Rezension: Philipp Lepenies – Verbot und Verzicht: Politik aus dem Geiste des Unterlassens

Philipp Lepenies – Verbot und Verzicht: Politik aus dem Geiste des Unterlassens

Kaum ein politischer Angriff der letzten beiden Jahrzehnte war so effektiv wie das negative branding der Grünen als „Verbotspartei“. Das Verbot hat in der zeitgenössischen Politik einen ausgesprochen negativen Klang, ist ein Pejorativ erster Güte. Das war nicht schon immer so. Vielmehr ist die Aversion gegen das Verbot und seinen kleinen Cousin, den Verzicht, in der gegenwärtigen Schärfe ein vergleichsweise neues Phänomen. Philipp Lepenies unternimmt es im vorliegenden Band „Verbot und Verzicht: Politik aus dem Geiste des Unterlassens“, die Dynamiken hinter dieser Aversion genauer zu untersuchen und eine Analyse vorzulegen, wie solche Politik anders gestaltet werden könnte. Der Suhrkamp-Umschlag mit seiner unwiderstehlichen Layoutgestaltung (man beachte die Ironie) zeigt uns dabei bereits, dass wir im Fußnotenterritorium des akademischen Diskurses angekommen sind. Lepenies erläutert bereits in seinem Vorwort, als wie befremdlich er in der Klimaschutz- und Coronadebatte die gefühlte Unzumutbarkeit von Verboten und Verzichtsaufforderungen empfand und macht sich nun daran, dieser Frage nachzugehen.

In seinem ersten Kapitel, „Die Argumente des Unterlassens„, skizziert Lepenies in einer wohl bewusst ein wenig in die Irre führenden Überschrift beliebte Gründe, die für ein Unterlassen von Verboten genannt werden – nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, Argumente für Verbote. Nach Albert Hirschmans rhetorischer Analyse erklärt Lepenies die zentralen Unterlassungsdiskurse. Diese nehmen ihren Ursprung in der Französischen Revolution und der auf sie folgenden Reaktion: der Versuch der revolutionären Änderung rief Menschen auf den Plan, die eine ebensolche verhindern wollen. Der erste dieser Erklärungsansätze ist die Pervertierungsthese. Ihr zufolge führen Änderungs- und Besserungsmaßnahmen stets zum Gegenteil des gewünschten, positiven Effekts, weil das reale Verhalten der Menschen aufbegehrend sei: ein Verbot mache das Verbotene etwa erst recht attraktiv.

Die zweite These ist die Nutzlosigkeitsthese. Nach ihr sind Verbote und andere Eingriffe eines lenkenden Staats schlicht nutzlos und erreichen ihr Ziel nicht, weil sie dadurch gar nicht in der Lage sein können. Für Hirschman (und den ihn positiv rezipierenden Lepenies) ist das gleichzeitig auch eine Ungedulds-These, weil ihre Vertreter*innen häufig die Nutzlosigkeit einer Maßnahme postulieren, bevor diese überhaupt sachlich festgestellt werden könne.

Die dritte These ist die Gefährdungsthese. Nicht nur bestünden negative Nebeneffekte und hohe Kosten; Verbote und Maßnahmen würden sogar die zugrundeliegende Ordnung und ihre Institutionen zerstören. Historisch etwa wurde das allgemeine Wahlrecht häufig mit dem Argument abgewählt, sie solcherart gleichberechtigten Massen würden durch ihre uninformiert-emotionalen Entscheidungen das Staatswesen zerstören.

Zu Hirschmans Thesen fügt Lepenies eine weitere, vierte hinzu, die einen ersten Grundstein seines Buchs legt: die Illegitimitätsthese, also die Vorstellung, dass Verbote und Verzicht grundsätzlich illegitim seien. Es ist nicht schwer, dieses Argumentationsmuster in unserem zeitgenössischen politischen Diskurs wiederzufinden; allein eine Zuschreibung wie „Verbotspartei“ macht ja nur Sinn, wenn das Verbot selbst illegitim ist. Diese Illegitimitätsthese ist für Lepenies der neue Aspekt in der Debatte; die ersten drei Dimensionen begleiteten uns bereits seit weit über 200 Jahren.

