Einer der faszinierenden (und ehrlich gesagt auch milde erschreckenden) Bestandteile des Älterwerdens ist die Feststellung, dass der eigene Referenzrahmen von einer jüngeren Generation nicht mehr geteilt wird und diese bei zunehmend mehr Aspekten nicht mehr weiß, wovon man eigentlich spricht. Meine Elterngeneration (spätestens) dürfte ein Leben ohne Elektrizität und fließend Wasser nicht nachvollzogen haben können, während ich selbst mir nicht vorstellen konnte, dass es einmal Familien ohne Farbfernseher gab. Ich habe mich deswegen entschlossen, diese unregelmäßige Artikelserie zu beginnen und über Dinge zu schreiben, die sich in den letzten etwa zehn Jahren radikal geändert haben. Das ist notwendig subjektiv und wird sicher ein bisschen den Tonfall „Opa erzählt vom Krieg“ annehmen, aber ich hoffe, dass es trotzdem interessant ist. Als Referenz: ich bin Jahrgang 1984, und meine prägenden Jahre sind die 1990er und frühen 2000er. Was das bedeutet, werden wir in dieser Serie erkunden. In dieser Folge geht es um die Zeit, in der „Reform“ das politische Schlagwort war.
1997 hielt der damalige Bundespräsident Roman Herzog eine Rede, die als „Ruck-Rede“ Berühmtheit erlangt hat wie wohl nur Weizsäckers Rede vom „Tag der Befreiung“ vom 8. Mai 1985. Mit der Losung „es muss ein Ruck durch Deutschland gehen“ mahnte er nicht nur die Politik, sondern auch die Verbände und die ganze Gesellschaft dazu an, Opfer zu bringen und sich zu großen Veränderungen bereit zu finden, die auch schmerzhaft sein müssten. Angesichts der drängenden Probleme im Land, die unter dem Begriff des „Reformstaus“ verschlagwortet wurden, sei dies unabdinglich. Herzog hatte das Glück, kein Grüner zu sein, sonst hätte man ihm Moralisieren mit dem erhobenen Zeigefinger vorgeworfen. Aber er war ein Bürgerlicher und schlug in eine damals populäre Kerbe. Es sollte dann aber nicht die CDU sein, die bei den Wahlen 1998 noch einmal mit Helmut Kohl antrat, der nicht eben eine Ikone der Veränderung war, sondern eine rot-grüne Bundesregierung, die mit Schlagworten wie „nicht rechts oder links, sondern vorn“ oder dem Wahlkampfmotto „Innovation und Gerechtigkeit“ Tony Blair und Bill Clinton nachfolgte.
All das weiß ich freilich nur aus den Geschichtsbüchern. Ich habe den Wahlkampf 1998 am Rande mitbekommen, aus Gesprächen der Eltern oder einem Fernsehspot (ich erinnere mich noch lebhaft an die Star-Trek-Persiflage, in der Kohl zu schwer/alt/rückständig ist, um wegteleportiert zu werden). Aber ansonsten war ich 14 und an anderen Dingen interessiert. Auch bei meiner ersten eigenen Bundestagswahl 2002 spielte das Reformenthema für mich noch keine Rolle; es war zu abstrakt, zu wenig in meiner Lebenswirklichkeit angekommen. Entsprechend nahm ich auch die Debatten um die Agenda2010 und die Einführung von Hartz-IV wahr: ich war wesentlich interessierter an der Frage des Irakkriegs. Das änderte sich allerdings um 2004 mit einer stärkeren Politisierung – die dann auch recht schnell aus einem vorher eher unbestimmten politischen Spektrum nach links ausschlug – deutlich. Vor allem allerdings brach der Reformdiskurs mit dem beginnenden Studium 2005 deutlich in mein eigenes Leben.
Ich muss an dieser Stelle deutlicher machen, was ich meine, wenn ich von „Reformdiskurs“ oder der „Reformzeit“ spreche. Das Wort „Reform“ war in den 2000er Jahren ubiquitär. Es besaß auch seine eigene Konnotation. Wann immer jemand in dieser Zeit von „Reform“ sprach, war damit eine Streichung oder Kürzung gemeint. Der Abbau von „Besitzständen“ (ein anderes Schlagwort jener Zeit, gerne in Kombination mit „liebgewonnenen“), das „enger Schnallen“ des metaphorischen Gürtels, das Streichen von Schutzrechten und Ansprüchen. Auch Wörter wie „Flexibilisierung“ hatten einen bedrohlichen Klang, denn sie meinten nie Flexibilität für die Arbeitnehmenden, sondern für die Arbeitgebenden, die ihr Personal flexibler – und damit mehr in das Privatleben einschneidend – einsetzen und bezahlen konnten. Und „flexible“ Bezahlung meinte immer: Flexibilität nach unten.
Ich erfuhr diese Reformzeit auf zwei Ebenen. Die eine war die Ebene des politischen Bürgers, also des Diskurses, der sich entspannte. Zeitungsartikel, Talkshows (wobei ich die damals schon nicht geschaut habe und vor allem aus der schriftlichen Rezeption kenne), Bücher, Blogposts. Überhaupt, Blogs. Die 2000er waren die große Zeit der Blogs. Praktisch alle hatten einen. Blogs hatten eine Blogroll, auf der man sich gegenseitig verlinkte. Die andere Ebene war die eines Gelegenheits-Arbeitnehmers. Ich musste mein Studium zwar nicht komplett finanzieren, aber zumindest zu einem Teil. In diesem Kontext erfuhr ich den neuen, flexiblen und reformierten Arbeitsmarkt ziemlich unmittelbar, aber dazu später mehr.
Ich habe 2004 angefangen, regelmäßig den Spiegel zu lesen. Bereits zwei Jahre später, 2006, hatte ich von den „Systemmedien“ die Schnauze voll und war glühender Anhänger der NachDenkSeiten. Ich hatte Albrecht Müllers Buch, „Die Reformlüge„, gelesen. Müller hatte es 2004 geschrieben, und es ist eine Art Startschuss dieser Systemkritik von links aus den Teilen der respektablen Linken, sprich: der Sozialdemokratie. Ich würde behaupten, dass ohne Leute wie Müller, seine NachDenkSeiten, seine Bücher und das Projekt der Schaffung einer „Gegenöffentlichkeit“, wie er es nannte, die Partieneugründung der LINKEn nicht ganz so erfolgreich gewesen wäre.
Das Konzept der „Gegenöffentlichkeit“ beruhte auf einer einfachen Idee: die Medien seien alle gleichgeschaltet, was vor allem am Einfluss der Eliten liege. In diesem Fall waren sie alle dem Regime des Kapitalismus verfallen, das Meinungsspektrum weitgehend von Springer, Bertelsmann und Co dominiert (die Rolle, die Bertelsmann damals spielte, ist aus heutiger Sicht kaum mehr nachvollziehbar). Deswegen war es notwendig, eine eigene Öffentlichkeit aufzubauen, die sich diesem „Meinungskartell“ entgegenstellte. Die NachDenkSeiten erreichten zwar nur einige Zehntausend, aber es war eine ziemlich laute und vernetzte Gruppe. Jedes Interview mit Sahra Wagenknecht oder Oskar Lafontaine wurde endlos rezipiert, die SPD in Bausch und Bogen verdammt, alternative Ökonom*innen zitiert und interviewt. Kurz, es war eine eigene Bubble, und ich war mittendrin.
Ich hatte 2006 meinen eigenen Blog gegründet, allerdings nicht so sehr wegen Müller – auf den traf ich erst später – sondern inspiriert von Arne Hoffmanns „Genderama„. Hoffmann ist quasi der erste halb-prominente Maskulist in Deutschland, und ich hatte sein Buch „Sind Frauen bessere Menschen?“ gelesen und war beeindruckt und konvertiert. Das Maskulismus-Thema und wie ich davon wegkam sollen hier aber nicht Thema sein (siehe meine Artikelserie „Ich lag falsch„). Sehr schnell dominierte aber das Thema der Reformzeit und der Gegenöffentlichkeit. Das alles änderte sich mit der Bundestagswahl 2009, aber das ist eine andere Geschichte, die ich ebenfalls schon erzählt habe.
