Was das Kündigungsrecht anbelangte verbesserte sich die Position der Arbeiter*innen in den 1960er und 1970er Jahren wesentlich: in Deutschland und Frankreich durch klare Kündigungsschutzregeln, die in Deutschland zudem in das System der betrieblichen Mitbestimmung eingebunden waren, in Großbritannien durch Schlichtungs- und Abfindungsverfahren. Der Vergleich bleibt aber laut Raphael schwierig; das deutsche und britische System sind etwa viel flexibler als das französische. Der Schutz vor Kündigungen blieb aber in Großbritannien am schlechtesten ausgeprägt.
Trendsetter war Großbritannien dagegen in seiner Gesetzgebung gegen geschlechtliche und rassistische Diskriminierung, die bereits in den 1960er Jahren begonnen und in den 1970er Jahren kodifiziert wurde; bis heute funktioniert diese Gesetzgebung auf Basis ihrer ursprünglichen Form weiter. Frankreich begann erst Ende der 1970er Jahre mit ähnlichen Schutzwirkungen und fügte gegenüber Großbritannien starke Regelungen in der Begrenzung der Wochenarbeitszeit hinzu. Die BRD hielt sich hier lange zurück, so dass die 48-Stunden-Woche dominierte (sie galt bis 1994!). Zu Beginn der 1980er Jahre lag durch Tarifverträge in der tonangebenden Metallindustrie die Wochenarbeitszeit bei 40 Stunden, sank dann bis zum Ende des Jahrzehnts auf 38,5 und dann bis 1995 auf 35 Stunden. Gleichzeitig verlängerte sich der Jahresurlaub deutlich. Solche Maßnahmen fehlten in Großbritannien völlig. Die auf europäischer Ebene in den 1980er Jahren eingeführten Sicherheitsstandards wurden in Großbritannien notorisch gebrochen, wo der Staat sie auch praktisch kaum kontrollierte; nicht viel besser sah das Bild in Frankreich aus. In Deutschland war die Lage dank der gesetzlichen Mitbestimmung etwas besser, blieb aber ein Problem.
Die Sozialpakete waren ebenfalls sehr unterschiedlich konstruiert. Die britischen Lohnnebenkosten waren niedrig, weil die Sozialleistungen steuerfinanziert waren, wodurch die Arbeiter*innen bei Arbeitslosigkeit stark abstürzten (rund 41% des letzten Lohns). Deutschland (etwa 61%) und Frankreich (60-70%) waren deutlich mehr am Modell der Lebensstandardsicherung hin ausgerichtet und banden die Sozialleistungen deswegen direkt an die Löhne. In allen drei Ländern begann in den 1980er Jahren der Sozialabbau, in dem die Regierungen politisch alle gleich vorgingen: sie „kauften sich Zeit“, indem sie die bisher abgesicherten Arbeiter*innen massiv im Strukturwandel unterstützten und gleichzeitig neue Beschäftigungsverhältnisse aus den Sozialpaketen heraushielten. Dadurch trat auch das Phänomen der Langzeitarbeitslosigkeit auf, bei dem dieses Schleifen der Sozialstandards am deutlichsten sichtbar wurde, weil die Anwartschaften verringert wurden (gleichzeitig aber hoch genug blieben, um das System auf Dauer zu überlasten).
Dementsprechend veränderte sich auch die Tonlage. Am stärksten war dies wiederum in Großbritannien zu sehen, wo means tests und andere entwürdigende Maßnahmen die Regel wurden, die zu einer deutlichen Erniedrigung von Sozialleistungsempfangenden führten. Auch in Deutschland und Frankreich schwenkten Regierungen in den 2000er Jahren auf diese Linie ein. Die Folge war „eine Rückkehr elementarer Lebensrisiken in den Erfahrungsraum vieler Arbeiterhaushalte“, die allerdings sehr ungleich verteilt war: manche Gruppen erlebten sie wesentlich schärfer als andere (vor allem Frauen, Ungelernte und Migrant*innen), während andere Gruppen sie eher als Wetterleuchten am Horizont wahrnahmen.
