Rezension: Flix – Faust. Der Tragödie erster Teil

Flix – Faust. Der Tragödie erster Teil

Ein Graphic Novel bei Reclam? Da kann es sich ja praktisch nur um Hochkultur handeln! Über eine Fortbildung wurde ich auf diese vor rund zehn Jahren erschienene Comic-Adaption des recht unbekannten Dramas Faust des Nischenautors Johann Goethe aufmerksam, der aus unerfindlichen Gründen gerade wieder einmal im Abitur besprochen wird. Aber Scherz beiseite, Comicadapationen (gerne mit dem bildungsbürgerlich tauglicheren Label „Graphic Novel“ versehen, das in den meisten Fällen ungefähr so berechtigt ist wie „Premium“ auf den Discounter-Eigenmarken) literarischer Klassiker gibt es zuhauf. Die Zielgruppe sind vermutlich wohlmeinende Verwandte und Lehrkräfte, in der irrigen Hoffnung, dass ein Comic den Nachwuchs eher zur klassischen Literatur bewegen möge. Meist handelt es sich dabei um kaum mehr als illustrierte Ausgaben, deren Text zufällig in Sprechblasen drapiert wurde („Wer die Nachtigall stört“ wäre da so ein Kandidat, den ich auch im Regal stehen habe). So die gute Nachricht vorweg: diesen Vorwurf muss sich Flix mit seiner Faust-Adaption nicht machen lassen.

Stattdessen haben wir es hier mit einer eher losen Adaptio zu tun, bei der Faust ein Berliner Künstler ist, der zusammen mit seinem Freund Wagner in einer Mietskaserne lebt und undefiniert unglücklich ist. Zum Glück schließen der christliche Gott und Mephisto auf Arbeit zwischen zwei Ramazotti eine Wette darüber ab, ob Mephisto Faust dazu bringen kann, auf Abwege zu geraten (nicht, dass es mit seiner Treue zu Gottes ohnehin kleiner Stammkundschaft weit her wäre). Nachdem sie aussortieren, dass Gott Faust nicht einfach töten darf, um seine Seele Mephistos Zugriff zu entziehen (clever!), schließt Mephisto sein Bündnis mit Faust, der sein Glück kaum glauben kann: eine Woche lang erfüllt ihm Mephisto jeden Wunsch, ganz kostenlos. Und Faust wollte schon immer die Deutsch-Türkin Margarethe aus dem Gemüseladen gegenüber in die Arme schließen.

Was Flix hier versucht, ist eine Modernisierung des Stoffes, einerseits. Andererseits versucht er eine witzige Geschichte zu erzählen. Und zuletzt soll das Ganze wohl auch Aufschluss über das Deutschland des 21. Jahrhunderts geben, irgendwie.

Die Modernisierung des Stoffes können wir getrost abhaken. Flix nutzt Faust eigentlich nur als Zitate- und Anspielungswiese, damit die einschlägig gebildete Lesendenschaft wissend nicken oder gepflegt lachen kann, wenn die entsprechenden Zitate kommen („Habe doch nun, ach, Türkisch studiert, durchaus mit heißem Bemühn…“), was zwar gelegentlich für ein Schmunzeln sorgt (Punkte für das Ziel einer witzigen Geschichte), aber mit dem Ursprungsstoff wenig zu tun hat. Klar, Gott und Mephisto schließen eine Wette, aber deren Inhalt hat mit dem Original praktisch nichts zu tun. Zwar erlebt Faust mit Mephisto irgendwelche Abenteuer, aber diese sind bestenfalls „based on true events“ und abgesehen von Zitaten und ästhetischen Parallelen mit der Originalhandlung kaum identisch. Auch die Figuren von Wagner (zu ihm gleich mehr) und Margarethe haben mir ihren Originalen effektiv nichts zu tun; der Versuch, den Handlungsstrang der Gretchentragödie umzusetzen, schlägt völlig fehl und endet in völligem cringe, wie die Jugend heute angeblich zu sagen pflegt.

Die gesamte Handlung ist daher erkennbar an Faust angelehnt, weil die Charaktere die entsprechenden Namen tragen und sich hin und wieder willkürlich einige direkte Zitate aus dem Originaltext an den Kopf werfen, aber sie entkernt sie praktisch völlig. Das ist nachvollziehbar, ist doch die spezifische Verankerung derselben im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert gerade eine der Hauptschwierigkeiten, die Schülr*innen im Umgang mit der Lektüre haben. Das Wertesystem, das der gesamten Gretchentragödie zugrunde liegt, ist uns vollkommen fremd; jeder Modernisierungsversuch muss scheitern. Flix‘ Ansatz, das Ganze in den Deutsch-Türkischen Kontext zu verlagern, macht das nur noch schlimmer. Ja, dass Sex vor der Ehe in diesem Kontext ein größeres Problem darstellt als für den Westberliner Faust macht das Ganze zumindest grundsätzlich logischer, aber es ist dafür voll rassistisch-stereotyper Seitenhiebe (inklusive Zwangsheirat Gretchens mit dem unattraktiven türkischen Cousin, den sie nicht kennt), dass man bei der Lektüre schmerzhaft das Gesicht verzieht.

