Ist die EU demokratisch? – Teil 1: Genesis


Die Europäische Union ist ein Projekt, das viele Gegner hat. Kaum ein Vorwurf wird so oft gegen die Europäische Union erhoben wie der, dass sie undemokratisch sei. Selbst EU-Befürworter tun sich schwer damit, sie von diesem Vorwurf grundsätzlich freizusprechen. Ihre arkanen Strukturen helfen ihr dabei nicht unbedingt; ein Verfassungsschaubild der EU löst nicht nur eine erbitterte Diskussion darüber aus, ob sie überhaupt eine Verfassung hat oder eine haben darf, sondern sieht auch aus, als sei eine Rotte McKinsey-Berater mit einem Organigramm angerückt. Ich will versuchen, mich dieser Frage zu stellen, aber angesichts dessen, dass die meisten Leute die Struktur der EU überhaupt nicht kennen und nicht wissen, wie diese einzuordnen ist, werden wir nicht umhin kommen, eine Art Grundlagenkurs vorzuschieben.

Im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte durchlief sie viele verschiedene Stadien, wandelte ihre Natur mehrmals. Infolgedessen ist sie komplex, ein organisch gewachsenes Konstrukt, das zwar mit ihrer ursprünglichen Konzeption nur noch wenig gemein hat, aber nichtsdestotrotz von ihr geprägt ist. Der erste Punkt muss daher eine Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte sein, um sehen, woher sie kommt und wohin sie geht.

Auferstanden aus Ruinen

Im Jahr 1945 stand Europa an einem Scheideweg. Das Nazi-Reich war zerschlagen, zerstört, zerteilt und besetzt. Aber dasselbe galt für viele andere europäische Staaten auch. Frankreich war zwar nicht so getroffen wie nach dem Ersten Weltkrieg, aber von der deutschen Besatzung ausgeblutet und zumindest in Teilen zerstört. Die alliierten Armeen waren gegen erbitterten Widerstand der deutschen Truppen durch Belgien und die Niederlande vorgestoßen und hatten mühsam Italien durchquert. Großbritannien war finanziell und wirtschaftlich ausgeblutet und hatte Bombenschäden zu beseitigen. Von den Verheerungen Osteuropas, die das Ausmaß der Zerstörung in Deutschland oft genug übertrafen, wollen wir gar nicht anfangen.

Für alle Beteiligten galten zwei grundsätzliche Prämissen. Auf der einen Seite wurde Deutschland, anders als 1918, besetzt und als eigenständiger Faktor komplett ausgeschaltet. Auf der anderen Seite sollte der folgende Frieden dieses Mal deutlich nachhaltiger sein als nach Versailles. Demontage und Teilung Deutschlands galten daher in vielen Diskussionen, wenngleich nicht allen, praktisch als gesetzt.

Doch schnell kamen zwei Faktoren auf, die diese Prämissen hinfällig machten.

Faktor eins war der beginnende Kalte Krieg. Die sich abzeichnende Realität war, dass die Nachkriegsordnung, Deutschland von allen vier Siegermächten gemeinsam zu verwalten, nicht aufrechtzuerhalten war. Die sowjetisch besetzte Zone (SBZ), aus der sich später die DDR entwickeln sollte, war perspektivisch nicht für den wirtschaftlichen Zugriff der Westalliierten zu halten.

Das bedingte Faktor zwei: Die Besatzungszonen waren allein nicht lebensfähig. Statt Gewinn in Form von Reparationen und Demontagen aus ihnen ziehen zu können, wurden sie zu Zuschussunternehmungen. Großbritannien, das während des Krieges aus Lebensmittelrationierung verzichtet hatte, musste diese 1946 einführen, um seine Zone mit Lebensmitteln versorgen zu können. Frankreich stand vor einer noch größeren Herausforderung.

