Wenn die Rede auf das so genannte Nation Building kommt – also der Versuch, als Besatzungsmacht einen demokratischen Staat aufzubauen – wird gerne auf die positiven Beispiele der Bundesrepublik Deutschland nach 1945/49 und Japan 1945/46 verwiesen. Länder, die die Welt mit Krieg überzogen und mörderische Regime hervorgebracht hatten, verwandelten sich in stabile Demokratien, die eine tiefe pazifistische Grundeinstellung hegten und den Pazifismus sogar in der Verfassung verankerten, nachdem sie beide zuvor als Inkarnationen des Militarismus gegolten hatten: hier das Erbe des preußischen Militärstaats, dort das Erbe von bushido und den Samurai. Gerne wird dann darauf verwiesen, dass die Besatzungstruppen hier Jahrzehnte im Land blieben beziehungsweise immer noch da sind, um auf den großen Zeithorizont des Nation Building zu verweisen. Dieser Vergleich führt aber aus mehreren Gründen in die Irre und ist wenig dazu angetan, irgendwelche Lektionen für Mali, Afghanistan, Irak oder andere solche Staaten zu bieten.
Das beginnt bereits direkt bei den Fakten. Die Besatzungszeit war jeweils nicht besonders lang: in Japan endete sie bereits 1952, in Deutschland vor allem aus außenpolitischen Gründen 1955 (ohne die französischen innenpolitischen Hindernisse wäre das Ende ansonsten eher 1953/54 erfolgt). Die Vorbehaltsrechte der Alliierten, die ein Eingreifen gegen einen möglichen rechten oder linken Putschversuch gestatteten, endeten 1968 mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze und waren zu diesem Zeitpunkt bereits seit über einem Jahrzehnt ein Relikt, auf dessen Abschaffung die Alliierten selbst wesentlich energischer drängten als die Deutschen, die im innenpolitischen Streit die Verabschiedung von Notstandsgesetzen über zehn Jahre verzögerten.
Seither sind die alliierten Truppen – und das bedeutet, abgesehen von kleinen Pro-Forma-Kontingenten, sowohl im deutschen als auch im japanischen Fall vorrangig US-Truppen – als Freunde im Land. Die Basen, die sie nutzen, wurden ihnen in bilateralen Verträgen überlassen, in denen alle Details von der Einfuhr der Amazon.com-Bestellung bis hin zur Nutzung des Luftraums geregelt wurden. Deutschland wie Japan sind zentrale Drehscheiben und Standorte für die US-Armee; so ist Japan für die US-Flottenpräsenz in Pazifik unverzichtbar und fungiert als „unsinkbarer Flugzeugträger“ und Sicherheitsanker für die ganze Region (ohne Japan könnten die USA etwa Südkoreas Sicherheit bei weitem nicht im selben Ausmaß garantieren, mit unabsehbaren Folgen für die Region); Deutschland enthält neben dem Flughafen Rammstein, der größten US-Basis außerhalb des Kernlands, das Afrika-Kommando und diverse Drohnensteuerungseinheiten. Man muss nur sehen, wie wenig Begeisterung im US-Militär für Trumps Truppenabzugspläne aus Deutschland bestand, um seine Wichtigkeit feststellen zu können.
Das macht Deutschland und Japan zu Partnern der USA, nicht zu Reparaturprojekten. Die USA haben ein konkretes Interesse an Deutschland und Japan, das perspektivisch über Jahrzehnte reicht. Ein Land wie Afghanistan dagegen hat nichts, das die USA interessiert. Die Anwesenheit hier war ein rein politisches Projekt, definiert einerseits durch das negative Bestreben, Afghanistan als Terrorbasis auszuschalten als auch andererseits durch den politischen Druck, nicht der Präsident zu sein, der den Abzug zu verantworten hat. Aber praktischen Nutzen und die damit einhergehende vertrauensvolle Zusammenarbeit gibt es nicht.
Doch das sind vergleichsweise unbedeutende, externale Gründe. Sie könnten durch genügend Engagement der USA theoretisch gesehen ausgeglichen werden. Aber Deutschland und Japan sind aus wesentlich tiefgreifenderen Gründen keine guten Vergleichsmaßstäbe.
