„Wenn die Deutschen Revolution machen und einen Bahnhof stürmen wollen,
dann kaufen sie vorher eine Bahnsteigkarte.“ – Lenin
Am 28. Oktober verwandelte eine Verfassungsreform Deutschland in eine konstitutionelle Monarchie. Diese Verfassungsreform ist weitgehend vergessen, weil sie durch die folgenden Ereignisse binnen Tagen Makulatur wurde. Aber für jemanden wie Ebert – und andere liberal eingestellte Parlamentarier – war sie letztlich das Erreichen eines Ziels, das man seit der Reichsgründung 1871 verfolgt hatte. Es ist ein faszinierendes „Was wäre wenn“, was geschehen wäre, wenn sich das Land auf Basis dieser Verfassung stabilisiert und weiter liberalisiert hätte.
Die Verhandlungen mit Wilson zogen sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Wochen hin. Die Soldaten waren unruhig. Noch immer starben, trotz der weitgehenden Ruhe an der Front, jeden Tag Soldaten. Man wollte endlich nach Hause. Der Krieg war doch vorbei! Die Stimmung seiner Matrosen, die der der Soldaten glich völlig verkennend, befahl Admiral Hipper eigenmächtig am 24. Oktober, die Flotte zu einem letzten, heroischen Gefecht gegen England zu schicken. Das wäre der sichere Untergang der Flotte gewesen, hätte tausende von Leben gekostet und sicherlich die Entente so erbittert, dass die Waffenstillstandsverhandlungen deutlich erschwert oder gar abgebrochen worden wären. Hippers Akt war also offene Meuterei. Dass er nie dafür auch nur angeklagt wurde, ist ein weiterer der vielen Geburtsfehler Weimars.
Vorläufig allerdings war davon noch nichts zu spüren. Stattdessen begann es auf den Schiffen zu gären, wo die Matrosen begreiflich wenig Lust hatten, für die Sache Admiral Hippers und den Ruhm der deutschen Hochseeflotte zu sterben, wo das Ende so nah war. Meutereien begannen, und die Marineleitung musste ihren Schlachtplan fallen lassen. Die Meuterer stellten sich dabei bereits auf das Bewusstsein, im Sinne der Regierung zu handeln – was so falsch ja nicht wahr. Die Marineleitung verlegte daraufhin die meuternden Schiffe von Wilhelmshaven nach Kiel und verhaftete die Rädelsführer. Doch in Kiel wurde die Sache noch viel virulenter: nachdem die Offiziere sich weigerten, eine Abordnung der Matrosen anzuhören, wandten sich diese an Gewerkschaften, MSPD und USPD. Bald demonstrierten die Matrosen unter der Losung „Frieden und Brot“ und unter Anleitung von Gewerkschaftlern und USPD-Funktionären. Nachdem eine Patrouille einige Matrosen erschossen hatte, wurde aus dem Protest ein Aufstand. Am 4. November befanden sich bereits Matrosen ohne Ausgangserlaubnis in der Stadt, Demonstrationen fanden bei den Kasernen statt. Die ersten Soldatenräte bildeten sich und brachten die Stadt bis zum Abend unter ihre Kontrolle.
In Berlin riefen die Nachrichten von dem Aufstand in Kiel Unruhe hervor. Die MSPD glaubte, das nicht gebrauchen zu können. Der Aufstand musste eingedämmt werden, alles in Ruhe und Ordnung verlaufen, wenn die Verhandlungen mit der Entente nicht scheitern sollten. Warum schließlich sollte diese mit einem Staatswesen verhandeln, das sich in der Auflösung befand? Gustav Noske wurde nach Kiel geschickt, traf dort noch – stürmisch begrüßt – am Abend des 4. November ein und ließ sich zum Vorsitzenden des örtlichen Soldatenrats wählen, ehe er sich daran machte, den Einfluss der Räte möglichst schnell wieder zurückzudrängen. Es ist das erste Auftauchen Noskes, der in der Folgezeit noch eine unrühmliche Rolle spielen sollte. Was ihm nicht gelang war, die ausbrechende Revolution auf Kiel zu begrenzen. Am 6. November hatte sie bereits die meisten größeren Städte Deutschlands erfasst; in Bayern rief Kurt Eisner gar die Republik aus und zwang den Monarchen zur Abdankung.