Es überrascht daher wenig, dass die USA und das UK sich bereits 1946 zusammentaten und ihre Zone von nun an gemeinsam verwalteten, um die Kosten zu reduzieren und möglichst schnell eine eigenständige, lebensfähige Zone zu erhalten. Frankreich wehrte sich dagegen, weil es noch darauf hoffte, größere Gebietsgewinne (vor allem die Saar) und Reparationsleistungen zu bekommen. Doch aus dem zerstörten Deutschland ließ sich einerseits wenig ziehen, und andererseits war Frankreich wirtschaftlich wesentlich zu schwach, um gegen den Widerstand seiner Verbündeten eine eigenständige Deutschlandpolitik fahren zu können.

Einige weitsichtige Politiker erkannten bereits damals, dass Frankreichs Sicherheitsbedürfnis nicht würde aus einer Niederhaltung Deutschlands gestillt werden können, sondern nur aus einer Symbiose. Am berühmtesten ist hier Winston Churchills Rede von 1946, in der er die Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“ entwarf, die sich um eine Achse zwischen Frankreich und Deutschland herum (wenngleich mit einem deutlich dominanten Frankreich) entwickeln sollten. Pointiert nahm er dabei Großbritannien heraus. Während er chauvinistisch (wenngleich korrekt) Frankreich den Großmachtanspruch absprach und es auf den Kontinent verbannte, nahm er ihn für Großbritannien (ungleich weniger korrekt) sehr wohl an.

Hintergrund war, dass Churchill das Empire als Kraftreserve sah, das es Großbritannien ja auch erlaubt hatte, den Krieg durchzustehen. Er hatte da gewisse Erfahrungen aus erster Hand. Diese Erfahrungen aber verstellten ihm den klaren Blick. Churchill stellte sich Großbritannien als eigenständigen Akteur zwischen USA und UdSSR vor, quasi als Brücke zwischen den USA und den USE. Bereits ein Jahr später zeigte die Unabhängigkeit des „Kronjuwels“ Indien, was für eine Fantasterei das war. Die Labour-Partei, die gegen den Fantasten Churchill 1945 die Wahlen gewonnen hatte, war da schon weiter und baute Großbritannien mit einem auf innenpolitische Reformen gerichteten Blick vom Empire zum modernen Staat um – einem modernen Staat, der seinen Platz in Europa und nicht in Weltmachtspielereien hatte.

Einstweilen aber beobachtete Großbritannien die europäischen Vorgänge noch aus wohlwollender Distanz. Es war an den Franzosen, über den eigenen Schatten zu springen. Deutschland hätte, auch nach der Schaffung der Trizone 1947, der Einführung der Mark 1948 und der Gründung der Bundesrepublik 1949, mehr als vermessen gewirkt, in diese Richtung zu agieren.

Die beiden Personen, die mit diesem Schattensprung am bekanntesten verknüpft sind, sind Robert Schuman und Jean Monet. Schuman war der französische Außenminister, während Monet ein Unternehmer mit hervorgehobener Rolle bei der Koordination der britischen und französischen Kriegswirtschaft und damit ein Experte für wirtschaftliche Verflechtungen war.

Sie traten nun an den ersten Bundeskanzler, Konrad Adenauer, heran und machten ihm einen spektakulären Vorschlag. Konkret ging es um die Schaffung einer gemeinsamen Behörde, die supranational und damit den Staaten übergeordnet sein sollte. Diese Behörde, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, kurz: Montanunion), sollte die Montanindustrie beider Länder gemeinsam verwalten. Die Montanindustrie (Bergbau und Eisenverarbeitung) besaß damals noch eine hervorgehobene Stellung, weil sie sowohl als Grundstoffhersteller für alle weiteren Industrien als auch für den Aufbau und Unterhalt einer Rüstungsindustrie entscheidend war.