Das Problem in der Bewertung jener Zeit ist, dass es tatsächlich einen medialen Konsens gab. Ob Spiegel, Welt, FAZ oder ZEIT, überall wurde die Trommel für weitere Reformen geschlagen. Nie war genug. Die Agenda2010 konnte nur der Anfang sein. Am schlimmsten war die Zeit der Großen Koalition 2005-2009 (tatsächlich noch groß), in der dieser fiebrige Diskurs seinen Höhepunkt erreichte. Die SPD verbog sich bis zur Unkenntlichkeit, führte die Rente mit 67 ein, aber die Reaktion darauf war die Forderung der Rente mit 70. Jede Kürzung von Sozialleistungen war begleitet von der Forderung nach weiteren Kürzungen und der Erklärung, warum die aktuellen nicht ausreichten. Die Talkshows in ZDF und ARD reproduzierten permanent den Konsens. Es gab einen Gast (gerne Wagenknecht oder Lafontaine) der gegen die Reformpolitik argumentierte, alle anderen Gäste und die Moderation dafür.
Warum betone ich das? Weil es normal ist. Deswegen habe ich auch so wenig Geduld mit denjenigen, die aktuell (frühe 2020er Jahre) den etwas linkeren medialen Konsens so harsch kritisieren: ich habe jahrelang das Gegenteil erlebt. Ich weiß, wie es ist, ständig gegen einen gesellschaftlichen Konsens zu sein, permanent kritisiert und angegriffen zu werden, permanent als linskradikal abgestempelt zu werden, die eigenen Ansichten als „Populismus“ verworfen und nicht ernstgenommen zu bekommen. Die besorgten Bürger*innen gab es damals auch, die waren auf den Montagdemos. Und mussten sich von allen Medien und den Politiker*innen (moralisierend, mir erhobenem Zeigefinger) belehren lassen, dass das eine Verhöhnung der Bürgerrechtsbewegung in der DDR und der Opfer der Diktatur war und sowieso ohne Einsicht in die Erfordernisse der Wirklichkeit. Ab 2013 begann der gesellschaftliche Konsens deutlich in die andere Richtung zu rutschen.
Und dann war da Faktor der ökonomischen Umstände, also wie man die Wirklichkeit erfuhr. Zumindest, wenn man von den Reformen betroffen war, was ja nicht alle waren; niemals betreffen ökonomische Umstände alle. Aber ich war betroffen. Ferienjobs und Nebenjobs waren notwendig alle für unqualifizierte Kräfte. Ich hatte nicht das Glück, wie etwa Studierende der Ingenieurswissenschaften, Werkstudent werden zu können. Entsprechend habe ich eine ganze Reihe von Arbeiten am unteren Ende des Einkommensspektrums gemacht. Die Löhne waren schlecht; 2009 etwa habe ich für 5,12€ die Stunde Pizza ausgeliefert (und wir wurden noch dazu massiv um Arbeitszeit betrogen…). 7€ die Stunde waren ein guter Lohn. Die Forderung der LINKEn, einen Mindestlohn von 8€ einzuführen, war für mich ein absoluter Traum; meist bekam ich deutlich weniger. Das Geld, das meine Schüler*innen heute nebenbei verdienen können, einfach weil es einen Mindestlohn gibt, war für mich utopisch. Und neben mir arbeiteten oft Leute, die nicht nebenbei ein Studium, sondern hauptberuflich ihr Leben damit finanzierten.
In dieser Stimmung kam es sogar zu Nominallohnkürzungen. Ich erinnere mich noch, wie ich 2006 für eine Industriereinigungsfirma arbeitete (Samstag morgens von 6 bis 10 Uhr), die die Stundenlöhne um 50 Cent reduzierte; die Wettbewerbslage, Sie verstehen sicher. Dazu die Schwierigkeit, überhaupt Arbeit zu finden; wir waren weit von Vollbeschäftigung entfernt. Am schlimmsten war es 2009, als die Finanzkrise durchschlug und die üblichen Jobs nicht mehr zu bekommen waren. Das erste und einzige Mal in meinem Leben konnte ich von einem überzogenen Konto nichts mehr abziehen und hatte noch Monat am Ende des Geldes übrig, ohne zu wissen, wie ich den Kühlschrank füllen sollte.
Ich will nicht zu sehr auf die Tränendrüse drücken, aber es war keine schöne Zeit. Für mich war das gesellschaftliche Klima war kalt, aggressiv, abwertend. Es gab einen medialen und gesellschaftlichen Konsens, und ich stand auf der anderen Seite. Heute, mit einem komfortablen Einkommen, das von der Konjunktur weitgehend entkoppelt ist, fällt es wesentlich leichter, mit einiger Distanz auf Diskussionen zur Sozialpolitik zu blicken. Damals war es existenziell. Die Erinnerung daran ist immer etwas, das für Perspektive sorgt.
Ich habe die Zeit anders erlebt. Für mich war es derselbe Reformstau wie in den 90er Jahren. Kein wichtiges Problem wurde angegangen, wir haben heute dieselben Schwierigkeiten wie vor 30 Jahren.
Übrigens hat sich im besagten Zeitraum die Armutsquote stetig erhöht:
https://www.der-paritaetische.de/themen/sozial-und-europapolitik/armut-und-grundsicherung/armutsbericht/#gallery-23666-1
Danke. Das geht und ging bei dem aufgeregten Gekreische um Kleinigkeiten (Stefan ist nicht gemeint) immer unter – ausser Hartz IV gab es keine nennenswerten Reformen und Hartz IV selbst wurde teurer als die Sozialhilfe, die es ablöste.
Man darf halt auch nicht die Gesamtstimmung vergessen, die ich beschrieben habe, und das volkswirtschaftliche Umfeld.
H4 löste vor allem die Arbeitslosenhilfe ab, die mit ihren Leistungen sehr viel teurer war, und steuerfinanziert. Das war das,Hauptmotiv. Jedenfalls hat mir das ein SPD Abgeordneter so erklärt.
Klar, das hat Schröder in seiner Regierungserklärung auch explizit gesagt: „Wir brauchen deshalb Zuständigkeiten und Leistungen aus einer Hand. Damit steigern wir die Chancen derer, die arbeiten können und wollen. Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe – auch das gilt es auszusprechen –, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird.“
Das widerspricht ja der Wahrnehmung nicht. Ich kann sehr viel machen, ohne das eigentliche Problem anzugehen.
Klar, das ist der Hauptmodus der deutschen Politik.
„Reformzeit“ würde ich die Epoche dennoch keinesfalls nennen.
Ich nenne sie wegen der Rhetorik so.
@ Tim 7. Oktober 2024, 09:48
„Reformzeit“ würde ich die Epoche dennoch keinesfalls nennen.
Ich auch nicht. „Herumgedruckse-Zeit“ fände ich passender. Aber selbst das bisschen, was in der Zeit reformiert wurde, haben die Regierungen Merkel wieder rückgängig gemacht.
@ Tim 7. Oktober 2024, 08:01
Ich habe die Zeit anders erlebt.
Ich auch.
Für mich war es derselbe Reformstau wie in den 90er Jahren. Kein wichtiges Problem wurde angegangen, wir haben heute dieselben Schwierigkeiten wie vor 30 Jahren.
Ja. Zugegeben – ich hätte gerne gesehen, wie sich die Regulierung der Banken nach Lafontaine entwickelt hätte. Aber sonst?
Schwer vorstellbar heute, wie sehr sich die deutsche Wirtschaft der 80er und 90er Jahre von der heutigen Zeit unterscheidet. Dominierend waren wirklich große Unternehmen – Bergbau, Stahl, Autos, Chemie etc. – mit vielen Beschäftigten. Die forderten in guten Zeiten kräftige Lohnerhöhungen, aber in Krisenzeiten war niemand bereit, Abstriche zu machen. Also gab es in solchen Phasen auch immer wieder Entlassungswellen.
