Getting Brexit done – Eine Analyse der britischen Wahlen 2019

Ein konservativer britischer Premierminister sieht sich einer gespaltenen Partei und einer zwiespältigen Öffentlichkeit gegenüber. Das dominierende Thema der Politik ist die Umsetzung eines Referendums über den Austritt aus der Europäischen Union. Die Opposition ist ebenso gespalten, die Verhältnisse unklar, die Lage volatil. Die praktische Umsetzung eines so eindeutigen Plebiszits ist völlig ungeklärt. In dieser Lage wird eine Neuwahl ausgerufen, die den gordischen Knoten durchschlagen soll.

Diese Beschreibung trifft sowohl auf Theresa Mays Entscheidung für Neuwahlen 2017 als auch auf die Boris Johnsons 2019 zu. Aber die Resultate und Konsequenzen könnten unterschiedlicher kaum sein. Wo May ihre Parlamentsmehrheit einbüßte und sich zwei lange Jahre lang mit Unauflösbarkeit des irischen Backstop-Dilemmas konfrontiert sah, gewann Boris Johnson eine eindeutige Mehrheit, während die Opposition geradezu kollabierte. Wir wollen, nun mit etwas Abstand, den vermutlich letzten Akt des Dramas betrachten; quasi ein letzter Blick auf ein noch formal zur EU gehöriges Großbritannien.

Mehrere Phänomene erfordern unsere Aufmerksamkeit und unsere Analyse. Da wäre einerseits die Frage, welche Faktoren zu Johnsons durchschlagendem Wahlsieg führten. Da wäre andererseits die Frage, worauf der unglaubliche Kollaps Labours unter Jeremy Corbyn (und ebenso, wenngleich weniger diskutiert, der der Liberal Democrats) zurückzuführen ist. Und zuletzt muss untersucht werden, welche Folgen diese tektonischen Verschiebungen für die politische Landschaft Großbritanniens haben.

Betrachten wir zuerst die Ursachen von Johnsons Sieg, soweit sie ihre Gründe nicht in der Schwäche der Opposition haben. Was unterscheidet die Tories 2019 von den Tories 2017? Warum gelang Johnson, was May versagt blieb?

Ich denke, es ist unumstritten, dass die Wahl 2019 – deutlich mehr als die Wahl 2017 – von der Entscheidung über den Brexit bestimmt war. Wo Theresa May versuchte, sich mit so brillanten Zirkelschlüssen wie „Brexit means Brexit“ aus der Affäre zu winden und mit jedem Tag mehr Glaubwürdigkeit auf der rechten Flanke einzubüßen, ohne dies durch Zugewinne bei moderaten Kräften kompensieren zu können, ließ Johnson von Anfang an keinen Zweifel daran, dass er den gordischen Knoten zu durchschlagen gedenkt: „Get Brexit done!“ war das Motto, „and the damn the consequences!“ der unausgesprochene zweite Teil.

Das Kalkül hinter dieser Inszenierung als Brexit-Volkstribun war wohl, die permanente Wadenbeißerei vom rechten Rand, die May so plagte, zu neutralisieren. Dieses Kalkül ging auf. Nigel Farage schloss einen Pakt mit Johnson und vernichtete seine neue Brexit-Partei, noch bevor sie richtig aus den Startlöchern kam. Was er bei diesem faustischen Pakt bekam, ist bisher eine Unbekannte, aber man darf sich sicher sein, dass er die Rechnung noch präsentieren wird. Gleichzeitig hatte Johnson, anders als May nach ihrer desaströsen Wahl, die Möglichkeit, die Spaltung der eigenen Partei über die Frage nach hard Brexit oder soft Brexit zu überwinden, wenngleich zugegebenermaßen auf die brutalstmögliche Art.

Durch zahllose Parteiaustritte wurden die Tories zur neuen Brexit-Partei, und Johnsons Wahlsieg füllte sie mit radikalisierten Parteigängern auf. Anders als May verfügt er damit über den Handlungsspielraum, den sie sich 2017 zu verschaffen hoffte und stattdessen endgültig zerstörte. (Wir sollten vorsichtig sein, das als zwangsläufige Folge zu sehen: Johnson ging wie May eine Wette mit ungewissem Ausgang ein, nur gewann er sie, aus Gründen, die noch zu zeigen sein werden.)

Dass es überhaupt soweit kam – sowohl zum Brexit-Votum selbst als auch zu den Wahlen 2017 und 2019 – ist ebenso wenig eine klar vorhersehbare Trendlinie. Zu Beginn des Jahrzehnts etwa konnte es noch als gesichert gelten, dass ein erfolgreicher Premierminister David Cameron die Brexit-Tories für die vorhersehbare Zukunft neutralisieren würde. Was ist geschehen?

Für Andrew Marr liegt die Ursache für den harschen Wandel des britischen politischen Systems in der toxischen Kombination aus Austerität und plebiszitärer Demokratie:

The shape of this revolution should not be a surprise. It began in the years after the 2008 financial crash, when the British state responded by radically restricting spending and, in doing so, greatly exaggerated the gap in life expectations, hope and happiness between the poorest social classes and least invested-in communities, and the rest. A fracture opened up between comfortable and uncomfortable Britain. That crack was then widened when David Cameron imported a plebiscite into British parliamentary democracy. It allowed the first big modern provincial rebellion against metropolitan power – an uprising that was about culture and dignity as well as economic position.

Die Folgen der Finanzkrise von 2007-2009 sind immer noch in allen politischen Analysen deutlich unterrepräsentiert, vor allem wenn man es mit der erschöpfenden Analyse der Flüchtlingskrise 2015 vergleicht (die für das ganze Brexit-Dilemma entscheidend ist, make no mistake). Die Briten sind, was Ungleichheit angeht, den Amerikanern näher als Kontinentaleuropa – und gleichzeitig in ihren Anforderungen zur Problemlösung an den Staat wiederum näher an Kontinentaleuropa als an den USA. Diese Mischung brodelte unter der Oberfläche, und ein Teil von Corbyns Erfolg 2017 liegt sicher auch darin, dass er diese Mischung aufgreifen konnte – während Theresa May sich als Margret Thatcher 2.0 präsentierte und eine „strong and stable„-Fortsetzung der Austeritätspolitik versprach.

Man sollte weder bei Johnson noch bei Trump unterschätzen, wie wichtig ihre ostentative Aufgabe der Austeritätspolitik und das Abwerfen des Dogmas des freien Wettbewerbs und Handels für ihren jeweiligen Wahlerfolg war. „Taking back control“ hat eine ganze Menge, auch xenophobe, Untertöne, aber einer dieser Untertöne ist eben auch die Entmachtung der Londoner City beziehungsweise der Wall Street. DAS ist der Grund für die schichtenübergreifende Attraktivität des neuen Rechtspopulismus.

Dementsprechend könnte man mit David Skelton der Ansicht sein, dass die Tories, wollen sie ihre „Leihstimmen“ aus den Labour-Hochburgen halten, eine entsprechende Anti-Austeritäts-Politik auch in der Praxis fahren müssen:

If the Tories want to retain their coalfield and steeltown seats, rather than merely holding them on “loan”, they have to use the next five years to deliver real and transformative change. Transport infrastructure, including road, rail and light rail, should be directed towards these towns. There should be a mission to reindustrialise parts of the north with a strong manufacturing heritage, with an emphasis on encouraging industrial investment in long-forgotten towns. A vocational education revolution should include basing vocational centres of excellence, in partnership with major employers, in these towns. A fundamental priority for the government should be to turn round decades of decline. 

Es wird sich weisen, ob Boris Johnson besser als Donald Trump in der Lage sein wird, seiner Partei einen solchen Politikwechsel aufzuzwingen. Zwar geben auch die Republicans das Geld mit vollen Händen aus, machen Schulden und kümmern sich keinen Deut um die Finanzierbarkeit – eine jahrzehntelange Tradition aller konservativen Parteien, die Haushaltsdisziplin immer genau dann als Tugend entdecken, wenn sie in Opposition geraten – aber Trump, ganz der Mentalität eines Mafia-Bosses verpflichtet, war und ist nicht in der Lage, die Früchte dieser Ausgabenpolitik auf breite Bevölkerungsschichten anzuwenden und bedenkt nur seine eigene, schmale Basis. Johnson ist jedoch, nach allem was man sieht, ein wesentlich gerissenerer politischer Führer als Trump, weswegen er den benefit of the doubt verdient.

In der Zwischenzeit betont John Elledge die Rolle der Demographie für das Wahlergebnis:

But another, I’d guess, is economics. For reasons we’ve often discussed on CityMetric, around the shift to services and the growing importance of agglomeration, a falling share of jobs are in towns, and a growing share are in cities. The result of this is an internal brain drain: a chunk of the population of each town leaves to go to university at 18 and finds they have no particular reason to move back. For those on the outskirts of London, or other boomtowns, some move back in their 30s to start families. But for places like Workington, they don’t. The net result is that many of those towns have populations with fewer young people, more old ones – and who are increasingly likely to vote Tory.

Wir sehen diese Dynamik überall in der westlichen Welt. Je geringer der Bildungsabschluss, je weißer, je älter, je männlicher und je ländlicher, desto eher wählt man Rechtspopulisten. Diese Trendlinien sind viel zu ubiquitär, viel zu offenkundig, als dass man sie ignorieren könnte. Die Demographie erweist sich für Labour daher in einem Mehrheitswahlrechtssystem ähnlich zum Fluch wie für die Democrats in den USA: Obwohl die eigentlichen Stimmenanteile gar nicht soooooo weit auseinanderliegen, trennen die tatsächlich damit errungenen Sitze Welten. Labour profitiert nur wenig davon, diverse Sitze in London mit 70% oder mehr zu gewinnen, während die Tories auf dem flachen Land die Stimmen der Absteiger einkassieren können.

Soweit, so normal.

Die Linke ist mittlerweile vereint in ihrem Lieblingssport: dem Erklären der Niederlage mit all den Faktoren, die nichts mit ihr selbst zu tun haben. Wie albern diese Unternehmung werden kann, ist in einem viralen Twitterthread beschrieben worden, dessen Lektüre als eine Art kalte Dusche nur anempfohlen werden kann:

Der erste Fehler, den man in diesem Zusammenhang machen kann, ist, Labours Niederlage in nur einem Grund zu suchen: Brexit. Lügenpresse. Corbyn. Antisemitismus. Sozialistisches Wahlprogramm. Pick whatever you prefer. Stattdessen gibt es eine ganze Reihe von Gründen, die teilweise in, teilweise auch außerhalb der Kontrolle der Partei liegen.

Sehr in der Kontrolle der Partei ist Jeremy Corbyns astronomische Unbeliebtheit. Diese hat viele Ursachen. Corbyn präsidiert über eine tief gespaltene Partei, ein Amt, an das er auf eine Weise kam die das Establishment dieser Partei als illegitim empfindet, und versuchte danach (ähnlich wie Johnson) seine eigenen Leute in Machtpositionen zu bringen. Das ist absolut sinnvoll; Corbyn muss nur mal Martin Schulz fragen, was passiert, wenn man das nicht tut, aber es sorgt eben gleichzeitig auch für Missstimmung innerhalb der Partei. Und wenn Linke etwas lieben, dann ist es Selbstzerfleischung, das wusste schon die Monthy-Python’sche Volksfront von Judäa.

Dazu kommt, dass Corbyn nicht eben ein Sympathieträger ist, das hat er mit Theresa May, Hillary Clinton oder Angela Merkel gemein (auch wenn diese den Vergleich sicher scheuen würden). Zudem vertritt er diverse Positionen, die in Großbritannien selbst unter Labour-Anhängern nicht mehrheitsfähig sind, etwa seine offensive Abneigung der Monarchie. Ich kenne britische Sozialdemokraten, die allein hierin schon ein Problem sehen, denn der Premierminister ist immer noch Vorsitzender von Her Majesty’s Cabinet. Auch eine ablehnende Haltung gegenüber dem Militär und dem britischen nuklearen Abschreckungspotenzial trägt nicht unbedingt dazu die, die Wortgruppe „Ministerpräsident Jeremy Corbyn“ auf Begeisterungsstürme in der traditionell interventionsfreudigeren britischen Öffentlichkeit stoßen zu lassen.

Man kommt im Zusammenhang mit Corbyns Beliebtheit leider auch nicht darum herum, die Antisemitismusdebatte in der Partei zu behandeln. Ob Corbyn überzeugter Antisemit ist oder nicht spielt in der Debatte in etwa eine so große Rolle wie die Frage, ob Konrad Adam oder Alice Weidel Nazis sind: Wer solche Elemente in seiner Partei akzeptiert und sich nicht klar distanziert, macht sich gemein, und den Vorwurf muss sich Corbyn mindestens gefallen lassen. Seine skandalträchtigen Verbindungen zur iranischen Staatspresse oder der Hezbollah machen die Sache da nicht unbedingt besser.

Fairnesshalber muss natürlich auch gesagt sein, dass Corbyn und Labour generell sich einer extrem feindlichen Presselandschaft gegenübersahen und -sehen. Die britische Presse, vor allem die mächtige Yellow Press, ist seit ihrer Entstehung in der Frühzeit des 20. Jahrhunderts mit einem starken Rechtsdrall ausgestattet, und die Kampagnenberichterstattung dieser von wenigen Milliardären gesteuerten Blätter lässt die Springerpresse wie Chorknaben aussehen. Aber alleine hat dieser Fakt wenig Überzeugungskraft, denn das deutlich bessere Abschneiden Labours 2017 verdankt sich ja nicht eben der Corbyn-Begeisterung der Daily Mail.

Ein weiteres Problem für Labour war, dass sie aus der Ablehnung der Austerität kein politisches Heu zu dreschen in der Lage waren. Wie so oft bei sozialdemokratischen Parteien dieser Tage ist fast jede einzelne der Forderungen aus dem jeweiligen Wahlprogramm ungeheuer populär und findet deutlich jenseits der Zwei-Drittel-Mehrheit Zustimmung in der Bevölkerung. Wie jedoch auch so oft fehlt das Grundvertrauen, dass die Partei tatsächlich in der Lage wäre, diese Forderungen auch umzusetzen, oder aber die Früchte dieser Forderungen in die „richtigen“ Bahnen zu lenken. Konkret gesagt: Sozialstaat für Weiße, dieses so erfolgreiche Versprechen der Rechtspopulisten von Budapest und Warschau über London und Washington.

Der größte Unterschied zwischen den Wahlen 2017 und 2019 jedoch lag außerhalb der Kontrolle der Partei. Niemand wird bestreiten wollen, dass das zentrale, alles überschattende Thema 2019 der Brexit war. Die Trennlinien zu diesem Thema – Leave oder Remain, hard oder soft – schnitten quer durch die Anhängerschaften der Parteien. Johnson konnte sich mit einer gewissen Glaubwürdigkeit als Mr. Brexit inszenieren, während Corbyns Engagement für den Verbleib in der Union sowohl 2016 als auch 2017 bestenfalls ambivalent war.

Aber die Tories sind auch einiger (man beachte den Komparativ) in dieser Frage, als es Labour ist. Und 2017 gab es keine Mehrheit für einen hard Brexit; stattdessen forderten Elektorat und Partei von Theresa May die Quadratur des Kreises, an der sie scheitern musste. Johnson hob dann die Trümmer einer erschöpften Partei auf und peitschte diese in ein Ende mit Schrecken, um dem Schrecken ohne Ende zu entkommen.

Labour stand dieser Weg nicht offen. Stattdessen war eines der größten Probleme, in den Worten Stephen Bushs, dass „[t]he party’s pro-Brexit MPs spent three years looking for ways to back Brexit in theory, but not in practice„. Ich halte diese Suche für einen Kerngrund des überraschend guten Abschneidens von Labour bei den Wahlen 2017. Ich hatte damals einen Freund von mir gefragt, der in der Politikberatung tätig ist, ob Labours Erfolg davon abhängig sei, dass sie keine Position bezüglich des Brexit einnähmen. Er schüttelte den Kopf und meinte, es sei, weil Labour ALLE Positionen bezüglich des Brexit zugleich einnehme. Dieses Jonglierspiel musste irgendwann scheitern, und 2019 brach es krachend zusammen.