In Kapitel 2, „Verzicht – Geldmachen und Affektkontrolle„, beginnt der Autor, den geistesgeschichtlichen Grundlagen des Verzichts im Liberalismus nachzuspüren.Von Hobbes und Locke über Montesquieu zu Adam Smith folgt Lepenies den Klassikern liberalen Denkens und zeigt, wie der Verzicht stets zentral für ihre Gedankenwelt war. Der immer wieder auftauchende Begriff der doux commerce umschreibt den moralisch aufgeladenen Konsumverzicht zur Anhäufung von Kapital. Der von Lepenies ausgiebig zitierte Benjamin Franklin etwa verkörpert diesen Typus, den Max Weber in seiner protestantischen Arbeitsethik verewigte, quasi in Reinkultur. All diese liberalen Denker predigten mit hochmoralischen Argumenten Verzicht – die Schlussfolgerung daraus im Hinblick auf unsere eigenen Debatten überlässt er wohlweislich den Lesenden und lässt die Quellenlage für sich sprechen.

Neben diesen moralischen Verzichtforderungen stellten all diese Liberalen laut Lepenies auch stets ein Primat der Gemeinwohlorientierung auf. Zwar predigte Smith die Orientierung am Eigennutz. Er war allerdings auch davon überzeugt, dass dieses Handeln das Ziel habe, das Gemeinwohl zu steigern, und sich an diesem Ziel würde messen lassen müssen. Das habe auch für die anderen Klassiker der liberalen Lehre gegolten. Diese Lesart von Adam Smith wird mit Sicherheit auf einem FDP-Parteitag nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen. Wann also, darf man berechtigt fragen, änderte sich das liberale Verhältnis zu einer solchen Aversion gegenüber Verzicht und Verbot, wann übernahm die Freiheit des Konsumenten vor der Freiheit des Akkumulierenden?

Dieser Umschwung lag für Lepenies im Neoliberalismus, dessen geistesgeschichtlichen Wurzeln er in Kapitel 3, „Verbot – der Staat als Gegner„, nachspürt. Die Kernidee der Illegitimitätsthese führt er auf Hayek und die Österreichische Schule zurück. Hayek und Mises und ihr Aufstieg in der unmittelbaren Nachkriegszeit stehen demnach auch am Anfang des Kapitels. Ausführlich stellt Lepenies Hayeks Ideen dar und kritisiert diese als oft sehr manichäisch. Hayek wird vor allem mit den Fabians kontrastiert, die zu jener Zeit mit inkrementellen Steuerungsideen ihren Höhepunkt erreicht hatten. Von Hayek geht es dann zur Person Ayn Rands, die es schaffte, eine Popularisierung der Ideen über ihre Romane „The Fountainhead“ und „Atlas Shrugged“ zu erreichen und die Hayek als verkappten Linken empfand. Ihr radikaler Individualismus, den sie in einem vergeblichen Versuch, Zugang zum akademischen Milieu zu finden, als Objektivismus zu systematisieren versuchte, gab ihr eine deutliche Außenseiterstellung, aber deswegen nicht weniger Einfluss.

Hayek, Mises, Rand und Konsorten mochten im akademischen Milieu der 1950er Jahre keinen Einfluss haben und Außenseiter sein, aber ihr Einfluss in der Öffentlichkeit und vor allem unter den sie großzügig finanzierenden Unternehmern wuchs rapide an. Das Meisterstück dieser Propagandakampagne war die Schaffung des „Wirtschaftsnobelpreises“, einem der wohl erfolgreichsten Etikettenschwindel aller Zeiten. Der Protagonist dieser Ära war Milton Friedman, der mit ungeheurer Selbstsicherheit die Thesen auf einen radikalen, moralisch-ideologischen Gegensatz zuspitzte. Mit seiner (vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen finanzierten) Sendung „Free to Choose“ popularisierte Friedman die neoliberalen Ideen, die in den 1970er Jahren immer weiter an Anhänger*innen gewannen, am prominentesten in den Personen Ronald Reagans und Margret Thatchers, deren Wahlsiege 1979 und 1980 nach dem Experiment in der chilenischen Diktatur den Boden für den politischen Siegeszug bereiteten. Nach dem Untergang der Sowjetunion moderierten sich diese Ansichten nicht; vielmehr radikalisierte Friedman sich, sah fortan in allem, das er ablehnte (etwa Bill Clintons Krankenversicherungsplänen) sozialistische Umtriebe am Werk.

