Die loyale Opposition

Im Jahr 1939 wurde auch den naivsten Beobachtern der politischen Szene Europas klar, dass das Deutsche Reich unter Adolf Hitler an einer Aufrechterhaltung internationaler Normen und friedlicher Zusammenarbeit nicht interessiert war. Für Großbritannien und Frankreich war die Situation verheerend. Sie hatten einen Großteil der 1930er Jahre ihre jeweiligen Armeen vernachlässigt, während Deutschland massiv aufgerüstet hatte. Die französische Armee war zudem doktrinal veraltet. Nach dem endgültigen Scheitern des Münchner Abkommens versuchten die beiden Verbündeten frenetisch, ihren Rückstand aufzuholen und sich auf den kommenden Konflikt mit Deutschland vorzubereiten. Die Art in der sie dies jedoch taten wies entscheidende Unterschiede auf, die sich aus den jeweiligen innenpolitischen Begebenheiten der Westeuropäer erklären lassen. Es ist lohnenswert, diese Umstände kurz zu rekapitulieren, denn die französische und britische Innenpolitik 1938-1940 unterscheiden sich drastisch durch die Art der Opposition, und diese Unterscheidung durchzieht auch heute wie eine Kluft die westlichen Länder und teilt sie in unterschiedliche Lager ein. Eine Betrachtung dieser Zeit hilft uns daher zu verstehen, was eine loyale Opposition ist, ehe wir sehen können wie es sich in der westlichen Welt heute damit verhält und warum sie von so entscheidender Bedeutung ist.

Frankreich war von den Wirren der Weltwirtschaftskrise ähnlich stark erschüttert wie Deutschland und litt immer noch unter den Verheerungen des Ersten Weltkriegs. Die Vorstellung, mit der leidenden Wirtschaft auch noch ein militärisches Aufrüstungsprogramm finanzieren zu müssen, das zudem im Kriegsfall wieder zu gewaltigen Zerstörungen und Verlusten führen würde, war der Republik verständerlicherweise ein Graus (der deutschen Bevölkerung auch, aber die wurde nicht gefragt). Dazu kam ein Verhältniswahlrecht, das ähnlich wie in der Weimarer Republik zu einer starken Zersplitterung der Parteienlandschaft führte. Der Vergleich mit Weimar ist auch instruktiv, denn in Frankreich gab es ebenfalls eine große nicht-demokratische Linke (die Kommunisten) und Rechte (die Autoritären). Anders als in Deutschland allerdings brach die Demokratie nicht zusammen; stattdessen erhielt die kommunistische Partei von Moskau die Erlaubnis, von der These des „Sozialfaschismus“ abzuweichen und mit den Sozialdemokraten und Bürgerlichen zusammenzuarbeiten, nachdem in Deutschland die KPD unter der Verfolgung der Nazis völlig zerstört wurde. Das schuf die Grundlage dafür, dass Léon Blum 1936/37 eine „Volksfront“-Regierung bilden konnte, praktisch ein Allparteienbündnis.

Innerhalb dieses Bündnisses kam es allerdings zu keiner vertrauensvollen Zusammenarbeit. Weder links noch rechts waren ernsthaft an Kooperation interessiert, sondern versuchten ihre jeweiligen Ministerien für ihre Zwecke zu nutzen (vor allem zur Mobilisierung von Anhängern) und die staatlichen Institutionen zu nutzen, um ihren Gegnern aktiv zu schaden. Gleichzeitig durchsetzte dieser Parteienkampf auch andere Institutionen wie das Militär. Ein besonders folgenschwerer Fall war der französische Oberbefehlshaber Gamelin: nicht nur legte er sich unflexibel auf die Maginot-Verteidigungsstrategie fest, die Frankreich Unsummen kostete und wenig zur tatsächlichen Sicherheit beitrug, obwohl Experten und Verbündete (Großbritannien) ihn bestürmten davon abzuweichen; er war, wie sich nach Kriegsausbruch zeigen sollte, auch noch ein Defätist und verlor wiederholt die Nerven, was maßgeblich zu der schnellen französischen Niederlage beitrug.

Nun war diese Inkompetenz Gamelins keine Unbekannte. Der Nachfolger Blums jedoch, der Sozialdemokrat Édouard Daladier, war politisch mit Gamelin verbunden und stellte sich schützend vor den General. Es war Gamelin, der trotz Warnungen seiner Geheimdienste die offene Flanke in den Ardennen ignorierte. Als die Wehrmacht die französischen Linien durchbrach und begann, die Flanke der Alliierten aufzurollen, versank der Generalstab in Untätigkeit und Defätismus. Als Daladier zurücktrat und durch Paul Reynaud ersetzt wurde, verhinderte Daladier weiterhin, dass Gamelin – und andere offensichtlich für die Krisensituation ungeeignetes Führungspersonal – duch Fähiges ersetzt wurde, weil dies seine persönliche Machtbasis beschädigt hätte. Die französische Rechte indessen drang, entgegen Reynauds Versuchen einer Stabilisierung der Front, auf einen sofortigen Waffenstillstand mit den Deutschen, um im Anschluss ein autoritäres Frankreich aufbauen zu können – wie es im Vichy-Rumpfstaat unter Philippe Pétain ja dann auch geschah. Um es kurz zu machen: die Strömungen der französischen Innenpolitik liefen gegeneinander und lähmten das Land, blockierten seine Funktionen und sorgten in der tiefsten Krise dafür, dass offensichtliche und essenzielle Maßnahmen nicht getroffen wurden. Das Resultat war der schmähliche Zusammenbruch Frankreichs nach nur sechs Wochen und der Durchmarsch der Nazis.

Auf der anderen Seite des Ärmelkanals indessen bot sich das gegenteilige Bild. Die konservative Regierung unter Neville Chamberlain hatte zwar erst spät erkannt, welche Schritte notwendig waren, traf diese dann aber mit großer Entschlossenheit und unter Einbindung der inner- und außerparteilichen Opposition: Chamberlain holte seinen innerparteilichen Konkurrenten Winston Churchill, der ihn seit Jahren heftig für die Appeasement-Politik kritisiert und Aufrüstung gefordert hatte, ins Kabinett und gab ihm weitreichende Kompetenzen. Gleichzeitig gingen er auf die Abgeordneten der Labour Party zu und hielt sie über de Prozesse auf dem Laufenden, die zur britischen Kriegserklärung am 2. September führen würden. Dass es überhaupt einen Tag dauerte, bis diese erfolgte (Deutschland griff Polen am 1. September an) lag an den Franzosen, wo Gamelin und die Rechten die Regierung auszubremsen versuchten (und die französische Kriegserklärung auch bis zum 3. September verzögerten). Die britische Regierung wurde umgebildet und beinhaltete nun auch Labour-Minister, die umfänglich in die Kriegsprozesse eingebunden wurden.

Nach dem Zusammenbruch der französischen Armee trat Chamberlain zurück. Sein bevorzugter Nachfolger wäre Außenminister Halifax gewesen. Dieser jedoch zweifelte daran, dass er als Premierminister kompetent war und sah seine Rolle eher als starker Mann der zweiten Rolle. Obwohl weder Chamberlain noch Halifax große Fans Churchills waren, erkannten sie dessen grundsätzliche Qualitäten in einer Krisensituation wie dieser. Churchill, der über keine eigene Machtbasis im Parlament verfügte, wurde Premierminister. Durch den gesamten Krieg hindurch zogen die Mitglieder der britischen Regierung, unabhängig von ihren parteilichen Präferenzen und persönlichen Gegensätzen, am selben Strang. Personal, das sich als inkompetent herausstellte (und davon hatten die Briten eine ganze Menge) wurde zugunsten besserer Kommandeure gefeuert. Es war diese Einheit der britischen Demokratie, die eine notwendige Bedingung für den späteren Sieg war.

Ähnlich war es übrigens auch in den USA. Hier arbeiteten die Republicans sehr eng mit den Democrats zusammen. Im Wahlkampf 1940 vermied es der republikanische Kandidat Wilkie, der Versuchung nachzugeben und Roosevelts zunehmend offensivere Außenpolitik, die auf Aufrüstung und Hilfen für Großbritannien konzentriert war, zu blockieren – eine elementare Voraussetzung für den wirkmächtigen Eintritt der USA in den Krieg ein Jahr später, in dessen weiteren Verlauf die Republicans ebenfalls Posten in der Regierung übernehmen und Roosevelt nach besten Kräften unterstützten.

Warum erzähle ich diese Geschichte? Weil sie als Illustration eines Problems dient, das Demokratien immer plagt. Es handelt sich um die Frage, ob die Opposition – die es in jeder Demokratie geben muss – ein loyale Opposition ist. Was ist mit dem Begriff gemeint? Offensichtlich geht es nicht um Zustimmung zu den Maßnahmen der Regierung. Der ganze Witz an einer Opposition ist ja, dass sie die geplanten Maßnahmen der Regierung opponiert. Eine loyale Opposition ist eine, die das grundsätzliche Funktionieren des Staatswesens in ihre Handlungen und Reden einbezieht.

Die beschriebenen Beispiele Frankreichs und Großbritanniens 1939 sind daher sehr erleuchtend. Frankreichs Regierung besaß 1939 KEINE loyale Opposition. Stattdessen hintertrieb sie die Bemühungen der Regierung um die Stütze des Staates nach Kräften und nutzte, und das ist für die Diskussion hier entscheidend, ihre institutionellen Hebel aus, um die Krisenlösungen der Regierung zu blockieren. Erneut, es ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass es nicht um reine Zustimmung geht. Die Republicans hatten genug an Roosevelts konkreten Maßnahmen auszusetzen und machten da keinen Hehl daraus und Labour kritisierte Churchill vehement. Was sie nicht taten, anders als Daladier in Frankreich (oder die Kommunisten und Rechten) war, die Bemühungen der Regierung um eine Lösung der Krise aktiv zu sabotieren, ohne derweil eine eigene Lösung anbieten zu können.

Dieser Gedanke bestimmt etwa auch die deutsche Einrichtung des „konstruktiven Misstrauensvotums“: ein Kanzler kann nur dann gestürzt werden, wenn die Opposition in der Lage ist, konstruktiv eine Alternative zu bieten. Eine reine Sabotage der Regierung ist im heutigen deutschen System, anders als in Weimar – das offensichtlich und berühmterweise für seine disloyale Opposition bekannt ist – nicht möglich.

Dass die BRD eine loyale Opposition hat, ist auch einer unserer größten Vorteile in der heutigen Zeit. Man denke nur einmal an die Finanzkrise von 2008/2009 zurück. Was auch immer man von den tatsächlichen Krisenbewältigungsmaßahmen der damals regierenden Großen Koalition hielt, weder FDP, noch LINKE, noch Grüne versuchten, diese Maßnahmen aktiv zu behindern. Stattdessen kritisierten sie sie auf Basis ihrer jeweiligen alternativen Vorschläge, sei dies eine Stärkung von Marktkräften und das Vermeiden von Marktverzerrungen seits der FDP oder die Forderung, die verantwortlichen Banker zur Rechenschaft zu ziehen und die Investmentsparte stark zu beschneiden seitens der LINKEn. Keine der Seiten war damit glücklich, was Peer Steinbrück tat, aber sie versuchten nicht, ihn davon abzuhalten, denn ihre jeweiligen Alternativen konnten sie nicht durchsetzen, und in einer Krisensituation reine destruktive Sabotage zu betreiben, wäre eben keine loyale Opposition. Es wäre Schaden am Gesamtsystem der Gesellschaft anzurichten.

Man vergleiche das nur mit der Reaktion auf die Krise in den USA. Als die Finanzkrise dort 2008 voll durchschlug, arbeiteten die Democrats eng mit George W. Bush zusammen, und als Obama die Wahl im November 2008 gewann, kooperierte die geschäftsführende Bush-Regierung aufs Engste mit dem President-Elect. Es war nach dem 19. Januar 2009, als Mitch McConnell und John Boehner die Oppositionsführung übernahmen, dass die Republicans aufhörten, eine loyale Opposition zu sein und versuchten, die Lösung der Finanz- und Wirtschaftskrise aktiv in dem Wissen zu verhindern, dass die Wähler Obama dafür verantwortlich machen würden. Demokratische Parteien tun so etwas nicht, sonst sind sie keine loyale Opposition, und eine loyale Opposition ist die Grundbedingung für das Funktionieren einer Demokratie, besonders in Zeiten der Krise. Man kontrastiere das republikanische Verhalten in den Krisen der Obama-Ära mit der Reaktion der Democrats auf 9/11! Dass die republikanische Strategie 2009 nicht weit reichende Schäden anrichtete lag nur daran, dass die Democrats eine 60-Stimmen-Mehrheit im Senat besaßen und für einige wertvolle Monaten nicht darauf angewiesen waren, dass ihr Gegenpart eine demokratische, loyale Opposition war – eine Bedingung, die bereits Ende 2009 durch den Tod Ted Kennedys nicht mehr gegeben war.  Ein anderes positives Beispiel, über das ich im Blog schon geschrieben habe, ist Frankreich 2017, wo der konservative Parteichef Fillon sich hinter Macron stellt, anstatt Le Pen zu unterstützen – auch wenn seine Partei vom Sieg letzterer möglicherweise kurzfristig mehr profitieren hätte können.