Viel davon hat mit dem Humor zu tun. Gretchens Mutter etwa verdient ihren Lebensunterhalt damit, das im Großmarkt gekaufte Gemüse mit Bio-Labeln zu bekleben („die Deutschen kaufen alles, wo Bio draufsteht“). Sie verbietet Gretchen das Ausgehen und kontrolliert ständig, ob sie einen Freund hat, ist aber gleichzeitig wie Gretchen selbst (die sie ständig „Özlem“ nennt, weil sie sich ihren Namen nicht merken kann(!!!)) religiös total liberal und weltoffen, um einen Kontrast zu setzen. Dadurch geht aber die komplette Dimension der bürgerlichen Welt und Moral verloren, ebenso wie Kirchenfrömmigkeit, die Gretchen und ihre Mutter ausmachte und die, Stichwort Gretchenfrage, ein zentraler Bestandteil des Dramas sind. Ohne diese Voraussetzungen kann die Gretchentragödie nicht funktionieren. Was macht Flix also? Die Mutter stirbt, weil sie einen Herzinfarkt bekommt, als sie zufällig sieht, wie sich Gretchen (Özlem) und Faust küssen. Bei der Beerdigung rutscht Gretchens Bruder Valentin auf einer Pfandflasche aus und stirbt, weil er sich den Kopf am Grabstein der Mutter aufschlägt. Die Geschmacklosigkeit kennt keine Grenzen.

Wer glaubt, schlimmer als diese Ladung von Islamklischees geht es nicht mehr, muss sich nur Wagner anschauen. Der ist schwarz (weil progressive Werte, nehme ich an) und sitzt im Rollstuhl. Außerdem hat er einen Pudel (intertextuelle Anspielung in 3, 2, 1, …). Wagner macht Faust permanent ein schlechtes Gewissen und lässt sich von ihm durch die Gegend schieben und fahren und benimmt sich generell wie der hinterletzte Mensch, als wolle er die Prämisse des „Toten Hosen“-Songs, dass auch lesbische schwarze Behinderte ätzend sein können, Seite um Seite belegen. Zwischendurch wird Wagner von Mephisto komplett geheilt und verschwindet dadurch als dramatisches Element weitgehend aus der Geschichte.

Das macht aber nicht viel aus, weil die Geschichte selbst nur ein dünner Vorwand ist, um eine Reihe von Gags aneinanderzureihen, die mal mehr, mal besser funktionieren. Allzu oft funktionieren diese nach Motto von Mario Barth („Kennste, kennste?“) und bestehen kaum mehr aus Anspielungen auf „dieses Ding, das du anderswoher kennst“, nach dem leider inzwischen auch ein Großteil der Disney-Produktionen funktioniert. In dem Sinne ist Flix geradezu avantgardistisch. Besser macht das den Band leider nicht. Das generell eher flache Niveau der Gags verhindert daher auch Aussagekraft und Biss. Über die moderne Bundesrepublik wird hier wenig ausgesagt (stattdessen ist die workplace comedy der Szenen im Himmel mit den Ramazottis und langen Pausen eher Boomer-Humor, der merkwürdig deplatziert wirkt).

Was bleibt also? Für den Unterricht ist der Comic (und nein, es ist kein graphic novel) bestenfalls dafür zu gebrauchen, die Schüler*innen erkennen zu lassen, dass Intertextualität noch keine Adaption macht und ihr Verständnis für die Motive und Strukturen des Dramas zu schärfen, indem sie ihre Abwesenheit in der Umsetzung bemerken. Wer das Drama nicht gut kennt, wird auch keine Freude haben, weil die meisten Anspielungen noch flacher aufklatschen als ohnehin. Relevant scheint mir das Ding nur für Leute zu sein, die gerne politisch unkorrekten Humor der harmlosen Sorte mögen, sich bildungsbürgerliche Meriten wenigstens einbilden und die alt genug sind, die abgestandene Chose nicht als solche zu empfinden. Ich bin, falls man das nicht bemerkt hat, kein Fan.