Kapitel 4, „Konsumentensouveränität und Douce Consommation„, untersucht die Rolle des Konsums. Lepenies zeichnet den Beginn des Konsums im Beginn der Mätressenwirtschaft in der späten Neuzeit nach, von der der der Aufstieg des auffälligen Konsums entspränge. Wo Smith, Weber und so weiter noch gemäß der Theorie, das Angebot schaffe sich seine Nachfrage, den Konsumverzicht predigten und sich Keynes auch nur für staatlichen Konsum interessierte, rückte der Konsument unter den Neoliberalen zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Für Hayek war anders als noch für Smith, Ricardo und Konsorten der Konsum der Reichen nicht nur eine Garantie von Arbeitsplätzen für den Rest und Ungleichheit deswegen gut; er argumentierte, die Reichen seien Trendsetter und würden neuen Konsum ermöglichen, der dann billiger und für weite Teile erschwinglich werde. Ungleichheit sei deswegen unbedenklicher Motor ständiger Lebensstandardfortschritte und deswegen unbedenklich.

Kapitel 5, „Konsumtrisstesse und ungebremmste Affekte„, stellt dann die Folgen ins Zentrum. Vielmehr sei die freie Konsumentscheidung der demokratischste Akt überhaupt, noch viel demokratischer als Wahlen; wichtig sei deswegen eine Konsumentendemokratie, nicht eine politische. Dadurch entstünde ein sehr individualisiertes Weltbild, das Lepenies als den anhaltendsten und durchschlagendsten Erfolg des Neoliberalismus betrachtet; es verbiete ein Denken in kollektiven, gesamtgesellschaftlichen Kategorien und mache daher auch Verbote und Verzichte undenkbar. Vielmehr sei der altliberale „doux commerce“ durch die neoliberale „douce consommation“ abgelöst worden, die Affektkontrolle gerade ablehnt und dem affektgetriebenen Konsum die beherrschende Wirkung zuschreibt.

Das Fazit kommt zum Schluss, dass diese Entwicklung kein Naturgesetz war, sondern Ausdruck einer sehr erfolgreichen Meinungsbildung durch die Neoliberalen, die tiefgreifende Wirkung hinterlassen habe. Unter anderem mache sie es unmöglich, staatliches Handeln als legitim zu begreifen und irgendwelche steuernden Wirkungen, etwa auf die Klimakrise, zu akzeptieren.

Ich muss zugeben, ich war von der Struktur des Buches etwas verwirrt. So hatte ich nicht damit gerechnet, einen derart umfassenden Einblick in die Ideengeschichte des Liberalismus zu erhalten. Hier bricht in der Liebe für die Theorie sicherlich auch der Politikwissenschaftler durch. Wirklich überzeugt hat mich diese Struktur nicht: dadurch, dass Lepenies selbst kein Anhänger dieser Theorien oder des neoliberalen Weltbilds ist, erinnert mich seine Darstellung etwas an manche Rechte, die Marx lesen: durchaus intellektuell ehrlich, aber man wird nie das Gefühl los, dass die Fremdheit mit dem Gegenstand und die Ablehnung einiger prinzipieller Prämissen stets eine Art selektiven Lesens begünstigen würde. Nicht, dass die Zitate nicht so in den jeweiligen Werken stehen würden. Aber ich finde es zumindest selbst immer schwer, als Gegner einer Position diese darstellend zu vertreten. Ich kann das grundsätzlich; wie bei Lepenies ist das ja mein Job. Aber da sein Buch hier gleichzeitig explizit eine Gegenposition einnimmt, ist eine gewisse Schizophrenie nicht zu verleugnen.

Das wundert mich umso mehr, als dass die Menge an Theorie eigentlich nicht wirklich nötig scheint. Diese Einschätzung mag etwas unfair sein, weil meine eigene Erwartungshaltung eine andere war. Der Titel des Buches – „Verbot und Verzicht“ – deutet eigentlich eine Betrachtung von, nun, Verbot und Verzicht an, während sich das eigentliche Buch aber mit dem beschäftigt, was der Untertitel etwas missverständlich als die „Politik des Unterlassens“ bezeichnet: nicht eine Politik, die ein Unterlassen von Konsum fordert (wie man angesichts des „Verzichts“ im Titel denken könnte), sondern eine, die ein Unterlassen von Regierungshandeln fordert.