Auch heute sind daher gerade die Demokratien gefährdet, in denen eine loyale Opposition nicht angenommen werden kann. In Deutschland ist die Lage trotz der Verwerfungen durch den Aufstieg der AfD auch deswegen stabil, weil sich eine Bundesregierung – ob Jamaika oder Schwarz-Rot – darauf verlassen kann, dass ihre jeweilige Opposition dem Staatswesen als Ganzem gegenüber loyal gegenüberstellt und country over party stellt. In den USA ist das aktuell auch der Fall – die Trump-Regierung und der republikanisch dominierte Kongress können sich benehmen wie der Elefant im Porzellanladen weil sie sich darauf verlassen können, dass die Democrats im Zweifel lieber die nächste Wahl verlieren als das Gemeinwesen zerstören würden, eine Annahme, an die sich die Republicans dezidiert nicht halten. Aber schon jetzt nehmen bei den Democrats die Stimmen derer zu die fordern, diese loyale Oppositionsrolle aufzugeben – mit unabsehbaren Konsequenzen. Ähnlich ist die Lage in Großbritannien, wo Tories und Labour einander nicht zu Unrecht misstrauen. Glaubt jemand, dass Boris Johnson eine loyale Opposition zu einem Premier Corbyn darstellen würde? Oder dass auf Corbyn Verlass wäre, wenn Theresa May in eine außenpolitische Krise rutscht?

Natürlich gibt es auch die andere Seite der Medaille. Ich habe im Artikel mehrfach betont, dass eine loyale Opposition nicht eine ist, die alle Maßnahmen der Regierung kritiklos mitträgt. Sie ist nur eine, die keine aktive Sabotage betreibt. Eine Opposition, die ihre Oppositionsrolle – eine Regierung im Wartestand zu bilden – nicht wahrnimmt, verletzt ihre demokratischen Pflichten natürlich ebenso. Das ist ein Vorwurf, den sich etwa die SPD vor die Tür legen lassen muss. Wenn ihr neuer Finanzminister Olaf Scholz es etwa als stolze Auszeichnung betrachtet, nichts von seinem Vorgänger im Amt Wolfgang Schäuble ändern zu wollen, dann muss man sich fragen, warum die SPD eigentlich so hart gekämpft hat, das Ministerium überhaupt zu übernehmen. Bietet eine Opposition keine Alternative, oder ist sie gar nicht bereit, die Regierungsverantwortung zu übernehmen, dann gefährdet sie die Demokratie ebenso. Erforderlich ist für demokratische Parteien daher ein Seiltanz zwischen diesen beiden Extremen. Das ist extrem schwierig, aber niemand hat je behauptet, Demokratie sei einfach.

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  • Kning4711 4. Mai 2018, 13:46

    Vielen Dank für die ausführliche Darstellung.

    Die Stunde der loyalen Opposition schlägt ja, wie Du schreibst, in den großen staatsbedrohenden Krisen. In meinen Augen hat eine solche die BRD lediglich während des heißen Herbstes 1977, und auf andere während der Wende 1989 / 1990 und in der Finanzkrise 2008 erlebt.

    Darüber hinaus wurden leider aber auch „krisenhafte Situationen“ herbeigeredet um eben jenes Verhalten zu erzwingen. Hier wird dann schnell mit der Alternativlosigkeit argumentiert. Hier sehe ich insb. den Umgang mit dem Euro Rettungsprogramm, wie auch die sog. Flüchtlingskrise als Exemplare. Der Missbrauch stärkt aber die politischen Ränder, weil Sie den Menschen bedeuten, dass unabhängig von der gewählten Partei, allesamt doch das gleiche machen würden.

    Insofern schaufelt sich die SPD insb. mit Ihrem Finanzminister immer weiter in die Krise, da auch Sie die „schwarze Null“ als oberste Maxime verabsolutiert und somit die Unterscheidbarkeit aufhebt.

    • Blechmann 5. Mai 2018, 00:24

      „Die Stunde der loyalen Opposition schlägt ja, wie Du schreibst, in den großen staatsbedrohenden Krisen. In meinen Augen hat eine solche die BRD lediglich während des heißen Herbstes 1977, und auf andere während der Wende 1989 / 1990 und in der Finanzkrise 2008 erlebt.“

      Ganz genau. Ich würde sogar sagen, die BRD hat bisher überhaupt keine staatsbedrohende Krise erlebt. Eine Krise wo die Existenz des Staates oder der Regierungsform ernsthaft in Frage gestellt war. Die RAF hatte zu keiner Zeit ein Gefährdungspotential für die BRD wie Nazi-Deutschland für Frankreich. Die Wiedervereinigung und die Finanzkrise waren Krisen aber keine staatsbedrohenden Krisen. Wenn es sowas gab, dann am ehesten noch die Kuba-Krise oder der Arbeiteraufstand 1953 in der DDR. Da bestand potentiell die Gefahr, dass die Krise einen Verlauf nimmt, der die Existenz der BRD bedroht.

      • Stefan Sasse 5. Mai 2018, 11:57

        Sorry, aber klar war die Wiedervereinigung eine Krise. Die wurde nur ziemlich gut bewältigt. Stell dir mal vor, du hättest da ein bisschen mehr Pech als Kohl hatte und eine Opposition, die aktiv versucht das zu sabotieren um sich dann als Retter hinstellen zu können. Dito für Finanzkrise.

        • Blechmann 5. Mai 2018, 16:41

          Und dann? Was wäre dann passiert? Die Opposition hätte doch gar keinen Rückhalt in der Bevölkerung gehabt und auch keinen Hebel um irgendwas zu sabotieren. Mal davon ab, dass die Opposition auch für die Wiedervereinigung war, also gar kein Loyalitätskonflikt vorhanden.

          • Stefan Sasse 5. Mai 2018, 20:47

            Ist ja auch nur ein hypothetisches Szenario. Und in einer polarisierten Gesellschaft, wie eine solche disloyale Opposition sie zwangsläufig hervorrufen würde, hättest du auch keinen solchen Konsens.

  • sol1 4. Mai 2018, 15:17

    Es gibt ja in der deutschen Politik einen eigenen Begriff für eine disloyale Opposition:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Sonthofen-Strategie

    Vermutlich fiel die Niederlage von Franz Josef Strauß 1980 deshalb so deutlich aus, weil man sich noch gut an diese Rede von 1974 erinnerte.

    • Stefan Sasse 4. Mai 2018, 17:47

      Nun, zugegeben, Lafontaines Strategie 1995 bis 1998 war in der Beziehung auch nicht fein, aber das finde ich noch nicht disloyal.

  • Ralf 4. Mai 2018, 21:10

    Aber schon jetzt nehmen bei den Democrats die Stimmen derer zu die fordern, diese loyale Oppositionsrolle aufzugeben – mit unabsehbaren Konsequenzen.

    Also in Bezug auf die Democrats machst Du hier, glaube ich, den selben Fehler, den Du so oft bei anderen kritisierst. Du setzt Dinge gleich, die einfach nicht gleich sind. Die Republikaner betreiben eine Politik der verbrannten Erde – jenseits von Moral, Anstand, Demokratie und Recht. Es geht nur noch um Machterhalt und um das Sichern von Pfruenden, solange es eben geht. Keiner der heutzutage in die Pressebriefings des Weissen Hauses geht, erwartet mehr, dass dort auch nur ein einziges Koernchen Wahrheit vom Podium gelesen wird.

    Du liegst richtig in der Einschaetzung, dass viele Anhaenger der Democrats sich eine intensivere Opposition wuenschen. Aber nirgendwo in diesem Lager kann ich Forderungen entdecken, die auch nur annaehrungsweise in die Richtung dessen gehen, was die GOP so betreibt. Die Diskussion bei den Democrats ist laut und heftig, aber nirgendwo wird dauergelogen, bis sich die Balken biegen. Die Wut auf die Trump-Waehler im November 2016 ist gross, aber nirgendwo wird diskutiert diesen Waehlern ihr Mandat wegzunehmen oder den Vote dieser Waehler zu unterdruecken. Bei den Democrats mag sich der ein oder andere etwas populistischere Kandidat in die vordere Reihe draengen, aber nirgendwo im linken Spektrum stellen sich Kinderschaender, Gewalttaeter und frisch entlassene Gefaengnisinsassen zur Wahl. Und nirgendwo gibt es ein intellektuelles Aequivalent zu Donald Trump, Michele Bachman, Roy Moore, Sharron Angle, Ben Carson und und und. Fox News und Breitbart sind nicht beliebt bei den Democrats, aber nirgendwo werden deren Reporter bedroht, zum Feind Amerikas erklaert oder physisch angegriffen.

    Manche Diskussionen muessen einfach gefuehrt werden. Nimm an, die Democrats holen im November den Senat (unwahrscheinlich, aber nicht unmoeglich) und ein weiterer Sitz im Supreme Court wird frei und muss besetzt werden. Sollten die Democrats dann wirklich einen weiteren Trump-Nominee durchwinken, nachdem die Republikaner bereits einen Sitz gestohlen haben? Ist es am Ende sinnvoll fuer die Demokratie, dem Bully seine Beute zu belassen und sogar noch freiwillig etwas draufzugeben? Wuerde die amerikanische Demokratie untergehen, wenn sich die Democrats den Sitz, der ihnen demokratisch zustand, wieder zurueckholen? Ich finde wir sollten viel oefter an solchen ganz konkreten Beispielen argumentieren. Und da sehe ich beim besten Willen, auch am populistischsten linken Rand, keine Hinweise auf eine aehnliche Verantwortungslosigkeit, Demokratiefeindlichkeit und Abwesenheit jeglicher Moral und anstaendigen Verhaltens. Und nein, die Democrats sind auch nicht langsam auf dem Weg dorthin.

    Ähnlich ist die Lage in Großbritannien, wo Tories und Labour einander nicht zu Unrecht misstrauen. Glaubt jemand, dass Boris Johnson eine loyale Opposition zu einem Premier Corbyn darstellen würde? Oder dass auf Corbyn Verlass wäre, wenn Theresa May in eine außenpolitische Krise rutscht?

    Und leider schon wieder so eine voellig aus der Luft gegriffene und unbegruendbare Gleichsetzung. Siehst Du wirklich keinen Unterschied zwischen Boris Johnson und Jeremy Corbyn? Boris Johnson betreibt aktiv und nachhaltig eine Politik die den britischen Buergern und dem britischen Staat schweren wirtschaftlichen Schaden zufuegt. Und das trotz und entgegen besseren Wissens, wie eine vor einigen Monaten entdeckte und von Johnson selbst geschriebene Kolumne zeigt. Johnson geht es um nichts anderes als um sich selbst. Er ist offensichtlich bereit den gesamten britischen Staat in den Abgrund zu reissen, um seine eigene Machtbasis auszubauen. Folglich ist die Frage, ob Johnson wohl in „loyaler Opposition“ zu einer Regierung Corbyn stuende, eine grotesk einfach zu beantwortende rhetorische Frage.

    Aber welche konkreten Hinweise, um Gottes Willen, hast Du dahingehend, dass Jeremy Corbyn in einer schweren aussenpolitischen Krise, die politische Beschaedigung von Theresa May zur Prioritaet machen wuerde, auch wenn das bedeuten wuerde, dass das Vereinigte Koenigreich dadurch nachhaltigen Schaden naehme? Hast Du einen solchen „Verbrannte Erde“-Wahlkampf etwa bei der letzten Wahl zum Unterhaus gesehen? Oder in der Brexit-Debatte? Oder sonstwo? Ich kann beim besten Willen nicht entdecken, dass die Labour-Party unter Corbyn eine unethische Kampagne gegen die Regierung fuehrt. Oder vorbereitet. Auf solch unsinnige Gleichsetzungen der Linken mit der Rechten sollten wir also auch in UK besser verzichten.

    • Stefan Sasse 5. Mai 2018, 11:54

      Ich hätte nicht gedacht dass ich mich dafür rechtfertigen müsste, zu unfreundlich gegenüber den Democrats zu sein 😀
      Ich stimme dir absolut zu. Ich denke ich hätte deutlicher machen müssen, dass ich mehr von einem „wehret den Anfängen“ rede. Aktuell sind die Democrats schlicht Engel, das kannst du kaum anders sagen. Nur wird – irgendwann – auch mal ein Arschloch daherkommen. Das lässt sich kaum vermeiden. Und wie die Republicans uns gerade zeigen: wenn du jahrelang nur Politik der verbrannten Erde machst, hast du am Ende eine halbe Fascho-Partei.
      Das Dilemma, das du beschreibst, habe ich gerade auch ständig. Und ich bin völlig unsicher, wie das aufzulösen ist. Ein Freund von mir, der Wahlkampfberater für die Democrats, Labour und SPD Politikberatung macht, argumentiert sehr in deinem Sinne. Und ich komme langsam, aber sicher, auch immer mehr darauf, dass Court Packing, Obstruktion etc. wahrscheinlich die einzige Lösung gegen die Republicans sind. Aber auf der anderen Seite finde ich auch eben die „wehret den Anfängen“-Argumente von moderaten Konservativen wie Tom Nichols oder David Frum überzeugend…

      Was Großbritannien angeht, bin ich möglicherweise etwas von meinem obig erwähnten Freund beeinflusst. Aber: ich finde Corbyns Lavieren in Sachen Brexit ziemlich grasuig.

      • Ralf 5. Mai 2018, 22:35

        Aber: ich finde Corbyns Lavieren in Sachen Brexit ziemlich grasuig.