{ 19 comments… add one }
  • Tim 14. April 2022, 10:27

    Danke für den lustigen Verriss. Ich kenne diesen Flix-Band nicht, aber das kommt mir alles sehr vertraut vor. Klassische Vorlagen sind ein durchsichtiger Marketingtrick, um im Comic-Genre auch mal andere Zielgruppen zu erreichen. Leider wird dabei oft vergessen, dass klassische Geschichten meist viel weniger Komplexität und Dramatik mitbringen als heutige. Ein Gehirn fühlt sich im 21. Jahrhundert damit schnell unterfordert. Und Unterstützung durch Brandnames wie Goethe haben Comics nun wirklich nicht nötig. Für mich wirkt sowas immer wie eine Hilfeschrei nach kultureller Relevanz. Und daher leider oft ein wenig albern.

    Ein Gegenbeispiel ist etwa Martin Rowsons Adaption von „Tristram Shandy“:
    https://www.amazon.de/Opinions-Tristram-Shandy-Laurence-Sterne/dp/1906838135

    Eine ziemlich durchgeknallte Darstellung einer Geschichte, die ja auch selbst total gaga ist. Man kann keine Narration im eigentlichen Sinne erwarten, aber es ist ein Band, den man nie vergessen wird.

    • Stefan Sasse 14. April 2022, 12:27

      Es ist ein guter Punkt mit der fehlenden Komplexität und Dramatik. Ein Großteil der Literatur erzählt ja sehr bewusst keine interessante Geschichte; der Plot lässt sich meist in zwei Sätzen zusammenfassen (denk mal z.B. an den Steppenwolf).

      • Tim 14. April 2022, 12:50

        Die größte Fallhöhe zwischen Feuilletongejubel und tatsächlicher Banalität gibt es bei diesem dicken Ding:

        https://www.amazon.de/Horcynus-Orca-Roman-Stefano-DArrigo/dp/3100153375

        Absolute Empfehlung, wenn Du Dich mal wochenlang so richtig bestrafen möchtest. 🙂

        • schejtan 14. April 2022, 13:09

          Ich bring da mal Moby Dick ins Spiel.

        • cimourdain 14. April 2022, 16:24

          Hier zwei Klassiker der hochgelobt-banalen Moderne:
          Handke: „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“
          Kundera: „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“

      • cimourdain 14. April 2022, 15:57

        Dann bist du beim Steppenwolf wirklich gut. Wikipedia benötigt dafür 12 Absätze und ein Figurendiagramm.
        Bei der Kurzdarstellung: „In dem Roman erleben die Protagonisten Harry und Hermine an einem magischen Ort märchenhafte Abenteuer.“ könnte Verwechslungsgefahr bestehen 😉 .

        • Stefan Sasse 14. April 2022, 18:31

          Jetzt mal ernsthaft: Mittfünfziger Harry Haller glaubt, an einer einzigartigen Zerrissenheit seiner Seele zu leiden und spielt mit Selbstmordgedanken, als er Hermine kennenlernt, die verspricht, ihn aus der selbstverschuldeten Dichothomie zwischen asozialen Steppenwolf und geordnetem Bürgerleben zu befreien. Harry begibt sich auf eine Selbstfindungsreise, an deren Ende er im Magischen Theater mit den Facetten seiner Persönlichkeit und seinen Irrtümern konfrontiert wird. Zwei Sätze.

        • derwaechter 14. April 2022, 19:14

          Ein böser Zauberer will die Weltherrschaft an sich reissen und benötigt dafür einen magischen Ring. Sein auserwählter Gegenspieler hat diesen Ring und macht sich mit ausgewählten Gefährten verschiedener Völker auf den Weg, die Welt durch Zerstörung ebendieses Rings in einem Vulkan, zu retten.

          Kann man nicht so gut wie alle Plots so auf zwei Sätze verkürzen?

          • Stefan Sasse 14. April 2022, 22:24

            Klar, nur dass ich in dem Fall sehr viel Plot weglasse, während beim Steppenwolf einfach nicht viel passiert. Das ist auch keine Kritik, das ist nur eine Feststellung. Diese Geschichten basieren alle nicht auf Plot, sondern auf Ideen, Motiven und so weiter.