Das ist natürlich eine der unfairsten Kritiken, die man einem Buch machen kann: es behandelt nicht, was ich gerne gehabt hätte. Wer also eine kritische Annäherung an die neoliberale Theorie sucht, die einen Schwerpunkt auf der Betrachtung von Konsum und seiner Rolle für die Demokratie hat, wird sicherlich bedient. Auf eine gewisse Weise wirkt dieser Diskurs etwas aus der Zeit gefallen; ich habe solche Bücher in den 2000er Jahren viel gelesen, als der „Neoliberalismus“ (und vor allem der linke Widerstand dagegen) seine intellektuelle Hochzeit erlebte. Vielleicht kommt auch daher meine unterschwellige Aversion gegen diese Betrachtung.

Lepenies‘ Gedanken sind dabei grundsätzlich absolut lesenswert; meine vorherige Betrachtung reflektiert vor allem meinen subjektiven Zugang. Schließlich habe ich hier im Blog selbst schon wahrlich genug zum Thema Individualisierung als den großen Trend der letzten Jahrzehnte geschrieben, und Lepenies zeigt auf, wie es dazu kam und auf welchen intellektuellen Wurzeln er beruht. Es ist daher definitiv instruktiv zu sehen, wie jung der moderne Massenkonsum ist und dass er auch in den Wirtschaftswissenschaften erst seit relativ kurzer Zeit behandelt wird; das erklärt vielleicht auch, warum es dem progressiven Lager so schwer fällt, hier eigene Akzente zu setzen und es sich hauptsächlich in einer häufig nostalgischen oder idealistischen Abwehr-Reaktion definiert (man denke nur an die Degrowth-Bewegung).

Eine Lücke in Lepenies‘ Betrachtung scheint mir jedenfalls zu sein, wie sehr sich ein affektgesteuerter Konsum und ein rationaler, auf individuellen Konsumentscheidungen basierender Kapitalismus eigentlich sind. Denn wenn es Affekte sind, die Konsum steuern, und die Masse der individuellen Konsumentscheidungen, die das Wirtschaftsleben bestimmen, so kann dabei kein effizientes, rationales Wirtschaften entstehen. Dass Hayek und Friedman und ihre Jünger diese Widersprüche unter absolutistischen, ideologiegetriebenen Prämissen begraben – geschenkt, diese Leute waren mehr Ideologen als Wissenschaftler, was Lepenies ja auch herausarbeitet.

Aber dabei geht mir gerade die Unterscheidung zwischen den großen Ideologen und ideengeschichtlich relevanten Leuten, die in der Lage waren, den öffentlichen Diskurs und das öffentliche Bewusstsein maßgeblich zu beeinflussen, und der Wissenschaft etwas verloren. Hayek und Friedman sind noch Grenzgänger zwischen diesen Welten, aber spätestens eine Ayn Rand definitiv nicht mehr, und auch Ronald Reagan ist jetzt nicht eben als großer Akademiker aufgefallen. Die Wirtschaftswissenschaften selbst bieten ja ein viel komplexeres Feld, als es die Theorien der Neoliberalen darstellen; dass dies gegenüber den simplen Meistererzählungen kaum bekannt ist, ist ja offensichtlich. Aber das eine ist eben sehr gute Öffentlichkeitsarbeit, der man eine eigene entgegenstellen müsste. Und dazu leistet Lepenies leider (noch?) keinen Beitrag.

{ 20 comments… add one }
  • Thorsten Haupts 4. November 2025, 16:36

    Das Buch scheint mir ein ziemlicher Kappes zu sein?

    Erstens ist in einer liberalen Gesellschaft Freiheit der default und jedes Verbot begründungspflichtig – je einschneidender desto besser muss die Begründung sein. Das ist für derartige Gesellschaften normal!

    Zweitens ist der Rekurs auf den „Neoliberalismus“ hinreichend albern. Hayek und Mises et al waren ihrerseits eine Reaktion auf die Beliebtheit des totalitären Sozialismus in akademischen Kreisen nach dem ersten Weltkrieg, diese Beliebtheit lässt sich in Deutschland noch für die achtziger Jahre leicht nachweisen, auch wenn das heute gerne vergessen wird.

    Drittens ist die Zusammenmengung von Verbot und Verzicht nicht überzeugend. Verbote sind etwas, was notfalls mit staatlichen Zwangsmassnahmen durchgesetzt wird, Verzicht ist freiwillig und wurde wie wird individuell immer geleistet, um ein grösseres Ziel zu erreichen (z.B. einen Hausbau). Das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun.