        Corbyn und die Labour-Party sind in einer schwierigen Lage. Die Partei ist sehr gespalten in der Brexit-Frage. Viele junge Mitglieder wollen sich nach Europa hin orientieren und den Brexit rueckgaengig machen, waehrend viele aeltere Stammwaehler unbedingt aus der EU austreten wollen. Corbyn muss irgendwie einen Bogen spannen, der alle diese Gruppen mit einbezieht und allen eine politische Heimat gibt. Das ist nunmal nicht ganz einfach. Dazu kommt, dass Corbyn persoenlich wohl auch eher dazu tendiert, die EU, die er als von Deutschland gesteuerten Hort des Neoliberalismus empfindet, zu verlassen. Aber ganz egal wie man dazu steht, in welcher Hinsicht hat sich der Labour-Chef denn unloyal gegenueber dem Vereinigten Koenigreich verhalten? Theresa May wird von ihren eigenen Ministern und den Brexit-Hardlinern unter ihren eigenen Parteigaengern erheblich heftiger und beschaedigender angegriffen als durch die Opposition. Wo hat Corbyn denn sein eigenes Wohl ueber das Wohl des Landes gestellt? Wo hat Corbyn in unethischer Weise seinen eigenen parteitaktischen Vorteil priorisiert, zum Nachteil von Grossbritannien? Du magst Corbyn als Politiker ablehnen oder Du magst seine Ziele fuer falsch halten oder Du magst seine Parteifuehrung kritisieren, aber wo hat er sich des Tatbestands schuldig gemacht, eine „unloyale Opposition“ zu sein?

        • Stefan Pietsch 6. Mai 2018, 09:06

          Corbyn vertritt nicht die Breite seiner Partei, sondern seine ganz persönliche Position. Sein einziges Problem dabei: seine Fangemeinde steht wie Sie richtig sagen, woanders.

          Gerade am Beispiel BREXIT zeigt sich die Fragwürdigkeit des Konzepts der „loyalen Opposition“. Ohne Frage handelt es sich dabei um eine existenzielle Frage für das Land. Ein umstrittener Volksentscheid erbrachte ein Zufallsergebnis, doch obwohl die Hälfte der Bevölkerung gegen das Ergebnis opponiert, laufen die beiden Lager wie Lemminge auf Autopilot in eine Richtung und bilden einen großen Teil der Wählerschaft gar nicht ab. Gerade Corbyns Labour versagt als Gegengewicht, weil sie verhängnisvollerweise „loyal“ sind oder einfach so borniert wie die alten knorrigen Briten.

          Das ist keine Sternstunde der Demokratie, sondern die dunkle Seite von Populisten auf beiden Seiten des Tisches. Mehr gestraft kann ein Land kaum sein von seiner politischen Klasse.

          • Ralf 6. Mai 2018, 21:47

            Corbyn vertritt nicht die Breite seiner Partei, sondern seine ganz persönliche Position. Sein einziges Problem dabei: seine Fangemeinde steht wie Sie richtig sagen, woanders.

            Dafuer gibt es keine ausreichenden Evidenzen. Die Labour-Party ist sehr stark polarisiert in der Frage des Brexit. Viele aeltere Waehler aus der Arbeitergeneration, die der Partei ueber Jahrzehnte treu geblieben sind, wuenschen sich einen Abschied von Europaeischen Union. Unter den Leave-Waehlern beim Referendum waren viele Labour-Unterstuetzer, gerade in Wales, und Nord- sowie Westengland. Dem gegenueber steht die junge Generation, die sich einen staerkeren Anschluss an die EU wuenscht und Teil von Europa sein moechte. Corbyns aktuelle Position einer Zollunion entspricht in der Praxis einem Soft-Brexit, also einem Brexit, den man kaum spueren wird. Denn die EU hat bereits kategorisch ausgeschlossen eine Zollunion einzugehen, wenn diese nicht gleichzeitig parallel mit der freien Mobilitaet und Arbeitsrechten fuer EU-Buerger, sowie der Anerkennung und Einhaltung von EU-Recht, einhergeht. Corbyns Position wuerde in der Praxis also darauf hinauslaufen, dass Grossbritannien in Zukunft etwas geringere Beitraege nach Bruessel ueberweist und dafuer sein Mitbestimmungsrecht in EU-Fragen verliert, aber trotzdem gezwungen sein wird in diesen Fragen mitzuziehen. Dafuer wird man eine scheinbare, praktisch aber sehr begrenzte Autonomie erhalten. Die Briten werden also in ihrem vollen Nationalstolz den Union Jack hissen koennen. Ausserdem bleibt in diesem Szenario das Irland-Problem geloest. Diese Position des Soft-Brexit liegt als Kompromiss in der Mitte derer, die gerne in der EU bleiben wuerden (vornehmlich die Jungen) und denen, die sie gerne verlassen wuerden (vornehmlich die Alten). Damit wird der Labour-Chef aus meiner Sicht der Breite seiner Partei absolut gerecht. Und viele Alternativen sehe ich hier auch nicht.

            Haette Corbyn das getan, was Sie sich scheinbar von ihm gewuenscht haetten, naemlich dass er aktiv fuer einen Verbleib des Vereinigten Koenigreichs in der EU geworben haette, dann haette ihn sehr wahrscheinlich das selbe Schicksal ereilt wie vor ihm Hillary Clinton. Die hatte sich ja auch vornehmlich auf Projekte konzentriert, die bei den einfachen Leuten als reine Elitenprojekte fuer die Grosskopferten wahrgenommen werden und die Aengste und Sorgen der Arbeiterschicht ignoriert. Die Folge war ein Verlust fast des gesamten mittleren Westens und eine krachende Niederlage bei der Praesidentschaftswahl. Auch die EU wird bei vielen – ob zu Recht oder zu Unrecht – als reines Elitenprojekt gesehen. Ein kluger Parteichef nimmt solche Ansichten Ernst und sucht nach Kompromissen.

            Aber seien wir mal ehrlich. Sie wuenschen sich doch nichts mehr, als Corbyn scheitern zu sehen, weil Sie seine politischen Positionen ablehnen. Also ist es wirklich nicht so schrecklich verwunderlich, dass Sie ihm einen Kurs empfehlen, der in seinen sicheren Untergang fuehren wuerde. Wenn Ihnen der politische Gegner gute Ratschlaege gibt, sollte man immer sehr skeptisch zuhoeren …

            Im uebrigen sehe ich Ihr Problem mit Corbyn nicht. Wie gesagt, ich denke dass der Labour-Chef die Breite der Partei in seinen Positionen durchaus abbildet. Aber selbst wenn das nicht der Fall waere, wieso waere das ausgerechnet fuer Sie eigentlich ein Problem. Sie haben hier nie einen Zweifel daran gelassen, dass Gerhard Schroeder fuer Sie ein Held war. Aber der setzte seine Sozialreformen nicht nur gegen den entschiedenen Widerstand seiner eigenen Partei, sondern auch gegen solide Mehrheiten der deutschen Bevoelkerung durch. Das laesst sich zweifelsfrei belegen, durch damalige Umfragen, durch die dramatische Austrittswelle bei der SPD, durch die Gruendung der WASG, durch den Verlust zahlreicher SPD-Spitzenpolitiker bis hin zu einem ehemaligen Vorsitzenden, mehreren krachenden Wahlniederlagen sogar in SPD-Bastionen wie NRW, Schroeders Verlust des Parteivorsitzes und schliesslich die Kapitulation, als Schroeder sein Amt als Bundeskanzler wegwarf. Fuer Sie alles kein Problem. Schroeder ist ein Held. Aber wenn Schroeder damals ein Held sein konnte, dann muss auch Corbyn ein Held sein koennen, wenn er sich (, was er wie gesagt garnicht tut) gegen seine Partei und das britische Volk stellen wuerde und lediglich seine „persoenlichen“ Ansichten durchdruecken wuerde. Wie so oft bei Ihnen, zeigt sich leider wieder einmal, dass Sie schlicht nicht konsequent argumentieren. Es geht bei Ihnen nicht darum was menschlich oder moralisch oder politisch objektiv richtig oder falsch ist. Sondern es geht ausschliesslich darum, ob jemand Ihre politischen Ziele anstrebt oder nicht. Strebt jemand Ihre politischen Ziele an, dann ist jedes Mittel Recht. Sie werden immer irgendwelche entschuldigenden Argumente finden, weshalb das schon alles irgendwie legitim war. Und wenn es um jemanden geht, der Ihre politischen Ziele nicht unterstuetzt (Corbyn, die LINKE, Bernie Sanders, Alexis Tsipras), dann finden sich immer irgendwelche Punkte, mit denen man den Gegner schlecht reden kann. Auch wenn man dafuer alle seine moralischen Argumente und Bedenken von gestern ueber Bord schmeissen muss …

            Das zeigt sich unter anderem auch darin, wie Sie ueber das britische Brexit-Referendum reden. Sie nennen das ein „Zufallsergebnis„. Das ist eigentlich ziemlich respektlos. Ich bezweifele sehr stark, und ich glaube mich sogar an eine konkrete Diskussion mit Ihnen vor ein paar Jahren zu diesem Thema erinnern zu koennen, dass Sie ein enges Ergebnis, das in Ihrem Sinne ausgefallen waere, als ein „Zufallsergebnis“ bezeichnet haetten. Im Gegenteil. Sie wuerden dann von einem „knappen, aber klaren Mandat“ sprechen.

            Referenden sind nunmal so. Sie bilden die Stimmungslage zum Abstimmungszeitpunkt ab. Und an dieser Stimmungslage hat sich uebrigens relativ wenig geaendert. Umfragen in Grossbritannien sind pathologisch ungenau und haben historisch einen sehr geringen Vorhersagewert. Aber die wenigen Umfragen, die es gibt, legen nicht nahe, dass sich die Stimmung in UK dramatisch gewandelt haette. Die britische Gesellschaft ist nach wie vor gespalten und stark polarisiert. Und pro-EU-Hardlinern auf der einen Seite und Hard-Brexit-Hardlinern auf der andern Seite stehen viele Buerger gegenueber, die sich Kompromissloesungen in der Mitte wuenschen, auch wenn viele dieser Loesungen am Ende nicht realistisch sind. Den Willen des Volkes gerecht und vollstaendig abzubilden, ist oft nicht einfach. Ich persoenlich bin kein Fan von Referenden. Und ich bin als ueberzeugter Europaeer auch kein Fan des Brexits. Aber wenn die Buerger schon befragt werden, und es zu einem Ergebnis kommt, sollten wir mehr Respekt vor diesem Ergebnis haben, als es als reines „Zufallsresultat“ zu diskreditieren (und ihm damit jede Legitimation zu entziehen), nur weil uns das Resultat nicht passt. Das ist naemlich genau der Punkt, an dem die Demokratie zu zerbroeseln beginnt: Wenn der Verlierer einer Wahl das Ergebnis nicht anerkennt.

            • Stefan Pietsch 7. Mai 2018, 00:05

              Ich komme gleich zum zentralen Punkt Ihres Kommentars: Sie verstehen mich nicht. Es ist dabei völlig egal, ob weil Sie es nicht können, nicht wollen, ich mich nicht genügend erkläre, what so ever. Sie verstehen mich nicht, weil Sie eine Karikatur von mir im Kopf haben, obwohl ich schon sehr viel Persönliches von mir, gerade Ihnen gegenüber, preisgegeben habe. Sie halten mich für einen kalten Unternehmer, einer Hardcore-FDP zugeneigt, einen Fundamentalisten, der mit der Bibel in der Hand antichristliche Werte predigt. An solchen Punkten hören Sie nicht hin. Sie können einen Menschen nicht verstehen, wenn Sie sich nicht mit seiner (echten) Persönlichkeit auseinandersetzen. Sie können bestenfalls Argumente verstehen, nicht jedoch die dahinterliegenden Werte. Schauen Sie, einen Satz wie diesen

              Es geht bei Ihnen nicht darum was menschlich oder moralisch oder politisch objektiv richtig oder falsch ist.

              hätte ich nie geschrieben. Man kann ihn idealistisch nennen, utopisch oder subjektiv. Aber diese Begriffe sind durch unsere persönlichen, individuellen Werte aufgeladen. Es gibt keinen Wikipedia-Eintrag, da steht, das ist human. Ich bin ein analytischer Mensch, sowohl beruflich als auch privat oder im Politischen. Sowohl mein Job als auch meine persönlicher Auffassung nach gebe ich Empfehlungen, die ich selbst nicht als optimal, wünschenswert oder sonst etwas bezeichnen würde. Meine erste Aufgabe ist es, mich in die Ziele meines Gegenübers – ob CEO, Mutter oder Ehefrau – zu versetzen, deren Wertesystem zu verstehen und davon abgeleitet professionelle Ratschläge zu geben. Das verstehen die meisten Menschen nicht, sie geben Empfehlungen, was sie selbst tun würden – und dazu gehören Sie auch (also kein Vorwurf). Aber das ist niemals ein guter Berater. Ich will aber ein guter Berater sein, das ist mein Anspruch. Nicht, meine eigenen Ziele durch andere durchzusetzen. Und dafür werde ich auch (gut) bezahlt. Ich weiß, dass ich das in einen luftleeren Raum schreibe, denn wahrscheinlich können Sie es nicht verstehen.

              Ich stelle mich häufiger auf die Seite der AfD. Sie meinen, weil mir einige Ziele der Partei sympathisch sind. Nur, das ist reiner Bullshit. Ich habe viel und lange strategische Spiele gespielt. Das Wichtigste, was Sie lernen, was Sie lernen müssen, den Gegner zu verstehen. Sie sind schachmatt in fünf Zügen, wenn Sie das nicht beherzigen. Aber wie gesagt, Sie sind ein anderer Mensch und Sie denken ich ticke wie Sie, nur halt völlig falsch. Ich kann mir z.B. nicht vorstellen, dass Sie je mit einem Anwalt mehr zu tun hatten, als wie Sie eine Rechnung bezahlt bekommen. Ich bin kein Anwalt, aber ich arbeite ähnlich analytisch und beratend.