Bis zum 23. November sollten alle anderen Fürsten ihm folgen. Warum aber brachen die deuschen Monarchien, die ja aus einer jahrhundertelangen Tradition stammten, derart geräusch- und widerstandslos ab? Vermutlich hat dies mit den Widersprüchen des eigenen Selbstbilds zu tun. Man sah sich immer noch gerne als den Souverän, allmächtig und absolut. In der Realität war man es längst nicht mehr. Die Reaktion des sächsischen Monarchen auf die Forderung nach der Abdankung durch die Arbeiter- und Soldatenräte ist deswegen exemplarisch: „Macht euren Dreck doch alleine!“ So glanzlos endete die deutsche Monarchie im November 1918, eine Institution, der selbst die neuen Rechtsextremen bald keine Träne mehr nachweinten. Sie hatte sich überlebt.
Die Menge war seiner Kontrolle bereits entglitten. Obwohl der „Vorwärts“ einen Aufruf nach dem anderen, friedlich und in den Häusern zu bleiben, veröffentlichte, sammelten sich Menschenmassen in den Straßen. Karl Liebknecht, einen Tag zuvor aus dem Gefängnis entlassen, gründete den linken Spartakusbund und rief, nur Stunden nach Philipp Scheidemann, die deutsche Republik aus – ein bedeutungsloser Akt, der in den Geschichtsdarstellungen beständig überschätzt wird. Deutlich wichtiger war das Angebot Eberts an die USPD, in die Regierung einzutreten. Dazu kam es freilich nicht mehr, einmal mehr wurden die Akteure von den Ereignissen überrollt. Einer der wenigen organisiert revolutionären Akte fand am 8. November statt: die „Revolutionären Obleute“ riefen allgemeine Wahlen für Arbeiter- und Soldatenräte für den 9. November aus, aus denen dann der „Rat der Volksbeauftragten“ hervorgehen sollte. Damit rissen sie für kurze Zeit das Heft des Handelns an sich.
Bei den Revolutionären Obleuten lohnt es sich, einen Moment zu verweilen. Sie waren Vertrauensleute von Arbeitern besonders, aber nicht nur, aus kriegswichtigen Betrieben. Dabei waren sie von den Gewerkschaften, die sich der MSPD-Kriegspolitik im Weltkrieg verschrieben hatten, weitgehend unabhängig und wurden von beiden deswegen als Bedrohung angesehen. Sie waren es, die die Januarstreiks 1918 angezettelt hatten, die zwar letztlich erfolglos blieben, aber bereits eine erste Kraftprobe dargestellt hatten. Es handelte sich tatsächlich um Arbeiter. Intellektuelle suchte man in ihren Reihen vergeblich, und sie hatten einen äußerst pragmatisch-praktischen Blick auf die Revolution. Ihre Ziele lagen in der Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien und Besserstellung der Arbeiter sowie der Entmachtung der alten Eliten, die für den Krieg verantwortlich waren – mithin genuine sozialdemokratische Positionen, doch in diesen Tagen wurden sie zu entscheidenden Gegnern der MSPD. Doch aus der beschriebenen Geisteshaltung heraus betrachtete die MSPD sie als Gegner. Dabei waren die revolutionären Obleute genau das, was die SPD stets behauptet hatte, sein zu wollen.