Zum Abschluss des Kapitels kommt Raphael auf drei Arbeitswelten. In der ersten besteht das Prinzip der Sozialbürgerschaft weiter, mit all den Absicherungen, die das mit sich bringt. In der BRD findet sich diese Welt noch in großen Teilen der alten Industriebranchen, in Frankreich fast nur in Großunternehmen und in Großbritannien nur in „Inseln“. In der zweiten Welt gelten Teile des Systems noch, aber die kollektive Interessenvertretung ist allenfalls noch dysfunktional vorhanden. Klein- und Mittelbetriebe, Investoren aus den USA oder Japan und Neugründungen gehören zu dieser Welt. Die dritte Welt schließlich umfasst alle Betriebe, in denen das System auch de jure aufgekündigt worden war, vor allem Kleinunternehmen und der Dienstleistungsbereich.
Kapitel 5, „Facharbeit, Produktionswissen und Bildungskapital: Deutungskämpfe und Neuarrangements„, wendet sich dann der Deutung dieser Entwicklungen zu. Im Zentrum steht der viel zitierte „Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft“, da in allen drei Ländern in dieser Zeit „Bildung“ und „Wissen“ zu zentralen Begriffen der Debatte wurden und eine immer größere Rolle spielten. Visionen von der Automatisierung hielten überall Einzug. Die Abwertung von manuellen Tätigkeiten gegenüber geistigen war dabei kein neues Phänomen; schon Karl Marx hatte sie untersucht. Die größte Trennung der Sphären hatte das kapitalistische System des 19. Jahrhundert, in dem alles Wissen beim Fabrikbesitzer lag, während die Arbeiter*innen rein ausführende Tätigkeiten hatten. Die spezialisierte Facharbeit entwickelte sich aus dem Wissen der Handwerker, das diese in die Industrie mitbrachten. Im Verlauf der Industrialisierung nahm die Bedeutung von Wissenstiteln dann immer mehr zu.
Dadurch stieg die Bedeutung der Facharbeiter*innen, deren Anteil konstant zunahm. In Großbritannien blieb dieser Prozess privat, zwischen Betrieb und Auszubildenden. In Frankreich, das ab 1789 die handwerklichen Traditionen geschliffen hatte, übernahm der Staat die Rolle der Zertifizierung, während Deutschland im Kaiserreich das bis heute gerühmte duale Ausbildungssystem entwickelte, in dem die berufliche Seite bei den Unternehmen und die schulische Seite beim Staat lag.
In den 1970er Jahren entwickelte sich nun die neue „Bildungsideologie“, die Raphael als „Herrschaftswissen“ qualifiziert: die Vorstellung, dass man sich in eine „Wissensgesellschaft“ bewege, in der „Kompetenzen“ statt Bildungstiteln und dazu lebenslanges Lernen dominieren würden, galt als Fakt. Theoretische Grundlage war Gary S. Beckers Theorie vom „Humankapital“ (das heute glaube ich nur als Pejorativ vorkommt). Obwohl die Empirie bereits damals gegen diese Vorstellungen sprach, wurden sie aus ideologischen Gründen übernommen und propagierten eine Kombination von öffentlichen Bildungansgeboten mit privaten Zusatzinvestments. Die meinungsbildende Elite modellierte quasi ihren eigenen Status Quo für alle, was angesichts des Fehlens „einfacher“ oder „mittlerer“ Jobs in den Dienstleistungsbranchen in dieser Ideologie umso augenfälliger ist. Sie galten schlicht als veraltet und unattraktiv.
Die Bildungssysteme aller drei Länder widersprachen diesen Vorstellungen in den 1960er Jahren massiv. Ihre „Demokratisierung“ stand deswegen weit oben auf der Agenda, womit neben einem verbreiterten Zugang auch ein wesentlich größerer Praxisbezug gemeint war. Die prophezeite Neuordnung blieb aber aus: formalisierte Bildungstitel blieben zentral, auch wegen des starken Widerstands der Wirtschaft, die das duale System, die Doktortitel etc. beibehalten wollte. Die „Tertiärisierung“ des Bildungssystems war in Frankreich ein großer und eher problematischer Kraftakt, während Großbritannien überhaupt erst in den 1990er Jahren nachzog. Raphael untersucht alle drei Systeme systematisch.