    Und zu guter Letzt die uralte, bis auf den Knochen abgelutschte, linke Kritik am „Massenkonsumismus“. Jo, schlimm dass Leute sich was kaufen wollen (und nur im Kapitalismus auch kaufen können), was sie gerne haben wollen. Wie schön war doch die Zeit, als das nur 0,1% der Bevölkerung konnten – hach, das waren noch Zeiten …

    Nee, keine Anschaffungsempfehlung. Ähnlichem gequirlten Unsinn bin ich in den letzten 40 Jahren hunderte von Malen begegnet.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • CitizenK 4. November 2025, 18:15

      Ich finde es ja auch gut, dass Leute (also auch ich) sich Sachen kaufen können, die sie gern haben wollen. Ich hab noch die Zeit erlebt, als das nicht so war.

      Trotzdem: Sie machen es sich zu einfach.

      Ein wesentlicher Antrieb von Marktwirtschaft ist die Bedarfs-Weckung. Das findet sich schon in den Lehrbüchern der Kaufmännischen Berufsschule.
      Wieviel dann noch wirklich „haben wollen“ ist, kann man durchaus hinterfragen. Das sollten insbesondere Menschen tun, die beim politischen „Konsum“ gern Manipulation unterstellen („Wahlgeschenke“, „Bürgerbestechung“).
      Und selbst in der Marktwirtschaft können die Konsumenten nicht alles haben, was sie wollen – von Autos ohne Leuchten über gefährliche Chemikalien bis zu Waffen. Alles reguliert, also: Verbote.
      Das Buch von Lepenies mag schwach sein, Stefans Kritik an der Verleumdung der Grünen als „Verbotspartei“ ist sehr berechtigt.
      Das wurde ja aufgehängt an der Klima-Politik: Regulierung (Verbote!) statt Emissionshandel. Jetzt, nachdem die CO2-Preise wirklich greifen würden, wird schon massiv dagegen gehalten: Heizen und Autofahren wird zu teuer, kann man nicht machen. Stefan Sasse kann mal wieder sagen: Told you so.

      • Thorsten Haupts 4. November 2025, 22:09

        Wieviel dann noch wirklich „haben wollen“ ist, kann man durchaus hinterfragen.

        Tun Sie das. Wer wäre denn aus Ihrer Sicht characterlich gefestigt genug und immun gegen jegliche Versuchung, der Bevölkerung vorzuschreiben, was sie brauchen (soll) und was nicht? Die Bahn zum Totalitären wird da sehr schnell sehr abschüssig, weshalb ich das historisch klar kleinere Übel (Werbung=Bedarfsweckung) bei weitem vorziehe.

        Stefans Kritik an der Verleumdung der Grünen als „Verbotspartei“ ist sehr berechtigt.

        War schlicht nicht mein Thema, ich habe auf Stefans Buchbesprechung reagiert. Und Sie werden es meinem Elefantengedächtnis sicher nicht übelnehmen, dass ich noch genau weiss, mit welchen „fairen“ Argumenten Linke und Linksliberale gegen Bundeswehr, NATO, Kernkraftwerke, Kapitalismus, katholische Kirche oder die Hausfrauenehe vorgingen und -gehen. Politik ist eben keine Debatte nach den Regeln Oxforder Debattierclubs.

        Gruss,
        Thorsten Haupts

        • CitizenK 5. November 2025, 11:00

          „das historisch klar kleinere Übel (Werbung=Bedarfsweckung)“

          War bei mir auch so. Hat sich im Lichte neuerer Entwicklungen geändert: Plastikvermüllung der Meere, Boden-Zerstörung, Klimawandel.

      • Stefan Sasse 5. November 2025, 13:13

        Genau das.

    • Dennis 4. November 2025, 23:37

      Zitat Thorsten Haupts:
      „Und zu guter Letzt die uralte, bis auf den Knochen abgelutschte, linke Kritik am „Massenkonsumismus“.“

      Ihre Religion in Ehren, aber die Kritik gibt’s auch von rechts. Und immer dumm ist die Kritik auch nicht. Eigentlich ist es sogar ur-rechts, mindestens mal ur-konservativ, was nicht unbedingt dasselbe ist, voller Abscheu von den „Massen“ zu reden.