              Ich habe bei Bush mehrfach geschrieben, dass er kein Mandat zu einer klaren, konservativen Politik hatte. Er hatte ja keine wirkliche Mehrheit, sondern Glückskind einer Laune des Wahlsystems. Ich kann in direkten Voten keine höhere Legitimation erkennen als in einer repräsentativen Wahl, schon gar nicht, wenn die Beteiligung in Plebisziten deutlich unter der allgemeiner Wahlen liegt. Die wissenschaftliche Forschung gibt mir dazu recht, nur soviel, weil ich das auf dem Schirm für einen Artikel habe. Schröder hat das ökonomisch Richtige getan und damit gemäß seinem Amtseid gehandelt. Ich ziehe nicht in Zweifel, dass er damit maßgeblich seine eigene Partei zerlegt hat. Aber wir wählen Regierungschefs, keine Parteiführer in die Ämter des Staates. Gysi hatte für sich erkannt, dass er das nicht hinbekommt, dass er ein anderer Mensch ist, zu viel Anwalt, um Diener des Staates zu sein.

              Sie haben nie auf den Vorhalt, dass Corbyn zwar zeit seines parteipolitischen Lebens gegen seine eigene Partei stimmte und somit illoyal war, aber heute gleichzeitig diese Loyalität von jedem einfordert. Ich verstehe das ehrlich gesagt nicht. Das ist doch Opportunismus in Reinkultur, es gilt mein Gesetz. Warum antworten Sie darauf nicht, rechtfertigen oder verurteilen es?

              Sie verstehen nicht, dass es mir um die Stabilität der Demokratie geht. Sie halten mich nicht für einen Demokraten, da kann ich noch so sehr beteuern, dass die LINKE bis heute politisch und demokratietheoretisch notwendig ist, weil sie Wählerschichten einfängt, die nicht unwichtig sind und die sonst keine politische Heimat hätten. Sie müssen sich den klaren Vorwurf gefallen lassen, dies konsequent zu überlesen. Umgekehrt halten Sie die AfD und die Liberalen für ein Krebsgeschwür, das ausgemerzt gehört. Das ist aus Ihrer Sicht die beste Strategie. Und die SPD, wenn sie sich der LINKEN (welcher eigentlich?) anschließen würde. Im Gegensatz zu Ihnen will ich, dass Benachteiligte dieser Gesellschaft parlamentarisches Gehör finden. Sie wollen, dass die Wähler von AfD und FDP kein Gehör finden. Das ist der Unterschied zwischen uns, in Werten und Denken. Sie begreifen das Parlament als eine Arena, wo einer obsiegen muss. Endgültig. Ich sehe das Parlament als Vertretung gesellschaftlich relevanter Schichten, die miteinander zivil und nach demokratischen Spielregeln allgemeine Regeln, Gesetze und Kompromisse aushandeln müssen.

              Der BREXIT ist eine klare Frage nach Ja oder Nein. Das Eine ist, dass die Bevölkerung mit niedriger Beteiligung knapp darüber abgestimmt hat. Das andere ist, dass der Staat Großbritannien eine klare Verhandlungsposition finden und vertreten muss. Die Tories haben eine klare Position. Geschenkt, dass diese völlig illusorisch ist. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts gibt es in UK nur noch eine relevante politische Kraft, Labour. Nach meinem parlamentarischen, demokratischen Verständnis müsste diese Partei nun angesichts der Verhältnisse eine klare oppositionelle Strategie entwerfen, weil sonst die knappe Hälfte der Briten kein Auffangbecken für ihre Sicht der Dinge hat. Corbyn verweigert diese Klarheit.

              Es gibt in Deutschland einen vergleichbaren Fall, an den Sie und Stefan sich wahrscheinlich schon aus Altersgründen kaum erinnern können. 1991 tobte in Deutschland ein ähnlich aufgeladener Kampf um die Frage, ob Berlin gemäß der Verfassung wieder Hauptstadt des wiedervereinten Deutschlands werden sollte. Yes or No. Zahlreiche Minister des Bundeskabinetts hatten ihre Position zu Protokoll gegeben, die meisten Parteien bzw. ihre Spitzen hatten sich klar positioniert, für Bonn oder Berlin. Der Bundespräsident Richard von Weizäcker hatte dies getan. Die Bundestagspräsidentin war für Bonn und verließ für die Zeit der Beratungen ihren neutralen Platz an der Spitze des Parlaments. Es war vereinbart, dass die Abstimmung freigegeben würde, es handelte sich um eine Gewissensfrage.

              Alles wartete auf das Statement des Bundeskanzlers. Zeitlich kurz vor der historischen Debatte erklärte Helmut Kohl, dass er als Abgeordneter des Deutschen Bundestages für Berlin sei. Historische Feigheit. Und dabei urteile ich über den ehemaligen Abgeordneten des Wahlkreises Ludwigshafen nicht, weil ich selbst größter Berlin-Fan bin und aus meiner Studentenbude meine Freude in die klare Frühsommernacht hinausschrie.
              https://www.youtube.com/watch?v=akG_Elp0P_0
              ab Minute 1:10:00
              Ich fand es feige, weil ein Verfassungsorgan und die Spitze einer Partei sich der Klarheit verweigerten. Frage an Sie: warum sollte ich bei solchen Überzeugungen über Jeremy Corbyn anders urteilen? Eine solche Bewertung ergibt sich aus meinem Wertesystem, nicht meiner Position bei politischen Fragen. Verstehen Sie das?

              Menschen erwarten von ihren politischen Vertretern Orientierung, gerade in Ja-oder-Nein-Fragen. Charismatische Politiker können Mehrheiten drehen, weil Menschen grundsätzlich vertrauen. Im Gegensatz zu besonders intelligenten Menschen wissen die einfacheren, dass sie nicht die absolute Wahrheit gepachtet haben. Berater wissen das meist auch.

              • Rauschi 8. Mai 2018, 06:13

                Sie können einen Menschen nicht verstehen, wenn Sie sich nicht mit seiner (echten) Persönlichkeit auseinandersetzen. Sie können bestenfalls Argumente verstehen, nicht jedoch die dahinterliegenden Werte.
                Wessen Persönlichkeit kennen Sie denn? Die von Ralf etwa, oder von Herrn Gabriel oder von Herrn Corbyn? Wie haben Sie Sich denn mit denen auseinandergesetzt? Welche Werte erkennt man erst, wenn man die Persönlichkeit versteht? Werte müssen auch nicht verstanden, sondern erkannt werden. Sie schreiben zwar permanent, es würde Ihnen um die unteren 20% gehen, nur ist in keiner Ihrer Empfehlungen nur ein Hauch davon zu lesen. Ihre Werte sind also nicht echt, sondern nur sehr oberflächlich.

                Meine erste Aufgabe ist es, mich in die Ziele meines Gegenübers – ob CEO, Mutter oder Ehefrau – zu versetzen, deren Wertesystem zu verstehen und davon abgeleitet professionelle Ratschläge zu geben.
                Zuerst habe ich gedacht, das wäre Satire, aber Sie scheinen das ernst zu meinen. In wessen Ziele haben Sie Sich jemals versetzt, nur hier im Blog? Kennen Sie die Ziele von Corbyn, oder worauf soll das hinauslaufen? Sie sind der einzige, der Dinge zu Ende denken kann, weil Sie den absoluten Durchblick haben? Dass Sie die Ziele der Linken verachten, kommt ja mehr als deutlich zum Ausdruck, sonst wäre das Linkenbashing vollkommen überflüssig.

                Aber das ist niemals ein guter Berater. Ich will aber ein guter Berater sein, das ist mein Anspruch.
                Für wen, für einen Linkenpolitiker in einem anderen Land, der Sie nicht um Ihre Beratung gebeten hat? Soll das ein Witz sein? Warum das niemals ein guter Berater ist, erschliesst sich mir auch nicht.

                Nicht, meine eigenen Ziele durch andere durchzusetzen.
                Da dachte ich doch, das wäre die Aufgabe von Parteien (die Ziele Ihrer Wähler durchzusetzen), habe ich wohl falsch verstanden.

                Ich weiß, dass ich das in einen luftleeren Raum schreibe, denn wahrscheinlich können Sie es nicht verstehen.
                Das hat rein gar nichts mit verstehen zu tun. Wenn Sie Sich so verhalten würden, wäre es erkennbar, und zwar losgelöst von Ihren inneren Werten. Einfach dadurch, was und wie Sie schrieben.

                Sie haben nie auf den Vorhalt, dass Corbyn zwar zeit seines parteipolitischen Lebens gegen seine eigene Partei stimmte und somit illoyal war, aber heute gleichzeitig diese Loyalität von jedem einfordert. Ich verstehe das ehrlich gesagt nicht. Das ist doch Opportunismus in Reinkultur, es gilt mein Gesetz.
                Wo ist jetzt der Unterschied zu Schröder, der sich exakt so darstellen lässt? Der Unterschied ist, das Corbyn ein einfacher Abgeordneter war und seiner eigenen Linie und Überzeugung (vulgo Werte) immer treu geblieben ist, aber sonst weder Gesetze gemacht noch verhindert hat. Schröder war Regierungschef und hat die Gesetze gemacht und Basta dazu gesagt. Fällt Ihnen echt nichts auf?

                Sie müssen sich den klaren Vorwurf gefallen lassen, dies konsequent zu überlesen. Umgekehrt halten Sie die AfD und die Liberalen für ein Krebsgeschwür, das ausgemerzt gehört.
                Nein, den Vorwurf muss er sich nicht gefallen lasse, da es schlichtweg eine Verdrehung ist, seine Position so dar zu stellen.
                Wenn es hier jemanden gibt, der immer Verständnis gezeigt hat und auch andere Positionen gelten lässt, dann trifft das auf Ralf in besonderen Maß zu.
                Ich würde Ihnen dringend raten, Ihre Selbstwahrnehmung auf Übereinstimmung mit der Realität zu überprüfen. Fragen Sie einfach andere, wie die Sie wahrnehmen und wenn die Ihrer Einschätzung folgen sollten, dann müssen Sie dringend an Ihre Schreibstil arbeiten. Denn alles, was Sie schreiben, zeigt mir das genaue Gegenteil.

                • Stefan Pietsch 8. Mai 2018, 07:08

                  Wo ist jetzt der Unterschied zu Schröder, der sich exakt so darstellen lässt? Der Unterschied ist, das Corbyn ein einfacher Abgeordneter war und seiner eigenen Linie und Überzeugung (vulgo Werte) immer treu geblieben ist, aber sonst weder Gesetze gemacht noch verhindert hat.

                  Sie beantworten Unlogiken nicht durch Vergleiche. Im Gegenteil, hier fügen Sie weitere hinzu. Die Frage war, ob jemand, der selbst durch und durch illoyal ist, selbst bedingungslose Loyalität einfordern kann? Oder die positive Formulierung: Kann jemand, der selbst immer nur nach seinen Werten abgestimmt hat (die im Konflikt zur Parteilinie standen), kann er von anderen Abgeordneten verlangen, dass sie gegen ihre Werte stimmen (die im Konflikt zur Parteilinie des Vorsitzenden stehen)? Im britischen Unterhaus haben die Parlamentarier eine sehr starke Stellung, da ihr Mandat direkt ist.

                  Corbyn zeigte immer wieder antisemitische Ausfälle und eine große Nähe, ja Sympathie zu Autokraten. Gerade jemand, der ja stets nur nach seinen Werten handelt, könnte man damit unterstellen, Antisemit und Verherrlicher autokratischer Regierungsformen zu sein, zumal, wenn er seine eigene Partei autokratisch führt.

                  Zur Durchsetzung einer Politik gehören Mehrheiten, also Abgeordnete, die dieser zustimmen. Es ist schwierig, solche Mehrheiten mit illoyalen Abgeordneten oder solchen, die nur ihren eigenen Werten folgen, zu erreichen.

                  • Rauschi 8. Mai 2018, 07:47

                    Sie beantworten Unlogiken nicht durch Vergleiche. Im Gegenteil, hier fügen Sie weitere hinzu. Die Frage war, ob jemand, der selbst durch und durch illoyal ist, selbst bedingungslose Loyalität einfordern kann?
                    Sie sind doch hier der Unlogische, Sie finden Schröder voll dufte, aber Corbyn illoyal, obwohl beide das gleiche, aber in unterschiedlichen Positionen und mit unterschiedlichen Auswirkungen gemacht haben. Die müssen die Unlogik aufklären, nicht ich. Wenn die Abgeordneten so stark sind, warum wird dann jemand wie Corbyn Chef von dat janze? Denen steht es auch frei, die Linie nicht mit zu gehen, wenn die doch angeblich so stark und unabhängig sind. Die Basis allerdings steht voll hinter dem Chef, im Gegensatz zu Schröder, der alle gegen sich hatte und trotzdem seine Politik durchgesetzt hat.
                    Nähe zu Autokraten, was soll das heissen? Anitsemitisch wird heute schon bei Kritik an der Politik Israels behauptet, das zählt nicht mehr, weil ausgelutscht und inflationär im Gebrauch. Tragisch eingentlich, weil es sicher auch verbreitet echten gibt, nur wirkt der Vorwurf nicht mehr.
                    Aber Sir haben doch angeblich die Ziele verstanden, dann sollten Sie die auch erklären können. Warum macht Corbyn das, was er macht?

                    Es ist schwierig, solche Mehrheiten mit illoyalen Abgeordneten oder solchen, die nur ihren eigenen Werten folgen, zu erreichen.
                    Aber einem illoyalen Parteichef zu folgen ist einfacher, oder warum ist das bei Schröder heldenhaft gewesen?
                    Wenn eine Partei Mitglieder, die Ihren Werten treu bleiben (was Sie im übrigen immer von anderen verlangen und für sich reklamieren) nicht aushalten kann, dann hat die Partei ein Problem, nicht der Abgeordnete. Der war ja auch ein Teil dieses Parlamentes und auch direkt gewählt, wo ist denn Ihr Problem? Der Chef meint spring und die Abgeordneten fragen nur, wie hoch, ist das Ihre Vorstellung von Demokratie?