Standard war damals: Man wartet, bis das Arbeitsamt einen Job anbot, der mindestens genauso viel Geld einbrachte wie der andere (= liebgewonnener Besitzstand) , überlegte sich, ob man dahin wollte, und wenn nicht, ließ man sich weiter bezahlen.
Zu den ständig steigenden Sozialausgaben kann man sich beim statistischen Bundesamt schlaumachen. Bestenfalls ist mal die Geschwindigleit, mit der Sozialausgaben wuchsen, etwas zurückgegangen, mehr nicht.
Ich bin Jahrgang 1966 und habe die Zeit anders in Erinnerung*
Bis Ende 2003 war ich ein normaler Angestellter und verlor dann meinen (als „sicher“ gedachten) Arbeitsplatz weil mein damaliger Arbeitgeber in Turbulenzen geriet. Das hatte dann sehr starke persönliche Konsequenzen weil ich z. B. ganz klassisch Wohnungseigentum erworben hatte und auch sonst so gelebt hatte wie man eben so lebt mit „sicherem“ Einkommen.
Ich durfte dann Ende 2003, Anfang 2004 die Leistungen des Arbeitsamtes erleben, ich war dann auch kurz von einer Arbeitnehmerüberlassungs-Firma beschäftigt.
Da ich als IT-Quereinsteiger nicht in das Amts-Schema passte, wurde mir eine Arbeitsvermittlung verpasst, die so was von daneben war, dass ich nur noch k… konnte – und leider hatte das Arbeitsamt durch Hartz4 die Macht das durchzusetzen, ich kam glücklicherweise von allein da raus.
Das Arbeitsamt halte ich nach wie vor – in seiner damaligen Form, es dürfte sich nichts geändert haben – für Arbeitsvermittlung ungeeignet. Es sollte das lassen. Die Leute sollen sich selbst Arbeit suchen, da gibt es im Internet und sonst wo bessere Kanäle.
Ich wurde durch diese Erlebnisse noch mehr darin bestärkt, dass die Menschen sich selber um ihr Schicksal kümmern sollen, keine staatlichen Stellen wie das Arbeitsamt.
Das Ganze hat dann dazu geführt, dass ich seit 2004 selbständiger Softwareentwickler bin und gegenüber staatliches Stellen die irgendwas vorschreiben oder regulieren wollen was in das Privatleben eingreift, sehr misstrauisch gegenüber stehe.
Ich habe damals die „gesellschaftliche Debatte“ verfolgt und mir waren die „linken“ Rezepte mehr und mehr zuwider, da diese – sehr verkürzt – meiner Meinung nach entweder unfinanzierbar waren, von einem falschen Menschenbild ausgegangen sind oder beides.
*Erinnerung ist natürlich nicht tatsächliches Erleben sondern ein Filter 😉
Zumindest sollte die Arbeitsvermittlung der BA ein freiwilliges Angebot sein.
Ich hab da auch eine Geschichte dazu: ich war im Oktober 2011 mit Studieren fertig. Im Januar 2012 begann mein Referendariat, den entsprechenden Vertrag hatte ich bereits fertig unterschrieben mit Stelle und allem. Ich musste nur für drei Monate überbrücken. Die Sachbearbeiterin bestand darauf, dass mein H4-Antrag eine Bewerbungsmappe enthielt. Ich brauchte keine, ich hatte ja nen Job, also war die nicht so der Hit. Daraufhin verknackte sie mich zu einem zweiwöchigen Bewerbungskurs. Die erste Frage der Kursleiterin dort war: „Was tun Sie hier?“ Habe mir dann zwei Wochen den Arsch platt gesessen und viele Blogartikel geschrieben, neben funktionalen Analphabeten. Die Kursleiterin bat mich, ihr quasi als zweiter Kursleiter zur Seite zu stehen. Aber hey, ich war für will nicht wissen wie viel Geld für zwei Wochen aus der Statistik raus und musste jeden Tag zu einem nutzlosen Kurs antanzen.
Ein Bekannter macht sich gerade im fortgeschrittenen Alter selbstständig. In Zuge dessen erhält er Unterstützungsleistungen und Zuschüsse von der Arbeitsagentur und muss einen Business-Plan einreichen, der von Spezialisten der Arbeitsagentur geprüft wird.
Die Arbeitsagentur. Prüft. Einen Business-Plan.
Realsatire, aber leider sehr teure.
Dient sowas nicht vor allem der Kontrolle dass ueberhaupt etwas getan wird und das nicht kompletter Unsinn ist? Ich mein, all die Regeln die du als Empfaenger einhalten musst gehen ja von dem stereotypen faulen, unqualifizierten Arbeitslosen aus. Und die Regeln sind halt nicht allzu flexibel, so dass dann auch Leute wie VD, Stefan, oder dein Bekannter diesen folgen muessen.
Ich hatte damals einen Zuschuss für den Anfang des Selbstänmdigseins beantragt, da musste auch ein Businessplan vorgelegt werden, den hat sich aber die IHK angesehen (wenn ich mich richtig erinnere).
Die kennen sich damit auch besser aus, denke ich.
Ja, allerdings ist diese ganze Gründungsunterstützung Unsinn. Quatsch wird durch zusätzlichen Quatsch nicht plötzlich zu einer guten Idee.
Viele Deutsche scheinen zu glauben, dass man für eine Selbstständigkeit vor allem einen Plan und Zuschüsse braucht. Wirklich fast alle Neugründungen, die ich in den letzten sagen wir rund 20 Jahren aus der Nähe beobachtet habe, sind auf diesem Gedanken gebaut worden und fast alle sind gescheitert.
Wenn man all diese Programme von heute auf morgen beendet, wird das Land dadurch kein bisschen weniger innovativ.
Naja, einen Plan sollte man schon haben 😉
Mal ne kleine Verstaendnisfrage (auch an VD): Was ist diese Gruendungsunterstuetzung im Detail eigentlich? Ist das als gewisse Anschubsfinanzierung gedacht oder eher ein Spezialfall der Arbeitslosen-/Sozialhilfe um die Anlaufzeit zu ueberbruecken?
Das hat sich im Laufe der Zeit sehr geändert. Es gab Anfang der 2000er einen recht unkomplizierten Gründungszuschuß der ausgezahlt wurde damit man die erste Zeit ohne Einkommen in der Selbständigkeit überbrücken konnte.
Das war dann aber wohl zu unkompliziert, das wurde dann aber mit immer mehr Regeln überfrachtet … die aktuellen Bestimmungen sind hier: https://www.arbeitsagentur.de/arbeitslos-arbeit-finden/arbeitslosengeld/gruendungszuschuss-beantragen
Vielen Dank. Ueber Details laesst sich natuerlich immer streiten, aber grundsaetzlich scheint mir die Idee, Arbeitslose die sich selbststaendig machen wollen weiter finanziell zu unterstuetzen bis sie tatsaechlich geneugend selbst verdienen und dann auch vorher zu ueberpruefen, dass sie es ernst meinen und nicht kompletten Unfug vorhaben, durchaus sinnvoll.
@ schejtan 7. Oktober 2024, 11:32
Was ist diese Gruendungsunterstuetzung im Detail eigentlich?
Ich wäre nach 12 Monaten Arbeitslosigkeit auf Sozialhilfe-Niveau gefallen. So bekam ich 6 Monate länger volles Arbeitslosengeld, danach nichts mehr.
Danke. Und wenn es sich letztendlich um eine Verlaengeriung des ALGs handelt um die ersten Monate der Selbststaendigkeit zu ueberbruecken: Findest du es dann nicht sinnvoll, dass da auch ueberprueft wird, ob die Leute sich auch ernsthaft selbststaendig machen wollen und nicht einfach nur laenger das ALG beziehen wollen?
@ schejtan 7. Oktober 2024, 17:32
Findest du es dann nicht sinnvoll, dass da auch ueberprueft wird, ob die Leute sich auch ernsthaft selbststaendig machen wollen und nicht einfach nur laenger das ALG beziehen wollen?
Ja, durchaus. Aber bitte gerne kompetent. Wie von Tim schon geschrieben, wäre einiges an Wissen erforderlich, um Erfolg zu haben. Das wird aber nicht vermittelt, man will ja die Leute nur aus der Statistik kriegen.
