wie desgleichen auch die Neuwahlen, die der Ersatzkaiser selbstherrlich und verfassungsgemäß ansetzen konnte, was auch in diesem Fall erwartungsgemäß geschah und was sich für die SPD nicht sonderlich gelohnt hat^. Und so weiter, wie bekannt. Da ist überhaupt nichts „Verfassungswidriges“. „Widrig“ war die Verfassung selbst.

    Davon abgesehen ist im Übrigen das nicht zu umgehende Problem aller Verfassungen die Auslegung. Häßlicherweise ergibt sich diese keineswegs einfach so von selbst und irgendjemand schreit immer „verfassungswidrig“, womöglich auch nicht ohne Grund, aber wessen Gründe sind die besten?. Die WRV war u.a. deswegen naiv, indem sie zu extensiven bzw. überspannten Auslegungen geradezu eingeladen hat.

    Zitat in Sachen EU:
    „Er übernimmt stattdessen den Begriff des StaatenVERbunds. Es ist möglich, dass sich daraus in Zukunft noch ein Staatenbund entwickeln wird, der dann auch eine eigene Verfassung besitzt;“

    Das ist bekanntlich bereits gescheitert und das wäre dann ein Bundesstaat und kein Staatenbund, der unstrittig bereits besteht. „Staatenverbund“ hat das BverfG erfunden, um zum Ausdruck zu bringen, dass es sich wg. Maastricht um einen Staatenbund mit gewissen Aspekten eines Bundesstaates handelt; irgendwas dazwischen halt. Der nächste Schritt auf der Leiter wäre dann, wie gesagt, „Bundesstaat“, angepeilt durch die so genannte „immer engere Union“ (Maastricht-Präambel).

    Ob diese Schritte nach oben oder nach unten gehen, ist die große Streitfrage^. Ist aber egal, denn das kommt sowieso nicht.

    • Stefan Sasse 6. Juli 2022, 06:51

      Was meinst du mit der schlechten Idee?

      Ich weiß nicht, was du mir mit den Eliten sagen willst 😀

      Die Verfassung als einen der Hauptschuldigen auszumachen ist leider Standard.

      Agree to disagree.

      „Verfassungswidrig“ ist auch ein politischer Kampfbegriff, sicherlich, aber das haben mittlerweile Generationen von Rechtswissenschaftler*innen so gesehen. Deine Argumentation geht ansonsten weitgehend in die Irre: zwar nutzte Hindenburg Artikel 48, aber er nutzte ihn nicht verfassungsgemäß. Das ist wie wenn ich heute den Verteidigungsfall ausrufe, um als Kanzler Sonderbefugnisse zu kriegen. Das ist dann auch „verfassungsgemäß“, aber halt verfassungswidrig.

      EU: Ja, klar, kein Widerspruch?

  • Lemmy Caution 8. Juli 2022, 23:18

    Ich will mir den Podcast sehr, sehr gerne anhören. Problem ist, dass ich dabei aktuell sehr schnell einschlafe. Auch nicht schlecht, weil in meinem Alter und der aktuellen Arbeitsbelastung Schlaf meist einen Mangel-Faktor darstellt.
    Spezielles Interesse, weil in Lateinamerika in den letzten Jahren ja eine Menge neue Verfassungen geschrieben (Ecuador, Venezuela, aktuell Chile) wurden. Beliebt war die Erweiterung klassischer Menschenrechte um noch weiterer „sozialer Rechte“ (z.B. Recht auf menschenwürdiges Wohnen). Allerdings sind diese Rechte praktisch wertlos, weil nicht einklagbar. Meine Meinung: Verfassungen sollten schlank sein und Sozialgesetzgebung gehört in den normalen Gesetzgebungsprozess.
    In der aktuellen verfassungsgebenden Versammlung Chiles gabs extra Wahllisten für Indigene. Außerdem herrschte während der Wahl zu den Vertretern dieser Versammlung der vibe, dass man nicht-Experten eine Chance geben wollte. Nun ist das 388 (!) Artikel Konvulut fertig. Anfang September gibts ein Referendum. Zur Zeit liegen die Ablehner deutlich vorne. In deutschen Medien wurde der Prozess z.T. sehr positiv bewertet, allerdings reicht in Chile selbst die Ablehnerfront inzwischen weit in das mitte-links Meinungsspektrum und die gemäßigten Verteidiger vertreten die Position: Ich mag den Text nicht, aber er ist demokratisch entstanden und die letzte – vielfach geänderte – Verfassung entstand unter Pinochet. Also stimme ich zu.
    Von einem Teil der Lateinamerikanischen Linken werden Verfassungen als eine Art strategische Position im politischen Kampf gesehen, von der aus man zukünftige politische Entwicklungen massiv beeinflussen kann. Intelektuell berufen die sich teilweise explizit auf Ideen von Carl Schmitt. All das funktioniert aus meiner Sicht nicht. Carl Schmitt erscheint mir inzwischen als sowas wie ein weiterer deutscher Polemiker (nach Karl Marx), dessen Rezeption Entwicklung auf diesem Planeten schadet.
    Das andere gut wirkende Schlafmittel in meinem Leben sind übrigens Vorträge über die Gedankenwelt von Carl Schmitt auf youtube.

    • Stefan Sasse 9. Juli 2022, 13:31

      Ich bin kein Carl-Schmitt-Experte, aber von dem würde ich mich nicht leiten lassen wollen…

      Danke für die Infos zu Chile. Soziale Grundrechte gehören in die Verfassung; die genaue Ausgestaltung in den Gesetzgebungsprozess. Ich hab mich hier schon oft genug darüber beklagt, was alles für BS ins GG kommt. Von Schuldenbremse zu Sondervermögen; was ein Schmarrn.

      • Lemmy Caution 9. Juli 2022, 16:39

        In Lateinamerika reden *alle* Politiker lechts wie rinks in hochtönenden Pathos von den Rechten der Armen und Unterdrückten. In dieser Verfassung erweitert man das im ähnlichen Stil auf Tiere, Pflanzen und Gewässer. Ich bin total für Arme, Lamas, Huemule, Pumas, Araukanien-Wälder, saubere Gewässer, keine Algenplagen im Meer etc. etc., aber dafür ist die Verfassung nicht der richtige Ort sondern Gesetze und v.a. deren effektiven Umsetzung. Der ganze verfassungsgebende Prozess ist sehr aus dem Ruder gelaufen.
        Für mich funktioniert Politik auf dem Weg eines mühseeligen gesellschaftlichen Kompromisses, nicht über Kampf um Dominanz. Ich mag Carl Schmitts Ideen überhaupt nicht. Die Liste derjenigen, die sich ausdrücklich von dem inspirieren lassen, ist allerdings erstaunlich lang. China, Moskowien, Peronisten, Fernando Atria als einflussreicher progressiver chilenischer Ideologe.
        Am meisten habe ich über Karl Marx aus Gareth Stedman Jones Biographie gelernt. Versuchs jetzt mit der Carl Schmitt Biographie von Reinhard Mehring.

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