Die Motive Frankreichs für diesen Zug sind verhältnismäßig leicht zu durchschauen. Einerseits würden sie so, anders als in Weimar, klare Kontroll- und Zugriffsrechte auf die deutsche Montanindustrie haben. Eine verdeckte Aufrüstung à la „Schwarzer Reichswehr“ wäre so unmöglich. Andererseits würde die Versorgung der französischen Eisenindustrie mit Kohle sichergestellt werden. Und zuletzt wurde die französische Eisenindustrie vor der deutschen Konkurrenz geschirmt. Statt sich auf einen ruinösen Preiskampf mit der überlegenen deutschen Konkurrenz einlassen zu müssen, konnten gemeinsame Quoten und Märkte eingeteilt werden. Ein ähnlicher Versuch war in Frankreich mit der Schaffung von Kartellen und Schutzzöllen bereits im nationalen Alleingang in der Zwischenkriegszeit unternommen worden und kläglich gescheitert.

Doch auch für Deutschland hatte das Vorhaben einige verlockende Aspekte. Zwar schwächte es effektiv die deutsche Industrie, da diese freiwillig auf Wettbewerbsvorteile zu verzichten hatte. Aber dem stand der ungehinderte Zugriff auf den französischen Markt ohne ruinöse Schutzzollwettbewerbe gegenüber. Wesentlich bedeutender aber war der politische Effekt der EGKS. Die Selbstfesselung der deutschen Montanindustrie bedeutete, die französischen Vorbehalte gegen die Bundesrepublik deutlich zu reduzieren.

Da solche Vorbehalte seitens Frankreich die Beziehungen nicht nur zwischen diesen beiden Staaten, sondern auch mit den anderen Kriegssiegern in der Zwischenkriegszeit erheblich belastet hatten, konnten hier enorme Spannungen abgebaut werden. Deutschland war aber nach dem verlorenen zweiten Weltkrieg auch ein internationaler Paria; vor 1955 hatte es nicht einmal das Recht, eine souveräne Außenpolitik durchzuführen. Frankreichs ausgestreckter Arm war das erste normale Auftreten der neuen Bundesrepublik auf dem internationalen Parkett, und da diese Einigung sehr im Sinne Großbritanniens und der USA waren, die keine Lust auf eine Wiederholung der ständigen Reparationsstreitigkeiten aus der Zwischenkriegszeit hatten, stand dem Abkommen auch nichts im Wege.

So entstand die Keimzelle der späteren europäischen Union aus Erwägungen heraus, die heute praktisch keine Rolle mehr spielen. Die Montanindustrie erwähnt man eigentlich nur noch im Rahmen der Strukturkrise, und bei Saarland und Ruhrgebiet denken wir an Problemzonen, nicht an das pulsierende Herz der Wirtschaftstätigkeit. Das deutsche Militär beunruhigt in Frankreich allenfalls angesichts seiner Defizite und der weit verbreiteten Weigerung der Deutschen, es einzusetzen. Und Reparationen werden allenfalls in Griechenland und Polen als Thema betrachtet und dienen auch dort eher als Folklore.

Alle Wege führen nach Rom

Die EGKS, so viel wird man sagen dürfen, war ein klarer Erfolg. Weitere Schritte zu einer europäischen Einigung waren bereits vorher unternommen worden. Um die Hilfen des Marshallplans, mit dem die USA Europa wieder aufbauen zu helfen unternahmen, vernünftig zu koordinieren, war bereits 1948 die Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) gegründet worden. Im selben Jahr hatten sich Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Frankreich und Großbritannien im „Brüsseler Pakt“ zur „Westunion“ zusammengeschlossen, einem Militärbündnis, das damals noch eine starke anti-deutsche Stoßrichtung hatte, aber für unsere Zwecke vor allem wegen seiner langfristigen und verlässlichen Kooperationsperspektive relevant.

Bereits 1954 wurde die Westunion zur Westeuropäischen Union umgewandelt, in der auch Deutschland bald Mitglied wurde. Ihr Zweck war offensichtlich damals bereits eine Abwehr möglicher sowjetischer Aggression. Dieses Militärbündnis ist im Geiste bis heute Teil der EU, wenngleich es seit dem Lissabonner Vertrag 2009 in der allgemeinen Beistandsklausel aufgegangen und folgerichtig 2011 aufgelöst worden ist.