                    • Stefan Pietsch 8. Mai 2018, 08:04

                      Leider wieder: zweimal gefragt, zweimal keine Antwort erhalten, nämlich darauf, wie jemand Gefolgschaft einfordern kann, der nicht selbst gefolgt ist. Damit ist die Diskussion zu Ende, Sie können es nicht erklären.

                      Ein Parteichef wird von den Mitgliedern einer Partei gewählt, der Abgeordnete von der Mehrheit der Wähler in einem Wahlkreis. Doch dies jetzt näher zu erläutern, würde zu weit führen.

                    • Rauschi 8. Mai 2018, 09:34

                      Leider wieder: zweimal gefragt, zweimal keine Antwort erhalten, nämlich darauf, wie jemand Gefolgschaft einfordern kann, der nicht selbst gefolgt ist. Damit ist die Diskussion zu Ende, Sie können es nicht erklären.
                      Wieder das gleiche dämliche Spiel. Sie müssen doch die Frage beantworten, warum die Partei jemandem folgen soll, der das glatte Gegenteil von dem durchsetzen will, für das man selbst steht (Agenda 2010). Das hat Gerhard Schröder, der von Ihnen bejubelte Held doch gemacht und Sie fanden das gut und richtig. Warum ist der ein Held, Corbyn in einer ähnlichen Situation (der hat aber die Parteibasis hinter sich, im Gegensatz zu Schröder) aber nicht?! Das Sie mit zweierlei Mass messen ist ja nicht neu, aber immer wieder erhellend.

                      Woher nehmen Sie eigentlich die Gewissheit, das die Abgeordneten nicht hinter Corbyn stehen, das ist ja nur Ihr immer wieder vorgetragene Behauptung, Fakten dazu habe ich keine gelesen. Die Mehrheit, die den Parteichef wählt, will etwas komplett anderes, als die Mehrheit, die die Abgeordneten wählt? Ich habe schon mehrfach geschrieben, ich habe nicht den Eindruck, das die Abgeordneten den Willen der Wähler vertreten und bei den alten Blair Leuten schon mal gar nicht.

                      Wie war das mit dem Ziel,
                      [Meine erste Aufgabe ist es, mich in die Ziele meines Gegenübers – ob CEO, Mutter oder Ehefrau – zu versetzen, deren Wertesystem zu verstehen und davon abgeleitet professionelle Ratschläge zu geben.]
                      das Sie ja angeblich erkennen können, weil Sie so ein überragender Beobachter sind? Welche sind das denn bei Corbyn? Wenn Sie die nicht kennen, sind Ihre angeblichen Ratschläge überflüssig.

                    • Stefan Pietsch 8. Mai 2018, 10:05

                      Nochmal, Rauschi: Ich habe eine Frage gestellt. Sie haben daraufhin (obwohl Sie gar nicht angesprochen waren) eine Gegenfrage gestellt. Das akzeptiere ich nicht. Erst das Eine, dann das andere. Das ist demokratische Kultur.

                      Ich möchte an dieser Stelle nicht beraten, sondern ich will verstehen, wie man Corbyn als konsequent empfinden kann. Sie scheinen zu einer solchen Erklärung nicht in der Lage. Daneben hinkt Ihr Vergleich gravierend, angefangen damit, dass Corbyn ein aktiver, Schröder aber seit fast 1 1/2 Jahrzehnten ehemaliger Politiker ist. Und weiter, dass Schröder lange Zeit Regierungsfunktionen inne hatte und nicht als illoyal galt. Schröder wurde vom Souverän, Corbyn von Parteimitgliedern gewählt. Auch wenn Sie da keinen Unterschied erkennen mögen: das ist etwas völlig anderes.

                      Woher nehmen Sie eigentlich die Gewissheit, das die Abgeordneten nicht hinter Corbyn stehen, (..). Ich habe nicht den Eindruck, das die Abgeordneten den Willen der Wähler vertreten und bei den alten Blair Leuten schon mal gar nicht.

                      Sich selbst in einem Absatz zu widersprechen, ist auch eine Kunst. Meine Feststellung ist, Corbyn verlangt von den direkt gewählten Labour-Abgeordneten das Gegenteil von dem, wie er sich selbst als einfacher Labour-Abgeordneter verhalten hat. Die Frage, das dritte Mal: wie geht das?

                    • Rauschi 8. Mai 2018, 12:59

                      Nochmal, Rauschi: Ich habe eine Frage gestellt. Sie haben daraufhin (obwohl Sie gar nicht angesprochen waren) eine Gegenfrage gestellt. Das akzeptiere ich nicht. Erst das Eine, dann das andere. Das ist demokratische Kultur.
                      Selten blöder Nonsens, wir sind hier auf einem Blog und nicht im Parlament. Die Frage, warum das eine verurteilt wird, das andere aber nicht, hat Ralf sehr wohl aufgeworfen, Sie scheinen das nur mal wieder überlesen zu haben.
                      [Aber wenn Schroeder damals ein Held sein konnte, dann muss auch Corbyn ein Held sein koennen, wenn er sich (, was er wie gesagt garnicht tut) gegen seine Partei und das britische Volk stellen wuerde und lediglich seine „persoenlichen“ Ansichten durchdruecken wuerde.]
                      http://www.deliberationdaily.de/2018/05/die-loyale-opposition/?#comment-65905

                      Und weiter, dass Schröder lange Zeit Regierungsfunktionen inne hatte und nicht als illoyal galt. Schröder wurde vom Souverän, Corbyn von Parteimitgliedern gewählt. Auch wenn Sie da keinen Unterschied erkennen mögen: das ist etwas völlig anderes.
                      Sagen Sie mal, dreschen Sie einfach drauf los, sobald Sie meinen Namen lesen, oder wie sieht es aus? Ich habe doch exakt das auch geschrieben:
                      [Der Unterschied ist, das Corbyn ein einfacher Abgeordneter war und seiner eigenen Linie und Überzeugung (vulgo Werte) immer treu geblieben ist, aber sonst weder Gesetze gemacht noch verhindert hat. Schröder war Regierungschef und hat die Gesetze gemacht und Basta dazu gesagt. Fällt Ihnen echt nichts auf?]
                      http://www.deliberationdaily.de/2018/05/die-loyale-opposition/#comment-65918
                      Ausserdem muss ich Ihnen mittteilen: der Bundeskanzler wird nicht vom Volk gewählt, was schwadronieren Sie da? Als Parteivorsitzender wurde auch er von den Delegierten gewählt. Als was jemand gilt ist mir schnuppe, er war der Basis und der Wählern gegenüber illoyal mit der Einführung der Agenda, so würde ich das sagen.

                      Sich selbst in einem Absatz zu widersprechen, ist auch eine Kunst. Meine Feststellung ist, Corbyn verlangt von den direkt gewählten Labour-Abgeordneten das Gegenteil von dem, wie er sich selbst als einfacher Labour-Abgeordneter verhalten hat. Die Frage, das dritte Mal: wie geht das?
                      Das geht genauso, wie die SPD dann Gerhard Schröder gefolgt ist. Auch in einer Partei gibt der Vorstand und insbesondere der Parteivorsitzende den Kurs vor, das haben Sie bei Schröder für richtig befunden, da waren Ihnen die Werte der Abgeordneten vollkommen Wurst. Wenn die sich bei Ihren Wert verraten fühlen, können auch die Abgeordneten in GB die Partei verlassen und sich bei den Torries versuchen. Sie sind sonst nie ein Verfechter der These, alle Abgeordneten müssten mit einem gewählten Kurs überein stimmen, warum jetzt ausgerechnet?
                      Warum die dem folgen sollten? Weil er Erfolg hat, oder meinen Sie, das verstösst gegen die „Werte“ dieser Abgeordneten? Selbst wenn, die sollen nicht die eigenen Werte vertreten, sondern die der Wähler, das ist doch Ihr Mantra. Das hat Corbyn auch stets getan, auch wenn Sie das bestreiten. Die Wähler von Labour wollen offensichtlich die Politik, für die Corbyn steht, da kann ich keinen Verrat oder Illoyalität erkennen. Schon eher bei den Abgeordneten, die wohl aus anderen Gründen diesen Weg ablehnen, der Wählerauftrag scheint es mir nicht zu sein.

                    • Stefan Pietsch 8. Mai 2018, 13:39

                      Warum so viele Worte um zu erklären, dass Sie selbst nicht wissen, warum ausgerechnet Corbyn Loyalität einfordern könnte? Was Sie mit Erfolg beschreiben, galt so und noch mehr für Tony Blair – gegen den Jeremy Corbyn mehrere hundertmal opponierte. Der Unterschied: Blair war der gemessen am Wählervotum erfolgreichste Labour-Premier der Nachkriegsgeschichte. Corbyn ist Oppositionsführer.

                      Also, es entspricht einer Wertehaltung, kontinuierlich gegen den eigenen Premierminister zu stimmen. Es ist keine Wertehaltung, gegen den eigenen Frontmann im Unterhaus zu stimmen. Danke, mir reicht diese Debatte. Verstanden habe ich nur, dass Sie in Unlogik Charme entdecken.

                    • Rauschi 8. Mai 2018, 16:36

                      Ich bin Ihre blöden Sprüche echt leid. Dann erklären Sie doch, warum die Abgeordneten damals gegen Ihre Werte für Schröder und dessen Agenda stimmen sollten? Bitte, ich warte gespannt auf die Erklärung, warum das in Ordnung ist.
                      Nochmal, die sollen die Anliegen der Wähler vertreten, das hat Blair genauso wenig gemacht wie Schröder. Blair wurde gewählt, weil die Torries schlicht abgewirtschaftet hatten. Glauben Sie ernsthaft, mit dem Kurs würde der heute mehr Stimmen einfahren als Corbyn?

                    • Stefan Pietsch 8. Mai 2018, 16:50

                      Rauschi, Sie finden sich offensichtlich selbst zu blöd. Ich hatte eine Frage bezüglich dem Verhalten von Jeremy Corbyn an Ralf gerichtet. Sie haben sich reingehängt. Das tut man, wenn man für einen anderen eine Frage beantworten möchte. Nur: Sie haben die Frage keineswegs beantwortet, sondern machen Ihr Spiel, wie sich den angeblich andere Ex-Politiker verhalten hätten.

                      Ich stelle eine Frage, um eine Antwort darauf zu bekommen, nicht, damit sie abgebügelt wird. Wenn Sie also nicht vorhaben, Fragen zu beantworten, dann tun Sie sich selbst und vor allem mir einen Gefallen und halten sich raus. Okay? Sie jedenfalls können im Zweifel am allerwenigsten wissen, was der Wähler, ob Brite oder Deutscher, will und wer seine Anliegen vertritt. Sie sind nicht Gott. Und allwissend auch nicht.

                    • Floor Acita 9. Mai 2018, 03:07

                      Hr. Pietsch, sie hatten doch letztens noch geschrieben, dass Wertesysteme individuell seien. Wieso gehen Sie dann davon aus, jeder teile Ihre moralischen Werte? Ich hätte die Frage auch einfach mit „Corbyn wird mit den gleichen Mitteln wie andere vor ihm Loyalität erreichen“ geantwortet / nicht gewusst auf was Sie hinauswollen hätten Sie es nicht 5 Antworten später einmal geschrieben. Da mir Loyalität als solche persönlich nicht wichtig ist – Ihnen scheinen solche Werte über alles zu gehen, das trifft aber nicht auf jeden zu. Wie gesagt, ich weiss nicht ob die Linie wirklich genau links/rechts verläuft, aber tendenziell sind Linke mehr an (/der Moralität von) Ergebnissen interessiert, moralische Fragen zum Ansehen der Person sind (wenn überhaupt) zweitrangig – pragmatisch nannte man das mal. „I don’t care what’s in your heart, I care what’s in your bill“.

                    • Rauschi 9. Mai 2018, 09:01
                    • Stefan Pietsch 9. Mai 2018, 10:05

                      @Floor Acita

                      Ich glaube, dass wir ohne ein Maß an Loyalität schwer miteinander auskommen können, schließlich basieren auch andere Werte wie die (familiäre) Solidarität darauf. Ich glaube, es ist eher anders. Ich hatte vor einiger Zeit eine provokante Frage in den Raum gestellt: welche 3 negativen Charaktereigenschaften sind Sie bereit an Ihren Mitmenschen zu akzeptieren. Nach meiner Überzeugung sind die meisten da nicht besser als die so gerügten Personalchefs: keine.

                      Mein Punkt ist ein anderer: Corbyn kann illoyal sein, ein Egoshooter vor dem Herrn. So lange er an anderen nicht genau dies kritisiert und Gefolgschaft einfordert. Er sieht halt nur gerade, dass eine Partei schwer ohne ein Mindestmaß an Loyalität zu führen ist. Auch hierzu hatte ich vor einiger Zeit einen Artikel bei den Nachdenkseiten gelesen, wo sich Jens Berger empörte, dass die Parlamentarier so gegen den Parteichef schießen.

                      Warum fordern wir Referenzen und Zeugnisse ein? Warum erkundigen wir uns über die Produkte eines Unternehmens und wälzen Rankings, wenn es nicht auf die Person ankommt, sondern das, was derjenige gerade sagt? Wir wissen, dass unsere Mitmenschen mindestens genauso lügen wie wir selbst. Sie lügen mich an, ich lüge Sie an. Und Corbyn lügt ganz sicher seine Wähler an. Wir können das geschehen lassen oder die Aussagen von jemanden mit seinem Handeln abgleichen – und mit dem, was andere über einen sagen.