Ich bin mit meiner Selbstständigkeit letztendlich gescheitert, weil mein Wissen nicht breit genug war. Technisches Know-how bis zum Abwinken, das kaufmännische hat meine Frau mit links nebenher gemacht, aber ich habe zu wenig Kunden gewinnen können. Die Kalt-Akquise (also aktiv auf Menschen zugehen, die ich noch nicht kannte, um ihnen zu sagen „werde mein Kunde“ oder „ich bin der Beste, um Dein Problem zu lösen“) war mir immer peinlich. Ich stelle mich nicht gerne ins Schweinwerferlicht, erst recht nicht, wenn ich den selbst mitgebracht habe. Und selbstbewusstes Auftreten ist natürlich einfacher, wenn Du dem Kunden mit dem Namen einer bekannten Firma im Rücken gegenüber trittst.
Mein zweites Problem war die Preisfindung für meine Leistungen. Ich tendierte dazu, die Preise für meine Dienstleistungen zu vorsichtig bzw. zu niedrig anzusetzen, und kam, wenn es mal schlechter lief, finanziell immer wieder in die Bredouille.
Für mein erstes Problem hätte ich ein Coaching gut gebrauchen können, und für das zweite Ratschläge und Beispielrechnungen eines erfahrenen Beraters, der auch versteht, welche Kosten entstehen, wie viel man braucht, um die abzudecken, welche Unwägbarkeiten es gibt etc.
Kannst Du beim Arbeitsamt vergessen. Die haben als Angestellte überhaupt keine Ahnung von den Herausforderungen der Selbstständigkeit, geschweige denn sinnvolle, funktionierende Ratschläge. Was von dort kommt, ist eine Farce.
PS: Vielleicht erklärt das ein bisschen meinen Respekt vor dem Herausforderungen von Selbstständigen und Unternehmern (und mein Faible für eine Partei, die deren Interessen vertritt).
Wie du das beurteilst, haengt dann ja auch davon ab, was du in diesem Fall als Aufgabe des Arbeitsamtes ansiehst; Menschen fuer die Selbststaendigkeit trainieren oder sie nur fuer die ersten Monate unterstuetzen damit sie in der Zeit auch weiterhin essen, Miete zahlen usw. koennen? Wenn du das erste als Aufgabe ansiehst, ist das Gebotene natuerlich unzureichend. Wenn es nur um die finanzielle Unterstuetzung geht, finde ich einen wenn auch etwas oberflaechlichen Check, dass sie ueberhaupt Erfolgschancen haben fuer angebracht und ausreichend.
@ schejtan 8. Oktober 2024, 18:18
Wie du das beurteilst, haengt dann ja auch davon ab, was du in diesem Fall als Aufgabe des Arbeitsamtes ansiehst; Menschen fuer die Selbststaendigkeit trainieren oder sie nur fuer die ersten Monate unterstuetzen damit sie in der Zeit auch weiterhin essen, Miete zahlen usw. koennen?
Es heißt ja nicht „Versorgungsamt“. Über die Agentur für Arbeit (heißt das noch so?) werden umfangreiche Weiterbildungsmaßnahmen angeboten. Aber eben für vergleichsweise einfache Angestellte, nicht für Menschen, die man aus der Arbeitslosenstatistik in die Selbstständigkeit drängen will. Für Selbstständige fühlt man sich nicht zuständig.
Problem dabei ist: Jemand, der aus einem Angestelltenerhältnis in die Sebstständigkeit geht, weiß da praktisch nichts. Aber was bringt man sich bei, wenn man keine Ahnung hat, was man braucht? Nicht mal das kriegt man vermittelt.
Tim hatte ja an anderer Stelle ein gutes Beispiel angeführt ausgeführt: Es geht nicht darum, das anzubieten, was man hat, sondern das anzubieten, was der Kunde braucht. „Ich kann kochen“ reißt niemanden vom Hocker; „Hast Du Hunger? Ich kann Dir was zu essen machen“ ist ein viel besserer Anssatz. Aber da muss man erst mal drauf kommen.
Ich finde es unverantwortlich, normale Menschen in die Selbstständigkeit zu drängen ohne jegliche Führung. Da ist scheitern fast vorprogrammiert.
Naja, euch will ich hören wenn die die Kohle ohne Prüfung für jede Unternehmensgründung raushauen würden. Wie soll das denn funktionieren? Entweder ich unterstütze Gründer*innen, was ja eigentlich alle einig sind dass es eine gute Idee ist, oder halt nicht. Aber wenn ich es mache muss ich das ja auch nachhalten.
Unterstützen gern, aber nicht mit Geld. Gründer brauchen die richtige Denke und möglichst wenig Bürokratie. Beides liefert ihnen der deutsche Staat – nicht.
Gut, das ist natürlich fair, aber solange finanzielle Unterstützung ist sehe ich nicht wie das groß anders gehen soll. Subvention von Gründungskrediten vielleicht? Weil das brauchen Gründer*innen ja auch.
Wenn ich gefragt werde, wie man sich erfolgreich selbstständig macht, sage ich immer: mit Kunden.
Die meisten finden das paradox, aber es ist tatsächlich die vielversprechendste Strategie, wenn man unbedingt selbstständig sein möchte. Wenn das der Fall ist, sollte man diesem Ziel alle anderen Gründungswünsche unterordnen. Kontakte zu potenziellen Kunden herstellen und herausfinden, was die so brauchen – darum geht es. Alles andere ist für die erste Zeit nachranging. Vor allem die Frage, WAS ich meinen Kunden in meinen kühnsten Träumen verkaufen möchte. Sein Wunsch-Business kann man später immer noch ansteuern, wenn die ersten Kunden da sind.
Tatsächlich fällt eine kundenorientierte Sichtweise aber fast allen Gründern außerordentlich schwer. Die meisten definieren zunächst ihre eigene Leistung und schreiben einen Business-Plan, der schon nach wenigen Monaten erstmals empfindlich gerissen wird. Nach spätestens 5 Jahren sind dann min. 90 % dieser Gründer gescheitert.
Meiner Meinung nach fehlt der deutschen Gesellschaft insgesamt das Gefühl dafür, wie wichtig verkaufen – und als Bedingung dafür: überzeugen – ist. All diese Gründungszuschüsse können dieses Defizit des deutschen Gemüts nur notdürftig überdecken.
Spannend, danke!
„Naja, euch will ich hören wenn die die Kohle ohne Prüfung für jede Unternehmensgründung raushauen würden.“
Ganz grundsätzlich (und da bin ich als FDPler in einer Minderheit): Meiner Meinung nach sollen Prüfungen soweit stattfinden, dass sie nicht mehr kosten als sie bringen.
Deswegen bin ich z. B. gegen überbordende Prüfungen bei Hartz4-Empfängern, die – wenn die Berichte darüber stimmen – oft so streng sind, dass die Prüfungskoten die Einsparungen bei weitem übersteigen.
Da bin ich auch sofort dafür. Ich kann es im konkreten Fall nicht genau beurteilen.
@ Tim 7. Oktober 2024, 09:47
Ein Bekannter macht sich gerade im fortgeschrittenen Alter selbstständig. In Zuge dessen erhält er Unterstützungsleistungen und Zuschüsse von der Arbeitsagentur und muss einen Business-Plan einreichen, der von Spezialisten der Arbeitsagentur geprüft wird.
Lief bei mir ähnlich. Ich (damals 50 Jahre alt) wurde mit meinem Business-Plan zu einem 25-jährigen Berater geschickt, der 80 Euro für die Prüfung nahm. Der hatte von dem, was ich machen wollte, keine Ahnung. Ich habe ihn nach ein paar Worthülsen darauf angesprochen, und er gab seine mangelnde Kompetenz auch direkt zu. War halt sein Weg, seinen Lebensunterhalt zu finanzieren.
Er meinte, es gäbe auch Leute, die einen Umzugsservice gründen wollen, mit Marketing-Vorstellungen, in Wohngegenden Infozettel an Laternenmasten zu kleben. Er verstand nicht, dass man auch solche Leute vom Arbeitsamt aus in die Selbstständigkeit drängen würde, aber das seien halt die Regeln; die Leute sollten aus der Statistik raus.