Die Obleute riefen also zur Räteversammlung auf, die im Circus Busch stattfinden solle. Dort sollte der Rat der Volksbeauftragten geschaffen und so die Kanzlerschaft Eberts verhindert werden. Doch Ebert erfuhr von diesen Plänen. Er sah nur eine Chance, sie noch zu verhindern: indem er sich selbst an die Spitze stellte, also im Großen das tat, was Noske in Kiel im Kleinen getan hatte. Ebert brachte große Teile der frisch gebildeten und deulich der MSPD denn der USPD zuneigenden Soldatenräte bereits früh in den Circus, die so die vorderen Reihen besetzten (die Arbeiterräte konnten erst nach Feierabend kommen) und damit die Diskussion maßgeblich mitbestimmen konnten. Die Obleute beschlossen daraufhin, möglichst unauffällig die Schaffung eines „Aktionsausschusses“ durchzuboxen, der die Volksbeauftragten kontrollieren und auch selbst Gewalten innehaben sollte. Doch der Plan misslang zu Teilen; wie der Rat der Volksbeauftragten war auch der Akttionsausschuss paritätisch mit MSPD und USPD Mitgliedern besetzt. Da die Reichsadministration alleine Ebert und nicht dem im Rat der Volksbeauftragten formell gleichberechtigten USPD-Vorsitzenden Hugo Haase zuarbeitete, war die Machtfrage eigentlich bereits vor dem 10. November, an dem das berühmte Telefonat zwischen Ebert und General Groener stattfand, entschieden.
In diesem Telefonat versicherte sich Ebert der Unterstützung des Militärs und garantierte im Gegenzug, dass es keine Revolution geben würde. Diese Gefahr freilich bestand niemals. Die Räte waren immer noch der Überzeugung, der SPD bei der Übernahme der Macht zu helfen und endlich gerechte Verhältnisse herzustellen. Die wenigen, die klar gesehen hatten – die revolutionären Obleute – waren von der MSPD ausmanövriert worden. Ebert jedenfalls täuschte sich massiv. Er entfremdete mit seiner Politik die eigenen Anhänger, ohne Sympathien bei den alten Eliten gewinnen zu können. Diese bedienten sich der SPD, wo sie sie als nützlichen Idioten brauchten, und verabscheuten sie ansonsten. Groener war hier eine freilich bald nicht mehr maßgebliche Ausnahme. Beinahe als Fußnote dieser Ereignisse endete am 11. November der Erste Weltkrieg durch die Unterzeichnung des Waffenstillstands bei Compiègne.
Doch nicht nur die MSPD kooperierte mit den alten Eliten: auch die Gewerkschaften taten es. Carl Legien unterzeichnete am 12. November ein Abkommen mit Hugo Stinnes und Carl Siemens, in dem die Gewerkschaften das Ende der wilden Streiks und einen geordneten Produktionsablauf sowie die bisherigen Eigentumsverhältnisse garantierten. Im Gegenzug erhielten sie den Acht-Stunden-Tag und die formelle Anerkennung der Gewerkschaften als Verhandlungspartner. Damit waren die Räte praktisch entmachtet. Ebenfalls am 12. November veröffentlichte der Rat der Volksbeauftragten sein Regierungsprogramm. Belagerungszustand und Zensur wurden aufgehoben, die Gesindeordnung abgeschafft, das allgemeine Wahlrecht auch für Frauen eingeführt. Sozial- und Unfallversicherung wurden ausgeweitet. Außerdem führte die Sozialisierungskommission bald die Betriebsräte ein.
Doch die wenn auch reibungsvolle Zusammenarbeit mit Räten und Regierung beseitigte nicht die grundlegende Furcht, die Ebert und andere hatten. Von den Ereignissen in Russland traumatisiert, glaubten sie, in der Spartakusbewegung eine gleichgeartete Gefahr zu erkennen. Das allerdings war, wie wir heute wissen, nie der Fall. Der Spartakusbund war klein und zerstritten und besaß keine Massenbasis. Er war nie ein Instrument der Revolution und wollte es auch nicht sein; Luxemburg verkündete selbst, dass die Deutschen noch nicht bereit seien, dass die Revolution noch nicht kommen könne. Aber es war zu spät. Ebert hatte sich, ohne unseren Vorteil des Wissens um die Zukunft in der Unsicherheit des Augenblicks und seiner radikalen Rhetorik gefangen, bereits entschlossen, die Räte gewaltsam aufzulösen. Noch vor dem am 16. Dezember anberaumten Reichsrätekongress sollte das Militär, das nach Unterzeichnung des Waffenstillstands abmarschierte, die Räte auflösen. Doch dazu kam es nicht, denn die Soldaten waren nicht mehr zu kämpfen bereit.