Das liegt daran, dass beide Länder eine sehr lang zurückreichende liberale und demokratische Tradition besitzen. Der offensichtlichere Fall hier ist Deutschland. Seit spätestens 1813 können wir hier ein national und liberal orientiertes Bürgertum ausmachen. Demokratie, Nationalstaat und Rechtsstaat gehörten damals noch untrennbar zusammen (und sollten erst nach 1848 durch die Spaltung der Liberalen getrennt werden). Zwar scheiterten die Liberalen und Demokraten mit der Umsetzung ihrer Ideale sowohl 1814/15 als auch 1848 und 1871. Aber sie waren stets eine starke Kraft in Deutschland. Ab den 1870er Jahren wurden sie noch durch die ebenfalls unzweifelhaft demokratische Sozialdemokratie ergänzt, die spätestens mit dem Gothaer Parteitag auch den bürgerlichen Rechtsstaat bejahte.
Zwischen 1917 und 1930 wurde das Land zudem parlamentarisch regiert. Eine komplette Generation wurde demokratisch sozialisiert (auch wenn leider viele sich wieder von der Demokratie abwandten). Als die Alliierten 1945 einmarschierten, standen diese Leute bereits in den Startlöchern. Sie hatten sich teilweise bereits aktiv auf den Tag X vorbereitet, ihn teilweise auch nur herbeigesehnt. Aber kaum war die Naziherrschaft beseitigt, gründeten sich Ortsgruppen der alten Parteien: SPD, Liberale, Bürgerliche. Die Alliierten mussten diese Demokraten, die mit ihnen zusammen ein neues Deutschland aufbauen wollten, bremsen (und im sowjetischen Fall unterdrücken), um ihre eigenen Ziele umzusetzen. Der Kalte Krieg entfesselte dieses Potenzial dann vollständig.
Das heißt nicht, dass die Mehrheit der Deutschen 1945 demokratisch gewesen wäre. Aber ihre Zahl geht in die Millionen, und was noch viel wichtiger ist, sie konnten auf eine tiefe Kaderstruktur zurückgreifen, die nicht nur bis in die Weimarer Republik, sondern sogar bis ins Kaiserreich zurückreichte. Adenauer schließlich hatte seine politische Karriere noch in der Wilhelminischen Glanzzeit begonnen und war zwei Jahre älter als Gustav Stresemann, das Urgestein der Weimarer Republik! Selbst die Sowjets konnten auf eine recht große Zahl überzeugter Kommunisten und Sozialisten zurückgreifen, die bereit waren, das neue Deutschland unter sozialistischen Vorzeichen zu errichten (wenngleich wesentlich weniger breit verankert und erfolgreich als ihre demokratischen Gegenstücke im Westen).
In Afghanistan, um bei diesem Beispiel zu bleiben, fanden weder die Sowjets 1979 noch die NATO 2001 auch nur im Ansatz vergleichbare Strukturen vor.
In Japan ist der Fall etwas komplizierter. Das Land war nie vollständig demokratisch, wie es die Weimarer Republik gewesen war, es war allerdings sehr wohl ein liberales, parlamentarisches Staatssystem. Die auf dem britischen Westminster-Modell basierende Meiji-Verfassung stammt aus dem Jahr 1889 und ist damit nur rund 25 Jahre jünger als die Reichsverfassung. In den 1920er Jahren war Japan ein liberaler Musterstaat (wie ich hier ausführlicher thematisiert habe). Erst die Antwort auf die Weltwirtschaftskrise, bei der Japan, ähnlich wie Deutschland, sein Heil in territorialer Expansion zu finden glaubte, sorgten in den 1930er Jahren für eine starke Erosion des parlamentarischen Systems, die aber erst zu Beginn der 1940er Jahre durch einen Putsch abgeschlossen wurde. Fünf Jahre später stießen die Besatzungstruppen daher problemlos auf Kader, die zum Aufbau eines modernen Japan nicht nur fähig, sondern auch nur allzugerne bereit waren (es gehört zu den Perversionen der autokratischen Militärdiktatur, dass sie genau jene Kader identifizierten und bevorzugt als Kamikaze-Piloten rekrutierten, um genau diesen Aufbau zu verhindern).
Das einzig wirklich erfolgreiche Nation Building findet sich daher eigentlich in Südkorea. Und dieses war eher unbeabsichtigt. Der erste, parlamentarisch legitimierte Präsident Rhee Syng-Man war ein Autokrat, der die zarte Pflanze des Parlamentarismus beinahe zusammenstampfte. Nach seinem Rücktritt 1960 regierte für ein knappes Jahr die ersten und einzige parlamentarische Regierung jener Jahre, bevor 1961 Park Chung-Hee an die Macht putschte, der bis zu seiner Ermordung 1979 das Land als Diktatur führte. Weitere Diktatoren folgten bis 1987, als Roh Tae-Woo anbot, eine demokratische Verfassungsreform durchzuführen. Die USA hatten nie ein Problem, dass Südkorea eine Diktatur war; es diente als Bollwerk gegen den kommunistischen Nachbarstaat. Die südkoreanische Erfolgsstory als demokratischer „Tigerstaat“ begann erst Ende der 1980er Jahre und eher als Zufallsprodukt, sicherlich nicht als Resultat der bis dahin bereits vier Jahrzehnte andauernden Stationierung von US-Truppen.