  • cimourdain 14. April 2022, 13:01

    Ein paar Ergänzungen habe ich zu deiner Kritik:
    1) Den Seite 0-Gag hast du in deiner Besprechung (unfreiwillig?) mit übernommen: Die Herausgeber-Mimikry, mit der der Carlsen-Verlag seine Publikation als Reclam-Produkt tarnt.
    2) Man sieht es am Zeichenstil, wie viel mehr Flix sich bei Cartoons (egal ob 1-Panel oder Comicstrip) wohl fühlt. Das erklärt ein wenig die zu schnellen, flachen Gags die sich nicht so recht in die Erzählung einfügen. (etwas woran imho. auch die Comics von Brösel oder Ralf König kranken, Walter Moers ist da eine Ausnahme)
    3) Das Buch ist sowieso schon etwas vom Zeitgeist überholt (2009) und beruht auch noch auf Flix‘ „Who the Fuck is Faust“ von 1998, gewissermaßen seinem ‚Urfaust‘. Damals, prä-Flüchtlingskrise bzw. sogar prä-9/11 hatten politisch unkorrekte Comics einen ganz anderen Charakter.
    4) Meta: Wann liest du eigentlich all die Bücher. Es scheint mir, du wolltest das Klischee vom unterbeschäftigten Lehrer bestätigen 😉 .

    • Stefan Sasse 14. April 2022, 18:24

      1) Tatsächlich, ja. 😀 War mir nicht klar.
      2) Mit Werner konnte ich nie was anfangen. – Deine These macht Sinn für mich!
      3) Ja, total! Es ist krass, wie schnell der Scheiß dated ist. 3
      4) Ich mache nie Feierabend. Das ist das Geheimnis. Ich habe keine Trennung zwischen Berufs- und Privatleben. Ich kommuniziere mit Schüler*innen Sonntags um 22.30 Uhr, ich bin auf einer Fortbildung und lese dann das Material, das dort empfohlen wird. Die Rezension ist Verarbeitung. Heute ist mein erster Ferientag, ich habe korrigiert, ich habe Schüler*innen geantwortet, ich habe begonnen ein Buch über Deutsch-Fachdidaktik zu lesen. Die historischen Bücher, die ich lese, haben direkte Rückkopplung auf meinen Geschichtsunterricht. Meine Anwesenheit auf Twitter und bei politischen Themen hier im Blog macht mich zu einem besseren Politiklehrer. Und so weiter. Alles ist miteinander verbunden. Lehrer ist nicht mein Job, es ist mein Leben. Das ist alles.

      • Tim 14. April 2022, 19:03

        Wow! Was für ein Statement (ich meine 4). Ich wünschte, auch nur einer meiner Lehrer hätte damals wenigstens die Hälfte Deiner Berufsbegeisterung mitgebracht. Freut mich sehr für Deine Schüler. Chapeau!

  • Dobkeratops 15. April 2022, 09:19

    Ich mochte Flix’ autobiographische Frühwerke („Held“ und „Sag was“) sehr, habe ihn aber nach „Mädchen“, das schon deutlich schwächer war, irgendwie aus den Augen verloren. Anscheinend habe ich nichts verpasst.

    Klassikermodernisierungen gehen mit einer solchen Regelmäßigkeit in die Hose, dass man sich fragen muss, warum es immer wieder jemand für eine gute Idee hält, eine anzugehen.

    Als besonders krasses Beispiel ist mir da z.B. der Film „Mitte Ende August“ in Erinnerung geblieben, der trotz des hervorragenden Casts an den Wahlverwandtschaften scheitert und daraus ein quälendes und fremdschaminduzierendes Fest der Langeweile macht.
    Und das nachdem Regisseur Sebastian Schipper vorher zwei der besten deutschen Filme überhaupt abgeliefert hatte („Absolute Giganten“ und „Ein Freund von mir“).

    Vielleicht liegt es einfach daran, dass vieles, das als Klassiker gilt, diesen Status nicht hat, weil es besonders gut ist, sondern weil es alt ist und schon für jede Generation zum Schulstoff gehörte.

    • Stefan Sasse 15. April 2022, 11:39

      Das gleiche gilt übrigens für Literaturverfilmungen. Die werden glaube ich auch nur gemacht, weil man darauf bauen kann, dass massenhaft Klassen ins Kino gehen. Sind praktisch immer scheiße bis bedeutungslos, aber nie gut.

      • Kning4711 15. April 2022, 21:14

        Das Parfum von 2006 war ne sehr brauchbare Verfilmung, zudem gibt es ein paar gute Verfilmungen von Shakespeare von Kenneth Branagh. Aber in Summe ist auch viel Mist dabei…

        • Stefan Sasse 16. April 2022, 13:13

          Ich hab das Parfüm weder gelesen noch gesehen, kann daher das nicht kommentieren. Shakespeare gibt es tatsächlich gute Verfilmungen; der aktuelle MacBeth wäre da ein Beispiel.

  • Thorsten Haupts 15. April 2022, 22:04

    … gute Verfilmungen von Shakespeare von Kenneth Branagh.

    Was nun bei Theaterstücken kein Kunststück ist :-).

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