Es war aber auch gar nicht nötig. Auf dem Reichsrätekongress besaß die MSPD ein deutliches Übergewicht; Liebknecht selbst hatte es nicht einmal geschafft, ein Abgeordnetenmandat zu erhalten, der Spartakusbund war nicht vertreten. Mit 344 zu 98 Stimmen verweigerte der Kongress die Räte als Grundlage der zu schaffenden Versammlung und löste sich damit faktisch selbst auf; stattdessen wurden Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung für Januar 1919 anberaumt – ein weiterer Sieg Eberts, denn je früher sie stattfanden, desto größer der Vorteil der besser organisierten MSPD gegenüber der USPD und dem Spartakusbund. Der einzige Streitpunkt blieb die Kontrolle über das Militär, das laut Kongressbeschluss unter Kontrolle der Räte stehen sollte, was aber Eberts Pakt mit Groener zuwiderlief, weswegen er die Beschlüsse nach Kräften unterlief. Das wirkt umso unverständlicher, als dass Ebert eigentlich von den Geschehnissen des 6. Dezember hätte gewarnt sein müssen, als ein besonders rechtes Regiment auf spartakistische, aber unbewaffnete Demonstranten schoss. Es zeigte sich bereits die Gewaltbereitschaft seiner Verbündeten, die sich seinen Befehlen kaum unterworfen sahen.
Doch entsprechende Stimmen verhallten ungehört. Das Kernmilitär, obrigkeitsstaatlich geprägt (das deutlich diverse Massenheer des Weltkriegs befand sich in voller Auflösung), blieb fast ausschließlich in der Hand derer, die es bereits all die Jahre zuvor geführt hatten. Nur eine einzige Einheit war stramm republikanisch, die Volksmarinedivision, die in Kiel gebildet und mittlerweile nach Berlin verlegt worden war. Diese hatte sich strikt geweigert, am 6. Dezember gegen die Räte anzutreten. Gerade diese Loyalität aber brachte sie nun bei Ebert in Misskredit: allgemein befürchtete man, die Volksmarinedivision sei spartakistisch unterwandert und stellte sich deshalb gegen sie. Um eigenes Militär zu haben, begann die SPD den Aufbau der Freikorps zu legitimieren, die aus rechten Frontsoldaten gebildet wurden, die nicht nach Hause gehen wollten oder konnten. Die Freikorps verstanden sich als Kern einer neuen Armee, waren oft antirepublikanisch oder allenfalls neutral eingestellt und teilweise bereits durch Abwehrkämpfe gegen die Rote Armee im Baltikum ideologisch vorbelastet.
Ebert ließ den latenten Konflikt mit der Volksmarinedivison nun planmäßig eskalieren. Den Soldaten, die Weihnachten eigentlich gerne nach Hause wollen, wurde der ihnen zustehende Sold nicht ausbezahlt. Als Grund dafür wurde genutzt, dass sie das von ihnen besetzte Stadtschloss noch nicht geräumt hatten. Alle Vermittlungsversuche schlugen fehl, schon allein, weil Ebert die entsprechenden Verhandlungspartner im Dunkeln ließ, so dass diese nicht richtig entscheiden konnten. Am 23. Dezember wurde es den Soldaten zu bunt. Sie besetzten die Reichskanzlei und kappten die Telefonleitungen. Sie wussten allerdings nicht, dass es eine geheime Leitung ins OHL nach Kassel gab, über die der Befehl zum Angriff an die Regierungstruppen gegeben wurde. Am 24. Dezember attackierten sie das Schloss – und verloren. Die Volksmarinedivision hatte plötzlich die komplette Innenstadt unter Kontrolle und damit zum zweiten Mal innerhalb Tagesfrist die politische Macht in Händen. Beide Male nutzte sie sie nicht. Es gab kein Angebot an ihre glühendsten Anhänger, den Spartakusbund, zusammenzuarbeiten, keine Versuche, etwas mit der Macht anzufangen. Sie verlangten nur ihre Löhnung. Das allein zeigt, was für ein Unsinn die später immer geäußerte Behauptung ist, die Volksmarinedivison habe einen spartakistischen Aufschlag geplant. Mit Liebknecht und seinen Radikalen wollte sie nichts zu tun haben.