Mh, also meine Erfahrung war da eine andere. Als ich zwischen Promotionsende and Arbeitsbeginn da mal vorstellig werden musste und direkt gesagt habe, dass ich nen Job in London quasi sicher habe, haben die einfach nen Eintrag in meine Akte ala „Lass den Type in Ruhe“ gemacht und mich direkt wieder weggeschickt. Hab dann auch nie mehr was von denen gehoert.
Ja, ist halt die Willkür der Sachbearbeitenden.
In dem Fall halt auch die Ueberlastung des Arbeitsamtes Gelsenkichen, das, O-Ton Sachbearbeiter, „Auf ganz andere Faelle spezialisiert“ ist.
Das ist tatsächlich oft ein Problem, dass logischerweise so eine große Bundesbehörde standardisiert ist (ja auf faule Arbeitslose, die die Peitsche brauchen) und man dann Glück mit den Sachbearbeitenden braucht. (oder wie deren Persosituation gerade ist^^)
Ich war ja auch ne Weile in so einem Auffanglager, will mich auch gar nicht beschweren, war ganz spannend, aber so richtig rein passte ich da nicht. Und der größte Vorteil war, dass ich damit direkten Zugang zu so einer Koordinierungs-Behördenstelle hatte, weil eine geförderte Umschulung nix ist, was man selber durchblickt oder einfach bei Behörde XY anfragen kann.
Und nun nähert sich das dem Ende, ich habe schon einen Arbeitsvertrag ab Februar, mein Chef stellt mich auf Minijob-Basis ein, weil er nicht vier ganze Monate auf mich verzichten will und ich hab den ganzen Behördenwahnsinn nochmal.
Nicht auszuschließen, dass ich noch in die Sanktions-Statistik eingehe, weil ich die guten Neuigkeiten leider der falschen Stelle erzählt habe 😛
@ Ariane 8. Oktober 2024, 01:01
… oder wie deren Persosituation gerade ist^^
Zustimmung. Auch zu „meiner Zeit“ war Personal knapp, vereinbarte Termine wurden nicht eingehalten. War für meine schwangere Sachbearbeiterin kein Problem, mich auch mal vier Stunden herumsitzen und warten zu lassen. Man ist doch arbeitslos, hat also eh nix Besseres zu tun. Sicherlich auch (kam immer wieder unterschwellig durch) viel Druck, die Leute aus der Statistik zu kriegen.
Und nun rate mal, bei wem die ihren Frust abladen können?
@ VD 7. Oktober 2024, 08:57
Bis Ende 2003 war ich ein normaler Angestellter und verlor dann meinen (als „sicher“ gedachten) Arbeitsplatz …
War bei mir 2007, dass ich gegangen wurde.
Da ich … nicht in das Amts-Schema passte, wurde mir eine Arbeitsvermittlung verpasst, die so was von daneben war, dass ich nur noch k… konnte – und leider hatte das Arbeitsamt durch Hartz4 die Macht das durchzusetzen, ich kam glücklicherweise von allein da raus.
Kann ich nachvollziehen; Arroganz gepaart mit Ahnungslosigkeit und Behördendenken. Aber ich musste meine x Bewerbungen pro Zeitraum schreiben, sonst hätte es kein Geld gegeben; die haben mich eher behindert als gefördert. Trotz Terminvergabe stundenlanges Warten, angeblaffe, wenn man nicht alles toll fand (von Leuten, bei denen es nicht mal zu meiner Assistenz gereicht hätte).
Ich habe mich nach ein paar Monaten in die Selbstständigkeit geflüchtet, nur um meine Ruhe zu haben, und von dort wieder in ein Angestelltenverhältnis gefunden. Hätte ich mich aufs Arbeitsamt verlassen müssen, wäre ich heute verarmt. Aber wenn Du dann „Reform“ sagst, bist Du halt der Bösewicht.
Aber Respekt und Glückwunsch, dass Du das gepackt hast!!!
@ stefan Sasse
Ab 2013 begann der gesellschaftliche Konsens deutlich in die andere Richtung zu rutschen.
Schöne Formulierung, aber für was? Für die Verdrängungsleistung, dass Sozialausgaben aus Steuern bezahlt werden, die erst mal von anderen verdient werden müssen? Für Merkels Versprechungen, dass alles so bleibt, wie es ist, und nicht schlimmer wird?
Wie dumm von den Regierungen, den Wählern zu versprechen, dass der Staat alle Unbill abfängt, und wie naiv von den Wählern, das zu glauben. Viele haben aufgrund der Versicherungen von Blüm, Kohl und Merkel ausschließlich auf die staatliche Rente gesetzt und ihr Einkommen für „Wohlstand“ ausgegeben. Die meisten von diesen Leuten sind nun überrascht, dass sich der gewohnte Wohlstand nur mit der Rente nicht aufrecht erhalten lässt.
Ja schon, oder? H4 wurde abgemildert, Mindestlohn kam, Rente mit 63, das war eine große Rückabwicklung.
Andererseits ist die Verschiebung der Steuern „nach unten“ geblieben, die „Ratchet“-Wirkung der Privatisierungen wirkt bis heute, und die Rentenversicherung leidet immer noch unter den Folgen der „Reformen“.
Und die Rück-Rückabwicklung beginnt: H4 wird aktuell wieder verschärft, Arbeitszeit verlängert (auch gerne mit Überstunden), ebenso das Rentenalter.
Ja, das ist ein ständiges Tauziehen.
Die Rentenversicherung leidet vor allem unter 2 Dingen:
a) demographischer Wandel
b) Rürup und Riester wurden zu sehr im Sinne der Erträge der Versicherungen organisiert, so dass es sich für Leute ohne hohe Steuerersparnisse und Finanzkenntnisse nicht wirklich lohnt.
Sofern die Mittel in gute ETFs und Fonds investiert sind, bekommt man aber doch einiges zusammen.
Die stärkste Auswirkung hatte die Reform, dass Renteneinkünfte steuerpflichtig wurden. Das belastet höhere Renten natürlich viel stärker.
Die Rentenbesteuerung hatte ich ganz vergessen, danke. Ein gutes Beispiel, eine Veränderung so graduell zu gestalten, dass es erst auffällt, wenn es zu spät ist. Der steuerpflichtige Teil war 2004 nur der Ertragsanteil (ca30 %), 2005 wurde er auf 50% erhöht, und eine Erhöhung um 2% / Jahr festgesetzt. Jetzt sind wir bei 82 %.
Ja, aber das wirkt ja progressiv.
Die Durchschnittsrente für Männer und Frauen betrug 2021 1.200 und 800 Euro. Dafür zahlst Du praktisch keine Einkommenssteuer. Bezieher höherer Renten zahlen natürlich mehr.
@ Stefan Sasse
Die SPD verbog sich bis zur Unkenntlichkeit, …
Sie beugte sich den Realitäten.
… führte die Rente mit 67 ein, aber die Reaktion darauf war die Forderung der Rente mit 70.
Früher gingen Jugendliche mit 14, 15 oder 16 Jahren in die Lehre und arbeiteten bis Anfang 60 oder bis 65 (je nach Tätigkeit) und waren spätestens mit 75 tot. Heute haben viele (nicht alle!) Leute schon mit Mitte 50 keinen Bock mehr, leben auf deutlich höherem Niveau, leben deutlich länger. Wer soll das wie finanzieren? Bin für jede halbwegs brauchbare Lösung (außer: Der Staat zahlt allen alles) gerne zu haben.
Dasselbe kann man über die CDU unter Merkel sagen.
@ Stefan Sasse 7. Oktober 2024, 18:41
Dasselbe kann man über die CDU unter Merkel sagen.
NEIN!
Merkel hat die Konservativen aus der Partei gedrängt bzw. mundtot gemacht, und sich auf die Wählerschaft der SPD gestürzt. Und dann hat sie Stück für Stück die „liebgewonnen Gewohnheiten“ wieder ausgebaut.