Es ist daher schwierig, diese drei Fälle als Vergleiche anzubringen, um Nation Building als aussichtslos oder erfolgversprechend (beides sind ironischerweise Lesarten dieses Vergleichs) abzuqualifizieren. So interessant die Nachkriegsgeschichte aller drei Staaten auch ist, um Umgang mit Mali, Afghanistan oder Libyen bieten sie praktisch keine Lektionen, die wir nutzen könnten. Hier steht ein erfolgversprechender Ansatz noch aus. Das bedeutet nicht, dass Nation Building und die Verbreitung westlicher Werte automatisch eine dumme Idee sind, und dass man die oft furchtbaren Zustände dieser Länder quasi als natürliche Lebensform dieser Menschen annehmen sollte. Aber es hilft eben wenig, auf die Bonner Republik zu verweisen, wo die Ausgangsbedingungen so offensichtlich andere waren.
Das ist alles richtig – aber m. E. nicht der entscheidende Punkt.
Der wichtige Unterschied ist, daß es in Deutschland und Japan keine den Taliban vergleichbare Bewegung gab, die mit so enormer Aggressivität den Neuansatz torpedierte.
Die afghanische Republik ist am Ende nicht an demokratischen Mängeln oder Korruption gescheitert (beides gab es natürlich in großem Ausmaß). Sondern sie ist mit militärischen und terroristischen Angriffen destabilisiert worden – und Sicherheit zu bieten ist die Basis jeder Regierungslegitimation.
Es gibt noch einen wesentlichen Unterschied: den wirtschaftlichen Aufschwung. Japan und Südkorea später als in D. Für Mali und Libyen nicht in Sicht.
Klar, aber auch der lässt sich massiv darauf zurückzuführen, dass wir eine Infrastruktur haben, die vorher da ist – zerstört zwar, aber auch hier gibt es die entsprechende knowledge etc.
Oder, wie ich seit Jahren argumentiere – das Wirtschaftswunder war gar keins, nur die Widerherstellung von Normalitaet. Und damit das Erwartbare, nicht die Abweichung.
Gruss,
Thorsten Haupts
Kennst du? https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwjB6amMxbvyAhVx_rsIHcpMC_EQFnoECAUQAQ&url=http%3A%2F%2Fwww.deliberationdaily.de%2F2020%2F08%2Fdie-maer-vom-wirtschaftswunder%2F&usg=AOvVaw1SRxmC5A1sSa_qdFmRIvYW
Das ist schon ziemlich entscheidend. Die Taliban kommen ja nicht aus dem Vakuum.
Ich muss während dem Lesen schreiben, denn der Artikel enthält schon zu Beginn gravierende offensichtliche Fehler.
Direkt nach Kriegsende waren 400.000 Mann der US Army in Deutschland stationiert. Ende der Fünfzigerjahre wurde das Kontingent reduziert, betrug aber noch 1990 277.000 Soldaten. Das war keineswegs eine symbolische Stärke, sondern mehr, was die Bundeswehr damals an Berufs- und Zeitsoldaten vorweisen konnte. Erst nach der Wiedervereinigung begann der Abzug der alliierten Truppen. Sollte man wissen.
https://www.bundestag.de/resource/blob/496190/b34ad5b97fa008c61fd38e88946a1521/wd-2-009-17-pdf-data.pdf
Ein Land wie Afghanistan dagegen hat nichts, das die USA interessiert.
Auch da kann man nur den Kopf schütteln. Tagesaktuell bemüht sich China um Rahmenabkommen mit den Taliban. So verfügt Afghanistan wahrscheinlich um das größte Vorkommen von Lithium, ähnlich wie Bolivien. Auch die Erdölvorkommen sind gewaltig, für die USA, größter Förderer des ehemals Schwarzen Goldes, nicht völlig unbedeutend.