      Man denke z.B. an Ortega y Gassets „Aufstand der Massen“, an Heidegger etc. pp. oder Schelsky , der sich in den 50ern voller Abscheu über „materialistische Lebensgier“ und „ungehemmter individualistisch-egoistischer Genuss-Sucht“ echauffiert. Dieser Herr war mal NSDAP, fand in den 50ern die SPD ganz attraktiv, und ging auf die alten Tage wieder allmählich nach rechts. Konsum- und Kulturkritik changieren ständig zwischen links und rechts, was darauf hinweist, dass die L-R-Geschichte nicht viel bedeutet.

      Oder der Erhard, der im “ Wohlstand für alle“ die Dinge u.a. so sieht:

      “ Wir werden sogar mit Sicherheit dahin gelangen, daß zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer richtig und nützlich ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen, oder ob es nicht sinnvoller ist, unter Verzichtleistung auf diesen „Fortschritt“ mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen.“

      Fortschritt in Anführungszeichen – beim Erhard.
      Oder:
      “ Wenn der angestoßene Entfaltungsprozeß aber in dem Sinne verläuft, daß unser Volk neben dem unverzichtbaren Wert auf Sicherung materieller Lebensführung in steigendem Maße eine geistige oder seelische Bereicherung als nützlich und wertvoll erachtet, dann werden wir in ferneren Tagen auch zu einer Korrektur der Wirtschaftspolitik kommen müssen. Niemand dürfte dann so dogmatisch sein, allein in der fortdauernden Expansion, d.h. im Materiellen, noch länger das Heil erblicken zu wollen.“

      Da denkt der Erhard also bereits anno 1957 an post-materielle Werte, nur dass das damals noch nicht so hieß; das ist doch was.

      • Thorsten Haupts 5. November 2025, 00:43

        Ihre Religion in Ehren, ???

        aber die Kritik gibt’s auch von rechts.

        Stimmt, habe ich für eine knackige Polemik allerdings unterschlagen müssen 🙂 .

        • Dennis 5. November 2025, 08:27

          Gut, ich hab übrigens gar nichts gegen Polemik 🙂

      • CitizenK 5. November 2025, 10:58

        @ Dennis
        Bin dankbar für Dein Elefantengedächtnis. In meinem war nur noch der Hohn über Erhards „Maßhalteappelle“. Stell Dir vor, Habeck hätte so etwas gesagt!
        Verwunderlich, dass Erhard-Fan Wagenknecht die noch nicht ausgegraben hat.

        • Stefan Sasse 5. November 2025, 13:56

          Das ist ja das Spannende und IMHO auch die große Erkenntnis aus dem Buch: dass das eine neue Tendenz ist, die mit dem klassischen Liberalismus an entscheidenden Stellen bricht.

        • Dennis 5. November 2025, 15:50

          Zitat citizen
          „Bin dankbar für Dein Elefantengedächtnis.“

          Das isses eigentlich nicht. Das Ding gibt’s ja online zum nachschlagen^.

          Die Maßhalte-Sache stammt von 1962 und bezog sich auf die „überhitzte Wirtschaft“, wie es hieß. Das wurde damals als Problem betrachtet, ein Problem, das man politischerseits heutzutage vermutlich gerne hätte.

          O-Ton:
          „Noch ist es Zeit, aber es ist höchste Zeit, Besinnung zu üben und dem Irrwahn zu entfliehen, als ob es einem Volk möglich sein könnte, für allen öffentlichen und privaten Zwecke in allen Lebensbereichen des einzelnen und der Nation mehr verbrauchen zu wollen, als das gleiche Volk an realen Werten erzeugen kann oder zu erzeugen gewillt ist.“

          Das hat natürlich wiederum konservativen Einschlag und war wesentlich auf die Gewerkschaften gemünzt und deren angeblich übertriebene Forderungen. Irgendwie links war er nu auch nicht^, eher eine Art politischer Sonderling, irgendwo zwischen dem damals noch angesagten Korporatismus und dem noch nicht so arg angesagten, aber zunehmenden Privatismus zu verorten.

    • CitizenK 6. November 2025, 07:30

      „gequirlten Unsinn bin ich in den letzten 40 Jahren…“

      Dann sind Sie wahrscheinlich auch mit dem „Hidden Persuaders“von Vance Packard in Berührung gekommen. Wie hat man das beim RCDS aufgenommen?