Auch Yascha Mounk sieht die Spaltung der Labour-Wählerschaft als ein letztlich unauflösbares Problem, wenngleich er Brexit nur als eine Facette eines größeren Kulturkampfs ansieht:

So Labour is now being pulled in two opposite directions. Many of its middle-class voters feel that the party is not sufficiently liberal on cultural issues; as a result, they are tempted to opt for more consistently progressive alternatives such as the Green Party. Meanwhile, many of its erstwhile working-class voters feel that the party’s leaders have come to look down on their cultural views; as a result, they are tempted to vote for the Tories, or even for more extreme alternatives such as the Brexit Party.

Ich teile die manische Obsession mit identity politics, die Mounk und so viele andere Beobachter dieser Dynamiken treibt, nicht. Fakt ist allerdings, dass Labour unter denselben Fliehkräften leidet wie auch die SPD und droht, von ihnen zerrissen zu werden. Johnson hat eine taktische Verkleinerung seiner Partei vorgenommen, um sie danach umso sprunghafter expandieren zu lassen. Das rosige Zukunftsszenario für Labour wäre, dass der Partei Ähnliches gelingt, aber ich bin da sehr skeptisch.

Gleichzeitig halte ich es aber für eine arg selbstverliebte Feststellung von Mitte-Rechts, einfach nur das ambitionierte Programm von Labour zur Maßgabe zu machen. Auch Andrew Marr zweifelt hier:

Nor am I completely convinced that the Labour manifesto was simply too ambitious and too generous to persuade voters. By the end of the campaign billions were being thrown around by insouciant politicians on all sides as if they were autumn leaves. People had stopped counting.

Das konservative Programm war schließlich mindestens ebenso radikal, wenn nicht radikaler, als das Programm von Labour, wenngleich in eine andere Richtung.

So viel erst einmal zu den Gründen für das Wahlergebnis. Wir wollen uns jetzt den Folgen zuwenden.

Eine der offensichtlichsten Konsequenzen von Johnsons Spaltungskurs (nicht, dass es einen Konsens hätte geben können, das hat May nachdrücklich bewiesen) ist das Wiederbeleben von Nicola Sturgeons Unabhängigkeitskurs in Schottland. Die Forderung nach einem zweiten Referendum ist durch den nun praktisch unvermeidbar gewordenen Hard Brexit zwar immer noch nicht sonderlich überzeugend, aber mit einer völlig neuen politischen Dynamik ausgestattet. Zudem hat der Siegeszug der SNP, der nach dem gescheiterten Referendum 2014 seinen Zenit überschritten haben zu schien, mit Verve zurückgekehrt; noch nie zuvor sandten die Separatisten so viele Vertreter nach Westminster. Der Streit um die schottische Unabhängigkeit dürfte zusammen mit dem Brexit das beherrschende Thema von Johnsons Amtszeit werden, ohne dass klar wäre, wie es für Schottland und das Vereinigte Königreich ausgehen wird.

In etwas abgeschwächter Form findet sich das Problem auch in Nordirland wieder. Wie sich der Brexit mit der EU-Mitgliedschaft Irlands und einer prinzipiell offenen Grenze zwischen den beiden Insel-Teilstaaten vertragen soll, ist weiterhin völlig offen. Obwohl kaum ein Thema Mays Regierungszeit so überschattet hat wie der Backstop, der jeden Brexit-Vertrag unmöglich machte, spielte das Thema im Wahlkampf selbst kaum eine Rolle mehr – vermutlich ebenfalls ein Ermüdungseffekt, der Johnson hier zugute kam. Gelöst allerdings ist es damit freilich nicht.

Gleichzeitig sehen wir in Johnsons Sieg eine Wasserscheide im britischen politischen System. Ich habe vorher die Aussage getroffen, dass Johnsons Programm mindestens genauso radikal wie das Corbyns war, wenngleich diese Einsicht im Wahlkampf selbst nicht wirklich durchgedrungen ist.

Der für das politische Gesamtgefüge sicherlich wichtigste Punkt ist der Verfassungswandel, den Johnson anstrebt. Angesichts des Mangels einer festgeschriebenen Verfassung kann seine deutliche Parlamentsmehrheit hier große Änderungen vornehmen, sofern ihn die Gerichte lassen. Und das Aufstocken der Gerichte mit Tory-Parteigängern gehört gerade zu den expliziten Absichten des Mannes, auch hier ein Muster, das sich bei allen dieser Rechtspopulisten findet.

Dabei sollte man nicht den Fehler machen und Johnson unterstellen, dass er es auf eine Art Ermächtigungsgesetz abgesehen hätte; weder ist er so krude, noch würde das seinen Absichten gerecht werden. Der Verfassungswandel wird, wie auch bei Orban oder Kaczinsky, schleichend vonstatten gehen. Neuzuschnitte der Wahlkreise zum Zementieren der Tory-Mehrheit, das Ausschalten von Veto-Positionen innerhalb des Systems und eine weitere Zentralisierung von Macht in einem ohnehin bereits verhältnismäßig zentralisierten System sind entscheidende Stellschrauben des Systems.

Jeremy Cliffe beschreibt die Gefahren eines schleichenden Verfassungswandels sehr eindringlich:

The country, it is true, has an almost uniquely robust and combative political culture. It is said that Boris Johnson is a “liberal conservative” and that he is not to be taken literally, yet similar things were claimed of the US and Donald Trump. And the British system is especially amenable to strongman leadership: its government is highly centralised, its second chamber and local government are feeble and its prime minister can wield vast executive power with a majority. […] Already Johnson and those around him have started probing the limits of Britain’s liberal-democratic culture. The unlawful prorogation of parliament, the threat of political vetting of judges, and the subsequent electoral narrative of “people versus politicians” requiring rescue by a muscular father-of-the-nation type is straight out of the Visegrad playbook. Then came the calculated provocations during the campaign: the smirking evasion of rigorous broadcaster coverage and dog-whistle attacks on EU nationals who treat Britain as “their own”.

Auch Andrew Marr schlägt in diese Kerbe:

We should be prepared for a novel combination of harsh centralism in politics, combined with relatively expansionist and moderate policies elsewhere. Perhaps this is what “the people’s government” means.

So oder so, es wird ungemütlicher in Großbritannien. Anders als Cameron und May sieht sich Johnson nicht als Reinkarnation Thatchers. Das ist ihm vermutlich eine Nummer zu klein. Sein großes Vorbild ist Winston Churchill, als dessen Nachfolger er sich zu inszenieren sucht. Nun war Churchill nicht eben bekannt dafür, ein allzu progressiver Geselle zu sein; er war ein Kriegspremier, und so wurde er auch gesehen. Churchill war aber auch einer der wenigen Tories, die erkannten, dass es eine konservative Sozialpolitik braucht, um die Herrschaft der Tories zu untermauern – eine Erkenntnis, die auch an Boris Johnson nicht vorbeigegangen ist.

Vielleicht ist der Hüne mit dem wirren blonden Haarschopf der alten Bulldogge doch ähnlicher, als die hybrisgeladene Arroganz auf den ersten Blick vermuten lässt. Immerhin ein Lichtblick bleibt: Auf Churchill folgte das goldene Zeitalter der Sozialdemokratie in Großbritannien, mit großer Gleichheit und rapide steigendem Lebensstandard. Hoffen wir, dass Labour einen neuen Clement Attlee findet.

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  • TBeermann 27. Dezember 2019, 13:36

    Der entscheidende Faktor ist schlicht das Mehrheitswahlrecht und die damit einhergehende Verzerrung der Stimmverhältnisse bei der Übertragung in Parlamentssitze.

    Ja, Labour hat verloren, aber beim Stimmanteil ist es eben nicht das schlechteste Ergebnis (nicht mal der letzten 20 Jahre) und liegt nur minimal unter dem Stimmanteil beim letzten „Wahlsieg“ von Blair 2005.

    Ebenso haben die Liberal Democrats im Vergleich zur Wahl 2017 ihren Stimmanteil sogar leicht verbessern können, nur sorgt das fragwürdige Wahlsystem sogar für einen Verlust von Sitzen.

    Johnson wiederum könnte das bei May als desaströs geschmähte Ergebnis um nicht mal 1,5% verbessern. Dass ihm da jetzt plötzlich ein Erdrutschsieg angedichtet wird, ist lächerlich.

    • CitizenK 27. Dezember 2019, 14:00

      Leider nicht lächerlich. In der öffentlichen Wahrnehmung zählen die Sitze – wie beim Fußball die Tore. Und die Kohle- und Stahl-Wahlkreise mit Stimmen von Immer-Labour-Wähler, denen angeblich „die Hand zitterte“ beim Ankreuzen.

      Mit der Kritik am Mehrheitswahlsystem hast du ja recht. Zeigt sich besonders fatal bei den LibDems – Jo Swinson hat ihren Sitz um wenige Stimmen (149?) verpasst – sie fehlt.

      Danke, übrigens, @Stefan Sasse für den Artikel. Gute Analyse.

      Der SNP-Erfolg verdient eine genauere Betrachtung. Ob er GB-weit irgendwas bewirkt? Das Okay von Johnson kriegen die Schotten sicher nicht, und mit einem „illegalen“ Referendum kommen sie nicht in die EU, von der EU-Außengrenze mitten durch die Insel abgesehen.

      P.S. Die CDU will die -sicher notwenige – Diskussion um die Verkleinerung des Bundestags nutzen, um das deutsche Wahlrecht in Richtung Mehrheitswahl zu verschieben: Ausgleichsmandate soll es nicht mehr geben.

      • Stefan Sasse 27. Dezember 2019, 21:40

        Ich denke die SNP wird maximal das UK zerbrechen und dauerhaft Labours Stimmen abziehen.

    • Jens Happel 27. Dezember 2019, 14:36

      Moin,

      ich finde den Artikel nicht schlecht, aber die big points finde ich hast du nicht erwähnt. So wie TBeerbaum sehe ich auch das Mehrheitswahlrecht als Hauptgrund für die Ursache. Johnson hat das früh erkannt und so wie du es auch geschrieben hast, damit die Stimmen der meisten harten Brexit Wähler eingesammelt. Ich habe mich bei den meisten Kommentaren und Berichten über die angeblich „irren“ Johnson in unseren Leitmedien häufig gefragt ob die das britische Wahlrecht nicht kennen.

      Johnson hat sich außerdem geschickt als „Stimme des Volkes“ generiert, der gegen die Eliten den Brexit durchziehen will. Damit hat er Labour genug Stimmen abgeluchst um zusamen mit den Stimmen der Nigel Farange Partei diesen Sieg hinzulegen.

      Corbyn war in einer unlösbaren Position. Da wo er traditionell die meisten Stimmen holte, in Schottland, war man klar auf Remain Kurs. In England selbst gab es sehr viele Labour Wahlkreise die für den Brexit waren. Die von dir beschriebene Zerissenheit der Partei war somit nicht homogen verteilt sondern es gab ein klares Nord-Süd Gefälle mit Schnittmenge Null.

      Die ganzen Details und Zitate die du zusammengetragen hast finde ich aber sehr lesenswert.

      Ich bin gespannt wie es nun mit der schottischen Unabhängigkeitsbewegung weitergeht und wie unsere Presse darüber berichten wird. Ich wette mal, es wird sie einen Dreck interessieren, was sie an gleicher Stelle über die „dummen“ Katalanen und Basken geschrieben hat.

      Viele Grüße

      Jens

      • Stefan Sasse 27. Dezember 2019, 21:41

        Zu sagen dass eine der beiden Seiten das Wahlsystem verstanden hat, in der sie operiert, ist kein gutes Zeugnis für Labour, sorry. Und dass sie strukturell benachteiligt waren streiche ich im Artikel ja heraus.

        • CitizenK 28. Dezember 2019, 10:08

          Im Vorfeld der Wahlen war von Absprachen mit dem LibDems die Rede. Jo Swinson sah sich ja fast schon als PM einer Koalition. Warum ist daraus nichts geworden?

    • Stefan Sasse 27. Dezember 2019, 21:23

      Siege und Niederlagen werden in dem System errungen, in dem sie errungen werden. Daran muss man sich halt messen. Alles andere ist nur Schönrederei.

  • Ralf 27. Dezember 2019, 16:20

    Eine sehr lesenswerte Analyse!

    Ich bin jedoch der Meinung, dass man das Ergebnis der britischen Wahl ziemlich eindeutig monokausal erklären kann, und zwar mit dem Brexit. Hat die rechtsgerichtete Presse eine Rolle gespielt? Ja klar. Aber die rechtsgerichtete Presse gab es auch 2017. Hat Corbyns Unbeliebtheit wegen seiner Positionen zu Königshaus, Militär und Nukleararsenal eine Rolle gespielt? Ja klar. Aber Corbyn hatte auch 2017 schon die gleichen Positionen. Die Antisemitismusdebatte ist völlig an den Haaren herbeigezogen. Und selbst wenn es signifikanten Antisemitismus bei Labour gäbe, wäre es absurd anzunehmen, dass die Wähler aus Protest gegen Xenophobie zur den weitaus xenophoberen Tories/Brexit-Party/UKIP übergelaufen sein sollen.

    Was aus meiner Sicht die Wahlniederlage bewirkt hat, war Labours Unschärfe bei der Brexit-Position. Drei Jahre nach dem Referendum waren es die Briten leid. Der Brexit war das Dauerthema, das das Land paralysierte. Nichts ging voran. Weder nach vorne. Noch nach hinten. Das Land war müde, wollte endlich den gordischen Knoten durchschlagen. Zum Schluss war egal, ob es zur wirtschaftlichen Katastrophe kommen wird. Hauptsache das Brexit-Thema wird endlich beendet. Johnson und die Tories und ihre Alliierten von der Brexit-Party hatten eine kristallklare Position: Brexit, egal was die Konsequenzen sind. Labour hingegen hatte keine Position. Die Mehrheit der Partei war für Remain, aber Corbyn wollte eher den Brexit. Aber eben einen Soft-Brexit, einen Kompromiss, der im Grunde zwar vernünftig und ausgleichend war, aber eben nicht in das sich verhärtende, scharf polarisierte politische Umfeld von 2019 passte. Lange Zeit vermied man jede Positionierung und fuhr bei der Europawahl eine vernichtende Niederlage ein. Daraufhin entschied man dich für die Unterstützung eines zweiten Referendums. Eine Position, die man zunächst mehrfach dementierte, bevor man sie dann doch öffentlich präsentierte. Zu einem Zeitpunkt als Labour bereits jedwede Glaubwürdigkeit auf beiden Seiten der Brexitdebatte verloren hatte. Leave-Anhänger warfen der Partei vor, das Resultat des Referendums umkehren zu wollen. Und Remain-Anhänger warfen der Partei vor verdeckt den Brexit voranzutreiben. Am Ende saß man zwischen allen Stühlen.

    Eine andere Lehre aus der Wahl ist, dass sich anti-demokratisch gerierende Macho-Palladine, die nichts als Häme und Verachtung für den Rechtsstaat übrighaben, pathologisch lügen und Normen zerstören, gut beim Wähler ankommen. Donald Trump hat es vorgemacht. Boris Johnson ist sein aufmerksamer Schüler. Die Prämisse, dass das offene, brutale Herabwürdigen von Bündnispartnern und das Zertrampeln von Verträgen und Abmachungen auf der nationalen wie internationalen Bühne am Ende irgendwie nachteilig ist, hat sich nicht erfüllt. Die beispiellose Feigheit der politischen Führungen im Westen, die dem amerikanischen Präsidenten keinen Gefallen abschlagen konnten, die sich stets auch bei Boris Johnson für die entgegengebrachte Verachtung herzlich bedankten, um dann seine Wünsche möglichst weitgehend zu erfüllen, damit er zuhause einen Erfolg präsentieren konnte, hat den aggressiven Macho-Clown zu einem effektiven Staatsmann gemacht. Wir wissen nun, dass man keinerlei Preis, keinerlei Penalty für dieses Verhalten zahlt und am Ende mit mehr, nicht weniger Zugeständnissen vom Verhandlungstisch fortgeht. Ohne diese Feigheit der europäischen Regierungen hätte sich Boris Johnson zuhause niemals als „Macher“ präsentieren können und seine Position wäre möglicherweise schnell kollabiert. Mindestens hätte er so einen brutalstmöglichen Hard-Brexit bekommen, der Großbritannien wirtschaftlich in die Knie gezwungen und die Wahlversprechen der Tories als leere Luftblasen entlarvt hätte. Aber ich habe heute keine Zweifel mehr, dass die EU wieder maximal auf den Clown in London zugehen wird, über jedes Stöckchen springen wird, Zugeständnisse über Zugeständnisse machen wird, um unsere Geschäfte nicht zu gefährden. Und irgendwann werden sich die Menschen in Deutschland auch nach einem ellbogenstarken Macho-Palladin sehnen, der wie ein Elefant im Porzellanladen und „Germany First“-Attitüde, laut auftrumpft (Pun intended). Auf die Art und Weise erreicht man im 21. Jahrhundert eben so viel mehr als durch Diplomatie, Verständigung und Ausgleich. Eine Tatsache, für die wir uns bei unserem zunehmend moral- und wertfreien wirtschaftlichen und politischen Establishment bedanken können.

