Der neue alte Mitt Romney


Eine der größten politischen Überraschungen in den letzten zwei Jahren ist die Rolle, die Mitt Romney als Senator spielt. Seit seiner Wahl 2018 erwies sich Romney als eine Art Stachel in Trumps Seite und Gewissen der republikanischen Partei. Er war der Einzige, der das Impeachment-Verfahren 2019/20 unterstützte und kritisierte mehrmals dessen Politik. Aktuell macht Romney Schlagzeilen mit einem Vorschlag zur Einführung einer Art Elterngelds, die in beiden Parteien Unterstützung erfährt. Dieser neue Romney, der so wenig in die aktuelle republikanische Partei zu passen scheint und der als aufrechter Mahner gegen den Trumpismus erscheint, scheint ein neuer Mann zu sein, der nichts mehr mit demjenigen gemein hat, der einst den Schulterschluss mit Trump und der extremen Rechten der Partei suchte. In einem gewissen Sinne ist es aber eine Rückkehr zum alten Mitt Romney, einem Mann, der durch zwei am Ende gescheiterte Präsidentschaftskandidaturen verschüttet wurde, einem Mann, der dem Land eine andere Richtung hätte geben können.

Der alte Mitt Romney

Die politische Prägung Romneys begann mit seinem Vater, George Romney. Als Gouverneur von Michigan gehörte der ältere Romney dem Business-Flügel der alten republikanischen Partei an. Er liberalisierte die Bürgerrechte des Staates, reformierte die Steuergesetzgebung und war eine der zentralen Stimmen auf dem Parteitag 1964, die sich gegen die Kandidatur Barry Goldwaters stemmten, dem Sündenfall der modernen GOP. Romney bewarb sich 1967/8 für die republikanische Präsidentschaftskandidatur, erwies sich aber weder als kompetent genug noch als im Einklang mit seiner Partei, die zu jener Zeit deutlich nach rechts rutschte und statt Romneys moderatem Reformkurs lieber der rassistischen Hundepfeife Nixons („schweigende Mehrheit“) nachlief, eine Erfahrung, die Romney mit seinem Konkurrenten um die Kandidatur Nelson Rockefeller teilte. Die doppelte Niederlage Romneys und Rockefellers 1968 markiert das Ende der Reformer in der republikanischen Partei.

Wie auch sein Vater ging Sohn Mitt Romney zuerst in die Wirtschaft, bevor er sich der Politik zuwandte. Anders als Romney Senior, der im Automobilsektor arbeitete (was seine politische Karriere in Michigan sicherlich erleichterte), stieg Sohn Mitt in die Beratung ein (erst bei BCG, dann bei Bain), ehe er in die Finanzwirtschaft wechselte, wo er sehr erfolgreich war und es zum dreistelligen Multimillionär brachte. Nach einem verfehlten Versuch, 1994 in den Senat zu gelangen, machte er sich einen Namen, als er 2002 die schwer in die Krise geratenen Winterspiele in Salt Lake City rettete. Die Rolle des erfolgreichen Managers bestimmte bis zum Wahlkampf 2012 die „Marke“ Romney. Im selben Jahr wurde er, mit dem Rückenwind dieses Erfolgs, schließlich zum Gouverneur des demokratisch geprägten Massachusetts gewählt.

Der Staat hatte damals mit einer Budgetkrise zu kämpfen. Romney hatte das Glück, dass die durch seinen Vorgänger verabschiedeten Kapitalertragssteuern das Defizit um mehr als ein Drittel verringerten – ein Erfolg, den er für sich selbst verbuchte -, beseitigte aber temporär das Defizit durch eine Kombination aus Steuererhöhungen, Ausgabenkürzungen für die Ärmsten und das Schließen von Steuerschlupflöchern. Es war eine klassisch konservative Politik: pragmatisch, mit dem höchsten Ziel des Ausgleichs des Haushalts und einer Kombination aus verschiedenen Politiken. Dass bei einem konservativen Politiker dabei konservative Politikoptionen überwogen, sollte nicht überraschen, aber es waren genug Zumutungen für die eigene Seite dabei, dass Romney die Mitarbeit der oppositionellen Democrats sichern konnte.

Das war der Absprungpunkt für die wichtigste Reform seiner Regierungszeit: die Einführung eines allgemeinen Krankenversicherungssystems. Romney und sein Expertenteam entwickelten einen Plan, dessen zentrale Komponente die Pflicht zum Erwerb einer Krankenversicherung war. Wer sich nicht versicherte, musste eine Strafsteuer bezahlen. Gleichzeitig subventionierte der Staat Krankenversicherungstarife für diejenigen Menschen, die bisher keine hatten erwerben können. Die Democrats unterstützten die Reform, die mit einer deutlichen Mehrheit von weit über zwei Dritteln verabschiedet wurde und unter dem Namen Romneycare ein Erfolgsmodell wurde.