Diese militärische Niederlage verwandelte sich für die MSPD jedoch innerhalb weniger Tage in einen politischen Sieg. Die Regierungstruppen lösten sich faktisch auf, und große Teile integrierten sich in die neuen Freikorps, die der Regierung ergeben schienen. Die Volksmarinedivison konnte ebenfalls schnell politisch neutralisiert werden. Als Reaktion auf die Geschehnisse riefen die revolutionären Obleute zu einer Großdemonstration auf, und die USPD – mit der Ebert ohnehin nur widerwillig unter Druck der revolutionären Ereignisse paktiert hatte – trat in einem Anfall politischer Blindheit aus dem Rat der Volksbeauftragten aus. Für die MSPD war es ein leichtes, sich als Verteidiger der Ordnung gegen bolschewistische Umtriebe darzustellen. Die USPD fiel ab sofort als Korrektiv in der Regierung vollständig aus.
Für einige Tage kehrte Ruhe ein. Es war die Ruhe, wie sie vor einem Sturm zu herrschen pflegt. Anfang Januar konstituierte sich der Spartakusbund als Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Eine Rolle spielen sollte die Partei aber nicht, obgleich ihr diese von SPD und Rechten nur allzu gerne zugeschrieben wurde. Die Legende, dass die folgenden Aufstände vom Spartakusbund bzw. der KPD ausgingen (daher der Name „Spartakusaufstand“) beruht auf diesem Fakt und der Tatsache, dass die Linksextremisten das nur zu gerne hörten und die entsprechenden Gerüchte, die sie größer und wichtiger machten als sie waren, nicht dementierten.
Die Ruhe endete am 5. Januar. Zehntausende demonstrierten und füllten die Straßen. Anlass war die Entlassung des Polizeipräsidenten Eichorn (USPD) durch die MSPD-Regierung, doch niemand hatte mit einem solchen Echo gerechnet. Die Demonstration verlief weitgehend friedlich. Lediglich einige Bahnhöfe und Zeitungsredaktionen (wie der Vorwärts) wurden besetzt. Die Menschen, die sich dabei versammelten, waren dieselben wie zwei Monate zuvor. Sie wollten nun die Einlösung dessen, was vorher versprochen worden war. Von einer Umgestaltung des Landes nach der sozialdemokratischen Programmatik war schließlich noch nichts zu sehen; noch immer hielten die Anhänger des alten Regimes die Fäden in der Hand. Der Revolutionsausschuss rief für den nächsten Tag zu einer neuen Demonstration auf, der noch mehr Menschen folgten. Die revolutionären Obleute versuchten ein letztes Mal, den Sturz der Regierung Ebert zu betreiben. Doch nicht einmal die Volksmarinedivision stellte sich die Seite des dilettantisch geplanten Aufstandsversuchs, und er implodierte teilweise noch, bevor er richtig begonnen hatte. Ebert akzeptierte taktisch geschickt ein Vermittlungsangebot der USPD, ließ die Verhandlungen am 8. Januar scheitern und ab dem 9. Januar die in Berlin stationierten Truppen gegen die Aufständischen vorgehen.