    • Hanni Hartmann 27. Dezember 2019, 17:13

      Brexit:: GB: Wir wollen ein Einhorn

      EU: Einhörner gibt’s nicht, Ihr könnt ein Pony haben.

      GB: Wir haben abgestimmt. Wir wollen kein Pony!

      EU: Entweder ein Pony oder nichts.

      GB: Wir haben abgestimmt „gar nichts wollen wir nicht!“

      EU: Und jetzt?

      GB: Wir brauchen mehr Zeit zum Nachdenken.

      EU: Über das Pony oder über das „gar nichts“?

      GB: Wir wollen ein Einhorn!

      • Stefan Sasse 27. Dezember 2019, 21:42

        Ja, aber die Dynamik war im Wahlkampf ja recht egal, die ist für die Verhandlungen relevant. Und jetzt ist Einhornland ja abgebrannt.

    • Stefan Sasse 27. Dezember 2019, 21:42

      Deinem letzten Absatz stimme ich völlig zu. Was Brexit und Monokausalität angeht – ja, sicher, da war die Position für Labour unlösbar. Die Wahl war praktisch nicht zu gewinnen. Aber: so desaströs hätte es nicht sein müssen, und da kamen Tonnen anderer Faktoren dazu.

      • TBeermann 27. Dezember 2019, 22:38

        Ich verstehe diese Idee der vollkommen desaströsen Niederlage noch immer nicht. Labour hatte einen höheren Stimmanteil, als bei der letzten Wahl vor Corbyn 2015 (da allerdings mit rund 30 Sitzen mehr). Dass er als Vorsitzender und Spitzenkandidat über weite Strecken keine gute Figur gemacht hat, sehe ich ähnlich (auch wenn ich externe Faktoren nicht so beiseite schieben würde).

        Letztendlich müsste man sich wenn wahrscheinlich Wahlkreis für Wahlkreis anschauen, wie die Sitze durch was verloren gegangen sind.

        • Stefan Sasse 28. Dezember 2019, 10:59

          Ich schaue auf die Sitzverteilung und sehe eine desaströse Niederlage.

  • Hanni Hartmann 27. Dezember 2019, 17:16

    Obwohl der Brexit hart und auch brutal und teuer wird; es ist aber notwendig das einmal Schluss ist. Die Engländer habe ja JAHRELANG eine Extrawurst gebraten und viele Sonder Konditionen bekommen. Es wird den Tommies NIE genug sein; die träumen halt von der Grossmanns Sucht vergangener Kolonial Zeiten nach. Wenn die richtig auf die Schnauze gefallen sind und kapieren, was sie sich da mit dem Brexit angerichtet haben; sind sie gerne willkommen wieder einen Aufnahme zu beantragen. Dann allerdings zu den gleichen Konditionen wie 27 anderes Staaten

  • Stefan Pietsch 27. Dezember 2019, 17:22

    Wie gehabt ein gefälliger Artikel und eine gut begründete Analyse. Allerdings kann man die Dinge auch anders sehen.

    An dem Votum der Briten sind zwei Dinge bemerkenswert.

    a) Die Wahl wurde von Boris Johnson nicht gewonnen, sondern von Labour verloren. Angesichts des überragenden Wahlkampfthemas und der eindeutig hälftigen Teilung der Wählerschaft in Remain- und Leave-Lager ist es quasi eine Vernichtung der größten Oppositionspartei, 8% zu verlieren und mit einem Abstand von 11% auf den eindeutigen Gewinner einzulaufen. Die Ursache hat einen Namen: Jeremy Corbyn.

    Es war wirklich eine absurde Annahme, in einem Land, dass traditionell mit einer hohen Ungleichheit der Lebensverhältnisse lebt, könne man mit einem marxistischen Programm reüssieren. Es ist nicht so, dass die Anhänger von Labour nicht gewusst hätten, wer da ihr Vormann war, nämlich ein absoluter Bürgerschreck. Das ist nicht das Verdienst der Boulevard-Presse, das ist Corbyns Verdienst, der sich seinen Ruf ehrlich verdient hat. Der Alt-Stalinist hatte aus seinen verbohrten Ansichten ja auch nie einen Hehl gemacht und seine Parlamentskarriere nie so angelegt, eines Tages Parteivorsitzender zu werden und sich anzuschicken, das Land zu führen. Ansonsten hätte ihm jeder Berater von Treffen mit Terroristen abgeraten.

    Corbyn ist wie er ist und das faszinierte viele junge Menschen, diese Aufrichtigkeit, diese Ehrlichkeit. Mit anderen Worten, die britische Jugend war, wie sie meist ist: politisch außerordentlich naiv. Sie wählten ihren Schlächter selber. Erst ging ein Großteil der Jungwähler gar nicht zur Urne, als über ihre politische Zukunft abgestimmt wurde. Oder sie wählten gleich das Gegenteil von dem, was sie eigentlich wollten. Erst als die Schlacht gelaufen war, protestierten sie wie Kinder im Spielzimmer, die man ins Bett schickt.

    Zuvor schon hatten sie jemanden zu ihrem inoffiziellen Anführer erkoren, der das eigentlich nie werden wollte. Jeremy Corbyn war die denkbar schlechteste Wahl, wenn man einen Politiker wollte, der die Interessen der Briten in Brüssel vertritt und dennoch der Europäischen Union wohlgesonnen wäre. Der Hardliner war das definitiv nicht und das wusste jeder, der es wissen wollte. Corbyn hält die EU für einen Hort von Neoliberalen, und die stehen zu Marxisten wie Feuer zu Wasser.

    Statt Corbyn nun zu stürzen um Labour zu einer klar Remain-Partei zu machen, eine Alternative zum harten Leave der Tories anzubieten, jubelten die jungen Parteigänger ihrem Hero noch beim absehbaren Untergang zu. Politische Unreife lässt sich kaum besser beschreiben.

    Es kann sein, dass Corbyn ähnlich wie Lafontaine (der gleich zweimal) seine Partei mit seinem am Ende kurzen Intermezzo nachhaltig vernichtet hat. Seit den Zeiten von Tony Blair hat es Labour mit einem immer extremeren Linkskurs versucht und ist damit regelmäßig blutig auf die Nase gefallen. Labour hat sich vom Mainstream der Gesellschaft so weit entfernt, dass ein Zurück nicht ganz einfach werden dürfte. Zudem haben sie jeden potentiell Verbündeten mit ihrem Rigorismus verschreckt. Diesen kann sich leisten, wer die absolute Mehrheit nach dem Mehrheitswahlrecht bekommt. Doch interessanterweise haben die britischen Wähler dies schon zweimal in einem Jahrzehnt nicht mehr zugelassen. Sowohl Cameron als auch Theresa May mussten völlig unüblich Koalitionsregierungen eingehen. Dank Corbyn sind die Tories davon befreit worden.

    Wie ihre amerikanischen Parteifreunden fehlt es den Sozialdemokraten auf der Insel an einer glaubwürdigen Strategie, Mehrheiten gewinnen zu können. Statt sich der Mitte zuzuwenden, radikalisieren sie sich. Doch merke: wenn ein linker und ein rechter Populist streiten, gewinnt immer der Rechte.

    b) So ist der Triumpf von Boris Johnson ein klarer Fingerzeig für die kommenden US-Präsidentschaftswahlen. Auch in den Vereinigten Staaten mit ihrer traditionell großen Ungleichheit meinen die Demokraten, die Bürger mit sozialistischen Phantasieplänen beglücken zu müssen. Auch in den USA treten längst abgehalfterte Altkader gegen einen Präsidenten an, der den Populismus neu erfunden zu haben scheint.

    So marschierten die Dems schnurstracks in ein Impeachment-Verfahren, das sie gar nicht gewinnen wollten, sondern meinten, instrumentalisieren zu können. So wie es ausschaut, wendet sich die Strategie jedoch gegen die Linken. Eine kleine Mehrheit der Wähler lehnt das Impeachment ab, obwohl sie Trump verachten. So macht man sich politische Gegner.

    Seit Johnsons Sieg sind auch die Chancen von Trump wesentlich gestiegen, im Amt bestätigt zu werden. Die Linken sollten sich schon mal daran gewöhnen, dass wahr werden könnte, was sich 2016 noch niemand vorstellen konnte: 4 more Years!

    • Stefan Sasse 27. Dezember 2019, 21:43

      Dass Corbyn nicht das Gelbe vom Ei war schreibe ich ja.

    • Ralf 28. Dezember 2019, 01:21

      Wow! Es ist atemberaubend, wieviel Unsinn man in knapp zehn Abschnitte packen kann. Und im Zusammenhang damit, dass Sie sich noch gestern darüber beklagten, dass manche Kommentatoren immer das gleiche schreiben, egal was gerade die Situation ist, auch noch unfreiwillig komisch. Aber was soll’s …

      Fakt ist, dass genau der gleiche Jeremy Corbyn, mit genau den gleichen Ansichten, dem gleichen sozialistischen Programm und den gleichen Fehlern und Macken, 2017 ein ganz beachtliches Wahlergebnis erzielt hat. Und Theresa May war zwar kein besonders brillanter Gegner, hatte aber im Gegensatz zu Boris Johnson wenigstens nicht ihre eigene Partei gespalten, ohne Not die Mehrheit im Parlament verspielt, um anschließend dort jede Abstimmung zu verlieren und von den Gerichten öffentlich Verfassungsbruch bescheinigt zu bekommen nebst Hinweis der Richter, dass sie Volk und Queen belogen hätte.

      In absoluten Zahlen hatte Jeremy Corbyn in diesem Jahr im übrigen etwa genauso viele Wähler wie Tony Blair 2001, Tony Blair 2005 und David Cameron 2010. Und er hatte deutlich mehr Stimmen als Gordon Brown 2010 und Ed Miliband in 2015. Also bitte mal die Kirche im Dorf lassen.

      Wer auf der Suche nach der Ursache des Labour Wahlergebnisses ist – und die Schuld bei Labour alleine sucht (Sie behaupten ja – ohne jeden Beleg im übrigen – dass Boris Johnson die Wahl nicht gewonnen, sondern dass Jeremy Corbyn sie verloren hätte) – muss also fragen, was 2019 (202 Sitze gewonnen) anders war als 2017 (262 Sitze gewonnen). Und das war weder Jeremy Corbyns Charakter, noch seine Ansichten, noch seine Alliierten, noch sein auf die Beseitigung von Ungleichheit fokussierter Wahlkampf. Was anders war, war die Positionierung zum Brexit, wo die Partei zwei Jahre lang herumlaviert hat, ohne sich für Leave, für Remain oder für ein zweites Referendum zu entscheiden und selbst die Position, die dann schlussendlich ins Programm geschrieben wurde, war noch Tage zuvor abgestritten, relativiert und zur Disposition gestellt worden. Wenn man aber zum Schlüsselthema einer Wahl keine glaubwürdige (und in diesem speziellen Fall sogar noch nicht mal eine unglaubwürdige) Meinung hat, braucht man sich nicht zu wundern, wenn man nicht als Gewinner vom Feld läuft. Abgesehen davon gilt, was Thorsten Beermann oben beschrieben hat. Das Mehrheitswahlrecht ist eben krass undemokratisch, weil es die Stimmen der Wähler ungleich behandelt, je nachdem, wo sie wohnen. Und so bleiben Zugewinne in Wahlkreisen, die man auch zuvor bereits gewonnen hatte, völlig folgenlos, während hingegen Stimmenverluste erdrutschartige Konsequenzen haben können. Mit den gleichen Effekten konnte Donald Trump 2016 mit deutlich weniger Stimmen als Hillary Clinton trotzdem die Wahl gewinnen. Wer das demokratisch findet, dem ist aus meiner Sicht nicht mehr zu helfen. Aber sozialdemokratische Parteien haben überall in Mehrheitswahlrechtssystemen dieselben strukturellen Nachteile: Ihre Wähler ziehen selektiv weg vom Land in die Städte, wo sie in wenigen dicht besiedelten Wahlkreisen immer stärker werden, während auf dem entvölkerten Land die Dagebliebenen, die weit überwiegend konservativ wählen, für Parteien wie Labour oder die Democrats zunehmend unerreichbar werden. Dieses Dilemma lässt sich nicht auflösen. Oder die linken Parteien müssten ihre Klientel zwangsrücksiedeln. Vermutlich keine akzeptable Lösung.

      Anstatt wie eine kaputte Schallplatte verbissen und völlig abgekoppelt vom Thema den immer gleichen Senf zu wiederholen – Corbyn blöd, LINKE blöd, Staat blöd, Lafontaine blöd – ganz egal ob es um Aussenpolitik, Innenpolitik, Einwanderungspolitik, Klimawandel, Digitalisierung, Mobilität oder Finanzpolitik geht, wäre ein wenigstens begrenzter Ansatz sich mit der Realität auseinanderzusetzen und wenn auch nur als Alibi, ein echter Gewinn für Ihre Beiträge. Denn wie Sie ja selber gestern schrieben: Ein Arzt, der völlig unabhängig vom Krankheitsbild und der konkreten Situation ausnahmslos immer exakt die gleiche Medizin empfiehlt, dessen Diagnose ist wertlos.

      • Stefan Pietsch 28. Dezember 2019, 02:23

        Anscheinend haben Sie meinen Kommentar kaum verstanden, schließlich haben Sie die Kernaussage ausgespart. Und welche Medizin soll ich eigentlich empfohlen haben?

        Linke haben schon ein Talent, sich jede Niederlage schön zu saufen. Müssen sie auch, schließlich sind es so viele und selbst in aussichtsreichen Positionen sind sie meist unfähig Beute zu machen.

        Da verliert ein eingefleischter Sozialist zahlreiche Hochburgen, aber eigentlich ist es ein grandioser Sieg. Da kann er im Vergleich zu einer Wahl von vor 14 Jahren sogar zugewinnen, was doch eigentlich Ausweis eines Erfolges sein muss. Tja, wenn man nicht genau hinschaut. Denn tatsächlich ist das Elektorat in der Zeit um fast 3,5 Millionen Wähler gewachsen, wobei 4,6 Millionen mehr zur Wahl gegangen sind. Von diesen zusätzlichen Wählern konnte Corbyn jedoch nur schlappe 700.000 abgreifen können (15%), was eher das Debakel offensichtlicher macht als es zu verdecken. Die Tories gewannen im gleichen Zeitraum 5,2 Millionen Wähler hinzu.

        Eigentlich war es 2017 eine Schande, das Labour nicht gewinnen konnte. Mit einem anderen Kandidaten hätte alles für die Sozialdemokraten gesprochen. Die Konservativen waren schon lange an der Macht und wirkten ausgezehrt, der eigene Premier hatte das Land in ein Desaster geführt, die hohe Ungleichheit schrie nach Neujustierung. Und letztendlich hatten die Tories eine Premierministerin, die über die eigenen Füße stolperte und sich im Fernsehen erst zur Witzfigur machte und dann Wählerbeschimpfung betrieb. Es gab schon Kandidaten, die aus weit weniger weit mehr gemacht haben.