Der neue Mitt Romney

2007 trat Romney nicht zur Wiederwahl an, sondern bewarb sich um die Präsidentschaftskandidatur der Republicans. Wie sein Vater 1968 brach seine Kandidatur jedoch nach einigen Anfangserfolgen ein. Romney unterstützte John McCains Kandidatur als treuer Parteisoldat, schrieb ein irrelevantes Buch („No apology: The American Case for Greatness„) und setzte einen PAC zur Finanzierung seiner Kandidatur für 2012 auf. Bereits im Titel seines Buches wurde der neue, aggressive Tonfall deutlich. Die Republicans hatten Obamas außenpolitische Antrittsbesuche 2009 als „Apology-Tour“ geschmäht, ungeachtet dessen, dass Obama sich für nichts entschuldigt hatte. Diese aggressiven Lügen waren nur der Beginn der Fundamentalopposition gegen Obamas Präsidentschaft, und dass Romney so schamlos auf diesen Zug aufsprang, zeigte sowohl seine korrekte Erkenntnis der Richtung, in die sich seine Partei bewegte, als auch seine moralische Flexibilität, in dieselbe Kerbe zu schlagen.

Nirgendwo wurde das so deutlich wie in seiner Fundamentalopposition zum „Affordable Care Act“, Obamas Krankenversicherungsreform. Obama hatte sich in ehrlicher Bewunderung von Romneys Reform in Massachusetts, aber natürlich auch im politischen Kalkül, Romneys Unterstützung gewinnen zu können, an dem Modell Romneycare ausgerichtet. Obamas ganze Strategie, mehr noch, seine tiefe politische Grundüberzeugung, war es, in Zusammenarbeit mit den Republicans das Land aus der tiefen Krise, in der es 2008/2009 steckte, zu ziehen und überparteiliche Lösungen zu finden. Bekanntlich wählte die GOP stattdessen die maximal destruktive Variante, und Romney zog ohne zu zögern mit. Er erklärte öffentlich, dass Obamacare „ein gewissenloser Machtmissbrauch“ sei und abgeschafft werden müsse und verleugnete die offensichtliche geistige Elternschaft, die er selbst für das Projekt hatte.

Dieser Wandel spielt in der Erinnerung an die frühen Obama-Jahre keine große Rolle, aber er ist beispielhaft für die Entwicklung, die Romney im Eiltempo durchmachte. Vom reformistisch-pragmatischen Gouverneur wandelte er sich binnen kürzester Zeit zu einem konservativen Feuerfresser, eine Wandlung, die ihm nur schlecht stand. In der neuen republikanischen Partei aber, die seit spätestens den Midterm-Elections 2010 und dem Aufstieg der Tea Party fest in der Hand der Extremisten war, hatte er anders keine politische Zukunft – nicht, wenn er 2012 der Präsidentschaftskandidat werden wollte, jedenfalls. Und das war Romneys oberstes Ziel.

In das Rennen um diese Kandidatur stieg er auch als Favorit ein. Das Bewerber*innenfeld war schwach, Romney war von Beginn an der Wunschkandidat des Establishments. Doch was angesichts solcher Konkurrent*innen wie Michelle Bachmann, der extremistischen Tea-Party-Aktivistin, Rick Santorum, einem unbekannten Senator aus Pennsylvania, Newt Gingrich, dem abgehalfterten Gesicht der Radikalisierung der GOP in den 1990er Jahren oder Herman Cain, einem Pizza-Magnaten ein ziemlicher Durchmarsch hätte werden sollen entwickelte sich zu einer unerwartet zähen Plackerei.

In den Vorwahlen stieg eine*r dieser abwegigen Alternativkandidat*innen nach dem anderen zum Hauptkonkurrenten Romneys auf. Für wenige Wochen zogen all diese Leichtgewichte mit dem Kandidaten gleich: ob Bachmann, Perry, Gingrich, Cain oder Santorum, sie alle genossen eine kurze Zeit im Lichte der Öffentlichkeit, ehe die politische Schwerkraft sie in den Orkus zurückzog, aus dem sie eigentlich nie hätten auftauchen sollen. Es ist verzeihlich, dass viele Beobachter*innen davon ausgingen, dass sich dieses Spiel wiederholen würde, als 2016 so illustre Knalltüten wie Ben Carson oder Donald Trump antraten.

