Johannes Burkhardt – Deutsche Geschichte in der frühen Neuzeit
Nachdem Anfang des Jahres meine eigenen Wissenslücken im Bereich Frühe Neuzeit schonungslos aufgedeckt wurden, fühlte ich mich hinreichend motiviert, sie zumindest rudimentär zu füllen. Die Reihe C. H. Beck Wissen ist glaube ich allen Geschichtsstudierenden hinreichend bekannt; die um 120 Seiten dünnen Büchlein verstehen sich als Überblicksdarstellungen und Einführungen in ein jeweiliges Thema. Sie sind allerdings von Historiker*innen für ein zumindest stark interessiertes Laienpublikum, eher aber für ein Fachpublikum geschrieben, was sich an der voraussetzungsreichen Struktur und der stark verdichteten Sprache zeigt. Darin ist Burkhards „Deutsche Geschichte der Frühen Neuzeit“ keine Ausnahme. Das ist kein Kritikpunkt; ich will nur verdeutlichen, dass sich um keine leichte Lektüre für nebenher oder gar eine mit unterhaltsamen Narrativen und steilen Thesen handelt. Der Anspruch ist eher, den aktuellen Stand der Forschung wiederzugeben.
Damit genug der Vorrede. Johannes Burkhardt beschreibt grob die Zeit von der Erfindung des Buchdrucks zum Ende des Siebenjährigen Krieges. Diese Einteilung ist intuitiv sinnvoll; der Buchdruck stellt eine „Medienrevolution“ (Burkhardt) dar, die einen offensichtlichen Bruch mit der Zeit vorher darstellt. Für Burkhardt ist die Frühe Neuzeit in Deutschland vor allem von drei Entwicklungsdynamiken geprägt:
1) Die erwähnte Medienrevolution. Der Buchdruck macht Bücher wesentlich bezahlbarer, als sie das vorher waren, und erlaubt auch die Verbreitung von billigen Periodika und Flugschriften. Allerdings macht Burkhardt für das Ende des 15. Jahrhunderts eine Flaute auf dem literarischen Markt aus: effektiv ist alles „ausgedruckt“, was gelesen werden konnte. Es fehlt das Angebot, das eine größere Nachfrage stimulieren könnte; die Nachfrage gleichzeitig fehlt, weil es keinen großen Grund gibt, die Alphabetisierung weiter voranzutreiben.
2) Dieses Problem wird mit einem Schlag durch die Reformation gelöst. Plötzlich werden Streitschriften und Flugblätter noch und nöcher gedruckt, und der Druck von Bibeln sorgt für einen gigantischen Absatz. Die Reformation steht daher im Zentrum der „Medienrevolution“, und religiöse Texte werden für über 150 Jahre das Hauptprodukt des Marktes und einer sich rapide beschleunigenden Alphabetisierung. Dies hat natürlich nicht nur positive Auswirkungen; die Reformation sorgt auch für politische Krisen und Religionskriege.
3) Politisch macht Burkhardt, und das ist die wohl innovativste These des Buchs, eine starke Föderalisierung des Deutschen Reichs aus, die er dezidiert als modern und Fundament des heutigen deutschen Föderalismus‘ begreift. Anstatt wie frühere Historiker*innen die Schwächen des Deutschen Reichs auszumachen und es vor allem defizitär zu begreifen, streicht er die hohe Effizienz föderaler Entscheidungsstrukturen, den immerwährenden Reichstag, die funktionierenden Verteidigungsstrukturen und die Verrechtlichung der Beziehungen heraus.
Alle diese Punkte verdienen eine etwas nähere Betrachtung.
Was die Medienrevolution betrifft, war die Bedeutung der Reformation für den Buchdruck vermutlich den meisten Lesenden bereits geläufig; die Luther-Bibel hat hierfür ja fast mystischen Status (wenngleich Burkhardt betont, dass es sehr viele deutsche Übersetzungen gab und Luthers bei weitem keine monopolistische Stellung besaß). Spannend fand ich die Rolle von Flugblättern. Man sollte historische Analogien nie zu weit treiben, aber sie waren quasi das, was die sozialen Medien für den Diskurs heute sind: eine schnelle, vergängliche Quelle von Informationen, Propaganda und Memes.
Durch die verbreiteten Flugblätter wurde ein nie dagewesener Anteil der Bevölkerung aktiv in die politisch-religiösen (das ließ sich ja nicht trennen) der Zeit einbezogen, mit nicht nur positiven Folgen. Die Konflikte, die aus der Reformation erfolgten, waren brutale Religionskriege, wie sie vorher – und glücklicherweise seitdem – in Europa nicht mehr vorkamen.
Die neuen Medien spielten auch für die Entwicklung des Föderalismus eine große Rolle, weil Protokolle und politische Standpunkte leichter geteilt werden konnten. Die Gruppe, die solche Druckerzeugnisse las, war natürlich verschwindend klein, aber es wurde eine Art elitäre Gruppe geschaffen, innerhalb derer wesentlich mehr Informationen wesentlich schneller ausgetauscht wurden als im Mittelalter; eine Entwicklung, auf der dann das entstehende Bürgertum später aufbauen konnte.