        Der Kern ist aber, dass die Jugend sich ihren eigenen Schlächter geholt hat. Corbyn hat die EU immer abgelehnt. Und dann machen die jungen Briten einen zum Oppositionsführer, der ihre Interessen verrät, weil sie nicht genau hinschauten. Erst vermasselten sie beim BREXIT-Votum ihren Einsatz und dann stützten sie einen Politiker, der lange alles andere im Sinn hatte als gegen den BREXIT-Kurs der Regierung echt zu opponieren.

        Im Bundestag sitzen über die Hälfte der Abgeordneten ohne direktes Mandat, sondern nur einem von ihrer Partei verliehenen. Dagegen sind in Großbritannien sämtliche Parlamentarier direkt gewählt, sie haben mehrheitlich die Bürger ihres Wahlkreises überzeugt. Und darum geht es doch. Eine Wählerschaft ist nunmal heterogen und die Interessen aller sollen Gehör finden. Das ist bei direkt Gewählten besser gewährleistet als bei Parteisoldaten. Der Unterschied lässt sich regelmäßig im Bundestag beobachten, wo es eine 2-Klassengesellschaft gibt. Und warum sollten sich direkt gewählte SPD-Abgeordnete von der nur über die Liste eingezogene Saskia Esken etwas in der Bundespolitik vorschreiben lassen?

        Im Grundgesetz ist gesagt, die Parteien wirken an der politischen Willensbildung mit, nicht, dass sie sie repräsentieren. Doch genau diesen Zustand haben wir in Ländern, wo das Verhältniswahlrecht herrscht. In Großbritannien wie den USA betonen die Parlamentarier dagegen weit mehr ihre Unabhängigkeit, schließlich sind sie vom Wähler direkt entsandt und nicht Repräsentanten eines Proporzes.

        Freunden Sie sich damit an, dass der amerikanische Präsident auch nach 2020 Donald Trump heißen wird. Und wenn das so kommt, geht der Dank an die Demokratische Partei, die den richtigen Kandidaten ins Rennen geschickt hat.

        • TBeermann 28. Dezember 2019, 10:35

          Im Bundestag sitzen über die Hälfte der Abgeordneten ohne direktes Mandat, sondern nur einem von ihrer Partei verliehenen. Dagegen sind in Großbritannien sämtliche Parlamentarier direkt gewählt, sie haben mehrheitlich die Bürger ihres Wahlkreises überzeugt. Und darum geht es doch. Eine Wählerschaft ist nunmal heterogen und die Interessen aller sollen Gehör finden. Das ist bei direkt Gewählten besser gewährleistet als bei Parteisoldaten. Der Unterschied lässt sich regelmäßig im Bundestag beobachten, wo es eine 2-Klassengesellschaft gibt. Und warum sollten sich direkt gewählte SPD-Abgeordnete von der nur über die Liste eingezogene Saskia Esken etwas in der Bundespolitik vorschreiben lassen?

          Im Grundgesetz ist gesagt, die Parteien wirken an der politischen Willensbildung mit, nicht, dass sie sie repräsentieren. Doch genau diesen Zustand haben wir in Ländern, wo das Verhältniswahlrecht herrscht. In Großbritannien wie den USA betonen die Parlamentarier dagegen weit mehr ihre Unabhängigkeit, schließlich sind sie vom Wähler direkt entsandt und nicht Repräsentanten eines Proporzes.

          Ja, das ist auch so ein unsinniges Narrativ aus der rechten Blase, dass ein Mehrheitswahlrecht viiiieeeel demokratischer wäre (und das hat natürlich überhaupt nichts damit zu tun hat, dass von einem (Teil-) Umstellung garantiert ausschließlich die Union profitieren würde, weil der Wählerwille zu ihren Gunsten verzerrt würde).

          1. Wer bestimmt denn die Direktkandidaten? Richtig: Die Parteien. Der einzige Unterschied ist, dass nicht vom Landesverband sondern eine ebene darunter vom Kreisverband die Optionen festgelegt werden, zwischen denen sich der Bürger entscheiden kann (bzw. bei Direktkandidaten teilweise selbst in potenziell erfolgsversprechenden Wahlkreisen davon, wer sich überhaupt zu Wahl stellt).

          2. Es gibt in der Praxis genau zwei Ansätze, mit der Erststimme umzugehen: Man wählt entweder den Kandidaten der Partei, dem man auch seine Zweitstimme gegeben hat oder (bei politisch etwas fitteren Wählern einer kleinen Partei) wählt den aussichtsreichen Kandidaten der Partei, die einem am wenigsten missfällt.

          3. Wenn es überhaupt mal zu Situationen kommt, in denen die Person des Kandidaten eine größere Rolle spielt, dann in der Regel als Wahl gegen eine bestimmte Person und nicht für einen spezifischen Kandidaten.

          Punkt 2 und 3 sieht man vor allem daran recht gut, dass es extrem selten ist, dass nicht der Kandidat das Direktmandat holt, dessen Partei im entsprechenden Wahlkreis die meisten Stimmen erhalten hat.

          4. Der wichtigste Punkt ist aber: Es würde eine massive Verzerrung in der Repräsentation des Wählerwillens geben. Bei einem Mehrheitswahlrecht mit relativer Mehrheit können relativ geringe Stimmanteile für ein Mandat ausreichen. Bei der Bundestagswahl 2017 kamen gerade mal 13 Gewinner über 50% der Stimmen und das Direktmandat mit dem geringsten Stimmanteil lag bei 23,5 %.
          Das bedeutet, dass bei einem Systemwechsel und ansonsten gleichen Ergebnissen in 96 % der Wahlkreise mehr als die Hälfte der Stimmen unter den Tisch fallen würden (in knapp einem Viertel alles Wahlkreise mehr als zwei Drittel der Stimmen).
          Selbst ein gemischtes System, wie es die Union jetzt (mal wieder) vorschlägt, würde das Wahlergebnis stark manipulieren.

          • TBeermann 28. Dezember 2019, 10:52

            Hier nur mal das Ergebnis einer kleinen Excel-Spielerei:

            Zweitstimmenanteil in %:
            CDU: 33 %
            SPD: 20,5 %
            AfD: 10,6 %
            FDP: 10,7 %
            Linke: 9,2 %
            Grüne: 8,9 %

            Sitze im Verhältniswahlrecht (Anteil in %):
            CDU: 246 (34,7 %)
            SPD: 153 (21,6 %)
            AfD: 94 (13,3 %)
            FDP: 80 (11,3 %)
            Linke: 69 (9,7 %)
            Grüne: 67 (9,4 %)

            Sitze bei 50/50 Mehrheits-/Verhältniswahlrecht ohne Überhangmandate (Anteilig in %)
            CDU: 335 (56 %)
            SPD: 124 (20,7 %)
            AfD: 43 (7,1 %)
            FDP: 34 (5,6 )
            Linke: 34 (5,6 %)
            Grüne: 29 (4,9 %)

            Sitze reines Mehrheitswahlrecht bei 299 Wahlkreisen (anteilig in %)
            CDU: 231 (77,3 %)
            SPD: 59 (19,7 %)
            AfD: 3 (1 %)
            FDP: 0 (0 %)
            Linke: 5 (1,7 %)
            Grüne: 1 (0.3 %)

            Man sieht deutlich, wie sehr sich das Ergebnis von einer relativ akkuraten Präsentation sehr Stimmanteile immer mehr verschiebt und das fast ausschließlich zu Gunsten der Union.

            • Stefan Sasse 28. Dezember 2019, 11:03

              Die Rechnung ist so natürlich Unfug. Wenn es Mehrheitswahlrecht wäre, würden die Leute ja auch anders abstimmen. ^^

              • TBeermann 28. Dezember 2019, 11:13

                Natürlich würden die Leute anders abstimmen. Es gäbe eine Verengung auf überwiegend zwei Parteien, vielleicht mit regionalen Besonderheiten.

                Trotzdem ist es kein Unfug. Unser System bildet eine relativ breite Meinungspluralität ab und das Rechenexperiment zeigt selbst bei gleichen Stimmergebnissen eine starke Verzerrung zu zwei Polen (bzw. in diesem Fall vor allem einem).

                • Stefan Sasse 28. Dezember 2019, 19:07

                  Da bin ich bei dir. Ich mag das Verhältniswahlrecht.

                  • CitizenK 29. Dezember 2019, 09:55

                    Unser „Personalisiertes Verhältniswahlrecht“ ist an sich doch eine ideale Kombination. Gegen die Aufblähung des Bundestags muss es doch andere Mittel geben als die von der CDU aus Eigeninteresse in Spiel gebrachte Abschaffung der Ausgleichsmandate.

                    • Stefan Pietsch 29. Dezember 2019, 10:43

                      Sicher nicht, denn genau das hat ja zur Aufblähung des Bundestages geführt, in dem weit mehr Abgeordnete ohne Direktmandat sitzen als mit. Das Direktmandat ist also nur Beiwerk. Anders wäre es, wenn von vornherein nur Direktmandate zählen würden und allein der Ausgleich über Listenkandidaten („Zählkandidaten“) erfolgen würde. Dann wäre der Bundestag deutlich kleiner und beide Prinzipien ständen einigermaßen gleichberechtigt.

                      Aber wozu eigentlich? Der ursprüngliche Gedanke der Wahl geht dabei doch längst unter. Demokratische Wahlen sind ein Entscheidungskriterium. So wie der Münzwurf. Oder das Votum eines Patriarchen. Oder ein Richterspruch. Die Idee des Ausgleichs ist erst weit später dazugekommen und hat bis heute in den angelsächsischen Staaten kaum Anwendung. Aus gutem Grund können in diesen Ländern nur solche Politiker Parteiführer werden (und bleiben), die eine Wahl direkt gewonnen haben. Eine Saskia Esken und ein Norbert Walter-Borjans wären so der SPD erspart geblieben. Was sicher kein Defizit gewesen wäre.

                    • TBeermann 29. Dezember 2019, 11:38

                      @ CitizenK: Eine Reduktion der Anzahl der Wahlkreise wäre eine Möglichkeit. Ich persönlich könnte auch ganze ohne Direktmandate gut leben. Da die Kandidaten sowieso von Landeslisten in das Parlament berufen werden, ist ein Regionalbezug so oder so vorhanden.
                      Die Idee von Stefan Pietsch, die Direktkandidaten in den Bundestag einziehen zu lassen und dazu mit Ausgleichsmandaten die tatsächlichen Wahlergebnisse wieder herzustellen, wäre auch denkbar. Allerdings stünde zu befürchten, dass das Übergewicht von Regionalpolitikern gegenüber Fachpolitikern nicht unbedingt zu besseren Entscheidungen führen würde.

                    • Ralf 29. Dezember 2019, 13:03

                      @ CitizenK @TBeermann

                      Gegen die Aufblähung des Bundestags muss es doch andere Mittel geben

                      Kann mir mal jemand erklären, was überhaupt das Problem bei dieser “Aufblähung des Bundestags” ist? Was das den Steuerzahler kostet, ist Peanuts im Vergleich zum Staatshaushalt. Ob da jetzt 100, 200, 500, 700 oder 1500 Politiker im Parlament sitzen, ist mir persönlich völlig wurscht, solange die da nach demokratischen Prinzipien legitimiert sitzen, die den Wählerwillen akkurat abbilden (also kein Mehrheitswahlrecht oder ähnliche verzerrende Wahlsysteme). Ich halte unser gegenwärtiges System für einen sehr gelungenen Kompromiss, dessen Preis halt ist, dass der Bundestag manchmal recht groß wird. So what?

                    • TBeermann 29. Dezember 2019, 13:43

                      Es ist mindestens für die Akzeptanz in der Bevölkerung nicht ganz unwichtig, weil sich sonst (noch mehr) der Eindruck verfestigt, es ginge vor allem darum, den eigenen Leuten Pfründe und Posten zu sichern.

                      Es dürfte aber auch für die Arbeitsfähigkeit nicht gut sein, wenn Ausschüsse etc. größer werden oder wenn in Debatten noch 200 Personen mehr gerne ihren Redebeitrag einbringen möchten (und dabei oft wenig Neues zu sagen haben).

                      Wenn die Vergrößerung des Plenums zu einer Diversifizierung führen und die Bevölkerung tatsächlich besser abbilden würde, hätte man zumindest ein Argument dafür.

                    • Stefan Sasse 29. Dezember 2019, 13:56

                      Und wenn schon. Ist er halt aufgebläht. So what.

                    • Ralf 29. Dezember 2019, 14:59

                      @ TBeermann

                      Es ist mindestens für die Akzeptanz in der Bevölkerung nicht ganz unwichtig, weil sich sonst (noch mehr) der Eindruck verfestigt, es ginge vor allem darum, den eigenen Leuten Pfründe und Posten zu sichern.

                      Ich sehe Dein Argument und meinetwegen könnte man gerne die Zahl der Wahlkreise und damit die Zahl der Abgeordneten verringern. Ich bezweifele nur arg, dass das tatsächlich irgendeinen messbaren Einfluss auf die Akzeptanz des Parlaments in der Bevölkerung haben würde. Stell Dich zum Beispiel mal auf die Straße und frag 500 zufällig vorbeikommende Bürger wieviele Abgeordnete gegenwärtig im Bundestag sitzen. Oder ob im Bundestag mehr oder weniger sitzen als im Landtag ihres Bundeslandes. Und ob mehr Leute im Bundestag sitzen als im Bundesrat oder andersrum. Oder auch einfach nur mal eine Schätzung, wieviel Abgeordnete denn im Bundestag sitzen sollten, damit der arbeitsfähig ist und die Gremien optimal besetzt sind.

                      Ich bin ziemlich sicher, du wirst hauptsächlich wilde Schätzungen, Schulterzucken, „weiß nicht“ und wahrscheinlich auch das ein oder andere „mir egal“ ernten. Dass die Größe des Bundestages signifikant zur Akzeptanz des Parlaments in der breiten Bevölkerung beiträgt, halte ich jedenfalls für einen Mythos.

                      Wenn es Dir wirklich um Akzeptanz geht und darum, dass in der Bevölkerung der Eindruck verschwindet, dass da nur Selbstprofiteure im Bundestag sitzen, dann gibt es ganz andere Baustellen, die wesentlich wichtiger wären. Dann solltest Du zum Beispiel Abgeordneten zuallererst „Nebenjobs“ verbieten. Dann solltest Du viel mehr Transparenz bei der Frage, welche Lobbyisten da in Berlin ein und ausgehen, erzwingen. Dann solltest Du ein mehrjähriges Berufsverbot für Politiker und ihre nahen Angehörigen in Branchen einführen, die sie zuvor selber direkt beeinflusst haben. Denn das sind die Nachrichten, die die Bürger wirklich anekeln: „Bundeskanzler boxt Gas-Pipeline gegen massiven Widerstand durch das Parlament und wird anschließend mit einer leitenden Funktion beim Betreiber der Pipeline belohnt.“

                      Und korrupte Verquickungen zwischen Politik und Wirtschaft sind so zahlreich und so schockierend, dass dort wirklich der Ansatzpunkt wäre, wieder mehr Akzeptanz für die Demokratie in der Bevölkerung zu schaffen. Wenn diese Baustellen abgearbeitet sind, bin ich sicher, dass die Bürger auch mit 700 Bundestagsabgeordneten werden leben können …

                    • Stefan Sasse 29. Dezember 2019, 19:22

                      Völlige Zustimmung.

              • Ralf 28. Dezember 2019, 15:43

                Naja, wenn AfD- und FDP-Wähler zur CDU zugeschlagen würden und Grüne- und LINKE-Wähler zur SPD, dann sähe das Ergebnis ziemlich genauso aus wie von Thorsten Beermann skizziert …

                • Stefan Sasse 28. Dezember 2019, 19:08

                  Wenn. Dann.

                  • Ralf 29. Dezember 2019, 00:41

                    Welches alternative Szenario schwebt Dir denn vor?