2012 aber war Donald Trump kein Kandidat. Stattdessen war er eine Macht im Hintergrund, der Mann hinter einer der erfolgreichsten Schmierkampagnen der gesamten an hässlichen Schmierkampagnen nicht gerade armen republikanischen Opposition zu Obama: Trump hatte den abwegigen Birther-Mythos, die Lüge, dass Obama kein US-Bürger sei, aus dem absoluten randständigen Bereich kraft seiner Medienpräsenz in den republikanischen Mainstream gezogen. In seinem persönlichen Gang nach Canossa ersuchte Romney Trump um eine Audienz, um dessen Wahlempfehlung zu bekommen. Dass diese 2012 unverzichtbar für den Gewinn der Kandidatur war, wo John McCain 2008 noch von der Bühne herab seine Anhänger*innen zurechtwies, wenn diese den Birther-Mythos aus ihren hasserfüllten Kehlen brüllten, spricht Bände über die Entwicklung der Partei.

Es spricht auch Bände über Mitt Romney. Trotz wiederholter Aufforderungen wagte er es nicht, die Lügen als solche zu benennen. Natürlich war er zu wohlerzogen, die Lügen über Obama selbst zu verbreiten. Aber jedes Mal, wenn Journalist*innen ihn darauf ansprachen, wich er aus, machte Andeutungen und hielt das Lügengebäude mit am Leben. Diese Charakterlosigkeit Romneys war einer der Gründe, warum ihm Obama den Respekt versagte, den er zeitlebens John McCain entgegen brachte. Es ist ein wohl verdienter Schandfleck auf Romneys Lebenslauf.

Es blieb nicht der einzige Kotau gegenüber den Extremisten in der Partei. In einer schwerwiegenden Fehleinschätzung dessen, in welche Richtung die Partei extremistisch war, wählte sich Romney den Guru der Fiskalfalken, Paul Ryan, zum Vizepräsidentschaftskandidaten. Doch was die Tea Party attraktiv gemacht hatte, war nie ihre Forderung nach der Zerstörung des ohnehin schwachen Sozialstaats gewesen. Diese war ein Produkt der Finanzierung der Bewegung durch die Koch Brothers und so attraktiv wie Fußpilz für die Wählerschaft. Es war der Rassismus, der sie anziehend machte, eine Erkenntnis, die Trump wohl bereits damals hatte und die er 2016 in einen Außenseitersieg verwandelte. Doch die republikanischen Eliten sahen das damals als nützliches Wählerreservoir, das sie als Stimmvieh gebrauchen konnten. Den Zorn desselben Stimmviehs, das ihnen 2016 völlig entglitt und einen von ihren Strukturen völlig unabhängigen Autokraten wählen sollte, sahen sie damals nicht.

Nach der für die Republicans überraschend deutlichen Niederlage warf die Partei Romney so schnell sie konnte über Bord. Wirklich warm geworden war sie mit ihm ohnehin nie. Die Extremist*innen hatten gespürt, dass Romney seine Wandlung nur vorspielte, und die alten Eliten waren nie darüber hinweggekommen, dass ihm der richtige Stallgeruch des WASP-Establishments fehlte und wandten sich glücklich ihrem neuen Favoriten, Jeb Bush, zu. Romney verschwand in der Versenkung. 2016 tauchte er kurz wieder auf, in der Hoffnung, das Außenministeramt in der Trump-Regierung zu ergattern. Es war der ultimative Tiefpunkt von Romneys Karriere, als er sich für einen grinsenden Trump prostituierte – nur um von diesem rituell gedemütigt zu werden. Es war eine Erfahrung, die nach Romney noch viele andere republikanische Politiker*innen machen würden.

Der neue alte Mitt Romney

Für Romney selbst war es der Beginn eines Weges zu sich selbst. Anfangs unterstützte er die Trump-Regierung noch, doch langsam aber sicher rutschte er in eine Art innerparteiliche Oppositionsrolle. Das Fundament hierfür war seine ungebrochene Popularität bei den Mormonen. Während der Rest des Landes wie auch der Partei – Romney hatte 2016 die Möglichkeit einer erneuten Kandidatur erörtert und war von den Parteieliten ziemlich deutlich abgewiesen worden – sich nicht für ihn interessierte, war er für die mormonische Community in Utah ein strahlender Held und Vorbild.

Diese Lorbeeren verdiente er sich, als er sich im Rahmen des Impeachment-Verfahrens 2020 offen gegen Trump stellte. Zwar deckte er noch jeden Machtmissbrauch Mitch McConnells. Aber Trumps Putsch-Versuche hatten in ihm einen Gegner gefunden, der sein Rückgrat entdeckt hatte. Anders als viele andere republikanische Politiker*innen scheint Romney verstanden zu haben, wer Trump war.