  • Dennis 5. November 2025, 00:19

    Zitat Stefan Sasse:
    „Nach Albert Hirschmans rhetorischer Analyse erklärt Lepenies die zentralen Unterlassungsdiskurse. Diese nehmen ihren Ursprung in der Französischen Revolution und der auf sie folgenden Reaktion.“

    Oh, da kenne ich aber noch ältere Geschichten: Die Bibel (schon etwas länger auf dem Buchmarkt) ist voll gepackt mit Verboten aller Art. Es beginnt (1. Mose 3/der Fall den Menschen) mit einem folgenschweren Unterlassungsdiskurs, der – von ganz oben angeordnet – unten in neo-liberaler Art, also affektgesteuert und vergnügungssüchtig, nicht beachtet wurde, und seitdem – so heißt es – ist der Karren der Menschheit im Dreck und es besteht Erlösungsbedarf.

    Die Idee einer Politik „aus dem Geiste des Unterlassens“ ist jetzt also nicht sooooo neu. Die Platte wird immer wieder neu aufgelegt, was ja kein Wunder ist; es mag immer Gründe geben und unsere „affektgesteuerten“ Wünsche vergehen nicht.

    Zitat Stefan Sasse:
    „Denn wenn es Affekte sind, die Konsum steuern, und die Masse der individuellen Konsumentscheidungen, die das Wirtschaftsleben bestimmen, so kann dabei kein effizientes, rationales Wirtschaften entstehen“

    Okay, schlimmer Verdacht meinerseits: Auch das angeblich Effiziente und insbesondere das hoch-heilige Rationale könnte am Ende des Tages affektgetrieben sein. Man muss nur das A-Wort vermeiden. Meine Affekte heißen dann nicht so. Sie heißen „rational“.

    Zitat Stefan Sasse:
    „Dass Hayek und Friedman und ihre Jünger diese Widersprüche unter absolutistischen, ideologiegetriebenen Prämissen begraben – geschenkt. “

    Ja, klar; aber dieses Geschenk muss man immer machen. Ideologie heißt ja, Widersprüche zu begraben. das ist das Angenehme an Ideologien.

    Aber wenn Ökonomisten aus Widersprüchen nicht rauskommen, gibt’s da ja auch noch die „unsichtbare Hand“ und andere magische Formeln wie z.B. erforderlichenfalls das angeblich mögliche Wachstum bis in alle Ewigkeit (hat der Erhard nebenbei bemerkt übrigens kritisch gesehen) oder auch Marxens „wissenschaftlich“ prognostizierte „Tendenz der Geschichte“, die sich eines schönen Tages revolutionär offenbaren wird, was bis zur Stunde allerdings noch nicht geschehen ist. Bisher waren komischerweise alle Sozialismen „fehlerhaft“, wie häufig eingeräumt wird. Womöglich gilt das sogar für alle Ismen 🙁

    • cimourdain 5. November 2025, 09:49

      Der „Urkonsum“ in Genesis 3 ist ein Musterbeispiel, wie verschwommen die Grenzen zwischen affektgesteuert und rational bzw. im Nachhinein rationalisiert verlaufen. Dieser fand ja nicht zum Vergnügen statt, sondern zum Wissenserwerb „Erkennen, was gut ist und Böse“ und darauf aufbauender Selbstoptimierung „Werdet sein wie Gott“.

      Und auch ein anderer Punkt ist dort sichtbar: Durch Befriedigung eines Bedürfnisses werden weitere geweckt „Sie erkannten, dass sie nackt waren“, die nur durch weitere Anstrengung erfüllt werden können „Deshalb flochten Sie Schurze aus Feigenblättern“.

    • Stefan Sasse 5. November 2025, 13:50

      Jein. Ich meine, die meisten Leute sind sich schon im Klaren darüber, dass viele ihrer Konsumwünsche nicht „rational“, sondern Bedürfnisgesteuert sind. Das ist ja auch nichts Schlimmes.

      Und ja, das ist mein Punkt: diese Ideologien taugen alle wenig.

  • cimourdain 5. November 2025, 09:34

    Randbemerkung R1) Ob Benjamin Franklin wirklich das Ideal der protestantischen Arbeits- und Verzichtsethik darstellte, könnte man aus puritanischer Sicht gut diskutieren. Zum einen hatte er sich schon mit 40 aus dem operativen Geschäft seines Druckerbetriebs zurückgezogen und bezog nur noch eine (großzügige) Rente aus dem Gewinn. Zum anderen war er in seiner Pariser Zeit (laut John Adams) als Lebemann, Bonvivant und „Influencer“ unterwegs.