                    Dass AfD-Anhänger mehrheitlich für die SPD oder LINKE-Anhänger mehrheitlich für die CDU stimmen, wird wohl nur in extrem überschaubarem Rahmen stattfinden. Als FDP-Wähler hast Du hingegen praktisch nur noch die egoistische Apotheker/Rechtsanwalt/Arzt-Klasse, die keine Steuern zahlen will. Die werden mit Sicherheit auch nicht in großem Umfang zur SPD abfließen. Bleiben nur noch Grünen, die tatsächlich in signifikanten Teilen in beide Richtungen kippen könnten. Wenn die vollständig in Richtung SPD kippen, dann kriegst Du Thorsten Beermanns Szenario. Und wenn die vollständig in Richtung CDU kippen, dann kriegst Du noch extreme Siegeswerte für die Konservativen. Alle anderen Szenarien liegen irgendwo zwischen diesen beiden Extremen.

                    So oder so ist ein Mehrheitswahlrecht also ausschließlich für die CDU gut, während alle anderen draufzahlen, inklusive dem Wähler, der fast alle Wahloptionen verliert. Ach ja, und obendrauf kriegst Du noch den Fakt, dass das Wahlsystem nicht mehr demokratisch ist, denn es zählen nicht mehr alle Stimmen gleich stark, sondern je nachdem wo man wohnt, ist das Gewicht der Stimmen dramatisch unterschiedlich.

                    • Stefan Sasse 29. Dezember 2019, 13:50

                      Nur wenn die Parteien ihr Angebot in einem Mehrheitswahlrecht nicht anpassen, was ja nicht gegeben sein muss.

          • Stefan Sasse 28. Dezember 2019, 11:02

            Kann man nur unterschreiben.

          • Stefan Pietsch 28. Dezember 2019, 11:18

            Ja, das ist auch so ein unsinniges Narrativ aus der rechten Blase, dass ein Mehrheitswahlrecht viiiieeeel demokratischer wäre

            Sie lesen und begreifen gar nichts. Das ist dann doch sehr unsportlich. Es wurde die Behauptung aufgestellt, das Mehrheitswahlrecht sei total undemokratisch. Auf die Verteidigung desselben machen Sie, es wäre die Behauptung aufgestellt worden, das Mehrheitswahlrecht sei das einzig demokratische – so die doofen Rechten.

            Sie reden wider das Grundgesetz. Es gilt dem einzelnen Abgeordneten Stärke zu verleihen und das wächst mit der Unabhängigkeit von der Partei. Denn er ist Vertreter des ganzen Volkes und nur seinem Gewissen unterworfen – nicht dem seiner Partei und auch nicht der Wähler dieser Partei, die angeblich dies und das gemeint haben. Das können sie dem direkt gewählten Abgeordneten schließlich in den Bürgerstunden selbst sagen. Bei Listenkandidaten ist das ein bisschen schwieriger.

            Ich sagte es bereits mehrfach, deswegen auch für Sie: ich bin nicht an politischen Philosophien interessiert, so über Fragen, was gemeint sein könnte.

            Übrigens unterschlagen die Verteidiger Corbyns, dass auch so ein Radikalinski enorm vom Mehrheitswahlrecht profitiert hat. Kein anderes System zwingt den Bürger so sehr, sich im Vorfeld auf eine Richtung, einen Kandidaten zu verständigen, auch wenn es ihm widerstrebt. Anders als im Verhältniswahlrecht kann der Wähler nicht einfach auf eine politische Alternative ausweichen, denn nicht für den Lagerführer zu stimmen, erhöht noch mehr die Gefahr, dass die eigene Stimme überhaupt nicht zählt. Während hier enttäuschte SPD-Wähler problemlos zu den Grünen oder Linkspartei switchen können und sie dennoch Repräsentanz im Parlament vielleicht sogar in der Regierung finden, wäre ein Wechsel von Labour-Anhängern zu den Liberaldemokraten weit gefährlicher gewesen.

            Auch hier übertüncht das Mehrheitswahlrecht eher die extreme Schwäche des Kandidaten Corbyn.

            • TBeermann 28. Dezember 2019, 11:28

              Übrigens unterschlagen die Verteidiger Corbyns, dass auch so ein Radikalinski enorm vom Mehrheitswahlrecht profitiert hat. Kein anderes System zwingt den Bürger so sehr, sich im Vorfeld auf eine Richtung, einen Kandidaten zu verständigen, auch wenn es ihm widerstrebt. Anders als im Verhältniswahlrecht kann der Wähler nicht einfach auf eine politische Alternative ausweichen, denn nicht für den Lagerführer zu stimmen, erhöht noch mehr die Gefahr, dass die eigene Stimme überhaupt nicht zählt. Während hier enttäuschte SPD-Wähler problemlos zu den Grünen oder Linkspartei switchen können und sie dennoch Repräsentanz im Parlament vielleicht sogar in der Regierung finden, wäre ein Wechsel von Labour-Anhängern zu den Liberaldemokraten weit gefährlicher gewesen.

              Auch hier übertüncht das Mehrheitswahlrecht eher die extreme Schwäche des Kandidaten Corbyn.

              Da wird es dann reichlich spekulativ. Sicher ist es möglich (wenn nicht sogar wahrscheinlich), dass das Mehrheitswahlrecht Wähler zu den beiden großen Parteien gezogen hat. Das gilt aber genau so für Johnson und die Tories.

              In welchem Umfang und in welche Richtung das Pendel umgeschlagen wäre, ist reine Mutmaßung. Das einzige, was man halbwegs seriös machen kann, ist zu fragen, wie eine akkurate Repräsentation des Wahlergebnisses im Parlament aussehen würde.

              • Stefan Pietsch 28. Dezember 2019, 11:41

                Es steht nicht in Frage, dass die großen Parteien von einem System des Mehrheitswahlrechts profitieren. Es geht allein darum, dass ein politischer Außenseiter wie Corbyn davon mehr profitiert als ein fraglos populärer Kandidat wie Boris Johnson, der von seiner Persönlichkeit getragen wird.

                Demokratie ist ein Instrument der Entscheidungsfindung. Das Mehrheitswahlrecht erleichtert dabei schnelle Entscheidungsprozesse, während das Verhältniswahlrecht sie eher erschwert. Beide betonen unterschiedliche Aspekte, das macht aber das eine nicht demokratischer und das andere weniger demokratisch. Denn am Ende muss auch in einer Demokratie immer die Einigung auf einen mehrheitsfähigen Weg stehen. Im Mehrheitswahlrecht greift der Einigungszwang eben früher, im Verhältniswahlrecht später. Wer sich die Langwierigkeit der Enscheidungsfindung in Deutschland und Italien betrachtet, dem kommen Zweifel, ob das so ein guter Weg ist.

                • CitizenK 28. Dezember 2019, 17:20

                  Die Entscheidungsfindung in Sachen Brexit war auch langwierig, oder?

                  • Stefan Pietsch 28. Dezember 2019, 17:28

                    Nö, nicht vom Souverän. Er stimmte vor 3 1/2 Jahren klar für den BREXIT und bei nächster Gelegenheit machte er bei den Parlamentswahlen kurzen Prozess. Seit dem ist Ruhe im Karton. Zwischendurch waren sich die Abgeordneten uneins, obwohl es schon 2016 von der Mehrheitsführerin hieß: BREXIT means BREXIT!

                    Nicht, dass wir uns falsch verstehen: ich habe bis zur letzten Minute innigst gehofft, es möge ein Votum herauskommen, dass am Ende eine zweite Befragung notwendig machen würde. Dieser Wunsch blieb unerfüllt, was ich zu respektieren habe.

        • R.A. 28. Dezember 2019, 14:08

          „Das ist bei direkt Gewählten besser gewährleistet als bei Parteisoldaten. “
          So die Theorie.
          Und in GB finden sich ab und zu noch Relikte dieser Art – meist irgendwelche skurrile alte Figuren in Wahlkreisen ganz am Rande des Landes.

          Ansonsten ist in erster Linie Parteisoldatentum gefragt. Noch stärker als in Deutschland, wo Parteitage für eine gewisse Repräsentanz der verschiedenen Gruppen innerhalb der Partei sorgen.

          In GB werden die Wahlkreise de facto von den Parteizentralen in London besetzt. Speziell Johnson hat da ja konsequent gesäubert und nur noch Kandidaten zugelassen, die seinem Kurs blind folgen.

          Und die Wähler vor Ort wählen in erster Linie nach Parteipräferenz, nur bei Promis oder in taktischen Ausnahmefällen spielt die Persönlichkeit wirklich eine Rolle.

          • CitizenK 28. Dezember 2019, 17:22

            Stimmt!

          • Stefan Sasse 28. Dezember 2019, 19:08

            Oder schau mal die GOP an; die sind völlig auf Linie und in totalem Terror. Dagegen hast du in Deutschland ein Paradies innerparteilicher Demokratie.

        • Ralf 28. Dezember 2019, 15:30

          Sollten Sie je in Ihrem Wahlberuf straucheln, empfehle ich Ihnen die Errichtung einer Strohmannfabrik. Wenn Sie für jeden Strohmann, den Sie hier in die Debatte werfen auch nur einen Euro bekommen würden, wären Sie bald mehrfacher Millionär …

          So steht der geneigte Leser zum Beispiel ratlos vor Sätzen wie „Da verliert ein eingefleischter Sozialist zahlreiche Hochburgen, aber eigentlich ist es ein grandioser Sieg.„. Bitte wer genau hier im Blog hat das Ergebnis von Labour in diesem Jahr als grandiosen Sieg bezeichnet? Ich bitte um Namen und ein konkretes Zitat.

          Ihr zweites Stilmittel neben dem üblichen Strohmann-Bombardement ist die selektive Verzerrung von Daten. So schreiben Sie „Da kann er im Vergleich zu einer Wahl von vor 14 Jahren sogar zugewinnen, was doch eigentlich Ausweis eines Erfolges sein muss. Tja, wenn man nicht genau hinschaut. Denn tatsächlich ist das Elektorat in der Zeit um fast 3,5 Millionen Wähler gewachsen, wobei 4,6 Millionen mehr zur Wahl gegangen sind.„. Dabei übergehen Sie ganz bewusst, dass ich nicht nur einen einzigen, sondern zahlreiche Vergleichspunkte für die absoluten Stimmenzahlen angegeben hatte. Die absoluten Stimmenzahlen sind aber mindestens seit 2010 mit kleineren Abweichungen nach oben und nach unten praktisch gleich geblieben:

          2019 -> 31,829,630
          2017 -> 32,204,184
          2015 -> 30,697,525
          2010 -> 29,687,604
          2005 -> 27,148,510
          2001 -> 26,367,383

          Sie picken sich einfach nur diejenigen Zahlen heraus, die Ihrem vorgefertigten Argument zupass kommen und ignorieren den Rest. Und natürlich ignorieren Sie Trends, wie das Auseinanderfallen der politischen Linken, die mit Corbyn nichts zu tun haben und die bereits 2015 eine SNP mit verdreifachtem und Grüne mit verfünffachtem Ergebnis produzierten – Wählergruppen, die dennoch im selben Lager stehen wie Jeremy Corbyn und in vielem deutlich überlappende Programme haben.

          Ihr drittes beliebtes Stilmittel sind „unschuldige Fragen“, wie z.B. „Und welche Medizin soll ich eigentlich empfohlen haben?„. Ihre Hinweise auf das linke Wahlprogramm von Labour, das das Wahlergebnis im übrigen kaum beeinflusst haben dürfte, als den Hauptfaktor der Niederlage, liest sich wie ein roter Faden durch jeden Ihrer Beiträge zum Thema. Nach dieser falschen Diagnose, ist implizit auch klar was die korrespondierende falsche Medizin wäre. Kaum glaubhaft, dass Sie das nicht gemerkt haben.

          Ihr viertes Stilmittel dann sind plumpe Beleidigungen des politischen Gegners, weil man fehlende Argumente offensichtlich mit einem Tritt in den Rücken wettmachen kann. Da wird der Chef der britischen Sozialdemokraten zu einem „Alt-Stalinist[en]„, also zu einem Anhänger eines Massenmörders. Da wählt die britische Jugend „ihren Schlächter „. Labour-Anhänger werden zu „[protestierenden] Kinder[n] im Spielzimmer, die man ins Bett schickt.

          Freunden Sie sich damit an, dass der amerikanische Präsident auch nach 2020 Donald Trump heißen wird. Und wenn das so kommt, geht der Dank an die Demokratische Partei, die den richtigen Kandidaten ins Rennen geschickt hat.

          Und soviel noch zum Thema, Sie würden keine Medizin empfehlen.

          Ach, an einer Stelle muss ich mich dennoch bei Ihnen bedanken. Möglicherweise ist es ja nur einem Übersehen geschuldet, aber bisher haben Sie Jeremy Corbyns Niederlage wenigstens noch nicht mit dem Solidaritätszuschlag in Verbindung gebracht. Erstaunlich zwar, aber wir sollten auch das wenig Positive hier würdigen …

          • CitizenK 28. Dezember 2019, 17:32

            Wir müssen bedenken: Sein Hauptmotiv ist, „Linke“ (und die er dafür hält) zu ärgern. Dann sitzt er am Rechner und hat Spaß (Zitat). Für den Netto-Ertrag zum Thema muss man davon immer abstrahieren.

            • Stefan Pietsch 28. Dezember 2019, 18:33

              Sie haben behauptet, Johnson würde die Verfassung brechen und den Parlamentsbeschluss um einen Aufschub in Brüssel zu bitten, nicht vollziehen. An Ihrer Stelle sollten Sie etwas leisere Töne anschlagen, schließlich haben Sie einen Regierungschef schon diskreditiert, noch ehe er etwas getan hatte.

              Und dann lagen Sie noch falsch.

              • CitizenK 30. Dezember 2019, 09:27

                Falscher Adressat. Habe dazu nie was geschrieben.

                • Stefan Pietsch 30. Dezember 2019, 10:18

                  Johnson hat jetzt angekündigt, das Gesetz zu ignorieren. Das muss man sich mal vorstellen.
                  Und auch in diesem Blog muss man darauf hinweisen: In allen genannten westlichen Noch-Demokratien sind es „Rechte“, nicht „Linke“, die Demokratie (und Rechtsstaat) aushöhlen, unterminieren, zerstören.

                  Und:
                  Das gestern in Kraft getretene Gesetz verbietet der Regierung einen No-Deal-Brexit und andernfalls den Austritt zu verschieben. Johnson hat öffentlich erklärt, „lieber im Graben zu liegen“ als einer Verschiebung zuzustimmen. Was ist das anders als eine Missachtung des Parlaments und Ankündigung des Gesetzesbruchs? Aber er ist ja kein Linker, also darf der das?

                  Das ist ja das Enttäuschende an Ihrer Reaktion auf meinen Beitrag: Statt zuzugeben, was jeder sehen kann, kommt von Ihnen nur: Die Linken anderswo aber auch.

                  Es ist festzuhalten, dass Boris Johnson nicht das Parlament missachtet und keinen Gesetzesbruch begangen hat. Die Bewertung des Zwangsurlaubes für das Parlament ist von dieser Bewertung unberührt.

                • Stefan Pietsch 30. Dezember 2019, 10:19
          • Stefan Pietsch 28. Dezember 2019, 18:29

            Wäre ich nicht im Job auch gestrauchelt, hätte ich nicht gelebt.

            Sie haben mindestens zwei zentrale Argumente verpasst.

            1) Die Wahlbevölkerung ist gewachsen wie die Wahlbeteiligung zugenommen hat. Da ist es keine Leistung, die absolute Zahl an Wählern gehalten zu haben, es zeigt eher eine geringe Anpassungsfähigkeit an veränderte Verhältnisse. Im Vergleich jedenfalls waren die Tories weit erfolgreicher. Zweiter Sieger ist halt meist der erste Verlierer.

            Nicht ich habe die Zeiten von Tony Blair als Vergleich angeführt. Es diente meinem Empfinden von Fairness, würden Ausgangsaussagen jenen zugeordnet, die sie getätigt haben und nicht jenen, die ein Gegenargument gebracht haben. Scheint so eine linke Masche zu sein.

            Es ist nicht gerade ein Merkmal, dass unter dem Regime eines Mehrheitswahlrechts politische Spektren sich zerfasern. Schließlich sinkt mit der abnehmenden Bindungskraft auch die Fähigkeit, Mehrheiten zu erringen. Zudem, das wurde ich ja früher (vor Stefans Artikel) festgestellt, hatten auch die Tories sich heftiger Konkurrenz zu erwehren. Sie bringen also immer wieder Argumente für das Versagen der Linken, nicht für deren Erfolg. Der beginnt übrigens mit Selbstkritik und nicht damit, einen gleich zweimal gescheiterten Parteiführer noch in sanften Farben zu malen.