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/afghanistan-rohstoffe-bodenschaetze-china-101.html
Sicher, auf Twitter findet man solche Informationen nicht unbedingt…
Der wesentliche Unterschied ist wohl eher, dass die von Dir genutzten Beispiele für das Scheitern von Nation Building nicht einmal in Schwellenländern passierten, sondern in sehr armen Entwicklungsländern. Afghanistan z.B. gehört bis heute zu den Staaten mit dem geringsten Pro-Kopf-Einkommen in der Welt. Dass nicht völlig unbedeutende Aspekte sind, zeigt sich in Äthopien, wo die Versuche zur Installation einer Demokratie gerade scheitern.
Und wenn man schon den Amerikanern und Wirtschaftswissenschaftlern den Umsturz in Chile zurechnet, dann doch auch den Aufstieg des Landes zum demokratischen und wirtschaftlichen Vorbild in Südamerika. Wäre nur fair.
Die Afghanen hatten eine Chance. Biden hat die Decke weggezogen.
Biden, Decke weg? „Die anderen ihre Kriege führen lassen“ und „Bring the Boys home“ war unter Trumps Anhängern populär. Biden ist nur für die überhastete Umsetzung verantwortlich (4. Juli!).
„Chance“? Ein JointVenture zum Abbau von Lithium mit dem Taliban-Regime – während die Schulen schließen, Frauen in die Burka zwingen und steinigen?
P.S. Rettet den Genitiv.
Biden setzt die Außen- und Migrationspolitik von Trump fort. Da gibt es keinen Bruch.
Glückwunsch. Damit waren Sie unter den (angehenden) Akademikern Ihres Jahrganges schon fast in der Minderheit (die Abschaffung der Wehrpflicht erfolgte für diese Gruppe mit der Postkartenabmeldung – 1991?)
Gruss,
Thorsten Haupts
Falsch zugeordnet, sollte 4 Beiträge tiefer. Mein Fehler.
Ich sag doch auch nicht dass das eine symbolische Stärke ist? Die Truppen waren ja wegen des Kalten Krieges notwendig. Aber sie waren nicht als Besatzer da, sondern als Verbündete.
Es wäre schon gut, wenn du einfach mal eine Anmerkung mit Zusatzinformationen schreiben könntest, ohne abfällige Bemerkungen zu machen. Dann könnte ich viel leichter sagen „oh, spannend, vielen Dank für die Zusatzinformationen“ und müsste nicht zusätzlich über die Abfälligkeiten hinwegsehen und deine Beleidungen schlucken. Einfach so für’s Zwischenmenschliche.
10000 Mann sind keine Besatzung. Bitte hören wir doch mit dieser Legende auf, die NATO habe Afghanistan besetzt. Die mir bekannten Umfragen aus dem Land wie von hier lebenden Afghanen ist, dass die Amerikaner Sicherheit gaben.
Du weißt beeindruckend viel über Geschichte. Die meisten lesen das gerne von Dir, ich auch. Nur manchmal sind für Zeitgenossen echte Hämmer drin. So als Du über die Steuerreform 1989 unter Kohl schriebst, sie habe die Staatseinnahmen wegbrechen lassen. Das ist anhand der Zahlen totaler Unsinn, 1990 lagen die Einnahmen über Vorjahr. Aus irgendeinem Buch musstest Du das haben und das war dann ideologisch und nicht historisch konditioniert. Und genauso erweckte hier die Formulierung den Eindruck, den inzwischen viele haben, der aber nicht stimmt. Quasi vor meiner eigenen Haustür war ein großer Verband der US Army stationiert, der erst Anfang der Neunzigerjahre abgezogen wurde.
Gerade weil Du so tolle Artikel schreibst und weil Du so viel über historische Umstände weißt, haben wir (alle Leser) so viel Vertrauen in Deine Schilderungen. Wenn dann etwas ziemlich neben dem Erleben von Zeitzeugen liegt, ist das mindestens irritierend.
Grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr
Behaupte ich doch auch gar nicht! Das sind die dämlichen Narrative, die da ständig gebracht werden, weswegen ich ja gaerade argumentiere dass der Vergleich nicht passt!!!
Und wenn dich das irritiert und du Fehler entdeckst, super, dafür ist die Kommentarspalte da. Zumindest für mich. Ich will zusätzliche Informationen, will Irrtümer aufgeklärt haben. Was ich nicht brauche sind persönliche Anwürfe und Herabwürdigungen. Trenn das bitte.
Okay, dann ist es also vergleichbar. Dann ist es auch nicht so weit hergeholt, eine längere Stationierung für wünschenswert zu halten. Darum ging es mir.