Jetzt erntete Gustav Noske die Saat, die er seit dem frühen Dezember 1918 ausgesäht hatte: die im Umland aufgestellten, republikfeindlichen Freikorps marschierten in Berlin ein und begannen mit brutaler Gewalt gegen die Aufständischen vorzugehen. Die heftigsten Kämpfe fanden dabei um das Verlagsgebäude des Vorwärts statt. Viele Gefangene wurden einfach erschossen oder gar nicht erst gemacht. Es war das erste Mal, dass die Freikorps sich in entfesselter Gewalt an ihren linken Gegnern vergingen, und es hätte der Regierung Ebert ein mahnendes Beispiel sein sollen. Jedoch, nichts von alledem. Die MSPD war froh, Ruhe und Ordnung wiederhergestellt zu haben. Es war nun die Ruhe eines Friedhofs. Der ohnehin bestehende Graben zwischen MSPD und USPD/KPD wurde durch die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 15. Januar noch mehr vertieft, die zwar eigentlich keine Rolle in dem Aufstand gespielt hatten, aber für beide Seiten zu Symbolfiguren geworden waren.
In Deutschland gab es noch weitere Aufstände, doch Berlin war damit erst einmal befriedet, ehe es zum Schauplatz der blutigen Niederschlagung des Generalstreiks und dann der Gegenrevolution werden sollte. Am 19. Januar fanden planmäßig die Wahlen zur Nationalversammlung statt, die in Weimar tagte (in Berlin war es ihr zu unruhig) und dort bis Sommer die Weimarer Reichsverfassung ausarbeitete. Während die Revolution in Sachsen, Hamburg und München noch blutig niedergeschlagen wurde, begann in Deutschland die Debatte um den „Schandfriede von Versailles“ die Stimmung zu vergiften. Die SPD hatte ihre historische Chance fahren lassen. Sie sollte nie wieder kommen. Ihre falschen Freunde würden sie bereits ein Jahr später schmählich verraten, wie sie 1918/19 die ihren verraten hatte. Wenn in der französischen Revolution diese ihre Kinder fraß, so muss man das geflügelte Wort für die deutsche Revolution von 1918/19 umdrehen: hier fraß nicht die Revolution ihre Kinder, sondern die Eltern die Revolution. Die Revolution sollte die deutsche Entwicklung der Weimarer Republik als schwere Hypothek belasten. Es ist dies die Niederlage der SPD, die nicht willens war zu sehen, wer ihre Freunde und wer ihre Feinde waren.
Hervorragend geschriebene, wenn auch ältere, Arbeit zum gleichen Thema:
Sebastian Haffner
Die deutsche Revolution 1918/19
Gerade zum Einstieg für historisch wenig Vorbelastete zu empfehlen.
Hab ich mich früher sehr stark darauf gestützt, kann ich inzwischen nicht mehr empfehlen. Haffner ist wesentlich zu unkritisch gegenüber der radikalen Linken und zu kritisch mit Ebert.
Seltsames Bewertungskriterium … Das ist eine Einschätzungs-/Bewertungsfrage, was gleichzeitig heisst, Du hast an seiner historischen Nachzeichnung an sich nichts auszusetzen?
Was verstehst du unter historische Nachzeichnung? Quasi was passiert ist? Nö, nichts auszusetzen, die Fakten sind ja bekannt. Klar ist das eine Einschätzungs- und Bewertungsfrage, das ist ja, was Historiker*innen machen.
Im weitestens Sinne Geschichtswissenschaftliche Werke spiegeln immer die Sichtweise des Betrachters auf die Ereignisse. Die Sichtweise ändert sich mit der Zeit. Deshalb werden immer weiter neue Bücher über die Antike geschrieben. Die Bewertung manifestiert sich schon in der Auswahl der dargestellten Ereignisse. Ich habe bestimmt 20 Bücher gelesen, die die Entwicklungen in Chile 1964 bis 1973 zum Thema hatten. Bezüglich der Ereignisse besteht weitgehend Einigkeit, aber trotzdem kommen alle die Autoren zu unterschiedlichen Bewertungen, die in sich schlüssig sind, außer vielleicht 3 „Werken“, die ich aus persönlich-ethischen Gründen wirklich abscheulich oder/und zu plump manipulativ fand.