            Es bleibt nunmal festzuhalten: In den letzten mehr als 40 (!) Jahren konnte Labour nur unter einem Parteichef regieren, der ein ganzes Stück den Konservatismus imitierte und sich sehr liberal positionierte. Aber Sie glauben nach wie vor, Corbyns Kurs eines harten Sozialismus sei nach wie vor die bessere Strategie, die nur wegen ungünstiger Umstände nicht zum Tragen kam. Wäre interessant zu erfahren, unter welchen Umständen denn überhaupt Labour mehrheitsfähig wäre.

            2) Auch das Positive haben Sie verpasst. Ich koinzidiere durchaus, dass die Ungleichheit in Großbritannien weit zu groß ist und es notwendig erscheint, nach gesellschaftlichem Ausgleich zu streben. Aber Linke sind ja so blind, dass sie die Anpassungsfähigkeit ihres politischen Opponenten regelmäßig übersehen und lieber gegen die Mauer neben dem Pfad rennen.

            Jemand, der breite Teile der Wirtschaft verstaatlichen will und die Nähe zu Hardcore-Kommunisten gesucht hat, lässt sich kaum noch mit „Sozialdemokrat“ verniedlichen.

            Wie ist denn Corbyn in sein Amt gekommen? Doch in dem sehr, sehr viele junge Menschen zwischen 18 und 25 bei Labour eingetreten sind. Bis zum Schluss waren diese Parteizugänge seine Machtbasis, deren Interessen jedoch weit mehrheitlich der unbedingte Verbleib in der EU war. Diese hat Corbyn verraten, in dem er sich selbst treu blieb. Der langjährige Hinterbänkler kämpfte weder für Remain wie viele seiner Parteifunktionäre noch konnte er sich lange mit dem Gedanken an ein zweites Referendum anfreunden, mit dem sich das erste hätte umkehren lassen.

            Ihr drittes beliebtes Stilmittel sind „unschuldige Fragen“, wie z.B. „Und welche Medizin soll ich eigentlich empfohlen haben?

            So ein Quatsch! Ich bin seit Jahrzehnten fest überzeugt, dass sich mit radikalen Programmen keine Wahlen gewinnen lassen, egal ob auf der linken oder rechten Seite. Okay, auf der rechten scheint dies einfacher geworden zu sein. Meine Empfehlung ist daher nie Radikalität, sondern die Orientierung an der Mitte, wo nach meinem Dafürhalten Wahlen gewonnen werden. Sie sind anders positioniert, für sie werden Wahlen von den Rändern gewonnen, man müsse halt nur noch die Mitte überzeugen.

            Fakt ist, Boris Johnson ist über viele Jahre sehr populär, die Briten lieben diesen doch durchaus intelligenten Politiker. Bei Corbyn verhält es sich genau umgekehrt. Ja, der frühere Londoner Bürgermeister zieht hart seine Strategie durch. Aber Fakt ist auch, dass die Wähler Politiker überdrüssig sind, die nicht wirklich zu Potte kommen. Die Zeit von Angela Merkel ist vorbei. Auch Macron in Frankreich gehört zu diesem neuen Politikertypus.

            Zur Ehrlichkeit gehört auch, dass sich die britische Gesellschaft so festgefahren hatte, dass nur die Finalisierung des BREXIT-Votums das Projekt mehrheitsfähig zu Ende bringen konnte. Ich bedauere das zutiefst entgegen den Arien von meinem Freund Hanni, aber so ist es.

            Und soviel noch zum Thema, Sie würden keine Medizin empfehlen.

            Welche Medizin empfehle ich denn da?! Trump ist ein unpopulärer Präsident und einer, der so viel Angriffsflächen bietet, dass er anscheinend nicht mehr angreifbar ist. Die Mehrheit der Amerikaner sehnt sich nach einem seriösen Kandidaten mit etwas konservativem Einschlag, wie die Amerikaner nunmal sind. Trump kann die Wahlen 2020 nicht gewinnen, aber die Demokraten können sie verlieren. Und scheinbar sind die Linken fest entschlossen, genau das zu probieren.

            • Ralf 29. Dezember 2019, 02:38

              Die Wahlbevölkerung ist gewachsen wie die Wahlbeteiligung zugenommen hat. Da ist es keine Leistung, die absolute Zahl an Wählern gehalten zu haben, es zeigt eher eine geringe Anpassungsfähigkeit an veränderte Verhältnisse.

              Wenn ich mal die nordirischen Parteien, mit denen ich mich nicht ausreichend gut auskenne, außen vorlasse und das Wahlergebnis des rechten und des linken Blocks 2001, als Blair gewann, analysiere, dann komme ich auf folgendes Resultat:

              Tories -> 8,357,615 Stimmen
              UKIP -> 390,563 Stimmen
              Rechter Block insgesamt (8,748,178 Stimmen)

              und

              Labour -> 10,724,953 Stimmen
              SNP -> 464,314 Stimmen
              Plaid Cymru -> 195,893 Stimmen
              Grüne -> 166,477 Stimmen
              Linker Block insgesamt (11,551,637 Stimmen)

              plus weder voll zum linken, noch voll zum rechten Block gehörend:

              LibDems -> 4,814,321 Stimmen

              Zusammengenommen entspricht das mehr als 95% aller abgegebenen Stimmen (nordirische Parteien wie gesagt nicht berücksichtigt).

              Bei der Wahl 2019 sah es hingegen so aus:

              Tories -> 13,966,565 Stimmen
              Brexit-Party -> 642,303 Stimmen
              UKIP -> 22,817 Stimmen
              Rechter Block insgesamt (14,631,685 Stimmen)

              und

              Labour -> 10,269,076 Stimmen
              SNP -> 1,242,372 Stimmen
              Plaid Cymru -> 153,265 Stimmen
              Grüne -> 835,579 Stimmen
              Linker Block insgesamt (12,500,292 Stimmen)

              sowie

              LibDems -> 3,696,423 Stimmen

              Zusammengenommen entspricht das fast 97% aller abgegebenen Stimmen.

              Labour hat also 2019 unter diesen Blöcken 33,3% der Stimmen geholt und der gesamte linke Block zusammen (wie gesagt ohne die LibDems, die ich nicht fest zum linken Block rechne) 40,5%. Das ist natürlich kein sagenhaft gutes Ergebnis. Und das ist auch kein Wunder, denn dass Boris Johnsons Tories die Wahl gewonnen haben, zweifelt kein Mensch an. Aber diese Zahlen sind (zumindest bei einem Verhältniswahlrecht) auch keine Katastrophe. Die deutsche SPD wäre überglücklich mit einem Ergebnis von 33,3%.

              Die Tories haben unter den obigen Blöcken hingegen 45,3% geholt und der gesamte rechte Block zusammen 47,5%. Das ist ein gutes Ergebnis. Aber kein Oh-mein-Gott-Ergebnis. Selbst in Deutschland, wo die Elemente des Verhältniswahlrechts dominieren und wo Stimmen für kleine Parteien deshalb nicht fast per se weggeschmissen sind, kam die bei Bundestagswahlen siegreiche Partei noch bis in die Neunziger Jahre typischerweise auf über 40% der Stimmen. In Mehrheitswahlrechtssystemen, wo kleine Parteien kaum vom Fleck kommen, erwartet man eigentlich höhere Prozentzahlen bei den beiden konkurrierenden „starken Parteien“.

              Die LibDems kommen 2019 auf 12,0% der Stimmen und wären bei einem demokratischen Verhältniswahlrecht das Zünglein an der Waage. Alleine könnte der rechte Block auf jeden Fall keine Mehrheit auf die Beine stellen. Und der linke Block hätte mit den LibDems gemeinsam eine Mehrheit. Im Verhältniswahlrecht wohlgemerkt. Die bizarren Verzerrungen, die Mehrheitswahlrechtssysteme mit sich bringen; Verzerrungen, die Wählerstimmen im großen Maßstab lokal entwerten, bescheren hingegen den Tories eine solide absolute Mehrheit.

              Im Jahr 2001 waren die Ergebnisse übrigens im Verhältnis zu 2019 etwa ins Gegenteil verkehrt, mit dem linken Block bei 46,0% und dem rechten Block bei 34,8% der Stimmen. Auch hier hätte also keiner der beiden Blöcke eine Regierungsmehrheit gehabt, ein Verhältniswahlrecht vorausgesetzt, sondern es hätte einer Koalition mit den LibDems bedurft.

              Zwei Dinge sind noch erwähnenswert:

              Erstens ist das linke Lager viel heftiger zum Nachteil der dort stärksten Partei gespalten als das rechte Lager. Und zwar mindestens seit 2015, als die SNP 1,454,436 Stimmen und die Grünen 1,111,603 Stimmen holten. Hat also nichts mit Jeremy Corbyn und vor ihm (angeblich) weglaufenden Mitte-Wählern zu tun, denn damals stand für Labour Ed Miliband zur Wahl.

              2019 machte Labour als „stärkste“ linke Partei nur noch 82,2% im linken Lager aus. Bereits 2015 lag diese Zahl bei nur 77,3%. Unter Tony Blair in 2001 hingegen lag der Wert noch bei 92,8%. Ein Riesenunterschied, gerade in einem Mehrheitswahlrechtsssystem, wo es absolut fatal ist, wenn der stärkste Repräsentant innerhalb eines Blocks relativ an Stimmen verliert.

              Im rechten Block ist die Zersplitterung des Lager wesentlich sanfter. 2001 vereinten die Tories auf sich 95,6% der Stimmen des rechten Lagers und 2019 lag der Wert immer noch bei 95,5%. Daraus resultiert ein struktureller Vorteil der Konservativen, für den weder Jeremy Corbyn noch Tony Blair etwas können und der sich auch nicht auflösen lässt. Zu dieser Zersplitterung haben historische Ursachen geführt, wie etwa der aufkeimende Nationalismus in Schottland, der die SNP nach oben spülte. Und die Grünen wuchsen mit der jungen, idealistischen Generation, der Umweltpolitik und ein Ende der Regime-Change-Kriege eher am Herzen lag als die Interessen der Bergleute und Gewerkschafter im Norden Englands. Nichts davon hat wie gesagt mit Jeremy Corbyn zu tun, der für seine Koalition alle diese Kräfte irgendwie zusammenhalten musste und somit zwangsläufig zwischen allen Stühlen saß.

              Der zweite Punkt, und von dem hört man in Ihrer aggressiven Analyse gegen Jeremy Corbyn merkwürdigerweise garnichts, ist dass – wenn man schon die Wahlergebnisse von 2001 und 2019 vergleicht – der größte Verlust nicht beim linken Lager liegt, sondern bei den LibDems. Die LibDems stürzen von 19,2% der Stimmen (unter den obigen Blöcken, die die nordirischen Parteien außen vorlassen) auf 12,0% ab. Die LibDems aber haben all das gemacht, wozu sie Labour ständig raten. Sie haben sich von jedwedem sozialistischen Wahlprogramm distanziert und werben für den schmalen Staat. Sie haben unmissverständlich auf Remain gesetzt. Sie haben keine zweifelhaften Kontakte zu radikalen Organisationen oder Staatschefs gepflegt. Bei den LibDems gab es noch nicht einmal eine Antisemitismus-Debatte. Die signifikanten Verluste, die die Partei trotzdem einfuhr, legen nahe, dass Ihre eindimensionale Analyse, die alle Schuld bei Jeremy Corbyn und seinem Programm sucht, so nicht ganz richtig sein kann.

              Vielmehr liegen die Ursachen des Tory-Siegs vor wenigen Wochen in der Unfähigkeit des linken Lagers sich auf eine Strategie bezüglich des Brexits (oder eben des Nicht-Brexits) zu einigen sowie in der Zersplitterung des linken Lagers und der damit einhergehenden schweren strukturellen Benachteiligung dieses Lagers im Kontext eines Mehrheitswahlrechtssystems. Dazu kommt die Labour-interne Zersplitterung in sich feindselig gegenüberstehende Leave- und Remain-Fraktionen. Alle anderen Faktoren haben kaum eine Rolle gespielt. So ist das Labour-Programm in der Öffentlichkeit zum Beispiel kaum diskutiert worden. Es gab ja auch praktisch keine Zeit dafür bei diesem überhasteten Urnengang ohne Vorbereitungsphase. Dass Sie sich aus ideologischen Gründen wünschen, Corbyn sei an seinen linken Ideen gescheitert, ist natürlich verständlich. Aber das liest sich nicht aus den Zahlen und hält einer tieferen Analyse auch nicht stand.

              • Stefan Pietsch 29. Dezember 2019, 12:01

                Sie fahren die Debatte gerade in eine Sackgasse, in dem Sie sie nicht fortführen, sondern einfach stehen bleiben.

                Zur Erinnerung: Zu Beginn stand das Statement, die absoluten Stimmen von Labour wären über knapp zwei Dekaden auf ähnlichem Niveau geblieben, was zu der Schlussfolgerung führte, die Niederlage sei nicht dramatisch wie behauptet.

                Das Gegenargument kam dann von mir: In dem Zeitraum hat die Zahl der Wahlberechtigten ebenso deutlich zugenommen wie die Wahlbeteiligung, weshalb die Tories 6 Millionen Stimmen gewinnen konnten, Labour aber absolut stehen geblieben sei. Daneben hat man zahlreiche angestammte Hochburgen direkt an die Konkurrenz verloren, was eben auf einen Erdrutsch hindeutet.

                Von daher kann ich mit Ihrer mit Fleiß erstellten Aufstellung nichts anfangen. Was wollen Sie sagen? Das Gleiche, Corbyn habe doch in absoluten Zahlen gar nichts verloren? Das steht doch gar nicht in Streit! Oder wollen Sie sagen, das linke Lager habe doch gemeinsam verloren? Dies würde den Sinn des Mehrheitswahlrechts missachten, Koalitionen werden weder von Parteien noch Wählern gedacht. Es geht nur um Sieg oder Niederlage. So kommen wir nicht weiter.

                Wahlen werden durch Persönlichkeit und Programm entschieden. Manchmal dominiert klar die Persönlichkeit und lässt das Programm dahinter verschwinden, die Bürger entscheiden sich für einen Kandidaten trotz des Programms seiner Partei. Ich kenne jedoch keinen umgekehrten Fall. Corbyn hatte gleich zwei Handicaps, nämlich seine Persönlichkeit wie sein Programm, das sich nicht wettmachen ließ.

                Auch an dieser Stelle gehen Sie über die Argumente hinweg. Sowohl Milibrand als auch Brown versuchten mit dezidiert linken Programmen die Wählerschaft zu überzeugen und scheiterten. So wie 1992 Neil Kinnock gegen den völlig farblosen John Major und eine zerstrittene Tory-Partei verlor. In 40 Jahren konnte Labour nur mit dem sehr bürgerlichen Tony Blair große Siege davontragen, der sehr weit den Raum einnahm, den die Tories in der Mitte räumten. Corbyn war für eine solche Strategie eindeutig der falsche Kandidat, er war das Gegenteil. Wo ist also die Lehre? Immer nur unglückliche Umstände?

                Corbyn hat innerhalb von 3 1/2 Jahren 3 entscheidende Wahlen verloren, die er hätte gewinnen können. Die BREXIT-Abstimmung war sehr ungeschickt taktiert. Wenn er mit einem entsprechenden Eintreten für Leave den Premierminister Cameron hätte stürzen wollen, um so Neuwahlen zu erzwingen, so war das höchst unklug. Diese Arbeit nahm ihm nämlich schon der weit populärere Boris Johnson ab. Das Eintreten für Remain hätte den Interessen seiner Unterstützer gegolten, war aber nicht mit seiner Persönlichkeit vereinbar.

                Die Niederlage gegen Theresa May 2017 wurde wie ein Sieg gefeiert, obwohl man damals schon das Kernproblem hätte erkennen müssen. Wenn man schon unter besten Umständen gegen eine abgehalfterte Regierung und eine extrem schwache Amtsinhaberin nicht gewinnen kann – gegen wen will man wann überhaupt gewinnen? Die Antwort folgte gut zwei Jahre später: gegen niemanden.