Ja, das hab ich schon verstanden. Ich denke auch, dass man problemlos argumentieren kann, dass die NATO hätte länger im Land bleiben sollen, um zumindest die Städte Taliban-frei zu halten. Nur führt es in die Irre mit dem Vergleich zu Deutschland zu argumentieren. Also quasi: man kann deiner Forderung längerer Stationierung zustimmen und trotzdem den Vergleich ablehnen.
Du argumentierst, dass der entscheidende Unterschied die Erfahrungen in Demokratie sei. Aber wie sollen solche Erfahrungen entstehen? Historisch betrachtet war die Einführung der Demokratie oft genug zufallsbedingt, weil zufällig kein anderes System der Machtorganisation oder Hegemonie zur Verfügung stand. Als Russland kollabierte und der Balkan explodierte, tja, da fehlte der Hegemon, da nahm man halt das demokratische Prinzip. In beiden Regionen war das aber nicht durch das Wollen der Bevölkerung bedingt, sondern dem Zufall geschuldet. Auch wenn die Entwicklungen unterschiedlich sind, in diesen Ländern besteht eine starke Neigung zu autoritären Strukturen.
Das erinnert mich an die Antike. Das Alte Rom startete als Demokratie und wandelte sich, als es in der Ausdehnung zur groß geworden war, um es mit Plebisziten zu regieren, zur monarchischen Regierungsform. Demokratie ist kein „natürliches“ System.
Chile wandelte sich zurück zur Demokratie, als das Land sicherheitspolitisch stabil war. Das scheint neben einem gewissen Maß an Wohlstand das wichtige Kriterium. Schon in der Antike entschieden sich mit Griechenland und Rom Gemeinwesen mit höherem Entwicklungsstand für die demokratische Regierungsform. Nach dem Mauerfall ist es in der ehemaligen DDR nicht wirklich gelungen, die Demokratie tief in der Gesellschaft zu verankern. Nicht wenige Sozialforscher sehen die Ursachen hierfür in den disruptiven Verhältnissen der Neunzigerjahre und der höheren wirtschaftlichen Unsicherheit.
Auch in den ehemaligen sozialistischen Bruderstaaten wurde die Demokratie nicht durchgehend zu einem Erfolgsmodell. Selbst Lettland, eine der neuen Vorzeigestaaten, tat sich mit demokratischen Spielregeln lange schwer. Ansonsten gibt es in der Slowakei, in Tschechien, in Rumänien und Bulgarien, in Ungarn und Polen sowieso eine Faible in der Bevölkerung für starke Führercharaktere.
Wie soll sich also Demokratie entwickeln? Die Beispiele zeigen, dass die Gewährleistung von Sicherheit (alle aufgezählten ehemaligen Ostblockstaaten sind eingebunden in die Sicherheitsarchitekturen der EU und der NATO) die Conditio sine qua non ist. Demokratie ist ein zartes Pflänzchen, das in den ersten Jahrzehnten sorgsam gehütet werden muss.
Biden hat sich entschieden, Trump-gleich auf die demokratische Pflanze zu treten.
Demokratie entsteht nicht zufällig. Bleiben wir beim Beispiel Deutschland: Die Wurzeln, von denen ich spreche, reichen bis ins Mittelalter zurück. Du hast die Kämpfe der Städte um mehr Selbstbestimmung, wo erst die Patrizier und dann auch die reichen Bürger immer mehr Mitspracherechte erhalten. In den Zünften kannst du den Beginn berufsständischer Organisation sehen, die ebenfalls mit Wahlen und Selbstverwaltung arbeiten (auch wenn sie später zu Feinden des Unternehmertums werden). Die Herausbildung des Bürgertums als eigener Schicht seit der Renaissance und deren erkämpfen von Teilhabe zieht sich über Jahrhunderte. Das kommt alles nicht aus dem Nichts. Oder als 1789 die Generalsstände gewählt werden, glaubst du, das war das erste Mal dass die herausragenden Vertreter des Dritten Standes (sprich: das Bürgertum) sich für ihre Interessen eingesetzt haben? Das baut alles auf tiefen Fundamenten auf.
Was die Sowjet-Nachfolgestaaten angeht: es ist kein Zufall, dass Tschechien stabiler ist als Polen. Die Habsburger waren schließlich wesentlich freiheitlicher als das Zarenreich. Auch da gehen die Wurzeln und Fundamente viel tiefer. Von Ukraine und Weißrussland gar nicht erst zu reden.