                      Ich erkenne keine Skepsis bei Linken, wenn sie sich in jemanden verliebt haben. Corbyn und Sanders mögen Oppositionspolitiker sein, sie tun das weit bessere als diejenigen linken und rechten Politiker in Regierungsverantwortung. Ich habe oft den Eindruck, für einen Linken ist ein „guter“ Politiker, Unternehmer, Mensch nur derjenige, der gescheitert ist. Oder, noch besser, der den Paulus gibt.

                      Rechte dagegen glauben, dass Scheitern zwar zum Leben dazugehört. Dass aber über unser Leben am Ende der Erfolg richtet – und damit meine ich nicht in erster Linie den materiellen Erfolg.

              • Ralf 9. Mai 2018, 00:25

                Ich stelle mich häufiger auf die Seite der AfD. Sie meinen, weil mir einige Ziele der Partei sympathisch sind. Nur, das ist reiner Bullshit. Ich habe viel und lange strategische Spiele gespielt. Das Wichtigste, was Sie lernen, was Sie lernen müssen, den Gegner zu verstehen. Sie sind schachmatt in fünf Zügen, wenn Sie das nicht beherzigen.

                Es besteht ein fundamentaler Unterschied dazwischen „sich in einen politischen Gegner hineinzudenken“ auf der einen Seite und – wie Sie selbst schreiben – „sich auf die Seite des politischen Gegners zu stellen“ auf der anderen Seite.

                Sie haben nie auf den Vorhalt, dass Corbyn zwar zeit seines parteipolitischen Lebens gegen seine eigene Partei stimmte und somit illoyal war, aber heute gleichzeitig diese Loyalität von jedem einfordert. Ich verstehe das ehrlich gesagt nicht. Das ist doch Opportunismus in Reinkultur, es gilt mein Gesetz. Warum antworten Sie darauf nicht, rechtfertigen oder verurteilen es?

                Also zunaechst einmal ist die Formulierung „zeit seines parteipolitischen Lebens“ eine voellige Uebertreibung. Fast 70% seiner Stimmenabgaben gegen die eigene Partei waren Stimmen spezifisch gegen die Politik von Blair und Brown. Jeremy Corbyn hatte aber auch vor diesen beiden Exponenten neoliberaler Politik ein „parteipolitisches Leben“ und in dieser Zeit war er eigentlich ein einigermassen typischer Vertreter der Labour-Party.

                Zweitens ist nicht jede Abstimmung gegen die eigene Partei per Definition „illoyal“. In Grossbritannien, mit seinem Mehrheitswahlsystem, in dem die MPs ihr Mandat direkt und unmittelbar vom Waehler erhalten und nicht von Gnaden der Partei ins Unterhaus gewaehlt werden, schon mal garnicht. In Laendern wie Deutschland, wo viele Parlamentarier ihr Mandat ueber Listenplaetze erringen, ist die Forderung nach Parteiloyalitaet moeglicherweise eher begruendet, obwohl die Verfassung dies auch hier unmissverstaendlich negiert. Aber im Vereinigten Koenigreich bleibt von Ihrem Argument praktisch nichts mehr uebrig.

                Aber selbst wenn Ihre Argumentation valide waere, sehe ich nicht wirklich das Problem. Parteien, und fuer grosse Volksparteien gilt das im besonderen und verstaerkt, sind keine monolithischen Blockorganisationen, in denen alle Mitglieder zu allen Zeitpunkten in allen Themen die gleiche Meinung vertreten. In Parteien treten die einen ein, weil sie sich fuer Innenpolitik interessieren. Andere treten ein, weil sie sich fuer Aussenpolitik interessieren. Andere treten ein, weil sie sich mit der vagen politischen Ausrichtung der Partei identifizieren, ohne konkrete Plaene fuer konkrete Projekte zu verfolgen. Die Folge ist, dass in Kolossen wie der Labour-Party – gegenwaertig ueber 550.000 Menschen stark – viele Mitglieder mit vielen anderen Mitgliedern zumindest einige wesentliche Meinungen & Ansichten teilen, aber nicht alle Mitglieder mit allen Mitgliedern Meinungen & Ansichten teilen. Insbesondere diejenigen, die ideologisch eher an den gegenueberliegenden Raendern der Partei beheimatet sind, teilen oft wenig bis garnichts miteinander. Und so kommt es dass – um ein Beispiel aus unserem eigenen Land zu nennen – ein Wolfgang Clement und ein Ottmar Schreiner in der selben Partei waren, obwohl, aus heutiger Sicht, ein Ottmar Schreiner (Gott hab ihn selig) besser in die LINKE gepasst haette (dort waere er Mainstream gewesen), waehrend ein Wolfgang Clement besser in die FDP gepasst haette (dort waere er Mainstream gewesen). Umgekehrt stehen sich Politiker aus „feindlichen Lagern“ wie Norbert Bluem und meinetwegen Karl Lauterbach kampfbereit gegenueber, obwohl sie eigentlich in fast allen Punkten einer Meinung sind. Wenn man sich diese Dynamiken vergegenwaertigt, erscheint es hoch plausibel, dass es in der Labour-Party zu allen Zeitpunkten MPs geben sollte, die gegen die momentane Parteifuehrung stimmen. Und solche Politiker hat es ja schliesslich auch in Deutschland immer wieder und zu allen Zeiten gegeben. Bei den Gruenen war das Christian Stroebele. Bei der FDP war das etwa Frank Schaeffler. Bei der CDU war das Wolfgang Bosbach. Ich finde es vollkommen in Ordnung, dass es immer wieder auch ein paar authentische Rebellen gibt, solange insgesamt fuer den Waehler klar bleibt, wofuer eine Partei zur gegebenen Zeit gerade steht.

                Und damit sind wir beim zweiten Punkt, naemlich beim zeitlichen Aspekt der Geschichte. Parteien und Parteimitglieder und Parteiideologien aendern sich naemlich im Laufe der Zeit. Sie passen sich an. Zumindest in der Mehrheit. Daneben gibt es einige knorrige Rebellen, die sich nicht anpassen. Das macht sie auch irgendwo sympathisch, weil sie eben glaubwuerdig, vorhersehbar und wertegeleitet abstimmen – egal was gerade hip oder modern ist. In diese Gruppe fallen Politiker wie Jeremy Corbyn oder Bernie Sanders. Aber waehrend sich der gegenwaertige Labour-Chef selbst kaum veraendert hat in all den Jahren, hat sich die Politik insgesamt auf ihn zubewegt. Die Partei und die gesamtgesellschaftliche Entwicklung ist ihm entgegengekommen. Gerade viele Jungen, die seinetwegen in die Partei eingetreten sind, wollen eine progressivere, linkere Politik. Und auch viele aeltere Labour-Mitglieder, denen soziale und wirtschaftliche Themen wichtig sind, wollen eine Rueckwendung zu alten Prinzipien. In der SPD beobachtet man uebrigens aehnliches. Auf der anderen Seite ist von dem Glanz und Gloria eines Tony Blair, einem ueberfuehrten Luegner, der britische Soldaten ohne Grund in einem blutigen Krieg opferte, nichts mehr uebrig geblieben. Auch die ganze schoene neoliberale Ideologie des Marktes, der sich am besten selber reguliert, zerfiel in der Finanzkrise zu Staub. Altbewaehrtes wurde in diesem neuen Kontext wieder attraktiver bewertet und eine Politik, fuer die Corbyn steht, sah auf einmal garnicht mehr so verkehrt aus. Das drueckt sich wenig ueberraschend auch in konkreten Wahlergebnissen aus.

                Und Corbyn hat wenigstens auf seinen Moment und seine Zeit gewartet. Er ist nicht nur aus konkreten inhaltlichen Gruenden zum Parteichef gewaehlt worden, sondern ueberstand sogar noch einen zumindest in der juengeren Gegenwart des politischen Grossbritannien praezedenzlosen parteiinternen Putsch und wurde mit fast zwei Dritteln der Stimmen in seinem Amt bestaetigt. Gerhard Schroeder hingegen, den Sie so toll finden, ist nie aus inhaltlichen Gruenden auf den Schild gehoben worden. Er wurde Kanzlerkandidat, weil die Parteifuehrung Angst hatte mit Lafontaine moeglicherweise die Wahl zu verlieren. Es ging also um rein parteistrategische Ueberlegungen. Im Parlament regierte er mit Erpressungsmethoden gegen seine eigene Partei, die sich anschliessend zerlegte. Den fortschreitenden Zerfall der SPD, der damals begonnen wurde, kann man heute im Endstadium beobachten. Und zum Schluss schmiss er sein Amt weg, mit der expliziten Begruendung, er haette im Parlament keine Mehrheit mehr. Waehrend eine Partei einen Rebellen irgendwo auf der Hinterbank durchaus aushalten kann, ja dieser Rebell sogar politisch einen nuetzliche Funktion erfuellt, weil er Debatten anstoesst, den Finger in manch notwendige Wunde legt , scheint es sich eine Partei nicht leisten zu koennen, von einem Vorsitzenden gefuehrt zu werden, der von seiner Partei abgehoben ist und der die fundamentalen Ziele seiner Partei nicht teilt. Oder kurz: Einen Jeremy Corbyn ueberlebt eine Partei ganz locker. Einen Gerhard Schroeder leider nicht. Mit allen Folgen, die das fuer eine Demokratie hat, wenn eine grosse Volkspartei zugrunde geht und das entstehende Vakuum nicht selten von neuen Kraeften gefuellt wird, denen die Demokratie und der politische Prozess nicht mehr besonders am Herzen liegen.

                Umgekehrt halten Sie die AfD und die Liberalen für ein Krebsgeschwür, das ausgemerzt gehört. […] Sie wollen, dass die Wähler von AfD und FDP kein Gehör finden.

                Ich stelle die FDP und die AfD nicht auf eine Stufe. Die FDP ist die Partei der Selbstsuechtigen und der Gemeinschaftsfeinde, derer, denen es gut geht und die nichts abgeben wollen. Das ist menschlich schade, aber dennoch durchaus legal. Der AfD hingegen unterstelle ich in signifikanten Teilen nationalsozialistisch und verfassungsfeindlich zu sein. Und selbst viele derer, die nicht dezidiert rechtsextrem sind, nehmen mit ihrem politischen Populismus und zu ihrem eigenen Zweck billigend in Kauf, dass das Vertrauen in unsere Demokratie zersetzt wird. Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen einer demokratischen Partei, die ich politisch ablehne, weil ich ihre Ideologie nicht teile und einer demokratiefeindlichen Partei, die unserem gesamten politischen System gerne den Boden unter den Fuessen wegziehen wuerde und deutlich auf das Jahr 1933 schielt.

                Und Sie liegen auch daneben, mit ihrer Einschaetzung, dass will, dass die Waehler von FDP und AfD kein Gehoer finden. Ich haette kein Problem mit einer konservativen, einwanderungskritischen Partei, solange diese Partei im Konsens mit unserer Demokratie, unserem Rechtsstaat und den Werten der Bundesrepublik Deutschland steht. Und an der FDP kritisiere ich ihre Unehrlichkeit. Wuerde die Partei offen und ehrlich fuer diejenigen Ziele werben, die ihr wirklich am Herzen liegen, haette ich wesentlich weniger Probleme mit den Liberalen. Aber dann muessten sie sich eben ans Podium stellen und nicht irgendwelche grossen Reden zur Digitalisierung oder zu Buergerrechten halten, sondern offen sagen: „Unsere Hauptprioritaet, das einzige Politikfeld, auf das es uns wirklich ankommt, ist es die Wohlhabendsten auf Kosten der Armen zu entlasten“. Das waere offen. Das waere ehrlich. Sollte die FDP mit dieser Message viele Waehler erhalten, zoege ich meinen Hut. Wenn der Buerger das will und waehlt, dann soll er das eben auch bekommen. Aber genau das machen die Liberalen nicht. Und es faellt nicht schwer zu erraten, weshalb nicht. Stattdessen betreibt die FDP de facto eine Waehlertaeuschung, indem Prioritaeten suggeriert werden, an denen der Partei am Ende nichts liegt, fuer die die Partei am Ende nicht kaempft. Genau das konnte man bei den kuerzlich gescheiterten Koalitionsverhandlungen beobachten, wo die Liberalen die Digitalisierungspartei haetten sein koennen – ihr Hauptwahlkampfthema – und gemeinsam mit den Gruenen viel fuer Buergerrechte haetten bewirken koennen. Stattdessen war – wie immer – das einzig wirklich relevante Thema fuer Lindner’s Truppe die Entlastung der Gutverdiener. Aber die Debatte hatten wir ja schon …

                • Stefan Pietsch 9. Mai 2018, 11:04

                  Es besteht ein fundamentaler Unterschied dazwischen „sich in einen politischen Gegner hineinzudenken“ auf der einen Seite und – wie Sie selbst schreiben – „sich auf die Seite des politischen Gegners zu stellen“ auf der anderen Seite.

                  Das mag so sein, ich meine mit auf die Seite stellen nicht, sich gemein machen. Aber wie gesagt, Sie müssen als Berater mehr aufbringen als nur die Argumente des Opponenten zu verstehen. Stellen Sie sich die Frage, ob Sie fähig sind, einem anderen etwas zu raten, was Sie selbst nicht tun würden und nicht als optimal ansehen. Meine Einschätzung: das können Sie nicht. Und das ist kein Werturteil, ganz wichtig.

                  2016 stimmte Corbyn sogar als Parteichef gegen seine eigene Fraktion, ein sehr seltener Akt eines Anführers, der doch Ihren Worten nach die Breite seiner Partei vertritt. Obwohl die große Mehrheit der Briten für den Erhalt der Monarchie ist, steht Corbyn dagegen, er will anders als die breite Mehrheit aus der NATO austreten, den Finanzdienstleistungsbereich will er verstaatlichen, obwohl davon heute weitgehend Großbritanniens Wohlstand abhängt. Er erklärte einstmals die Terrororganisationen Hamas und Hisbollah zu Freunden. Seine Neigung zu Autokraten, Diktatoren und dem Antisemitismus hatte ich bereits erwähnt. Nein, ich denke eben nicht, dass Corbyn das ist, was Sie ihm andichten. Er deckt eben nicht die Breite seiner Partei ab. Er ist ein schrulliger, alter Mann und Menschen finden in gewissem Maße Schrullen interessant und sympathisch.