Politisch sicherlich dahingehend geschickt, dass sie auf der einen Seite was gutes tat und auf der anderen Seite zeigen konnte, dass die minimalen beschränkungen der SPD im Rahmen von der Agenda 2010 übertrieben waren. Das war purer Egoismus, das war schlecht für den Staat, und den wahren negativen Umfang ihres Handels werden wir erst im Laufe der folgenden Jahrzehnte sehen.
Eine Anpassung an die Realität hätte erfordert, dass man den von der SPD zart eingeschlagenen Kurs intensiviert, nicht, dass man in die Gegenrichtung steuert. Gerhard Schröder war mutig, Angela Merkel war egoistisch, feige und bequem.
Das kann zumindest für die Flüchtlingspolitik oder den Atomausstieg nicht gelten. Bequem war das nicht. Falsch vielleicht, aber nicht bequem.
@ Stefan Sasse 8. Oktober 2024, 12:18
Bequem war das nicht. Falsch vielleicht, aber nicht bequem.
Wenn Du meinst; dann eben „die jeweils bequemste unter vielen unbequemen Lösungen“.
Und „falsch“ nicht aufgrund von Irrtum, sondern aufgrund von Schluderei, Verdrängung oder absichtsvoll gegen besseres Wissen.
Nicht bequem? Gemessen an dem Zeitpunkt, zu dem diese Entscheidungen fielen und an den zu diesem Zeitpunkt erkannten Alternativen? Oh doch, beide Male den bequemsten gangbaren Weg gewählt.
Wer soll das wie finanzieren?
Von Stefan keine Antwort … Ich habe diese Frage in den letzten 30 Jahren ungefähr 150-200 halbwegs intelligenten und gebildeten (halb)linken Leuten gestellt und niemals, wirklich niemals, eine Antwort darauf bekommen.
Gruss,
Thorsten Haupts
Ich bin aktuell ein Fan der Idee, das Renteneintrittsalter abzuschaffen. Man arbeitet so lang man kann, und ein Amtsarzt oder so (ggf. mit unabhängiger Zweitgutachten) bestätigt, wenn du das nicht mehr leisten kannst oder so was in die Richtung. Weil wir haben einfach das Problem, dass manche Leute länger arbeiten können und andere nicht mal ansatzweise die 67 erreichen können. Oder du hängst es halt an die Zahl der Beitragsjahre. So was. Aber ich bin kein Experte.
Stefan Sasse 8. Oktober 2024, 07:53
@ Stefan Sasse 8. Oktober 2024, 07:53
Ich bin aktuell ein Fan der Idee, das Renteneintrittsalter abzuschaffen. Man arbeitet so lang man kann, und ein Amtsarzt oder so (ggf. mit unabhängiger Zweitgutachten) bestätigt, wenn du das nicht mehr leisten kannst oder so was in die Richtung.
Oh Mann …
Wo finde ich mehr Anhänger: bei Leuten, die unter 60 sind und nicht mehr arbeiten wollen, oder bei Leuten, die über 66, 67 sind, und die länger machen wollen? Die, die länger arbeiten wollen und gebraucht werden, werden bereits gefragt, hier gibt es Lösungen.
Aber wenn man Ende Vierzig / Mitte 50 ist und keinen Bock mehr hat, bekommt man Rente, wenn man Burn Out oder Depression simuliert? Man wird von Gutachtern untersucht, die das am Fließband machen müssen und keinen Bock auf Stress haben? Bei positiven Gutachten (= weiterarbeiten) kann man gegen das Gutachten klagen? Wenn man gewinnt, zahlt der Staat auch noch die Gerichtskosten, sonst nur die Gutachter? Was passiert, wenn ich mich arbeitsunfähig erkläre und kriege einen Gutachter-Termin erst in zwei Jahren – habe ich Anspruch auf Schadensersatz?
Aber ich bin kein Experte.
Sicherlich richtig; wer von uns ist das schon. Aber mal ein bisschen über den Tellerrand schauen und dabei die Voraussetzung beachten, dass Menschen egoistisch sind, hilft gelegentlich.
Die Situation mit den Gutachtern haben wir doch jetzt schon bei der Erwerbsunfähigenrente. Und was unterscheidet Stefans Vorschlag von der flexiblen Altersgrenze der FDP?
Mutig, in einem Blog, der von lauter ‚Zeitzeugen‘ gelesen wird, dieses Thema aus deinen persönlichen Erfahrungen heraus zu beschreiben, die – O Wunder – nicht mit meinen eigenen übereinstimmen. Dennoch möchte ich nur ein paar ‚historische‘ Ergänzungen machen.
1) Die „Ruck“-rede war nicht Auslöser des ‚Reform‘ Zeitgeistes, sondern nur der Kulminationspunkt, schon Jahre zuvor wurde der Diskurs der WiPol von „Lohnnebenkosten, „Reformstau“, „Standort“ etc… dominiert.
2) Die Art, wie damals Bertelmann & Co (ich möchte hier noch die INSM erwähnen) nicht nur durch klassische Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit sondern durch engmaschige integrierte Kommunikation , z.B. Lancieren von Talkshow-Experten, Verschieben des Overton-Fensters, Erringen der Diskurshoheit durch ausgrenzen inhaltlicher Gegenspieler („Dinosaurier“) , war damals ein Novum.
3) Es hilft zu sehen, was für Reformen es konkret geht, um diese zu bewerten (insbesondere, was davon funktioniert hat und was eine Verschlechterung war):
a) Arbeitsmarkt: Hartz IV und Förderung Niedriglohnsektor in Form aktypischer Beschäftigung ( Zeitarbeit, Minijob)
b) Rente: Einführen von privatisierten Rentenmodellen, Beibehalten der Dysfunktion der „versicherungsfremden Leistungen“ der GRV.
c) Steuern: Senkung der Est-Tarife, Kapitalertragsteuer, Aussetzen Vermögensteuer
d) Privatisierung von Infrastruktur und Gesundheitswesen
4) (Jetzt doch persönlich) Du nennst bei der Blog-Gegenöffentlichkeit NDS und genderama und begründest, warum du dich politisch verändert hast (im Gegensatz zu diesen Seiten). Zu dieser Änderung gehört auch das Ablegen eines Grundmisstrauens gegen die „Klassischen Medien“ und deren „Kanalisierungsfunktion“ für Lobbyistennetzwerke (wie in Punkt 2 beschrieben). Es mag Nostalgie sein, aber ich denke, das das vor Mitte der 90er eben keine „Normalität“ war [und in einer pluralistischen Gesellschaft keine sein dürfte].
1) Jo.
2) Ja.
3) Verschlechtern und Funktionieren schließen sich nicht aus!
a) q.e.d.
b) Das war reine Verschlechterung IMHO.
c) Umverteilung von unten nach oben. Hat funktioniert, aber die versprochenen Wachstumseffekte blieben aus.
d) Sehr gemischt.
4) Wenn ich etwas zuspitzen darf: was mich entradikalisiert hat war Merkel.
Wenn ich etwas zuspitzen darf: was mich entradikalisiert hat war Merkel.
Magst du das näher ausführen?
Meine radikalste Phase war so 2006 bis 2009. Das kann man ja auf dem OeF noch nachlesen. Der Umschwung kam mit der Bundestagswahl 2009. Ich habe keine Ahnung was für Katastrophen von Schwarz-Gelb erwartet, und es kam…was halt kam. Und dann danach 2013ff., die GroKos waren ja mit 2005-2009 nicht vergleichbar. Es war alles viel harmloser als befürchtet, der neoliberale Putsch blieb aus. Ich konnte mich mit dem Staat und der Regierung versöhnen, die ich jahrelang eher als Feinde betrachtet hatte.
asymmetrische Demobilisierung – Ohne Angriffspunkte kann man nicht so richtig gegen das System anrennen.
@ cimourdain 8. Oktober 2024, 09:22
Asymmetrische Demobilisierung – ohne Angriffspunkte kann man nicht so richtig gegen das System anrennen.