Mit der nun beginnenden Biden-Präsidentschaft scheint Romney seine Rolle neu zu definieren: vom konservativen Prinzipienhüter gegen Trump zum pragmatischen Kompromisspolitiker. Und das bringt uns zum Anfang zurück, zu Romneys Vorschlag für eine Reform der Kindergeldzahlungen. Unter dem Titel „Mitt Romney has a plan to give parents up to $15,000 a year“ hat vox.com einen ausführlichen Erklärtartikel. Ich habe einige Highlights zusammengesucht:

Mitt Romney, a Republican, is calling for an even bigger child benefit for kids than President Biden is. So why might Democrats not immediately want to sign on? The short answer is the pay-fors. Romney’s plan is deficit-neutral at least through 2025 (when many Trump tax breaks expire, making analysis beyond that year tough), and to do that he pairs his remarkably generous child allowance plan with some cuts to other tax breaks and spending programs. […] The Niskanen analysis suggests that poor Americans, overall, would come out ahead in this trade. The SALT deduction, for instance, is highly regressive. Per the Tax Policy Center, about 75 percent of the benefit of the deduction goes to the richest 20 percent of Americans; the bottom three-fifths of Americans get roughly nothing from it. […] So Romney’s plan offers a plausible and appealing alternative [to Biden’s plan]. It’s almost as effective at reducing poverty, even when taking into account its pay-fors, as the Biden plan, and because it’s deficit-neutral, it can be enacted permanently as part of a budget reconciliation package. And obviously, a permanent plan is more valuable to poor families than Biden’s one-year package. […] It might not be Chuck Schumer’s ideal plan, but it would help millions of families with children in a straightforward way. It would meaningfully slash poverty and provide a base from which to slash it more in the future. (Dylan Matthews, vox.com)

Wenig überraschend bekommt Romney aus der eigenen Partei Gegenwind: Professionelle Opportunisten wie Marco Rubio und Mike Lee kritisierten den Plan, weil er Familien nicht durch Steuersenkungen, sondern durch Transferleistungen unterstütze. Die Lippenbekenntnisse zur Orthodoxie bleiben stark. Aber wesentlich relevanter ist die Frage, wie die Democrats auf Romneys Vorschlag reagieren werden. Da sie immer an Zusammenarbeit interessiert sind, werden sie die Frage zumindest diskutieren. Attraktiv ist das schon deswegen, weil ihr eigener Plan wegen der innerparteilichen Opposition Manchins keine Chance hat.

Das eigentlich Faszinierende am neuen alten Mitt Romney aber ist, dass er 12 Jahre zu spät ist. Sehen wir uns seinen Plan nur einmal an. Die Leistungen würden genau dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Dafür würde ein vergleichsweise komplexes und wenig eingängiges, aber gut durchdachtes System genutzt werden. Policy wonks at work, quasi. Diese Reform ist aufkommensneutral gestaltet und wird durch die Streichung einiger anderer Programme gegenfinanziert. Dazu gehören zwar einige Darlinge der Progressiven, wie von einem konservativen Vorschlag auch kaum anders zu erwarten (das wäre umgekehrt sicher nicht anders), aber die meisten Opfer von Romneys Vorschlag sind Programme, die nicht sonderlich gut funktionieren und von unabhängigen Institutionen mehrfach als ineffizient charakterisiert wurden.

Machen wir es kurz: Alles fühlt sich nach Obamas Präsidentschaft an. Komplexe, aber wohl durchdachte Policy? Check. Fiskalkonservative Instinkte? Check. Aufkommensneutrale Gestaltung? Check. Prüfung von Programmen auf Kosten-Nutzen-Relation? Check. Wenn von republikanischer Seite irgendwann zwischen 2009 und 2016 ein solcher Vorschlag gekommen wäre, Obama wäre vor Begeisterung über seine eigenen Füße gestolpert, so schnell wäre er in Romneys Büro gestanden. Nur, damals schlug Romney einen anderen Weg ein, einen, der die GOP auf ihrem Weg in den Extremismus begleitete.

Es ist fast traurig zu sehen, wie er jetzt, mit 12 Jahren Verspätung, das tut, was er damals hätte tun können. Man stelle sich nur vor, er hätte sein politisches Gewicht genutzt, um bei den Republicans für Zusammenarbeit mit Obama beim Affordable Care Act zu werben. Das war ja sein Baby, und Obama hatte sich seinerzeit um seine Unterstützung bemüht. Aber damals wollte Romney Präsident werden, und deswegen tat er seinen Teil dazu, das Land in Richtung Abgrund zu bugsieren. Es steht zu hoffen, dass nun wenigstens etwas Gutes aus diesem erneuten Sinneswandel entsteht. Und dass der neue alte Romney mit zwölf Jahren Verspätung einen kleinen Beitrag dazu leisten kann, seine Partei wieder auf konstruktive, demokratische Pfade zurückzuführen.