                  Corbyn kam 1983 ins britische Unterhaus, auf dem Ticket von New Labour. Es hat etwas, einerseits einer Entwicklung seine ganze Karriere zu verdanken und andererseits sich als deren größter Kritiker zu präsentieren, jederzeit bereit, die eigene Führung zu stürzen.

                  Mein Punkt war aber wie erwähnt ein anderer, nämlich die Doppelzüngigkeit. Mir kommt es nicht darauf an, den 68jährigen nun als illoyal zu brandmarken oder ihn als werteorientierten Menschen zu loben. Gerade Jeremy Corbyn und seine Anhänger müssten größtes Verständnis für jeden Dissidenten im Unterhaus haben, schließlich verhalten sich diese Politiker nur so wie Corbyn zeit seiner Karriere. Aber genau das passiert nicht, es wird Gefolgschaft eingefordert. Wie Sie selbst schreiben, das kann ein Parteiführer in UK nicht, schließlich hat er lediglich die Autorität einer Partei.

                  Sie dagegen bewerten bereits in der Wortwahl andere Positionen negativ. Für Sie gibt es eben immer nur einen Weg. Es gibt das eine Humane, das eine Soziale etc. Wer andere Maßnahmen befürwortet, ist eben nicht human, nicht sozial. Dabei lässt sich nicht mal Beweis führen, dass eine Politik der offenen Grenzen besonders human und möglichst hohe Sozialtransfers besonders sozial seien. Aber genau nach diesem Geodreieck bewerten Sie. Gerade die LINKE, der Sie anhängen und die in Ihrem Urteil alleine gut wegkommt, zerlegt sich ob der Frage, was eigentlich human und was sozial ist. Wer LINKE wählt, bekommt halt alles: AfD-Positionen genauso wie Postkommunismus. Das ist das Wunderbare an dieser Partei und warum sie wahrscheinlich nie in die Verlegenheit kommen wird, regieren zu müssen. So kritisieren Sie die AfD, gerade für ihre Positionen in der Ausländerpolitik. Kein Wort verlieren Sie jedoch, dass Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine ziemlich exakt das Gleiche in der Ausländer- wie Europolitik vertreten. Die sind halt einfach „die Guten“.

                  Nur mit Gerhard Schröder konnte die SPD eine Rekordzahl von Mandaten erringen. Niemals wieder stand die Partei so gut da. Und das ist doch das Ziel von Parteien, eine möglichst laute Stimme zu bekommen, zumindest definieren alle im Bundestag vertretenen Parteien ihre Ziele so, selbst die LINKE. Im vergangenen September war Sahra Wagenknecht einer der ersten prominenten Politiker überhaupt, die vor die Mikrofone ging und das Abschneiden ihrer Partei heftig kritisierte.

                  Schröder hat also geliefert, was Parteien von ihren Spitzenleuten erwarten. Und er hat Reformen umgesetzt, die von der Mehrheit der Wähler grundsätzlich als notwendig erachtet wurden. Und seine Arbeitsmarktreformen gelten für eine große Mehrheit für ursächlich für den wirtschaftlichen Aufschwung nach 2005. Weder vor noch nach Schröder gab es einen Politiker, der so viel in die nach objektiven Daten „richtige“ Richtung reformiert hat. Merkel dagegen ist eine Politikerin, die wenig tat und tut, und wenn sie eingreift, bleibt ein Berg an Problemen zurück, der das Land lähmt. So hat die Regierung in 3 Jahren keine Idee entwickelt, wie mit dem Zuzug von über eine Million Menschen umzugehen ist. Wie sie integriert werden können, wie die „Falschen“ abgeschoben werden können, welche Leistungen der Staat erbringen muss.
                  Unter Merkel hat Deutschland rekordhohe Steuerbelastungen für Bürger und Unternehmen, ohne dass seriös behauptet werden könnte, den Menschen ginge es gerade deswegen besonders gut und sie besäßen einen effizienten Staat, ein gutes Verhältnis von Steuern zu staatlichen Leistungen. Die Arbeitsmarktreformen haben zwar rechtliche und soziale Fragen (neu) aufgeworfen, vor allem aber haben sie auch Probleme wie die Massenarbeitslosigkeit gelöst. Und Sie können den Niedergang der Sozialdemokratie nicht einfach auf ein singuläres Ereignis zurückführen, denn in der gesamten OECD befinden sich die linken Parteien im Niedergang, und die Sozialdemokratie ganz besonders.

                  Die FDP geißeln Sie als Partei der Selbstsüchtigen und der Gemeinschaftsfeinde, derer, denen es gut geht und die nichts abgeben wollen. Die Liberalen werden überproportional von Unternehmern und Führungskräften gewählt, bis hin zu jungen Start-up-Gründern, Apothekern, Ärzten und Anwälten, denen man sonst bescheinigt, sich besonders für das Gemeinwohl einzusetzen. Sie scheinen das nicht so zu sehen. Wer ein Unternehmen gründet, ist ein Gemeinschaftsfeind, wer Menschen beschäftigt und sie führt, ist selbstsüchtig. Das ist die Wählerschaft der FDP und das ist Ihre Einschätzung über sie. Sie können gar nicht so viele Ausnahmen machen, dass Ihr Verdikt am Ende noch Gültigkeit besitzt. Und so halten Sie es für vorteilhafter, wenn Menschen arm sind, sich kaum (gesund) ernähren und nicht selten ihre Kinder vernachlässigen. Denn diese wählen im Zweifel die LINKE. Wenn es schlecht läuft allerdings die AfD und dann sind sie Ausgestoßene. Fügen Sie Ihre Ansichten mit den Fakten wie eben Angaben über Wahlverhalten müss(t)en Sie zwangsläufig zu dieser Einschätzung kommen. Tun Sie natürlich nicht, denn das ist nicht Ihr Selbstverständnis.

                  Geschichte entscheidet sich nicht in ein paar Jahren. Ob Corbyn richtig liegt, dazu wird er kaum den Beweis erbringen können, denn selbst wenn er 2022 in 10 Downing Street gewählt würde, blieben ihm zu wenig Lebensjahre. Und wenn nicht, wird es immer ein linkes Märchen bleiben. Denn auch eine Uhr, die stehengeblieben ist, geht zweimal am Tag richtig.

                  • Rauschi 9. Mai 2018, 13:36

                    Ihr Verdikt am Ende noch Gültigkeit besitzt. Und so halten Sie es für vorteilhafter, wenn Menschen arm sind, sich kaum (gesund) ernähren und nicht selten ihre Kinder vernachlässigen. Denn diese wählen im Zweifel die LINKE.

                    Fakt zu den Wählern:
                    ]Ältere Wähler sind demnach leicht überrepräsentiert, ebenso Wähler mit höherem Bildungsabschluss. In ökonomischer Hinsicht stehen Linken-Wähler stärker unter Druck als andere Wähler.
                    Entsprechend sind für Wähler der Linken klassische sozialpolitische Themen von hoher Relevanz für die Wahlentscheidung: Soziale Sicherheit, Rente und Altersvorsorge sowie Gesundheitsversorgung sind die drei wichtigsten Themenfelder. Einwanderung und Flüchtlinge (steht auf Rang 8) und die Zukunft der EU (Rang 12) sind demnach nachgelagert.]
                    Das Sie arm=Kinder werden vernachlässigt und die Menschen sind fett gleich setzen, das hat was. Aber nur unter der Prämisse, jeder wäre seines Glückes Schmied, wer wenig verdient, ist demnach automatisch ein schlechter Mensch, wer viel verdient, wie die FDP Wähler, automatisch selbstlos und gut, habe ich das korrekt verstanden?
                    Ja, so muss wohl ein überzeugten FDP Wähler argumentieren, damit das eigene Selbstbild stimmt.

  • Eugen Richter 4. Mai 2018, 21:57

    Demokratie ist zu einem gewissen Grad immer eine Utopie und viele deiner Artikel beklagen die Konsequenzen. Du schreibst oft davon, dass bestimmte Institutionen wie die Medien oder in diesem Fall die Opposition „Aufgaben“ haben, denen sie nachkommen sollten. Es gibt jedoch nur geringe Anreize für die Akteure, sich entsprechend diesen wünschenswerten Aufgaben zu verhalten (siehe z.b. The Problem of Political Authority von Michael Huemer). Die Hoffnung der Demokratie ist, dass gute und fähige Leute die Institutionen bevölkern und dort gute Entscheidungen treffen. In manchen Ländern scheint das ganz gut zu funktionieren. Aber das ist ein fragiles Gleichgewicht.
    Da politische Beteiligung für immer mehr Menschen eher als Ausdrucksmöglichkeit ihrer eigenen Ansichten statt als Beteiligung am Gemeinwesen angesehen wird (siehe z
    B. Political Hobbyism von E. Hersh), wird dieses Gleichgewicht immer fragiler oder kippt bereits, wie vielleicht gerade in den USA.

    • Stefan Sasse 5. Mai 2018, 11:54

      Da hast du natürlich Recht, aber was wollen wir machen außer die Leute an ihre Aufgaben zu erinnern?

  • Blechmann 5. Mai 2018, 00:54

    Ja, was lernen wir aus der Geschichte? Einen weiteren Staat mit einer loyalen Opposition gab es noch nach 1918 – und zwar Deutschland. Die SPD war der Weimarer Republik stets eine loyale Opposition, das Ergebnis bekanntlich die Machtübernahme Hitlers und der 2. WK. Auch im 1. WK war die SPD stets eine loyale Opposition. Der 1. WK war ohnehin nur möglich, weil die europäischen linken Parteien sich gegenüber ihren kriegstreiberischen nationalen Regierungen loyal verhielten. Hätte die franz. und deutsche Linke sofort mit Aufstand gedroht, hätten sich die nationalistischen Regierungen vielleicht nicht getraut, deren Wähler massenhaft zu bewaffnen, in der Hoffnung, dass sie gegen den Feind und nicht gegen die Regierung marschieren.

    Für die loyale Opposition stellt sich immer die Frage, wer die Bedrohung für den Frieden ist, die eigene kriegstreiberische Regierung oder die der anderen. Im Falle Trump stellt sich ebenfalls die Frage, ob loyale Opposition nicht noch schädlicher ist, als Obstruktion. Wenn man Trump machen lässt und er noch vier Jahre Präsident wird, kann das Gemeinwesen schließlich auch zerstört werden.

    Mittelfristig ist loyale Opposition nur möglich, wenn die Wähler das tolerieren, was sie im Falle der SPD nicht tun. Erstaunlich, dass die SPD das trotzdem durchzieht.

    „In Deutschland ist die Lage trotz der Verwerfungen durch den Aufstieg der AfD auch deswegen stabil, weil sich eine Bundesregierung – ob Jamaika oder Schwarz-Rot – darauf verlassen kann, dass ihre jeweilige Opposition dem Staatswesen als Ganzem gegenüber loyal gegenüberstellt und country over party stellt.“

    Das heißt dann analog, dass in Österreich die Lage nicht stabil ist, weil dort die FPÖ in der Regierung ist?

    • Ralf 5. Mai 2018, 01:07

      Ich glaube das Konzept der “loyalen Opposition”, so wie Stefan Sasse das versteht, greift nur dann wirklich langfristig und sorgt fuer Stabilitaet, wenn es auf Gegenseitigkeit beruht. Also dann, wenn die gegenwaertige Regierung in schweren Staatskrisen nicht nur Loyalitaet von der gegenwaertigen Opposition erwarten kann, sondern wenn diese Regierung auch bereit ist ihrerseits Loyalitaet zu ueben, wenn der politische Gegner bei der naechsten Wahl die Macht erringt. Das ergibt sich schon daraus, dass es in einer Demokratie immer wieder irgendwann zu einem Machtwechsel kommt und wirkliche politische Stabilitaet nur dann erreicht werden kann, wenn dieser Machtwechsel die Stabilitaet nicht grundsaetzlich in Frage stellt. Deshalb ueberzeugt das Beispiel der SPD in der Weimarer Republik oder im Ersten Weltkrieg nicht, denn die Bereitschaft zur Loyalitaet war in diesen Faellen eine absolute Einbahnstrasse. Folglich war es abzusehen, dass die Periode der Stabilitaet schnell enden wuerde.

    • Stefan Sasse 5. Mai 2018, 12:01

      Das Problem ist, dass alle eine loyale Opposition sein müssen. In Weimar war nur die SPD eine loyale Opposition. Als sie an der Macht war, versuchten die Rechten aktiv den Staat zu sabotieren. Und das führte dann zu den von dir genannten Ergebnissen. Ähnlich sieht es ja auch im Kaiserreich aus, wo die Opposition ihre Aufgabe (durch die Staatskonstruktion zwangsläufig) in aktiver Gegnerschaft zur Regierung sieht, und umgekehrt. Die Loyalität der SPD wurde da ja beinahe zwangsläufig verraten.

      • Blechmann 5. Mai 2018, 18:41

        Tja, aber einer muss wohl irgendwann mal anfangen mit dem Vertrauensvorschuss der loyalen Opposition, sonst wird es wohl nix werden. Außerdem gab es auch eine unloyale linke Opposition in Weimar, die KPD. Deren Verhalten wird auch meist bekrittelt.