                Boris Johnson ging ein hohes Risiko ein – und gewann. Denn die Karten lagen im Herbst keineswegs so eindeutig für ihn. Nur der Vollständigkeit halber: auch die SPD hat 40 Jahre keine Wahl in Deutschland mit einem klar linken Programm gewonnen. Das sind Fakten, kein Wunschkonzert.

                Zu den Liberaldemokraten: Sie werden in Großbritannien offensichtlich als Ausgleich gesehen, die man weitgehend unschädlich wählen kann. Ihre Wahlergebnisse sind anscheinend unter zwei Aspekten zu betrachten: Umstände und Persönlichkeit. Nick Clegg machte die Liberal Democrats populär, seine Nachfolger verspielten das Erbe.

                Jedenfalls kann es nur ein Witz sein, wenn Sie einerseits behaupten, Labour wäre unter dem Mehrheitswahlrecht strukturell benachteiligt wie durch die Teilung in Leave- und Remain-Lager. Vor exakt den gleichen Problemen standen und stehen die Tories seit langem. Der Unterschied: erfolgreiche Premiers wie Cameron und Johnson konnten dies mit höchst unterschiedlichen Strategien managen. Zur Erinnerung (Sie scheinen ein Stück vergesslich): May Schrägstrich Johnson verloren ihre parlamentarische Mehrheit, weil ihre Partei eben auch zerstritten ist. Dazu besitzen die Tories mit der BREXIT-Partei von Farage große Konkurrenz. Die BREXIT-Party wurde noch vor wenigen Monaten stärkste Partei bei der Europawahl. Ähnlich stark war die lagerinterne Konkurrenz von Labour nie.

                Drei zum Teil deutliche Niederlagen – und Sie sind immer noch Fan von Corbyn. Das nennt man Treue.

        • sol1 30. Dezember 2019, 22:46

          /// Der Unterschied lässt sich regelmäßig im Bundestag beobachten, wo es eine 2-Klassengesellschaft gibt. ///

          Bei den Grünen im Bundestag erhielten also Hans-Christian Ströbele und Canan Bayram kraft Direktmandat einen Platzhirschstatus?

          Immer wieder interessant, was für Neuigkeiten man aus den Postings von Stefan Pietsch erfährt…

  • alpe 27. Dezember 2019, 17:31

    Danke für diese schöne und facettenreiche Analyse. Allein schon, dass sie in sich weitgehend widerspruchsfrei ist, ist bei der Länge und Ausführlichkeit eine Leistung an sich.

    Einige kleine Anmerkungen und Fragen zu einigen Dingen aus dem Schlussteil des Textes:

    1. „… durch den nun praktisch unvermeidbar gewordenen Hard Brexit…“

    — Wieso unvermeidlicher Hard Brexit? Der Hard Brexit ist ja inhaltlich ein eng umrissenes Szenario, dass insbesondere (1) das Ausscheiden aus dem europäischen Wirtschaftsraum mit seinen vier Grundfreiheiten Personenfreizügigkeit, freier Warenverkehr, freier Kapital- und Zahlungsverkehr und Dienstleistungsfreiheit und (2) das Verlassen der europäischen Zollunion beinhaltet.

    Hältst du es wirklich für wahrscheinlich, dass es dazu nach Ende der Übergangsfrist im Dezember 2020 in dieser Härte kommen wird? Ich halte es für viel wahrscheinlicher, dass man sich mindestens in Sachen Zollunion auf etwas diesseits eines vollständigen Austritts des UK einigen wird, allein schon um die harte Zollgrenze zwischen Nordirland und Irland zu vermeiden. Und dann sprechen wir schon nicht mehr von einem „Hard Brexit“, sondern von einer etwas softeren Variante.

    2. „Wie sich der Brexit mit der EU-Mitgliedschaft Irlands und einer prinzipiell offenen Grenze zwischen den beiden Insel-Teilstaaten vertragen soll, ist weiterhin völlig offen.“

    — Siehe 1.

    3. „…der Verfassungswandel, den Johnson anstrebt. Angesichts des Mangels einer festgeschriebenen Verfassung kann seine deutliche Parlamentsmehrheit hier große Änderungen vornehmen, sofern ihn die Gerichte lassen.“

    — Reine Verständnisfrage: Wie soll eine nicht kodifizierte Verfassung geändert werden? Möchtest du eigentlich politischer Kulturwandel statt Verfassungswandel sagen? Das würde auch viel besser zu dem passen, was du in den Sätzen danach schreibst (und mein Gefühl von der Kohärenz der materiellen Welt nicht so stark verletzen ;-).

    • Stefan Sasse 27. Dezember 2019, 22:01

      1)/2) Ich habe das Gefühl, dass die einfach Augen zu und durch gehen wollen, aber ich wäre froh für die Briten wenn ich mich täusche.
      3) Das ist ein Verfassungswandel. ^^ Aber ich glaube wir streiten über Semantik.

  • Dennis 27. Dezember 2019, 22:32

    Zitat Stefan Sasse:
    „worauf der unglaubliche Kollaps Labours unter Jeremy Corbyn (und ebenso, wenngleich weniger diskutiert, der der Liberal Democrats)…..“

    Ähm, Letztere haben im Vergleich zur letzten Wahl 4,5 Punkte ZUGELEGT auf nunmehr 12 Prozent 🙂 gleichwohl einen Sitz verloren 🙁

    Nicht nur an dieser Stelle sondern überhaupt zeigen sich die Verzerrungen wegen des Wahlrechtes (okay, ist in anderen Kommentaren schon gesagt worden, aber halt noch nicht von allen^), das insbesondere die Tatsache schwer bestraft bzw. belohnt, dass es eigentlich nur eine Rechtspartei gibt, Linkens aber in mindestens fünf Varianten (von zart-rosa bis knall-rot) auftreten, darunter die LibDems, die – ganz anders als die FDP – im Wesentlichen das linksliberale Bürgertum bespielen.

    Wie schon zur Thatchers Zeiten hat die Rechte keine Mehrheit im Popular Vote. Schadet denen aber rein gar nitt. Man profitiert von der Zersplitterung der anderen Seite; Letztere könnten ja beispielsweise mit wahlkreisbezogenen Absprachen eine Wahlkoalition bilden – dergleichen lehnt Labour aber strikt ab.

    Zitat
    „Sehr in der Kontrolle der Partei ist Jeremy Corbyns astronomische Unbeliebtheit. “

    Wie erklärt sich dann das Wahlergebnis 2017 (Labour plus 9,5 Punkte)?

    Hier zum Beispiel kann man nachlesen, wie genial dieser Corbyn so ist……

    https://www.bbc.com/news/election-2017-40219339

    https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-06/jeremy-corbyn-labour-grossbritannien-parlamentswahl

    …..okay, war.

    Zu damaliger Zeit galt Corbyn halt grundsätzlich noch als Brexiteer, was auch authentisch ist *, May dagegen war Remainer (auch authentisch). Anschließend wurde insbesondere Corbyn Wischi-waschi, weil andere Rollen gespielt werden mussten. Das ging bekanntlich gründlich schief.

    Wenn Labour die Brexit-Position Corbyns tatsächlich vertreten hätte, also ohne Wenn und Aber eine positive Einstellung zum Brexit dargeboten hätte, stünden die heute besser da; ging halt nicht, wegen der verfeindeten Parteiflügel.

    Zitat:
    „….oft fehlt das Grundvertrauen, dass die Partei tatsächlich in der Lage wäre, diese Forderungen auch umzusetzen,…“

    Kein Wunder. Uneinheitliches und chaotisches Auftreten lässt kein Grundvertrauen aufkommen.

    Zitat:
    „…Brexit inszenieren, während Corbyns Engagement für den Verbleib in der Union sowohl 2016 als auch 2017 bestenfalls ambivalent war.“

    Tschuldigung, aber dafür hat der sich zu keinem Zeitpunkt engagiert. Er ist ein Brexiteer der alten Schule *, musste aber der Parteispaltung wegen rumeiern.

    Ansonsten natürlich ein sehr lesenswerter Artikel.

    * bei der Europaabstimmung 1975 stimmte der damals noch unbekannte Corbyn mit nein, eine gewisse Margaret Thatcher – Wilson unterstützend – mit ja. Bei der Beurteilung von Maastricht und Lissabon waren sich beide wieder einig; aus beider Sicht Teufelswerk.

    https://i.pinimg.com/originals/55/24/39/552439f6ab409f435608231979405d7b.jpg

    • Ralf 28. Dezember 2019, 01:27

      @ Stefan Sasse und @ Dennis

      [„…Brexit inszenieren, während Corbyns Engagement für den Verbleib in der Union sowohl 2016 als auch 2017 bestenfalls ambivalent war.“]

      Tschuldigung, aber dafür hat der sich zu keinem Zeitpunkt engagiert. Er ist ein Brexiteer der alten Schule *, musste aber der Parteispaltung wegen rumeiern.

      Um der Mythenbildung vorzubeugen, guckst Du hier:

      https://labourlist.org/2016/04/europe-needs-to-change-but-i-am-voting-to-stay-corbyns-full-speech-on-the-eu/

      • Stefan Sasse 28. Dezember 2019, 11:00

        Deckt sich ja mit dem was ich im Artikel schreibe. Eher ambivalent.

        • Ralf 28. Dezember 2019, 15:50

          Was genau ist daran ambivalent?

          Ich würde mich als glühenden Europäer und EU-Freund bezeichnen und hätte exakt Corbyns Rede halten können. Du selbst bist doch auch ziemlich pro-EU, aber ich lese dauernd von Dir, wo und wie sich die EU verändern soll: Mehr Zusammenarbeit, gemeinsamer Haushalt, gemeinsame Armee, Bankenunion, gemeinsame Sozialpolitik, gemeinsame Flüchtlingspolitik bis hin zu den Vereinigten Staaten von Europa.

          Machen Dich Deine vielen Forderungen an die EU sich zu verändern in irgendeiner Weise „ambivalent“ in der Europapolitik?

          • Stefan Sasse 28. Dezember 2019, 19:10

            Eine Rede macht halt keinen Sommer. Corbyn hatte immer das Problem, dass er nicht die Stimmen von „Remain“ bündeln konnte, weil sein Remain immer ein „Remain, but“ war – bestenfalls. Der Unterschied zwischen mir und Corbyn ist, dass ich sofort und ohne zu zögern sage, wir nehmen Macron und die bestehende EU vor Le Pen. Corbyn dagegen würde eher sagen wir nehmen Le Pen, lassen das System zusammenbrechen und bauen es danach total toll wieder auf. Und genau diese Haltung kritisiere ich.

            • Ralf 29. Dezember 2019, 03:08

              Da wäre ich an einem konkreten Zitat interessiert, wo Corbyn erklärt, er hielte es für eine gute Idee, wenn Le Pen die EU zerschlägt und er anschließend wieder alles aufbaut. Ohne Beleg sieht mir das eher wie eine freie Erfindung Deinerseits aus …

              Im übrigen hat Corbyn nie für ein „Remain, but“ gestanden. Er war zugegebenermaßen nie besonders EU-enthusiastisch, hat sich aber meines Wissens nach vor dem Referendum konsistent und klar für Remain ausgesprochen und für dieses Resultat auch geworben. Und zwar ohne „but“.

              Nach dem Referendum hat er das gemacht, was man eigentlich von ihm erwarten musste. Er hat das Wählervotum ernst genommen und sich für den Brexit eingesetzt (schon wieder nicht für „Remain, but“). Und zwar hat er die mittlere Position zwischen Leave und Remain eingenommen und sich für einen Soft-Brexit ausgesprochen. Bei einem dermaßen knappen Referendumsvotum eigentlich eine Lösung mit maximalem Ausgleich, bei dem alle Seiten etwas bekommen hätten und der Brexit an sich nicht infrage gestellt worden wäre. Dass sich dieser Kompromiss-Mittelweg als nicht gangbar erweisen würde in einem sich immer weiter radikalisierenden politischen Umfeld, in dem beide Seiten alles oder nichts verlangten, war damals nicht absehbar.

              Corbyns Fehler ist es gewesen nicht ausreichend flexibel gewesen zu sein, als dass dann klar wurde. Er hätte sich dann am besten auf eine kristallklare neue Position justiert, die ein zweites Referendum vorsieht, und ein starkes Bündnis mit den LibDems und der SNP gesucht. Nach dem Zerfall der Tory-Mehrheit im Parlament hätte er mit den Stimmen der Opposition irgendeinen gealterten Hinterbänkler von Labour, der weniger umstritten ist als er selbst, zum Übergangs-Prime-Minister gewählt. Und anschließend ein neues Referendum durch’s Parlament gepeitscht, das wahrscheinlich mit einem knappen Sieg für Remain ausgegangen wäre. Von dieser Niederlage hätte sich die dann kollabierende Tory-Partei mit ihrer komplett diskreditierten Führung möglicherweise nie mehr wieder erholt. Ach ja, und in diesem turbulenten Umfeld hätte man dann Neuwahlen ausgerufen.

              Leider ist es anders gekommen. Aber sicher nicht primär wegen Corbyns EU-Skepsis. Das Lavieren des Labour-Chefs dürfte vielmehr damit zu tun gehabt haben, dass er bis zum Schluss gehofft hat, seine Koalition aus den linken Arbeitermilieus im Norden Englands und den progressiven jungen Leuten in London irgendwie zusammenzuhalten.

              • CitizenK 29. Dezember 2019, 07:24

                Genau so.

              • Stefan Sasse 29. Dezember 2019, 13:55

                Angesichts dessen, dass die Wählerschaft Labours selbst gespalten war? Ich sehe einfach kein besonders nachhaltiges Bekenntnis zu Remain, das selbst mit Johnsons lavierendem Brexit-BS mithalten hätte können.

                • Ralf 29. Dezember 2019, 15:20

                  Johnson hatte die Mehrheit im Parlament bereits verloren. Labour hätte mit den Stimmen der Opposition einen neuen Prime Minister wählen können. Dafür hätte Corbyn, der selbst im Parlament hoch umstritten ist, einen Schritt zurück ins Glied machen müssen und für den Übergang irgendeinen aus Altersgründen nicht mehr sonderlich ambitionierten Labour-Kollegen aus dem eher mittigen Spektrum vorschlagen müssen. Der Kollege wäre, anders als Corbyn selbst, dann als Übergangslösung mit den Stimmen von Labour, SNP, LibDems und UK Change zum Prime Minister gewählt worden. Die einzigen beiden Punkte auf der politischen Agenda wären dann gewesen einen Soft-Brexit mit der EU auszuhandeln und parallel ein zweites Referendum („Remain“ gegen „Soft-Brexit“) vorzubereiten. Der Soft-Brexit wäre politisch sehr viel einfacher zu verhandeln gewesen, denn wenn Großbritannien erklärt hätte in der Zollunion und dem Single Market zu bleiben, dann wäre weder die Irlandfrage ein Problem gewesen noch hätte es große Schwierigkeiten beim zukünftigen Verhältnis zwischen EU und UK gegeben. Auch die EU wäre der neuen britischen Regierung hier gerne entgegengekommen, denn ein Soft-Brexit wäre im Interesse aller gewesen. Mit dem verhandelten Deal wäre man dann ins Referendum gegangen. Meiner Meinung nach hätte „Remain“ diesmal über „Soft-Brexit“ gewonnen, aber auch wenn nicht, hätte Corbyn in der folgenden Parlamentswahl für sich in Anspruch nehmen können, anders als die Tories, den Wunsch des unter der eigenen Regierung abgehaltenen Referendums voll umgesetzt zu haben. Corbyn hätte zusätzlich Bonuspunkte sammeln können dafür, dass er im Interesse des Landes anderen den Vortritt für die Rolle des Übergangs-Prime Ministers gelassen hätte.

                  Bei alledem hätte Boris Johnson nur zuschauen können. Johnson wäre in die Geschichte eingegangen als jemand, der völlig ohne Not seine Partei gespalten und damit die Mehrheit im Parlament verspielt hat. Als jemand, der dann mittels Verfassungsbruch versucht hat, das Parlament auszuschalten und zu diesem Zweck Queen und Volk belog. Und zum Schluss als jemand, der abgewählt wurde, ohne auch nur eine einzige (!) Abstimmung gewonnen zu haben.