Ein linker Bombenleger weniger – Merkel sei Dank 🙂
(Duck und wech …)
Das war echt Stress, die ganzen Bomben zu entsorgen, kann ich dir sagen.
Ach, DU hast das Erdbeben in den neunzigern in Lorch ausgelöst?
Ich wusste nicht, dass es eines gab, aber vermutlich 🙂
Jo, aber das war, wenn ich die aktuelle Lage anschaue, nicht das schlechteste.
Stimmt. Ich kriegs nicht mehr ganz zusammen, aber ich kann mir vorstellen, dass es für die Gegenseite sogar ähnlich war.
Irgendwie war man ja mit großen Ambitionen in schwarz-gelb gestartet, Liebesheirat etc. und dann war das ein ziemlicher Rohrkrepierer mit Gurkentruppe und Mövenpick-Partei.
Ich bleib auch dabei, dass die Union damals deutlich ungnädiger der FDP gegenüber war als Rot-Grün heutzutage, aber ich glaube die Stimmung, sich zur Konsolidierung in eine GroKo zu begeben, war ähnlich.
So einfach wie das le citoyen Cimourdain darstellt ist das auch nicht.
Deutschland ist es gelungen, hochproduktive Industriearbeitsplätze länger zu halten als in Frankreich oder Großbritannien. Das war angesichts wesentlich niedriger Preise für den Produktionsfaktor Arbeit in Osteuropa und Asien keine Selbstverständlichkeit.
Das mit den versicherungsfremden Leistungen der GRV halte ich für Augenwischerei, weil ja der Staat ja seit Jahren immer mehr Steuereinkünfte in die GRV kippt. Der 1950 geborene Mann starb halt im Schnitt mit 65. Natürlich braucht man da keine Rente mit 70.
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/sterbetafel.html
Praktisch alle nordeuropäischen Staaten haben private Komponenten in die Renten eingeführt. Es geschah nur in Deutschland sehr zugunsten der Versicherungswirtschaft, die sich aber andererseits an anderen Stelle einem kanibalistischen Wettbewerbsdruck aussetzte. In anderen Ländern funktioniert das besser. Mit Kraftverkehrsversicherungen konnte man etwa Mitte der 10er kein Geld verdienen. Die hatten das, um dem Kundenstamm andere Versicherungen wie Riester-Verträge zu verkaufen.
Die Debatte drehte sich zu viel um weltanschauliche Perspektiven wie, ob ein Teil der Rente nicht über Umlage sondern Kapitlbildung eingesammelt wird. Da geraten dann wichtige technokratisch-finanzmathematische Detailfragen in den Schatten.
Ich habe selbst ja persönlich auch kein Vertrauen in klassische Medienkonzerne. Allerdings öffnete die starke linke Meinungsoffensive rund um die Finanzkrise letztlich auch die Schleusen gegen unappetitliche Verschwörungstheorien und Heinis wie Höcke in der Politik.
GRV: Ich bin mir nicht sicher, wie viel davon Schönrechnen ist, aber laut den Berechnungen, die ich gesehen habe ist es in der Gesamtbilanz ein massives Draufzahlgeschäft (v.a. wegen der DDR-Renten).
Versicherungswirtschaft: Es ist ja kein Zufall gewesen, dass diese so von den Reformen profitiert hatte, sie hat da volle Lobbyarbeit reingesteckt: Protagonisten waren Raffelhüschen (Ergo), Roland Berger (Unternehmensberater) oder Rürup (später AWD).
„kanibalistischen Wettbewerbsdruck“ an anderer Stelle: Das hängt direkt zusammen. Kennst du noch den Begriff ’stupid german money‘, der auch in der Zeit unter US-Bankern aufkam?
P.S. Wenn deine Sprachstudien (Französisch) schon obskure historische Romane beinhalten, dann großen Respekt vor dem Lerntempo… hast du nicht erst vor einem Monat geschrieben, dass du an der Sprache arbeitest?
CC: Rentenzuschüsse… Ich bin mir nicht sicher das…
LC: Die Bundeszuschüsse für die gesetzliche Rentenversicherung sind gewaltig und steigen immer mehr.
2022 waren es 81 Mrd Euro.
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/7031/umfrage/bundeszuschuesse-an-die-rentenversicherung-seit-1950/
https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Oeffentliche-Finanzen/Ausgaben-Einnahmen/Tabellen/ausgaben.html
Das sind ca 13,5% des Bundehaushalts oder ca 10% des Haushalts aller Sozialversicherungen. Eine gewaltige Summe. Das Umlageverfahren ist heute zu einem hohen Anteil steuerfinanziert.
Ich finde nicht gut, was da teilweise mit Riester passiert ist. Hier wird einiges angesprochen: https://www.spiegel.de/wirtschaft/private-altersvorsorge-was-bringt-christian-lindners-riester-reform-a-7e1a5aaa-6db7-48e9-87c4-f7a1cf984ec2
In marktwirtschaftlichen Systemen gibts manchmal kanibalistische Wettbewerbssituationen. Natürlich kein spezifisch deutsches Thema. Ich hab Anfang der 10er für verschiedene Versicherungen gearbeitet. Bin natürlich kein Wirtschaftsprüfer, aber von da habe ich das vom Hörensagen von Mitarbeitern.
Im chilenischen Arzneimittelmarkt führte die kanibalistische Marktsituation zum kompletten Gegenteil: massiven Absprachen zwischen Apotheken-Ketten. Renato Garin hat das in La Grán Colusión sehr überzeugend (und weitschweifig) aufgezeigt. Mein Problem mit Neoliberalismus, Österreichische Schule, Libertarian ist halt, dass Märkte manchmal nicht perfekt funktionieren.
Ich werde in den nächsten 2 Jahren ganz sicher nicht Victor Hugo lesen 😉 . Die französischen Klassiker sollen zu einem großen Teil aus komplexen Beschreibungen bestehen, für die man das extra Vokabelwissen erst aufbauen muss. Cimourdain [simuʁdɛ̃] hatte ich irgendwann ergoogled. Ich übertreibe das nach wie vor, aber nicht so. Außerdem gibt es Felder, die mich mehr interessieren. Real gesprochenes Französisch wie in aktuellen Serien etwa. An Aussprache arbeiten. Lesen halte ich für wichtig, beschränke mich aber aktuell strikt an Bücher über Politik und Zeitgeschichte und Kinderbücher.
Mich flasht, was Leute wie Steve Kaufmann, Olly Richards, Elisa von French Mornings with Elisa, frenchwithpanache, portuguese with Leo, Guiallaume Posé, etc an guten Beiträgen zum Erlernen von Fremdsprachen liefern.
Erstmal danke an Lemmy, le citoyen Cimo ist ja ganz großartig 😀
2) Oh ja die INSM-Zeiten, da sagste was. Ich musste da neulich zurückdenken, weil Professor Sinn irgendwo mal wieder aufgetaucht war, der war damals ja auch überall. Und ich fang gar nicht erst von Sarrazin an. (glaub mittlerweile sind die alle bei NIUS oder so^^)
Aber – und ja die Erinnerung mag trügen – insgesamt ist das Meinungsspektrum der klassischen Medien sehr viel breiter. Ich brauchte vor ca. einem Jahr etliche Daten von WiWo und seitdem lese ich die recht regelmäßig, die sind ja manchmal linker als ich! ^^
3) Ich denke, es geht mehr um den allgemeinen Trend als um konkrete Reformen. Ich hab das auch als Zeit in Erinnerung, wo es völlig normal war, Angestellte wie den letzten Dreck zu behandeln und zu erwarten, dass die sehr dankbar sind.
Und ich hab erst im Nachhinein Bekannte getroffen, die zu der Zeit in der richtig miesen Leiharbeits-Schleife gefangen waren, richtig mit „bitte fahren sie morgen selbstfinanziert 200km nach Castrop-Rauxel, arbeiten da für scheiß wenig Geld, wenn sie krank werden, werden sie wieder entliehen und sind direkt in HartzIV – gelernte Spezialisten übrigens“
4) ich war ein bisschen später auf so einer politischen Schiene wie Stefan und auch nicht so radikal. Albrecht Müller mit seinem 70er-Jahre-Radikal-Linkssein konnte mich nicht so überzeugen.