Nach dem Schock des Holocausts hat man vor ein paar Jahrzehnten die Weimarer Republik verständlicherweise vielleicht zu sehr von dem Ende aus gedacht. Und da übersieht man möglicherweise zu leicht die Abgründe der extremen Linken als spätere Opfer des Nationalsozialismus.
Nun, das Ding erschien 1968 (oder 69) und passte prima in den Zeitgeist. Haffner war zu dieser Zeit Kolumnist nicht nur beim Stern, sondern auch bei konkret und fand die APO so richtig gut. Gut zehn Jahre davor war er mal der Meinung, dass Adenauer der „hervorragendste Staatsmann, der seit Bismarck an der Spitze Deutschlands steht“ sei. Auf die alten Tage in den eher bräsigen 80ern brachte er dann zunehmend (als Berliner und nicht ganz ohne nostalgischen Einschlag) das Preußisch-konservativ-nationale zur Sprache mit Bismarck als großen Star. Aber anno ’68 und drumrum war Bismarck halt nitt so das Thema gewesen, das groß interessiert hätte^, „Revolution“ dafür umso mehr.
Er war halt historisch interessierter Journalist und kein Historiker. Sehr scharfsinnig, aber manchmal nitt so ganz trittfest. Macht nichts; nur wer sich nie äußert liegt immer richtig.
Die Kolumnen hab ich als Jungspund ganz gerne gelesen; kann mich nur nicht mehr erinnern, was da so alles drinne stand^; egal, im Kern natürlich eine Hommage auf das damals mindestens halb-linke Juste Milieu. Das ist im Übrigen alles nicht zu beanstanden.
Mein Favorit ist „Überlegungen eines Wechselwählers“ von 1980; ich kenne wenig politische Einschätzungen, die dermaßen daneben waren. 😀
Stimmt.
Mir ist gerade aufgefallen – dasselbe kann man über Deine Besprechungen sagen. Ebert kommt bei Dir ganz schlecht weg 🙂 .
Ja, das meine ich ja: die sind immer noch unter dem Schatten. Ich arbeite da mittlerweile aktiv dagegen und relativiere das. Aber ich bin da noch in einem Findungsprozess aktuell und revidiere meine früheren Einschätzungen – auf Basis aktueller Literatur, by the by, was mein Punkt zu Haffner ist. 🙂
Bitte um Verzeihung – hatte die gleichnamige Literaturempfehlung von Stefan übersehen. Mea culpa.
Macht nichts, gibt mir Gelegenheit zu diskutieren inwieweit das noch zeitgemäß ist. ^^
Nun, wenn das Buch aus zwei unterschiedlichen Richtungen unabhängig empfohlen wird, ist das auch ein Qualitätszeugnis.
Selbst wenn du ihn für nicht zeitgemäß hältst, hast du den Pathos Haffners ganz gut stilistisch übernommen: „Es ist dies die Niederlage der SPD, die nicht willens war zu sehen, wer ihre Freunde und wer ihre Feinde waren.“
I know, der hat mich sehr geprägt.
Likewise, aber das ist länger her (Alter zwischen 25 und 30). Lese ihn aber immer noch gerne, für einen Deutschen ist seine Formulierungskunst fabelhaft.
Er ist ein großartiger Autor!
Dito. Wahrscheinlich geburtsjahrabhängig. Liest man in Geschichts-LKen noch „Anmerkungen zu Hitler“? Ernsthafte Frage (für einen Freund…;-))
Gruß, M.
Lol, nein.
Das ist schade – eine bessere Einführung in das Thema existiert nach wie vor nicht.
Ist halt einfach nicht mehr auf dem Stand der Forschung. Aber das macht nichts, es gibt ja tonnenweise gutes Material. Haffner wäre inzwischen selbst eine quelle. Ich arbeite aber generell wenig mit Sekundärquellen und viel mit Primärquellen.