Bereits 1949 wurde zudem der Europarat gegründet. Diese britische Initiative sollte die UN-Menschenrechtscharta in Europa absichern. Dem lag die klare Erkenntnis zugrunde, dass nur eine supranationale Institution dies bewerkstelligen könnte – der Europäische Gerichtshof. Dessen Einrichtung wurde durch die 1950 ratifizierte Europäische Menschenrechtserklärung noch weiter flankiert.

Ich führe diese Entwicklungen hier deswegen auf, weil die Genese der Europäischen Union sehr häufig unzulässig auf ein reines Wirtschaftsbündnis verkürzt wird. Diese Erzählung kommt interessanterweise sowohl von ihren linken als auch ihren rechten Kritikern. Linke Kritiker betonen ihre Struktur als Wirtschaftsbündnis, um die Defizite besonders hervorzuheben. Rechte Kritiker betonen ihre Struktur als Wirtschaftsbündnis, um eine Rückbesinnung auf angebliche Kernkompetenzen zu fordern. Beides führt in die Irre.

Die Europäische Einigung war von Beginn an ein mehrgleisiges Projekt. Sie war bereits in ihrer Anlage eine Werteunion: Die Menschenrechtscharta, die Europäische Menschenrechtskonvention und die Einrichtung eines übergeordneten Gerichtshofs zur Durchsetzung dieser Werte noch vor der Einrichtung der EGKS sollten dies deutlich machen. Sie war aber auch ein militärisches Projekt, eine Absicherung sowohl gegen ein Wiedererstarken Deutschlands als auch gegen die Bedrohung durch die Sowjetunion. All diese Anlagen müssen bedacht werden, denn sie werden später in eine kohärente Form gebracht werden müssen.

Der Erfolg der EGKS gebar logische Folgeschritte. Neben der wirtschaftlichen Verschränkung Frankreichs und Deutschlands schien es sinnvoll zu sein, auch die politische und militärische Einheit anzugehen. In den frühen 1950er Jahren wurden hierzu mehrere Pläne ersonnen. Möglicherweise ist Stalins Störfeuer mit dem Wiedervereinigungsangebot von 1952 auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Es erwies sich letztlich als überflüssig. Die Begeisterung für eine weitergehende Integration hielt sich in beiden Ländern in Grenzen. Die Deutschen wollten Autonomie und sahen Frankreich als Werkzeug dafür, während in Frankreich die Garde jener Politiker, die unbedingt die nationale Souveränität als Großmacht erhalten wollte, an Auftrieb gewann.

Die Pläne einer politischen Einheit wurden stillschweigend begraben. Wesentlich krachender war der Tod der militärischen Einheit. Französische Vorschläge einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die eine Zusammenlegung der französischen und einer neu zu schaffenden deutschen Armee vorsah, scheiterten 1954 in der Nationalversammlung. Zu diesem Zeitpunkt hatten die USA und Großbritannien, die ihre Besatzungskosten durch einen deutschen Militärbeitrag zu reduzieren hofften, die Gründung einer eigenen deutschen Armee forciert – der Bundeswehr.

Die Europäische Einigung hatte damit, keine zehn Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs, bereits einen empfindlichen Schlag und eine erste Krise erlitten. Die französische Grundsatzentscheidung, von einer Union abzusehen, legte damit das Fundament für die kommende Wirtschaftsgemeinschaft – und schuf einen Präzedenzfall für alle weiteren Integrationsschritte. Wo Widerstand auftrat, legte man das Projekt auf Eis, wo es Spielräume gab, setzte man es fort.

Weiter geht’s in Teil 2.

{ 22 comments… add one }
  • R.A. 1. Juni 2020, 10:08

    Schon mal eine solide historische Grundlage.

    Aber bevor dann das eigentliche Thema präsentiert wird, empfehle ich eine ausführliche Grundlagendiskussion zu „was heißt eigentlich demokratisch?“.

    Erst wenn das fest definiert ist kann man ja messen, ob oder inwieweit die EU diese Kriterien erfüllt.