Aber zurück zur Reformation. Die Religionskriege sind das beherrschende Element der Frühen Neuzeit. Ein erster Versuch der Lösung wurde im Augsburger Religionsfrieden 1555 getroffen, als man sich auf die Formel „wessen Land, dessen Bekenntnis“ einigte. Dieser Kompromiss hielt zwar ziemlich lange, löste aber das darunterliegende Problem nicht: beide Seiten waren fundamental der Überzeugung, dass die andere nicht legitim war und erledigt werden musste.
In diesem Rahmen weist Burkhardt auf die Bedeutung des Universalismus hin: In Europa herrschte immer noch der Anspruch einzelner Monarchen vor, die gesamte Christenheit als ein Oberhaupt zu regieren – in Nachfolge der römischen Kaiser. Diese Idee, so Burkhardt, animierte nicht nur die Habsburger, die das mit Karl V. auf den Höhepunkt trieben, sondern auch die Schweden und deren Eingreifen in den Dreißigjährigen Krieg, das so eine ganz neue Schlagseite bekommt, und die französischen Könige, für deren Attacken etwa auf die Pfalz oder Intervention in denselben Krieg dasselbe gilt.
Dieser Universalismus fand im Dreißigjährigen Krieg für die Habsburger und Schweden ihr Ende, woraufhin die Franzosen einen Versuch unternahmen, dieses Erbe anzutreten. Die Niederlage der Türken vor Wien aber rettete die Habsburger, während die Franzosen nicht in der Lage waren, das Reich zu dominieren. Die im Westfälischen Frieden kodifzierte Staatenbildung führte somit im Verlauf der Frühen Neuzeit zur Akzeptanz eines Europa der Nationalstaaten, das die kommenden Jahrhunderte bis in unsere Tage bestimmen sollte.
Burkhardt setzt das Deutsche Reich nicht als eine Besonderheit unter diesen Nationalstaaten heraus, das in Tradition früherer Geschichtserzählungen nicht in der Lage war, diesen Nationalstaat zu bilden, sondern erkennt es als ebenso moderne Staatsbildung an, die hoch effektiv war. Ich habe mit dieser These meine größten Probleme, weil das Reich zwar durchaus effektiver war als sein arg ramponierter Ruf, es aber mit den ständigen Zentrifugalkräften durch bayrischen und preußischen Separatismus und die erfolglosen Dominanzversuche Wiens nie vollständig Staat werden konnte und der Föderalismus zwar viele Konflikte einhegen und kanalisieren konnte, aber von einer effektiven Regierung doch weit entfernt ist. Hier scheint mir Burkhardt die Kontinuität zu weit zu treiben, retrospektiv zu sehr von heutigen Gegebenheiten auszugehen scheint.
Besonders auffällig wird dies bei Friedrich dem Großen. Seine Kriege kontextualisiert Burkhardt vor allem als Kriege gegen das Reich, die dessen Strukturen ins Mark bedrohen, und seine Politik nach Ende des Siebenjährigen Krieges als eine zum reformierten Reichspolitiker und Föderalisten. Mir fehlt hier einmal mehr die Fachkenntnis, um das abschließend beurteilen zu können, aber mir riecht das stark nach einer überpointierten These. Einschlägiger belesene Kommentator*innen mögen gerne ihre Urteile beisteuern.
Ich ertrage es einfach nicht mehr, dass der kriegslüsterne Friedrich II. weiterhin überall „der Große“ genannt wird, während sein friedlicher Vater für alle der „Soldatenkönig“ ist.
Diese Geschichtsverzerrung muss irgendwann einmal aufhören.
Falls es dich beruhigt, der Mann rutscht langsam aber sicher in den Orkus des Vergessens. In den Bildungsplänen kommt er effektiv überhaupt nicht vor; wenn, dann nur im Kontext des „aufgeklärten Absolutismus“ als „unter anderem“.
Das sind erfreuliche Nachrichten. Hätte nie gedacht, dass ich Deplatforming mal gut finde. 🙂
Grosse Leute werden nun einmal zu Recht gross genannt. Ich hatte zu der Bezeichnung einen heftigen Streit mit meinem linken Geschichtslehrer in der Oberstufe (der absolut fair blieb, soviel zur Ehrenrettung von Lehrern).
Aber die Einordnung von Friedrich des Grossen Kriegen als reichsfeindlich sind dennoch höherer Blödsinn – soweit ich weiss, kam in seinen überlieferten Überlegungen das „Reich“ als Machtfaktor völlig zu Recht überhaupt nicht mehr vor.
Gruss,
Thorsten Haupts
Eben. Er hat Zehntausende Menschen aus Eigennutz in den Tod geschickt. „Groß“ ist das ganz gewiss nicht. „Friedrich der Schlächter“ wäre angemessen.
Kein Eigennutz, Preussens Nutzen. Und das ist selbst in einer Erbmonarchie nicht dasselbe!