        Wenn ich deine und Ralfs Argumente richtig verstehe, wäre das jetzt der Zeitpunkt für die „Democrats“ in den USA, die loyale Opposition aufzugeben, da die Gegenseitigkeit nicht mehr gegeben ist. Die Demokratie opfern, um die Rechte zu stoppen?

        • Stefan Sasse 5. Mai 2018, 20:49

          Ich glaube du missverstehst mich, genau das ist mein Punkt.
          a) Ich erwähne mehrfach explizit, dass die KPD auch keine loyale Opposition war.
          b) Genau dieses Problem ist es, das mich sehr zögerlich gegenüber der Idee macht, die Democrats sollten aufhören, die Guten zu sein.

  • Stefan Pietsch 5. Mai 2018, 10:21

    Das Bild von einer loyalen Opposition ist nicht hilfreich in Zeiten, wo über elementare Fragen nicht mehr gestritten wird. Und vollends absurd wird der Begriff, wenn er in Zusammenhang mit einem Parteiführer gerückt wird, der zeit seines Lebens als einfacher Abgeordneter jede Loyalität in den Kamin schoss, sich als Egoshooter betätigte und heute von seiner Fangemeinde genau dafür gefeiert wird. Die Rede ist von Jeremy Corbyn, der sich als Labour-Chef darin gefällt, mit diktatorischen Mitteln die innerparteiliche Opposition niederzuhalten.

    Opposition sollte nach der klassischen Demokratietheorie Regierung im Wartestand sein. Ihre Aufgabe ist weder, die Lebenszeit einer abgehalfterten Regierung zu verlängern noch Mehrheitspositionen in der Bevölkerung zu unterdrücken – und schon gar nicht dauerhaft. Schlechte Beispiele für eine solcherart loyale Opposition waren die Staatsschuldenkrise / Eurokrise ab 2010 sowie die Flüchtlingskrise 2015 / 2016. Erst die Unterdrückung jeder oppositionellen Gedanken machten erst demokratische Alternativen wie die AfD möglich und zerreißen demokratische Parteien wie die Union in der gepflegten Variante und die LINKE in der hinterlistigen Version.

    Es gibt zwar einige Regeln wie die, dass die Opposition die eigene Regierung nicht im Ausland kritisiert. Die Regel erwächst aus dem Gedanken, dass nur eine geeinte Partei schlagkräftig ist und die Interessen der Gesellschaft machtvoll durchzusetzen vermag. Dies gilt aber nicht für innergesellschaftliche Fragen. Ob der Staat tatsächlich den Gesundheitsschutz seiner Bürger organisieren sollte, darüber darf ebenso gestritten werden wie darüber, ob Folter im äußersten Notstand erlaubt sein darf.

    Die Unterdrückung anderer Positionen aus Staatsraison verstärkt am Ende nur Konflikte. Oder anders ausgedrückt: wer Populisten verhindern will, muss die Probleme lösen. Leider gibt es zunehmend eine Darstellung von Politik. Es ist das eine, Grenzen aus humanitären Gründen für Flüchtlinge zu öffnen. Eine ganz andere Geschichte ist es, neue Bedingungen für das Zusammenleben zu schaffen wie Beschreibungen, wer unter welchen Bedingungen dazugehört und wer nicht.

    1994 legte die Bareis-Kommission im Auftrag des Bundesfinanzministeriums Vorschläge für eine Reform des Einkommensteuergesetzes vor. Das Machwerk der Wissenschaftler orientierte sich dabei eng an der allgemeinen Analyse, das ineffektive und ungerechte System nach allgemeinen Maßstäben der Steuergerechtigkeit und ökonomischer Effizienz neu zu justieren. Der Bundesfinanzminister Theo Waigel machte sich nach gewonnener Wahl jedoch nicht frisch ans Werk der Umsetzung, sondern warf das Konzept öffentlichkeitswirksam als Ideen politikferner Professoren in den Papierkorb.

    Auf Druck des Fraktionsvorsitzenden der Union, Wolfgang Schäuble musste er dies mit einem Jahr Verzögerung dort wieder hervorholen. Wichtige Zeit war verloren gegangen und am Ende sollte die SPD-Opposition der tranigen und machtlosen Regierung neun Monate vor der Wahl einen spektakulären Erfolg geben, der das allgemeine Leiden noch verlängert hätte?

    Labour bestand auf Winston Churchill als Premier einer All-Parteien-Kriegsregierung, nachdem Chamberlain jeden Rückhalt in Partei undBevölkerung verloren hatte.

    • Stefan Sasse 5. Mai 2018, 12:08

      Ich sehe nicht, wo deine Punkte meine Position widerlegen würden. Ich sage ja explizit, dass Politikalternativen zu entwickeln gerade die Aufgabe einer Opposition ist, ebenso das Bereitstehen als potenzielle Regierung. Dass die SPD der CDU nicht aus ihrem eigenen Lock geholfen hat, in das Kohl sie in den Endneunzigern geschaufelt hat, ist völlig ok.

      • Stefan Pietsch 5. Mai 2018, 22:24

        Du solltest Dich nicht widerlegt sehen, sondern erfahren, dass ich von dem Konzept der „loyalen Opposition“ wenig halte. 🙂 Einfach, weil es unter den klassischen politologischen Theorien der Demokratie nicht die Aufgabe einer demokratischen Opposition ist, mit Regierungshandeln „loyal“ zu sein.

        Die USA sind seit einiger Zeit sicher etwas Besonderes, wo die Republikaner zwar alle Institutionen beherrschen, sich aber trotzdem in Opposition zum Staat (weniger zu den Democrats) empfinden.

        • Stefan Sasse 6. Mai 2018, 13:11

          Du sollst auch nicht zum Regierungshandeln, sondern zum Staatswesen loyal sein.

          • Stefan Pietsch 6. Mai 2018, 19:58

            In Deutschland steht die Beseitigung der demokratischen Grundordnung und ihrer Institutionen unter Strafe. Sie werden vom Grundgesetz absolut geschützt. Parteien, die sich ihre Abschaffung zum Ziel gesetzt haben, werden nach Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht verboten.

            Viele andere Demokratien haben ähnliche Regelungen. Das alles macht „loyale Oppositionen“ nicht nötig. Soweit des um verfassungsloyale Parteien geht, ist dies eine Grundbedingung des politischen Wirkens in Deutschland.

  • Jens 5. Mai 2018, 17:27

    Guter Artikel. Jetzt weiß ich was du mit loyaler Opposition meinst.

    Habe nichts zu kritisieren, außer dass du bei Corbyn nur spekulierst. Den Brexit aus der Opposition heraus zu begleiten ist sicher schwierig, zumal mein Eindruck ist, dass es bei beiden Parteien starke unterschiedliche Strömungen zum Brexit gibt. Abgesehen davon ist noch nicht mal klar ob der Brexit in die Kategorie „existenzbedrohende Krise“ gehört.

    • Stefan Sasse 5. Mai 2018, 20:48

      Sicher richtig. Mir geht es auch mehr um den Gedanken, die Außenpolitik bewusst zu sabotieren um Punkte zu machen. Aber erneut, ich geb euch durchaus Recht dass das bei Corbyn kein eindeutiger Fall ist.

  • Wolf-Dieter Busch 6. Mai 2018, 11:25

    Mit der Überschrift habe ich ein Problem.

    Du beschreibst Loyalität der Opposition im Kriegsfall (also Burgfriedenspolitik). So weit verstanden.

    In Friedenszeiten setzest du „das grundsätzliche Funktionieren des Staatswesens“ augenscheinlich dem Verteidigungsfall gleich und lobst auch hier Loyalität der Opposition.

    Meine Verständnisschwierigkeit beruht darauf, dass über das Funktionieren des Staates Konsens herrschen müsse zwischen Regierung und Opposition. Das sehe ich nicht als gegeben. Darum betrachte ich eine loyale Opposition als eine überflüssige solche.

    Und tatsächlich sehe ich unsere Parteien als einheitlich an (Linke und AfD als Außenseiter ausgenommen).

    • Stefan Sasse 6. Mai 2018, 13:12

      Mein Gegenbeispiel sind halt die Republicans. Die zerstören langsam aber stetig das demokratische Staatswesen für ihre Parteiinteressen. Das ist KEINE loyale Opposition.

  • Rauschi 9. Mai 2018, 09:00

    Rauschi, Sie finden sich offensichtlich selbst zu blöd. Ich hatte eine Frage bezüglich dem Verhalten von Jeremy Corbyn an Ralf gerichtet. Sie haben sich reingehängt. Das tut man, wenn man für einen anderen eine Frage beantworten möchte. Nur: Sie haben die Frage keineswegs beantwortet, sondern machen Ihr Spiel, wie sich den angeblich andere Ex-Politiker verhalten hätten.
    Wenn Sie nicht in der Lage sind, die Antwort zu verstehen, dann schieben Sie doch nicht mir die Schuld in die Schuhe, ich habe darauf mehrfach geantwortet. Was davon in Ihrem Verstand einen Weg findet, liegt ausserhalb meines Einflussbereiches.
    Ich halte Sie für borniert, nicht für dumm, meine intellektuellen Fähigkeiten möchte ich mit Ihnen nicht diskutieren, um deren Wert weiss ich sehr wohl. Sie aber offensichtlich nicht, sonst würde hier nicht ein ums andere Mal das Spielchen laufen, wenn ich den anderen als dumm/blöd darstelle, wirke ich intelligent. Na ja, wer’s braucht.

    Okay? Sie jedenfalls können im Zweifel am aller wenigsten wissen, was der Wähler, ob Brite oder Deutscher, will und wer seine Anliegen vertritt. Sie sind nicht Gott. Und allwissend auch nicht.
    Da Sie doch angeblich so genau wissen, das Corbyn illoyal gewesen sein soll, müssen Sie ja wissen, was der Wähler will, muss ich ab jetzt Gott zu Ihnen sagen?

    [Doch Corbyn wurde nicht zum ersten Mal von seinen Gegnern unterschätzt. Seine vor allem jungen Anhänger verehren ihn wie einen Popstar. Dieses Phänomen hat nun auch bei der Parlamentswahl seine Wirkung gezeigt. Besonders junge Wähler bescherten Corbyn einen Stimmenanteil, der selbst den von Tony Blair bei seinem Wahlsieg 2005 übersteigt.
    Prinzipientreu
    Corbyn gilt als absolut prinzipientreu. Er soll sich vegetarisch und fast zuckerfrei ernähren, nicht rauchen und keinen Alkohol trinken. Hat er sich einmal auf eine Überzeugung festgelegt, bleibt er dabei. Dafür liebt ihn die Labour-Basis.
    Doch dazu muss man wissen: Viele Corbynistas, wie seine Anhänger in der konservativen Presse genannt werden, sind der Labour-Partei erst vor Kurzem beigetreten. Manche gehen soweit zu sagen, Corbyn habe die Partei mithilfe seiner Graswurzel-Bewegung gekapert…
    Corbyn macht sich als Parteirebell einen Namen, der nicht selten gegen die Anträge der eigenen Fraktion stimmt. Er ist einer der Gegner des Irak-Krieges von 2003.]
    https://www.bilanz.ch/people/jeremy-corbyn-der-unterschaetzte-prinzipienreiter-885238
    Wogegen hat er denn gestimmt, was Sie als Stempel Illoyal verwenden?
    Gegen Krieg, gegen Sozialabbau, gegen Privatisierungen, eigentlich typisch sozial-demokratisch.

    Passend dazu ein guter Kommentar zu den Abgeordneten, denen er nicht in den Kram passt:
    [Die ärgsten Feinde Corbyns lauern momentan denn auch nicht in der Conservative Party, sondern in den eigenen Reihen, wo es plötzlich vor großspurigen Ränkeschmiedern und Königsmördern nur so wimmelt. Man fragt sich doch, woher sie alle kommen, die Schäumenden und Tobenden, die eigentlich nicht identisch sein können mit jener Selbsthilfegruppe der Rückgratlosen, die in den vergangenen Jahren in relativer Eintracht zu jedem Frontalangriff auf den Wohlfahrtsstaat kreuzbrav Ja und Amen sagte. Die Neue Mitte, die doch bitte nichts zu tun haben möchte mit Radikalen oder irgendeiner Agenda, die nicht wie ihre eigene auf dem harten Boden der Tatsachen steht, sie hat sich binnen weniger Monate in einen wütenden Mob verwandelt, der die Entmachtung durch die fehlgeleiteten Schäfchen von der eigenen Parteibasis nicht kampflos hinzunehmen gedenkt. Es ist, als hätte man der fetten Nachbarskatze zum ersten Mal das tägliche Leckerli verwehrt und aus dem sonst so trägen, faulen Tier damit eine fauchende Bestie gemacht, die sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ihrer Krallen bewusst wird…
    Eine Abgeordnete ließ Corbyn angeblich wissen, sobald er der Partei mehr schade als nütze, da werde sie nicht zögern, ihn „zu erdolchen“. Man merkt hier doch, dass es dem ein oder anderen noch an wichtigen Erfahrungswerten in der hohen Kunst des Stühlesägens mangelt, denn der Profi weiß natürlich, dass er seine Mordphantasien mindestens bis zur Ausführung der Tat möglichst für sich behalten sollte.]
    https://www.freitag.de/autoren/tobit/koenigsmord-zur-tea-time
    Sonst hat auch Ralf erneut auf die Unterschiede hingewiesen. Da Sie die Antwort schuldig bleiben, warum die Partei Schröder folgen sollte, haben Sie wohl selbst keine. Dafür können Sie mich aber ausnahmsweise nicht verantwortlich machen.
    Im Übrigen, wenn ich mehrfach nachgefragt habe, war das in Ihren Augen stets, weil mir Ihre Antwort nicht passte, gilt das auch vice versa?

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