Auch Rom hat lange vor der Revolution gegen Tarquinius Superbus eine Patrizieroberschicht gehabt, die an Mitsprache gewöhnt war. Genauso wie in der amerikanischen Revolution kommt der Revolutionsschritt ja weil die eigenen Rechte EINGESCHRÄNKT werden. Und später wollen dann mehr Leute in den Club, da kommen dann die Plebejer hoch, und so weiter.
Zur Erinnerung: Deutschland hat sich gleich zwei schlimme Diktaturen geleistet.
Die Herausbildung von Mittelschichten hängt von der Entwicklung von Wohlstand ab. Das zeigt sich in Schwellenländern wie Brasilien, Chile, aber auch unter den diktatorischen Verhältnissen in China. Sicherheit und Wohlstand sind Determinanten von Demokratie. Brasilien kippt zum Populismus, seit die Entwicklung des Landes stockt. Argentinien ist da ganz verfangen.
Tschechien hatte auch immer wieder autokratisch erscheinende Führerfiguren. Da trug eher das Erbe der Diktatur als der Habsburger.
Ja, aber Tschechien > Ungarn. Klar auch: Belgien > Tschechien. Als pars pro toto.
Lieber Stefan Pietsch, die alliierten Truppen in Deutschland waren Schutztruppen gegen einen potentiellen, konventionellen Aggressor von aussen. Als Besatzungstruppen haben sie nur wenige Jahre agiert, als Kampftruppen gegen eine bewaffnete Truppe von Einheimischen mussten sie überhaupt niemals antreten.
Der Vergleich war und ist einfach abenteuerlich albern.
Gruss,
Thorsten Haupts
Seither sind die alliierten Truppen – und das bedeutet, abgesehen von kleinen Pro-Forma-Kontingenten, sowohl im deutschen als auch im japanischen Fall vorrangig US-Truppen – als Freunde im Land.
Das war Stefans Behauptung. Von kleinen „Pro-Forma-Kontingenten“ konnte nie die Rede sein. Die Afghanen jedenfalls wären froh gewesen, die Amerikaner hätten nur ein Bruchteil der bis 1990 in Deutschland stationierten Kontingente stehen gelassen. Aber selbst 10.000 Mann waren der Biden-Administration zu viel.
Die Taliban sind keine Gorillia-Truppe. Sie sind eine Terrororganisation. Gegen solche darf Militär in Stellung gebracht werden, sowohl durch einheimische als auch befreundete Verbände.
Gegen solche darf Militär in Stellung gebracht werden, sowohl durch einheimische als auch befreundete Verbände.
Geben Sie mir nen Knopf, mit dem ich alle Taliban töten kann und morgen gibt es keine mehr. Das ist überhaupt nicht strittig hier im Forum.
Strittig ist ausschliesslich, ob es sinnvoll gewesen wäre, noch für vermutlich Jahrzehnte im Land zu bleiben und den Kleinkrieg mit den islamistischen Irren weiterzuführen. Einzige Stimme für „Ja“ sind Sie – weshalb Sie sich auch noch meine Standardfrage für Kriegsbefürworter einhandeln: Wenigstens gedient?
Gruss,
Thorsten Haupts
Ja. Instandsetzungskompanie Göttingen Juli 1986 – September 1987.
Grundausbildung übrigens als Panzergrenadier in Warburg. Teilnehmer am großen NATO-Manöver in Gravenwöhr Anfang Januar 1987.
Nein, Stefan P. ist nicht der Einzige. Der britische ehemalige Außenminister Rory Stewart:
„Es gelang aber sehr wohl, Afghanistan in einen lebenswerteren, stabileren Ort zu verwandeln. In den vergangenen Jahren genügten wenige Tausend ausländische Soldaten und Luftstreitkräfte, um die Taliban von den Städten fernzuhalten“
https://www.spiegel.de/ausland/britischer-ex-minister-rory-stewart-ueber-machtuebernahme-der-taliban-diese-katastrophe-war-absolut-vermeidbar-a-ed8f9f7d-5699-4c8d-8dbd-2a4d24f58a26
Ah, jetzt verstehe ich wo dein Irrtum herkommt. „pro forma“ bezieht sich auf die nicht-amerikanischen Alliierten wie UK, Frankreich oder im südkoreanischen Fall Australien.