Er ist halt „groß“, weil er Kriege gewonnen und Preußen als Großmacht etabliert hat. Das kann man gut finden oder auch nicht. ^^
Bin zu wenig Experte, um seine Einstellung zum Reich beurteilen zu können. Reichsfeindlich waren seine Kriege auf jeden Fall; sie richteten sich ja gegen Sachsen und Österreich und damit gegen Träger des Reiches. Das ist ja wohl unbestreitbar. Ob Friedrich das gekratzt hat, sei mal dahingestellt.
Er war „gross“ nach den Masstäben seiner Zeit. Andere kann und sollte man nicht anlegen, wenn man historisch argumentiert, aber das bleibt natürlich jedem selbst überlassen.
Und er war „gross“ für mich, weil sein Testament beweist, das er sich über die Lächerlichkeit und Vergeblichkeit seiner Anstrngungen im historischen Verlauf der Welt voll bewusst war.
Gruss,
Thorsten Haupts
Klar, das bestreite ich ja nicht. Ob wir das weiterhin unkritisch verwenden sollten, ist aber eine berechtigte Frage.
Den gibt’s immer noch? In welcher Auflage?
Ich habe hier immer noch die Ausgabe aus den 80ern, die ich 1991 zum Beginn des Studiums gekauft (und gelesen) habe.
Ja, das sind diese Studienbücher. Ich muss auch ehrlich sagen, ich konnte mit denen nie richtig viel anfangen. Für Einsteigende sind sie zu dicht und voraussetzungsreich; wer sich bereits auskennt, hat im Endeffekt nur noch mal einen 120-Seiten-Spickzettel.
Die These vom effektiven nation building sehe ich nicht wirklich. Die Wurzel des Problems ist doch die gescheiterte Reichsreform 1495. Davon blieb effektiv nur das Reichskammergericht übrig (und der Namenszusatz nationis Germanicae für das HRR). Der Landfrieden hat über die nächsten 300 Jahre nicht funktioniert, wie du selber schreibst. Die Bundessteuer ‚gemeiner Pfennig‘ wurde bald wieder abgeschafft (nachdem sie die Eidgenossen aus dem Reich vergrätzt hatte und zumindest dort für ‚Nation Building‘ gesorgt hat). Und die gemeinsame Außenpolitik war auch ziemlich bald perdu, man kann böse sagen, dass der ‚Sacco di Roma‘ von den Türkenkriegen abgesehen die letzte gemeinsame Militäroperation des Reiches war.
Das erfolgreiche ‚Nation Building‘ fand hingegen in den Teilstaaten statt, die nicht eigene Verwaltungs- und Wirtschaftsstrukturen bildeten, sondern auch souveränes Regierungshandeln. (Das siehst du an den Strukturen der Bundesländer bis heute)
Nimm das Beispiel (Alt-)Bayern, dessen politisches lavieren du unter Separatismus verkürzt. Dabei ist wichtig, dass es im betrachteten Zeitraum im Zentrum des Reiches lag und nicht an der Peripherie. Anfang des 16.Jh noch im Bürgerkrieg (Landshuter Erbfolgekrieg) wurde es im 16.Jh. zu einem wirtschaftlichen Zentrum. Bei dem Wechselspiel von Reformation und vor allem Gegenreformation war es ein Hauptschauplatz, aber im 30-jährigen Krieg klar an der Seite des Reiches (Tilly), was mit dem Elektorat belohnt wurde. Ferdinand Maria (mit dem schönen Beinamen ‚der Friedliebende‘) schloss ein Verteidigungsbündnis mit Frankreich, widerstand aber dem Drängen Mazarins und unterstütze stattdessen die Habsburger. Der kaiserlichen Truppenaushebung im Spanischen Erbfolgekrieg folgten mehrere Volksaufstände (Motto ‚lieber bairisch steam (sterben) als kaiserlich vadeam (verderben)‘) mit Bildung des ersten egalitären Parlaments (Landesdefensionskongress). Das Ganze wurde (natürlich) von dem Reich mit vernichtender Brutalität niedergeschlagen (Sendlinger Mordweihnacht). Später, im Siebenjährigen Krieg wiederum war Bayern zwar pflichtgemäß kaisertreu, aber schloss bei erster Gelegenheit einen Waffenstillstand mit Preußen. Du siehst, ein ständiges hin- und her mit der ständigen Tendenz, mehr an Souveränität als Teilstaat zu erlangen. Das kulminiert dann in den Bogenhausener Verträgen, wo Napoleon Bayern zum Königreich macht und ihm Franken zuschlägt.
Burkhardt bewertet all diese von dir korrekt genannten Phänomen wesentlich positiver. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Aber vielen Dank für deine Kontextualisierungen.
Burkhardt bewertet all diese von dir korrekt genannten Phänomen wesentlich positiver.
Yup, die deutsche Lust an der Selbstverzwergung ist ja mitnichten erst nach dem zweiten Weltkrieg entstanden, sie ist nur da erst – wieder – dominant geworden.
Eigentlich ist Deutschland für das Bewusstsein der Mehrheit seiner Bewohner viel zu gross – die Schweiz wäre eine angemessene Grösse (und ist eh das Rollenvorbild).
Gruss,
Thorsten Haupts
Sicher richtig.