    Ich bin jedenfalls immer wieder überrascht was da oft bemängelt wird, obwohl ähnliche Strukturen innerhalb Deutschlands völlig akzeptiert werden.

  • CitizenK 1. Juni 2020, 12:01

    Komprimierte, kompetente Darstellung. Kompliment. Dachte zuerst: Weiß ich, kann ich überspringen. Hat sich gelohnt.

    • Stefan Sasse 1. Juni 2020, 12:32

      Danke. Was war denn neu?

      • CitizenK 1. Juni 2020, 16:06

        Richtig neu eigentlich nichts, aber pointiert formuliert. Der letzte Satz fasst alles gut zusammen – und könnte auch ein Wegweiser für die Zukunft der EU sein.

  • Dennis 1. Juni 2020, 13:06

    Ja, die gestellte Grundsatzfrage, die R.A. ja ganz richtig aufgeworfen hat, nämlich was DEMOKRATISCH überhaupt heißen soll, kann, könnte, müsste, nicht heißen kann und so weiter und so weiter, die natürlich bibliothekfüllend.

    Die Initianten von „Maßnahmen“ aller Art bilden wohl immer eine gewisse Avantgarde, aber top-down muss auf einen fruchtbaren Boden fallen, um wirksam zu werden, und in dieser Resonanz zeigt sich dann, ob und inwieweit von Demokratie gesprochen werden kann, weniger in der Initiative. Theater halt; das Publikum ist nicht unwichtig, aber das Publikum schreibt und inszeniert nicht die Stücke. Rekursive Prozesse von oben nach unten und wieder zurück, könnte man evtl. auch sagen – oder so ähnlich. Aber okay, da müssen die Philosophen ran^.

    Wie auch immer, der Beitrag ist natürlich richtig gut, deshalb danke dafür; würd aber meinerseits – was die Montanunion angeht – noch darauf hinweisen, dass selbiger die – selbstverständlich planwirtschaftliche – Ruhrbehörde vorausging, die durch die Montanunion abgelöst wurde. Erst dadurch wird der Kontext m.E. verständlich.

    Zitat Stefan Sasse (zur Montanunion):
    „Einerseits würden sie so, anders als in Weimar, klare Kontroll- und Zugriffsrechte auf die deutsche Montanindustrie haben.“

    Ja stimmt schon, aber so ein Zugriffs-Ding gab es ab 1949, also ab Bundesrepublik, wie gesagt bereits mit der „internationalen Ruhrbehörde“ (die Saar war eh französisch), breiter aufgestellt und nicht nur deutsch-französisch. Was die Montanunion angeht, gab es in D übrigens schräge Koalitionen: Die SPD war dagegen, ebenso wie zum Teil die FDP, Erhard und die Ruhrbarone. Die Gewerkschaften dafür. Dafür bekamen die als Belohnung der Montan-Mitbestimmung, die SPD sah bedröppelt aus. Adenauer hat letztlich alle ausgetrickst, wie das so seine Art war. Demokratie?? Hmmm.

    Die „Westeuropäische Union“ gehört in den Kontext gescheiterte Europäische Verteidigungsgemeinschaft; das wird imm Text m.E. nicht so deutlich. Aber ist eigentlich auch unwichtig, denn die WEU war ja nie mehr als ein Fetzen Papier. Die europäischen militärischen Konstruktionen wurden eh von der NATO überlagert und blieben stets ohne Bedeutung – bis heute und vermutlich auch weiterhin.

    Zitat:
    „Wesentlich krachender war der Tod der militärischen Einheit. Französische Vorschläge einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die eine Zusammenlegung der französischen und einer neu zu schaffenden deutschen Armee vorsah, scheiterten 1954 in der Nationalversammlung“

    Ja, so war’s; in D wäre das Ding übrigens auch an der SPD gescheitert, wenn die die Mehrheit gehabt hätten und in Frankreich gab’s heiße Debatten mit komischen linksrechten kreuz-und-quer Koalitionen, ein bunter Haufen der letztlich für das überwiegende NON verantwortlich war. Querfronten sind also nix Neues. Demokratie und so.