    R2) Friedmanns Sendung hieß „Free to Choose“ (nicht „Right to…“), und lief auf PBS, einem Sender, den du – wäre er deutsch- nicht als „staatlich“ sondern „öffentlich-rechtlich“ bezeichnen würdest.

    R3) Auffällig: Der Begriff „Kapitalismus“ kommt in deiner Besprechung nur einmal vor. Der verbotsähnliche Verzicht auf altlinkes Vokabular scheint zu funktionieren.

    Überlegung Ü1) Der Titel ist tatsächlich ein „Etikettenschwindel“, Lepenies liefert kein Argument FÜR mehr staatliche Regulierung und auch keine Positivbeispiele, sondern versucht die Gegenargumente zu relativieren.

    Ü2) Generell bleibt das Buch in deiner Besprechung sehr im abstrakt-ideologischen Rahmen, mit Beispielen hat er es nicht so.

    Ü3) Sonst wäre ihm aufgefallen, dass die „Mätressenwirtschaft“ der frühen Neuzeit ein Randphänomen war verglichen mit der Tatsache, dass regelmäßig Schiffsladungen voll mit Zucker, Tabak und Tee nach Europa und zu einem breiten Publikum kamen.

    Ü4) Mir scheint, dass insgesamt der Aspektkomplex „Angebot – Verkauf – Werbung“ mit den gewaltigen Ressourcen dahinter im Buch stiefmütterlich behandelt wird – sonst würde Lepenies vielleicht weniger von „freier, demokratischer Konsumentscheidung“ sprechen.

    Ü5) Wenn man die Perspektive etwas verschiebt, so liegt eigentlich dem liberalen Staatsverständnis genau „Verbot und Verzicht“ zugrunde:
    „Verzicht“ auf regulatorische Herrschaftswillkür, der sich in „Verboten“ von Regierungshandeln und Gesetzgebung außerhalb der verfassten Ordnung auswirkt.

    • Stefan Sasse 5. November 2025, 13:55

      R1) Ja.
      R2) Sorry. Ich korrigiere.
      R3) Total.
      Ü1) Genau, das war ja meine Kritik.
      Ü2) Ich kann ja auch nicht da ganze Buch wiedergeben, dafür musst du es dann schon lesen 😀 Der hat durchaus Beispiele.
      Ü3) Ja, ich glaube, da war die unterschwellige Polemik wichtiger 😀
      Ü4) Genau das war meine Kritik mit den Affekten.
      Ü5) Good point.

      • cimourdain 5. November 2025, 15:26

        Ü3) Das ist spannend, weil es implizit die Sexualmoral anspricht (die erst einmal nichts mit Konsumgütern zu tun hat). Damit sind wir aber sehr nahe an dem Gedanken der Dekadenz (gerne auch spätrömisch), dem der Anstand und Verzicht übende „klassische“ Liberale entgegensteht. Weitergedacht könnte man damit die „neoliberalen“ Libertären als Fortsetzung der französischen Libertins des 18. Jahrhunderts (z.B. de Sade) mit anderem (nämlich ökonomischen) Fokus betrachten.

        Ü4) Der gleiche Widerspruch besteht auch bei rational-egoistischen Akteuren bei der liberalen Wirtschaftsordnung. Die klassischen Liberalen haben dazu quasi-theologische Hilfskonstruktionen ersonnen: Bienenfabel, unsichtbare Hand, Trickle-down…
        Mir ging es aber darum, dass es auch ohne jede Ideologie eine Erziehung zur Konsumgesellschaft gibt, weil hochbezahlte Profis dafür sorgen, dass die Wirtschafts-Bürger das Konsumenten-Dasein lernen.

        • Stefan Sasse 5. November 2025, 17:41

          Ü3: Oh, völlig. Diese Abgrenzung gegenüber den ausschweifenden Vergnügungen des Adels gehört ja elementar zum früheren Liberalismus.

          Ü4: Schon, aber auf die Idee musst du ja erstmal kommen. Die ersten 150 Jahre des Kapitalismus gab es das ja eben nicht.

        • CitizenK 6. November 2025, 07:23

          In der (kaufmännischen) Berufsschule lernen sie in BWL, wie sie als Mitarbeiter im Marketing die Kunden zum Kauf animieren sollen (AIDA-Modell) und in Sozialkunde dann, wie sie sich als Käufer dem entziehen können. 🙂

Leave a Comment

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.