Aber immerhin war ich Fan vom Spiegelfechter, sonst hätte ich Stefan nicht gefunden^^
Ich hab aber auch viele Blogs gelesen und irgendwie war ich in so eine Fußball-Eco-Blase gekommen. Oh weissgarnix gehörte da irgendwie auch mit rein. Und die zwei, die heute den Mikroökonomen-Podcast machen, Egghat/Ulrich hatte da nen eigenen kleinen Blog.
Und oft gings eigentlich um Fußball, aber da war ich in so einer Bubble mit Leuten, die tatsächlich im Wirtschafts/Finanzwesen gearbeitet hatten (weiß der Teufel was) und ne ganz andere Meinung hatten als die Fernsehökonomen, das war quasi meine Gegenöffentlichkeit. (in meinen 20ern hatte ich logischerweise sehr wenig eigene Kenntnis)
2) Das „oder so…“ ist ein gutes Stichwort. Die erste Generation der AfD, die „Professorenpartei“ um Bernd Lucke hat sich aus Ökonomen und Lobbyisten dieser Denkrichtung rekrutiert.
3) Deshalb ist mir Punkt 2) so wichtig. Die Vermittlung der Reformen bestand darin, dass ein bestimmtes Menschenbild in die Köpfe reingesetzt wurde, das es ’normal‘ scheinen lässt, Menschen wegen ökonomischen Status wie Dreck zu behandeln.
Stimmt, die gehörten da auch zu. Der Mainstream hat sich ja über die Jahre auch geändert, aber ich denke, da haben auch etliche Leute so überdreht, dass sie dann eben in Nischenblätter flüchten mussten oder in der Versenkung verschwunden sind.
Deshalb ist mir Punkt 2) so wichtig. Die Vermittlung der Reformen bestand darin, dass ein bestimmtes Menschenbild in die Köpfe reingesetzt wurde, das es ’normal‘ scheinen lässt, Menschen wegen ökonomischen Status wie Dreck zu behandeln.
Mit freundlichem Verlaub: Bullshit. Aber Sie bekommen natürlich gerne die Chance, zu erklären, wie und wo Menschen nach der „neoliberalen“ Phase wie „Dreck“ behandelt wurden.
Gruss,
Thorsten Haupts
Das sind Arianes Worte und sie hat es auch mit Beispiel konkretisiert. Ähnliche „Zumutbarkeitsgeschichten“ habe ich auch schon gehört.
Was mich allerdings noch mehr erschreckt hat, war wie schnell sich Hartz IV-Empfänger in meinem Bekanntenkreis selbst „wie Dreck“ wahrgenommen hatten.
Okay. Offenkundig liegt Ihre wie Arianes Messlatte dafür, wann Menschen „wie Dreck“ behandelt werden, ziemlich hoch. Und meine sehr viel niedriger.
@ cimourdain 7. Oktober 2024, 16:57
Mutig, in einem Blog, der von lauter ‚Zeitzeugen‘ gelesen wird, dieses Thema aus deinen persönlichen Erfahrungen heraus zu beschreiben …
🙂
Am schlimmsten war es 2009, als die Finanzkrise durchschlug und die üblichen Jobs nicht mehr zu bekommen waren.
Wen (auf englisch) eine instruktive Kurzfassung der Finanzkrise 2008 interessiert, dem empfehle ich das hier:
https://www.youtube.com/watch?v=k4jJSOWjQxg
45 gut investierte Minuten. Ich selbst hatte das Glück, die Krise bereits 2006 kommen zu sehen (einfach gesunder Menschenverstand, sonst nichts).
Gruss,
Thorsten Haupts
Sehr spannend, aber da wir fast ein Jahrgang sind, fühle ich mich immer so alt^^
Ich unterbiete dich um 1 Cent, ich hab etliche Jahre für 5,11€ gejobbt, Mitte der 2000er und das war glücklicherweise nicht mein ganzer Lebensunterhalt.
Mode-Großkonzern, der natürlich in den Jahren fleißig dabei war, wenn es um Rationalisierungen ging, am Ende gab es für die mittelgroße Filiale genau 1 Festangestellte und überall wurden Stunden gekürzt, so ein Weihnachtsgeschäft macht sich ja quasi allein. Mittendrin ein Skandal, weil das Management ausgeplaudert hatte, dass alte/hässliche Verkäuferinnen ja nicht zum feschen Image passen und man die gerne loswürde.
Ich hab nichts mehr davon, aber ich freu mich immer noch über den Mindestlohn. Und den Fachkräftemangel, die wären nämlich mittlerweile sehr glücklich, wenn sich ne olle Schabracke bei denen an die Kasse stellt.
Da war ich noch jung und unbedarft, richtig düster hab ich auch die Zeit in/nach der Finanzkrise in Erinnerung. Nett gesagt, war das nicht die beste Zeit für den Zwischenhandel mit eher unnützen Dingen, ich hab hautnah die Insolvenz einer Firma miterlebt, mit Domino-Effekten, weil ja nicht einfach ein Laden oder eine Sparte Schwierigkeiten hatte. In einer Branche mit lauter kleinen Selbständigen, die alle sofort von Mittelklasse auf Hartz IV gefallen wären mit dem Stigma des faulen Langzeitarbeitslosen auf der Stirn. (und die pure Existenzangst, um diesen Super-GAU zu verhindern)
Während Herr Westerwelle parallel vermutlich gerade von spätromischer Dekadenz fabulierte. Bin ganz froh, dass man direkt live meistens zu sehr drin ist und erst in der Rückschau merkt, was für ne abgefuckte Zeit das war. War auch ein Grund, warum ich bei Corona direkt auf den Umschulungszug gesprungen bin, bevor ich noch einmal so ein Drama miterlebe. (allerdings Fachkräftemangel: alle, die damals dabei waren, haben jetzt ne okaye Festanstellung oder ganz andere Konditionen, weil es keine Leute mehr gibt, die zu damaligen Konditionen mehr arbeiten)
Das ist wegen des Arbeitskräftemangels gerade eine so fundamental andere Situation, das kannst überhaupt nicht vergleichen. Echt krass.
Euer Früher ist doch gar nicht so richtig früher^. Das war doch erst unlängst.
Zitat Ariane:
„Ich unterbiete dich um 1 Cent, ich hab etliche Jahre für 5,11€ gejobbt, Mitte der 2000er und das war glücklicherweise nicht mein ganzer Lebensunterhalt.“
Is ja ganz nett, aber ich hab als Lehrbub 1969 (da war ich 17) mit 90 DM angefangen, umgerechnet ca. 46 Euro. Im Monat natürlich.
Unerachtet dessen: Reformen gab’s auch, nur bessere. Der/die eine oder andere sprach sogar ernsthaft von Revolution, die unmittelbar in Kürze anstünde. Die waren allerdings rund 10 Jahre älter als ich, nicht sehr zahlreich, wurden überschätzt und sind heute mit Ende 70/um die 80 gerne stramm-rechts, mindestens jedoch deutlich weniger links und lieben schon lange das einst verhasste Bürgerliche. So ist das Leben.
Irgendwas mit Reformen gibt’s im Übrigen immer. Muss nur noch die Frage geklärt werden, ob das im Einzelfall ne Verheißung oder ne Bedrohung ist. Letzteres wiederum folgt rein subjektiver Evidenz.
Is ja ganz nett, aber ich hab als Lehrbub 1969 (da war ich 17) mit 90 DM angefangen, umgerechnet ca. 46 Euro. Im Monat natürlich.
Danke, danke jetzt fühl ich mich schon nicht mehr ganz uralt^^ Aber da hat ne Kugel Eis (in doppelter Größe!) ja auch nur 10 Pfennige (umgerechnet ein Groschen!) gekostet 😛
Die waren allerdings rund 10 Jahre älter als ich, nicht sehr zahlreich, wurden überschätzt und sind heute mit Ende 70/um die 80 gerne stramm-rechts
Ja nun, nicht auszuschließen, dass die immer noch überzeugt sind, Tag X steht unmittelbar bevor!