    Zitat:
    „Wo Widerstand auftrat, legte man das Projekt auf Eis, wo es Spielräume gab, setzte man es fort.“

    Ja, kann man so sehen. Spricht womöglich für die These, dass alle politischen Projekte letztlich Eliteprojekte sind und Demokratie wäre dann ne Art Publikumspädagogik mit milden Mitteln auf die eher nette Art. Adenauer machte das mit einer ordentlichen Portion Autoritarismus (das ging damals noch) und diversen geschickten Tricks.

    • Stefan Sasse 1. Juni 2020, 15:49

      Ich teile deine Schlussfolgerung nicht, aber denke für die Ergänzungen. Auch bei der WEU würde ich dir widersprechen wollen. Die europäische Bündnisstruktur ist eine Parallelstruktur zur NATO und hat HÄRTERE Beistandsklauseln als der berühmt wachs-weiche Artikel 5 der NATO. Gerade wegen der zunehmenden Schwäche der NATO dürfte uns das in Zukunft weit mehr beschäftigen.

      • Erwin Gabriel 2. Juni 2020, 09:42

        @ Stefan Sasse 1. Juni 2020, 15:49

        Die europäische Bündnisstruktur ist eine Parallelstruktur zur NATO und hat HÄRTERE Beistandsklauseln als der berühmt wachs-weiche Artikel 5 der NATO. Gerade wegen der zunehmenden Schwäche der NATO dürfte uns das in Zukunft weit mehr beschäftigen.

        War ja ein mit ein entscheidender Knackpunkt bei den Verhandlungen mit der Ukraine.

  • Erwin Gabriel 2. Juni 2020, 09:44

    Hallo Stefan,

    mal wieder eine extrem starke Wissenskompilation.
    Bin gespannt auf die weiteren teile, und darauf, ob Du es schaffst, meine Vorbehalte auszulösen. 🙂

    Vielen Dank

    • Stefan Sasse 2. Juni 2020, 09:57

      Vorbehalte gegen die Serie oder die EU?

      • Erwin Gabriel 8. Juni 2020, 14:12

        @ Stefan Sasse 2. Juni 2020, 09:57

        Vorbehalte gegen die Serie oder die EU?

        Weder gegen die Serie (die ist wie immer der absolute Hammer !!!), noch gegen die EU als solche, aber gegen die weitere bzw. zukünftige Entwicklung der EU und des Euro.

        • Stefan Sasse 9. Juni 2020, 10:48

          Ja, das verstehe ich. Debattieren wir sicherlich noch gegen Ende der Serie ausführlicher 🙂

  • Ariane 2. Juni 2020, 11:54

    Danke für den Artikel und die Serie. Ich sehe meine Kritik, dass du das Verfassungsrichter-Problem nur auf Deutschland angewendet hast, ist angekommen 😀

    Zur Demokratie Frage:
    Ich denke bei der EU ist es noch wichtiger, die demokratischen Struktruren stark von der gelebten Verfassungswirklichkeit zu trennen.

    Die Strukturen sind auch schon nicht so dolle. Wir haben nicht wirklich zwei gleichberechtigte Kammern, ich hab auch nach zigmal googlen nicht ganz verstanden, was den EU-Rat (oder Rat der EU, den es wohl auch gibt) von der Kommission unterscheidet.
    Was ganz schlecht ist, weil ich darin eines der größten Probleme sehe. Wozu brauchen wir ein Parlament überhaupt, wenn die großen Sachen eh auf den Gipfeln entschieden werden und fast alle Parlamentsinitiativen sowieso nur diffamiert werden (unter „die EU plant Veggieday“)

    Die gelebte Verfassungswirklichkeit ist eh ein Desaster. Da fällt mir wenig Positives zu ein. Auch weil niemand weiß, was die EU ist und macht und wer da mit drinsteckt und überhaupt. Sieht man ja an den Diskussionen hier. Außer „der reiche Norden füttert den armen Süden durch“ ist da nicht viel. Und da ist auch noch die EZB mit drin, die damit eigentlich überhaupt nichts zu tun hat. Jede Währung braucht eine Zentralbank, aber ich würde sie gar nicht zu den „EU-Strukturen“ mit reinzählen.