Danke für diesen kurzen Rückblick, Stefan Sasse. Insbesondere die Erzählung des undemokratischen Militärstaates Deutschland vor 1918 hat sich öffentlich ziemlich festgefressen. Was verständlich ist, weil Teil einer bequemen Entschuldigung, warum Deutschland sich widerstandslos und zum Teil sogar bereitwillig den Nazis ergab. Nur war das schon immer Blödsinn, aber Fortschritte in Geschichtsschreibung nimmt die Öffentlichkeit immer mit Jahrzehnten Rückstand auf.
Gruss,
Thorsten Haupts
Ja, das ist echt furchtbar. 🙁
Wolltest Du nicht einen Artikel dazu schreiben? Ich würde diese „Fortschritte in der Geschichtsschreibung“ gerne nachvollziehen können.
Zum Kaiserreich hatte ich nicht explizit was vor, aber ich werde in der kommenden Bücherliste was dazu haben, das ich gerade lese, so ein Einsteigerding. Aber ich schau mal.
Bemerkenswerterweise sehe ich in deiner Argumentation an den gleichen Stellen wie Herr Pietsch Probleme:
Bedeutung der US-Truppen in Deutschland: Neben der schieren Stärke (siehe Pietsch) ist noch ein weiterer Faktor von Bedeutung: Die Stationierung von Kernwaffen seit Mitte der 50er.
Ausserdem war die BRD als Frontstaat Angelpunkt sowohl für Spionage (Funkabhörstationen) als auch Propaganda (Radio Liberty) wichtig [beides fand natürlich auch nach innen statt]
„Ein Land wie Afghanistan dagegen hat nichts, das die USA interessiert.“ :
Dass dabei die geostrategische Bedeutung eines Landes zwischen Iran, China und der russischen Einflusssphäre von dir mit keiner Silbe erwähnt wird, ist schon eine bemerkenswerte Lücke.
Neben dem oben erwähnten Lithium muss man auch das wichtigste Cash-Crop des Landes erwähnen: Heroin. Die CIA hat schon in vergangenen Konflikten aus dem Drogenhandel ( Air America, Iran-Contra-Affäre) gigantische Gewinne für ihren Schattenhaushalt erwirtschaftet.
Der dritte Punkt, der mir wichtig ist, betrifft Afghanistan. Es ist in meinen Augen zu einfach, das Land als unregierbares Stammesterritorium zu sehen. von den 20ern bis in die 70er war es eine stabile konstitutionelle Monarchie trotz pakistanischer Störversuche und mangelnder Unterstützung durch die Supermächte (es war ein blockfeier Staat), hat dann aus eiger Kraft in einem unblutigen Putsch eine Republik eingeführt. Erst das Einmischen erst der Sowjetunion (Saur-Revolution) und dann der USA (Mudschaheddin) hat es ins Chaos gestürzt. Und jetzt? Was wäre, wenn die Taliban tatsächlich vorausgeplant haben für die Zukunft und es schaffen, stabile Institutionen und gemeinsam mit der Loya Dschirga einen funktionierenden Staat herzustellen ?
Na klar kann das zutreffen, was der letzte Satz andeutet. Nach einer gewissen Schamfrist, die gar nicht lang sein muss, wird sich „der Westen“ an die Herren mit den auffälligen Kleidern ranwanzen. Ist ja schon geschehen, sonst hätte es das Trump-Taliban-Abkommen ja nicht gegeben. Ihr Lithium oder sonstiges Zeugs, falls vorhanden, werden die schon an alle verkaufen, die zahlen. Geschieht mit dem Opium ja auch. Die zahlreichen US- und EU-Junkies müssen sich keine Sorgen machen. Etwaige Lithium-Junkies auch nicht.
Saudi-Arabien wird seit Jahrzehnten gehätschelt und getätschelt. Hat wahrscheinlich was mit dem Wahhabismus zu tun und dessen Verständnis in Sachen „Menschenrechte“, „Werte“ und all so was. Rein zufällig kamen die 9/11-Leute von dort.
Saudi-Arabien betreibt eine pro-westliche Politik. Es erlaubt den USA Basen (in der Gegend nicht eben selbstverständlich) und ist ein eherner Gegner sowohl von Irak als auch, vor allem, Iran. Dazu hanen sie nie Krieg gegen Israel geführt. All das ist der Grund für die einge Zusammenarbeit.