Eigener Buchtip zum Thema: Robert Gerwarth legt den Fokus nicht auf die vergeigten sondern auf die ergriffenen Chancen der Revolution:
https://www.amazon.de/Die-gr%C3%B6%C3%9Fte-aller-Revolutionen-November/dp/3827500362/ref=sr_1_3?dib=eyJ2IjoiMSJ9.stDe3m8G3mD1b0G6Mn-aaorxeCtN50L1fZBGMT6oFL-vmS_4AhbOzVEN3wbI4oczK6fjza7NRvPFP1wK3m4YhRs08d0y5fhGdBJQWEoowGBrQ3jQgREJPm2Q1gPmeEMhBQ_N9DRozlEo4eVQA22sCA5Wd2Moov-rIZ-0bqausmQFnSfPj5S5Rsv2bUk2sQm8196esHamCqdzWa1Vhd6-EEf3_g6bJUHallimUMLHy9Q.43V7rV3LCx33nZ09kIhawTQVWmntcV8LT91fhZL0FH4&dib_tag=se&keywords=robert+gerwarth&qid=1710764759&sr=8-3
Danke!
Danke.
Les aktuell Teil 1 der Walter Ulbricht Biographie von Ilko Sascha Kowalczuk. Sehr interessant zur KPD in der Weimarer Republik. Aber Ulbricht ist altersbedingt als Politiker erst ein paar Jahre nach 1918/19 eingestiegen, so daß die Phase im Buch nicht wirklich behandelt wird.
Was in diesem Zusammenhang eine wirklich interessante Episode ist, ist die Münchner Räterepublik. Planst du dazu etwas oder hättest du ggf. Interesse, wenn ich dazu was schreibe?
Kommt morgen, aber nicht sehr ausführlich. Mach gerne!
Ich habe mich im Anschluss an die Lektüre von Haffners diskutiertem Werk zeitweise intensiver mit 18/19 beschäftigt.
Meine damaligen Schlussfolgerungen, die ich heute noch für richtig halte, waren die folgenden:
1) Der Grossteil der von den damaligen Arbeiter- und Soldatenräten aufgestellten Forderungen war im Kern moderat, nicht revolutionär
2) Die SPD hat vollständig darin versagt, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen und die Angst der alten Kaiserreich-Eliten vor den „Kommunisten“ für sozialdemokratische Anliegen zu nutzen. Und das trotzdem ihr diese Führung aus den Reihen der „Räte“ immer wieder angetragen wurde – die hatten durchaus ein Bewusstsein dafür, wozu sie nicht geeignet waren.
3) Die einzige mich überzeugende Begründung für dieses Versagen ist ein Aufsteigersyndrom bei der SPD-Führung. Sie WOLLTE um fast jeden Preis von den alten Eliten anerkannt und akzeptiert werden und räumte deshalb deren Anliegen viel zu viel Gewicht ein.
Als Nebenbemerkung: Nach der Ludendorff-Erklärung „man müsse „sofort“ um Waffenstillstand nachsuchen, da die Front keine 24 Stunden mehr gehalten werden könne. Alles müsse akzeptiert werden.“ hätte der Mann samt seinen engsten Vertrauten verhaftet und standrechtlich erschossen werden müssen.
Gruss,
Thorsten Haupts
1) Völlig bei dir.
2) Völlig!
3) Ja, das halte ich auch für einen gewichtigen Grund. Aber du unterschätzt („einzige“) in meinen Augen die Präferenz für das parlamentarische System. Das wollten die unbedingt machen, hatten aber keine Mehrheit, weswegen sie die Bürgerlichen zwingend dazuholen mussten.
Ludendorff: Jepp. Verpasste Chance. Ähnlich wie die USA nach dem Bürgerkrieg. Manchmal ist der heilsame Langzeiteffekt einiger strategisch platzierter Hanfseile nicht zu überschätzen.