    Bevor man fragt, ob die EU demokratisch ist, müsste man eventuell nicht nur fragen, was Demokratie bedeutet. Sondern auch, was jeder persönlich unter „der EU“ versteht.

    Das ist ja noch stärker geframed als irgendetwas anderes. Für die einen (egal ob rechts, links, BILD-Leser, sonstwas) ist es das Feindbild schlechthin. Für die anderen – wie uns – ist es die beste Idee, die je erfunden wurde – also auch ein Sehnsuchtsort. Für alle außerhalb der EU ist sie ein noch größeres Ideal und Sehnsuchtsort, die wollen da ja erst hin, wo wir schon sind.

    Deswegen bin ich ein bisschen unsicher, ob das mit der Serie so gut funktioniert wie bei Deutschland. Also sie wird natürlich großartig^^ Aber ich glaube, der Erkenntnisgewinn kann nicht so groß sein, weil die Gegensätze einfach noch größer sind.

    • Stefan Sasse 2. Juni 2020, 13:45

      Sind wir mal gespannt. Zumindest kriegt ihr einen guten Geschichtsabriss ^^

  • Erwin Gabriel 8. Juni 2020, 14:30

    @ Ariane 2. Juni 2020, 11:54

    Wir haben nicht wirklich zwei gleichberechtigte Kammern, ich hab auch nach zigmal googlen nicht ganz verstanden, was den EU-Rat (oder Rat der EU, den es wohl auch gibt) von der Kommission unterscheidet.

    Die EU-Kommission, die letztendlich von den Regierungschefs ausgekobert wird, ist, soweit ich das verstanden habe, die entscheidende Instanz, während ich das EU-Parlament (zumindest bis vor kurzem) als demokratische Mogelverpackung wahrgenommen habe.

    Was ganz schlecht ist, weil ich darin eines der größten Probleme sehe. Wozu brauchen wir ein Parlament überhaupt, wenn die großen Sachen eh auf den Gipfeln entschieden werden …

    Zustimmung!

    … und fast alle Parlamentsinitiativen sowieso nur diffamiert werden (unter „die EU plant Veggieday“)

    Egal, was man ändern möchte – einer profitiert davon, ein anderer verliert (und startet eine populistische Kampagne).

    Die gelebte Verfassungswirklichkeit ist eh ein Desaster. Da fällt mir wenig Positives zu ein. Auch weil niemand weiß, was die EU ist und macht und wer da mit drinsteckt und überhaupt.

    Zustimmung!

    Sieht man ja an den Diskussionen hier. Außer „der reiche Norden füttert den armen Süden durch“ ist da nicht viel.

    Das ist schon mal keine Falschbehauptung :-). Aus meiner Sicht ist der Grund dafür, dass es zu wenig ums Gestalten und zu viel ums Verteilen geht. Die Autohersteller, Banken, Bauern etc. wollen Geld, aber keine strengeren Vorschriften. Die Regierungen von Griechenland, Italien, Polen, Ungarn wollen Geld, aber keine einschränkenden Regeln.

    Den Geldfluss kann man irgendwie umsetzen, bei der Einführung neuer regeln wird es schon schwieriger.

    Und da ist auch noch die EZB mit drin, die damit eigentlich überhaupt nichts zu tun hat. Jede Währung braucht eine Zentralbank, aber ich würde sie gar nicht zu den „EU-Strukturen“ mit reinzählen.

    Normalerweise würde ich Dir da zustimmen, aber die EZB betreibt Staatsfinanzierung von EU(ro)-Staaten, und erfüllt damit eine irgendwie doch EU-institutionelle Rolle.

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