Kann gut sein. Beweist im Übrigen, dass das ganze Gerede à la „westliche Werte“ scheisse ist. „Pro westlich“ hat mit diesem Werte-bla-bla-blubb-blubb nicht zu tun. Roosevelt war anno 1938 bezüglich des damaligen Diktators in Nicaragua der Auffassung: „Klar, er ist ein Schweinehund, aber er ist unser Schweinehund“. So läuft das. In WWII empfand er eine Zusammenarbeit mit den französischen Hitler-Ablegern, Juden-Mordbubis und KZ-Fans (Vichy) als attraktiv und ratsam – hat De Gaulle letztlich vermasselt.
Jein. Im Zweifel ist die westliche Außenpolitik immer noch wesentlich besser und wertegebundener als die russische oder chinesische.
… es schaffen, stabile Institutionen und gemeinsam mit der Loya Dschirga einen funktionierenden Staat herzustellen ?
Ich wette dagegen, zum Kurs von 1:10 gegen mich.
Gruss,
Thorsten Haupts
Dagegen würde ich nicht wetten, aber um der Spekulation willen:
Die Rahmenbedingungen 1930 in Saudi-Arabien waren in wichtigen Punkten mit Afghanistan heute vergleichbar:
– eine zersplitterte Stammesgesellschaft
– Führungsanspruch von islamischen Fundamentalisten der härtesten (und brutalsten) Ausprägung, die auf eine Guerillatradition zurückblicken
– Reiche Vorkommen an zukunftsrelevanten Bodenschätzen (Ich habe irgendwo sogar wörtlich die Formulierung „das Saudi-Arabien für Lithium“ gelesen)
Wenn wir diese Analogie aufmachen, dann sollten wir aber nicht vergessen, dass Afghanistan in den Siebzigern weiter war, als es Saudi-Arabien heute ist. Erst durch die Kriege und Interventionen seit 1979 (vor allem seit es in den Achtzigern ein „breeding ground“ für Islamisten aus aller Welt wurde) ging es dort bergab.
Bodenschätze können Fluch und Segen zugleich sein. In Saudi-Arabien sorgen sie dafür, dass sich eine fundamentalistische und megakorrupte Führungsschicht seit 40 Jahren stabil halten kann, während die einfache Bevölkerung in krasser Armut lebt. Dies führt dann mitunter zu der Absurdität, dass jemand wie Kronprinz „MBS“ ein Image als großartiger Reformer bekommt, wenn er sein Land in Sachen Frauenrechten vom bisherigen erbärmlichen Level auf das kümmerliche Level des Iran anhebt…
… dass sich eine fundamentalistische und megakorrupte Führungsschicht seit 40 Jahren stabil halten kann
Und nach übereinstimmender Aussage vieler Projektkollegen mit Erfahrung vor Ort die saudischen Araber das Arbeiten verlernt haben. Effizienz bei maximal 25% des europäischen Durchschnittes. Schlechter als überall sonst auf der Welt. Das gibt nach dem (physischen oder politischen) Ende des Ölbooms noch ein ganz böses Erwachen …
Gruss,
Thorsten Haupts
25%? Kann ich mir schwer vorstellen. Die unterernährten sowjetischen Krieggefangenen 1942 erreichten 40-50% Effizienz eines deutschen Arbeiters…
Ist auch echt keine Frage von „Können“. Sondern von „Wollen“. Bzw. „Druck verspüren“.
Ich war nie da, aber wenn man die Stories von einem halben Dutzend Kollegen hört … Projekte funktionieren dort nur (was die arabischen Auftraggeber wissen) mit einer Doppelbesetzung aller Rollen – 1 Araber mit dem Titel, 1 Europäer/Amerikaner/Koreaner/Chinese mit dem Job. Die Bezahlung für diese Fremdarbeiter ist richtig lukrativ, aber die brauchen auch eine deutlich erhöhte Frustrationstoleranz.
Das sind Sprösslinge der hochgepamperten und hochalimentierten Ober- und oberen Mittelschicht (=Akademiker), die sich gleichzeitig aufgrund ihrer Erziehung wie kleine Paschas fühlen und benehmen. Aus damit verwandten Gründen ist das arabische Militär unabhängig von der hochmodernen Ausrüstung keinen Schuss Pulver wert – das gesamte Führerkorps (Offiziere und Feldwebeldienstgrade) taugt nichts. Mehr dazu:
https://www.meforum.org/441/why-arabs-lose-wars
Und alle „Low Level“ Arbeiten in Saudi Arabien oder den VAR werden ohnehin vollständig von Gastarbeitern ausgeführt, von Müllabfuhr bis Bauen. Die Weltgegend ist echt in enormen Schwierigkeiten, sobald die Öleinnahmen wegbrechen.
Gruss,
Thorsten Haupts