                  Das rechte Lager wäre anschließend völlig zerfallen. Wir hätten wahrscheinlich etwa gleich starke Tories und Brexit-Party bekommen. Und in einem Mehrheitswahlrechtssystem korrespondiert das mit einem totalen Kollaps des gesamten rechten Blocks.

                  Das wäre intelligente Politik gewesen.

                  • Stefan Sasse 29. Dezember 2019, 19:23

                    Oder die wären vom britischen Wahlvolk alle als Verräter gesehen worden, und Johnson hätte die nächte GE mit der passenden Dolchstoßlegende im Gepäck und einer radikalisierten UKIP-Basis noch krasser gewonnen. Das wäre die andere Seite des Szenarios, in die es auch ausschlagen könnte…

                    • Ralf 30. Dezember 2019, 01:28

                      Erstmal wäre Johnson in meinem obigen Szenario abgesetzt worden. Anschließend wäre der Übergangs-Prime Minister mindestens ein Jahr lang und möglicherweise bis zu drei Jahre lang im Amt gewesen. Und danach wäre die Brexit-Frage in einem zweiten Referendum und einer bindenden Abstimmung des Parlaments entschieden gewesen.

                      Jetzt setzt Dein Szenario voraus, dass sich Boris Johnson nach seiner Absetzung überhaupt als Oppositionsführer hätte halten können. Das ist extrem unwahrscheinlich und mir fällt dazu keine Präzedenz ein. Welcher abgesetzte Staatschef hat es jemals geschafft weiterhin das Gesicht seiner Partei zu bleiben? Sebastian Kurz könnte man vielleicht nennen. Aber Kurz war nicht wegen seines Eigenverschuldens oder wegen des Verschuldens seiner Partei abgesetzt worden. Vielmehr war er das Opfer seines Koalitionspartners. Und Sebastian Kurz hat und hatte Messias-gleiche Umfragewerte in Österreich. Boris Johnson hingegen hat ein Favorability-Rating von 35% bei einem Disapproval von 47% …

                      https://yougov.co.uk/topics/politics/explore/public_figure/Boris_Johnson

                      Mit diesen Zahlen kann man einen Machtverlust politisch nicht überleben.

                      Zweitens wäre die Brexit-Frage wie gesagt entschieden gewesen und politisch abgeschlossen, bevor eine (sehr theoretische) Tory-Regierung wieder ans Ruder hätte kommen können. Glaubst Du im Ernst in der Bevölkerung hätte es Appetit gegeben, nach drei Jahren Chaos und totaler politischer Paralyse, zwei Referenden und endlich einem geglückten Abschluss, den ganzen Brexit-Prozess nochmal von vorn zu starten? Wohlwissend dass man dann, um Legitimität zu erlangen, erstmal ein drittes Referendum hätte abhalten müssen.

                      Drittens wäre nach einem epischen Kollaps der Konservativen garnicht mehr klar gewesen, wer eigentlich der optimale Vorkämpfer für den Brexit ist. Die Tories oder die Brexit-Party. Boris Johnson konnte sich als beste Option verkaufen, weil er bis zur Wahl im Dezember politisch noch nicht gescheitert war. Hätte man ihn abgesetzt, wäre sein Argument, der potentiell erfolgreichste Brexit-Streiter zu sein, aber in sich zusammengefallen. Sehr wahrscheinlich wäre die Brexit-Koalition in die drei Parteien Tories, Brexit-Party und UKIP zersplittert, so wie wir das ja auch schon bei der Europawahl gesehen hatten. In einem Mehrheitswahlrechtssystem ist das das Schlimmste, was Dir überhaupt passieren kann.

                      Fazit: Ich halte Dein Szenario von einer glorreichen Rückkehr der Rechten, nachdem der linke Block sich auf einen Übergangs-Premier und ein zweites Referendum verständigt hat, für wenig wahrscheinlich.

      • Dennis 28. Dezember 2019, 21:33

        Zitat Ralf:
        „Um der Mythenbildung vorzubeugen, guckst Du hier:“

        Okay, aber was is jetzte der Mythos? Die Jahrzehnte vom dem Weichspülen oder das kräftige Sowohl-als-auch danach ?
        Zu Maastricht ließ er sich noch so vernehmen:
        „The treaty takes away from national parliaments the power to set economic policy and hands it over to an unelected set of bankers who will impose the economic policies of price stability, deflation and high unemployment throughout the European Community“.
        Das korrespondiert ziemlich genau mit der jahrzehntelangen Argumentation seines Mentors Tony Benn auch schon weit vor Maastricht.

        Bei Theresa May stellen sich womöglich auch gewisse mythologische Fragen:

        https://www.youtube.com/watch?v=1mcipGwcrGk

        Ob man so watt jetzt großzügig à la Adenauer unter „mich kann doch niemand daran hindern, jeden Tag klüger zu werden“ („was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“ ist nicht verbürgt) abbucht, unter professionell oder unter abscheulichen Opportunismus, müsste noch gesondert geklärt werden. Jedenfalls hatte das Auftreten von Theresa und Jeremy in vertauschten Rollen ja auch einen gewissen Unterhaltungswert. Schade, dass dieses Stück vorbei ist 🙁

    • Stefan Sasse 28. Dezember 2019, 10:59

      Du hast Recht mit den Anmerkungen zu den LibDems, sorry. Ansonsten sehe ich aber nicht wo wir uns widersprechen.

  • R.A. 28. Dezember 2019, 14:29

    Diese Wahl hat nicht Johnson gewonnen, sondern Corbyn verloren. Und zwar gleich mehrfach.

    Zum Einen hat er mit persönlicher Unbeliebtheit und abschreckendem Programm verhindert, daß Labour überhaupt eine Siegchance hatte. Und dies schon bei der letzten Wahl – nach normalen Maßstäben wäre da ein hoher Labour-Wahlsieg möglich gewesen und Mays knapper Wahlerfolg ziemlich unwahrscheinlich. Aber Corbyn hat die Labourwählerschaft schon damals gründlich abgeschreckt und seitdem noch abgebaut.

    Und dann hat er taktisch in den Monaten vor der Wahl massiv versagt.

    Rückblende: May ist nicht an den grundsätzlichen Problemen des Brexits gescheitert, sondern an Johnsons Intrigen. Er hatte sich nicht genau festgelegt, wie der Brexit genau aussehen sollte. Aber immer wenn May eine konkrete Variante vorgeschlagen hat, kam von ihm: „So nun bestimmt nicht“. An diesem beständigem Widerspruch ist May gescheitert, ohne die Tory-Brexiteers war keine Brexit-Mehrheit möglich und an den fehlenden Stimmen gerade der Brexiteers ist der Brexit ja im Frühjahr gescheitert.
    Wie perfide Johnson dabei argumentierte sind man schon daran, daß genau die Variante mit einer Grenze in der irischen See, der er derzeit als die geniale Lösung präsentiert, von ihm als unzumutbar abgelehnt wurde, als May sie 2018 brachte.

    Schließlich hatte Johnson May in die Sackgasse getrieben und konnte endlich PM werden.
    Und seine Taktik war klar: Destruktiv bleiben, keine Lösungsgespräche mit der EU führen, keine Initiativen im Parlament einbringen. Damit wollte er den automatischen (ungeregelten) Austritt im Oktober erreichen, um danach mit maximaler Polarisierung in den Wahlkampf zu gehen.

    Mit dieser Taktik ist er eigentlich komplett gescheitert. Die Opposition schaffte es, ein mehrheitsfähiges Verschiebungsgesetz durchs Parlament zu bringen.
    Johnson versuchte dagegen mit GO-Tricks vorzugehen – und scheiterte am Speaker.
    Johnson versuchte im Oberhaus dagegen zu filibuster – aber die Tory-Peers verweigerten ihm das.
    John versuchte das Parlament zu schließen – und scheiterte vor dem Gerichtshof.

    Als das Parlament wieder zusammentrat, hatte die Opposition (verstärkt durch die von Johnson rausgeworfenen Remainer-Tories) alle Optionen in der Hand. Johnson steckt völlig in der Sackgasse und hat keine Handlungsmöglichkeiten mehr.

    Zu erwarten war, daß die Opposition ihn abwählt und durch einen Übergangs-PM ersetzt (z. B. einen der gemäßigten Ex-Tories), ein neues Referendum ansetzt und dann eine Neuwahl mit genug Vorbereitungszeit. Zu der Johnson dann als gescheiterter Ex-PM hätte antreten müssen.

    Keinen dieser Schritte hätte Johnson aus eigener Kraft verhindern können.

    Da vollzieht Corbyn den Frontwechsel, bricht mit den übrigen Oppositionsparteien und verschafft Johnson (ohne Gegenleistung!) die Mehrheit für seinen Brexit-Deal und schnelle Neuwahlen mit Johnson als Amtsinhaber.

    Und anschließend kommt der zweite massive taktische Fehler: Corbyn verweigert das von der übrigen Opposition vorgeschlagene Wahlbündnis. Das dazu geführt hätte, daß die Tories die Wahl deutlich verloren hätten!

    Johnson ist also eigentlich komplett gescheitert. Wird aber in letzter Sekunde von Corbyns Hilfe gerettet – und dann reicht ihm im Prinzip das alte May-Wahlergebnis, um eine satte Mehrheit einzufahren.
    Wobei es durchaus Verschiebungen gibt: Von den konservativen Tory-Wählern sind viele zu Hause geblieben, weil der schrille Ton Johnsons und sein respektloser Umgang mit Traditionen sie abstößt. Aber da die Opposition gespalten auftritt, können die Tories trotzdem ihre alten Wahlkreise halten.
    Neue Wähler gewinnt Johnson dagegen in den alten Labour-Hochburgen, das entspricht dem Überlaufen vieler alter SPD-Stammwähler zur AfD.

    Insgesamt ist die Wahl mit ihren Folgen ein Desaster für GB und für Europa.

    • CitizenK 29. Dezember 2019, 09:25

      Auch für Europa? Ich weiß nicht. Auch bei einem 2. Referendum wäre eine Mehrheit für Remain auf jeden Fall knapp ausgefallen. Und die andere Hälfte, laut und skrupellos, hätte nachhaltig Obstruktion betrieben. Die Farage-Truppe im EP macht es bereits vor.

      Unschön, aber wie die Dinge liegen, ist es auch für Europa besser so.

  • CitizenK 29. Dezember 2019, 20:02

    Na ja, man sollte den Bürgern schon erklären können, warum wir – im Verhältnis zur Bevölkerung – so viel mehr Abgeordnete brauchen als fast alle anderen Demokratien. In Italien ist bzw. war das ein Faktor für die Politikverachtung.

    Das Verständnis für parlamentarische Abläufe ist gering – zeigen die immer wiederkehrenden Leserbriefe über die „leeren Bänke“im Bundestag. Und der Bezug zum Wahlkreis ist wichtig. Mich hat bei den Debatten im britischen Parlament beeindruckt, wie sehr sich die MPs ihren „constituents“ verpflichtet fühlen.

    • Ralf 30. Dezember 2019, 00:55

      Na ja, man sollte den Bürgern schon erklären können, warum wir – im Verhältnis zur Bevölkerung – so viel mehr Abgeordnete brauchen als fast alle anderen Demokratien.

      Das lässt sich doch erklären.

      Die USA z.B. haben ein Mehrheitswahlrecht und das heißt, dass sie das wichtigste Kernelement der Demokratie opfern, nämlich die Tatsache, dass alle Stimmen gleich viel wert sind. Dadurch kommen sie ohne Ausgleichsmandate aus und können ihr House of Representatives auf 435 Abgeordnete beschränken. Wem die Demokratie zweitrangig ist, der kommt also auch mit einem kleinen Parlament aus. Die Briten haben ein sehr ähnliches System und deren House of Commons ist ironischerweise trotzdem kaum kleiner als unser Bundestag (gegenwärtig 650 Sitze im britischen Parlament). Man zahlt dort also den fatalen Preis des Demokratieverlusts und kriegt noch nicht einmal ein kleines Parlament.

      Das italienische Parlament, das Du ansprichst, kann ebenfalls kleiner sein als das deutsche (obwohl es mit 630 Abgeordneten garnicht so viel kleiner ist), weil das italienische Wahlsystem meines Wissens nach ein reines Verhältniswahlrecht ist (mea culpa, falls ich das falsch erinnere). Auch hier werden also keine Ausgleichsmandate benötigt und das Parlament kann (theoretisch) klein bleiben.

      Das deutsche System verbindet hingegen die besten Elemente des Verhältniswahlrechts (alle Stimmen sind gleich viel wert) mit den besten Elementen des Mehrheitswahlrechts (Bürger haben die Möglichkeit einen prominenten Kandidaten auch abseits von Parteienstrukturen zu wählen). Letzteres spielt in der Praxis natürlich fast nie eine Rolle. Nur eine verschwindend geringe Zahl an Wählern kennt die Kandidaten ihres Wahlkreises namentlich und Personenwahl macht nur dann Sinn, wenn die Personen bekannt sind. Aber zumindest theoretisch hat der Bürger so die Möglichkeit den Parteien ein Schnippchen zu schlagen. Und damit kann ich gut leben. Wenn man aber die besten Elemente des Verhältniswahlrechts mit den besten Elementen des Mehrheitswahlrechts verbinden will, braucht man viele Ausgleichsmandate und die Konsequenz ist ein vergrößertes Parlament.

      Voilà. Schon ist erklärt, warum wir – im Verhältnis zur Bevölkerung – so viel mehr Abgeordnete brauchen als fast alle anderen Demokratien.

      EDIT:

      Hier ein paar Zahlen, da Du in Deinem Argument ja nicht die absoluten Zahlen an Abgeordneten, sondern die relativen Zahlen an Abgeordneten im Verhältnis zur Bevölkerungszahl verwendest. Ich beziehe mich auf die Bevölkerungszahlen von 2017 (Quelle bpb):

      1) UK: 650 Parlamentarier pro 65,809 Millionen Einwohner
      Verhältnis: 9,88 x 10^-6

      2) Italien: 630 Parlamentarier pro 60,589 Millionen Einwohner
      Verhältnis: 10,40 x 10^-6

      3) Frankreich: 577 Parlamentarier pro 66,989 Millionen Einwohner
      Verhältnis: 8,61 x 10^-6

      4) Spanien: 350 Parlamentarier pro 46,528 Millionen Einwohner
      Verhältnis: 7,52 x 10^-6

      5) Polen: 460 Parlamentarier pro 37,973 Millionen Einwohner
      Verhältnis: 12,11 x 10^-6

      dazu im Vergleich:

      6) Deutschland: 709 Parlamentarier pro 82,522 Millionen Einwohner
      Verhältnis: 8,59 x 10^-6

      Wo siehst Du da bitte die Riesenunwucht in Deutschland im Vergleich zu den anderen großen europäischen Ländern?

      • CitizenK 30. Dezember 2019, 10:03

        Demnach gibt es diese Unwucht offenbar nicht. Danke.

        Ich halte das deutsche Wahlsystem auch für einen guten Kompromiss. Das Mehrheitswahlsystem in USA und GB wurde konzipiert, als man die Bedeutung der Parteien noch nicht auf der Rechnung hatte. Wie man das US-System (mit gerrymendering und dem Phänomen der „swing states“) als ur-demokratisch verteidigen kann, ist mir ein Rätsel. Tradition, Tradition?

    • Stefan Sasse 30. Dezember 2019, 11:10

      Der Bundestag ist einfach superschlecht bei PR in eigener Sache.

  • sol1 30. Dezember 2019, 23:00

    „Der für das politische Gesamtgefüge sicherlich wichtigste Punkt ist der Verfassungswandel, den Johnson anstrebt.“

    Aber genau der würde das United Kingdom noch weiter auseinanderdriften lassen.

    Wie Anton Pelinka in einem heute veröffentlichten Interview über die Wahl sagte:

    „Es haben sich englische – und nicht britische Nationalisten durchgesetzt.“

    https://www.sueddeutsche.de/politik/pelinka-fpoe-nationalismus-1.4738677

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