In Deutschland wurden die Fundamente der Expansion noch in der Großen Koalition gelegt, die noch zur Absicherung des industriellen Booms das korporatistische System zementierte. Die ab den 1970er Jahren einsetzende Bedeutungsverschiebung hin zum sekundären Bildungssektor, vor allem Realschule und Gymnasium, wurde von einer immer größeren Durchlässigkeit des dualen Systems begleitet. Dem stand als Negativum ein immer schwerer Zugang von Hauptschüler*innen und Schulabbrecher*innen gegenüber. Insgesamt bewies das System eine „Modernität des Unmodernen“ (Greinert).
Das britische Lehrlingssystem mit bis zu fünf Jahre währenden Ausbildungszeiten erreichte selbst zu seinen Hochzeiten kaum ein Drittel der Jugendlichen und war in den 1960er Jahren in einer tiefen Krise. Dazu kam, dass die Gewerkschaften das System mit dazu benutzten, ihre Macht zu erhalten, indem sie Zugänge kontrollierten. Die Thatcher-Regierung zerschlug die Macht der Gewerkschaften und reduzierte die Jugendarbeitslosigkeit durch die Einführung eines ein- bis zweijähirgen „Youth Training Schemes“, der die Jugendlichen aber nur auf die Wartebank schob und nichts leistete. Die Übertragung der Ausbildung an die Privatwirtschaft scheiterte ebenfalls, weil nur rund ein Fünftel der Betriebe überhaupt ausbildeten. Selbst der unter New Labour betriebene Fokus auf Bildung blieb weitgehend Illusion. Angesichts dieser Lage kam Großbritannien dem bildungsideologischen Ideal einer kompetenzbasierten Gesellschaft am nächsten, in der die Arbeitgebenden bestimmten, welche Fähigkeiten jemand formell besaß. All das hatte den Nebeneffekt, in der Arbeitendenschaft eine Anti-Intellektualität und Ablehnung von Schule festzuschreiben, die das deutsche duale System deutlich verwässern konnte, und so gesellschaftliche Standesgrenzen zu reproduzieren und festzuschreiben.
Das französische System brachte Schulabgänger*innen mit wesentlich höheren und mit der BRD vergleichbaren Standards an Bildung hervor, was dazu führte, dass die Vermittlung von Wissen und Titeln immer mehr auf die Schulen überging und zu einem Bedeutungsverlust der Facharbeitendenschaft führte. Branche um Branche wurden die alten Ausbildungsgänge komplett abgeschafft und durch neue Strukturen mit eigenen Zugangshürden ersetzt.
Diese Entwicklungen führten dazu, dass die Öffnung des Bildungssystems paraxoderweise die Lage der Arbeiterklasse als Ganzer verschlechterte, weil sie zu einer zunehmenden Bedeutung formaler Abschlüsse führte. Am schlechtesten schnitt das britische System ab, wo der Ausbildungsgrad aller Arbeitenden durch die Fiktion eines Erwerbs im Beruf am geringsten blieb. In Frankreich war der Bildungserwerb durch die Fokussierung auf das staatliche Schulsystem am größten, aber auch praxisfernsten und hatte wegen der auch rechtlich deutlichen Trennung der verschiedenen Klassen einen wenig durchlässigen Effekt; gleichzeitig war das System aber für die dadurch gebildeten Schichten (wie auch in Deutschland) deutlich besser auf die Herausforderungen der Zukunft eingestellt, weswegen diese Länder anders als Großbritannien auch eher auf exportorientierte Qualitätsproduktion setzten, während die Insel eher versuchte, Wettbewerbsfähigkeit durch niedrigeres Lohnlevel zu erhalten.
Die Arbeit selbst veränderte sich ebenfalls massiv: von einer tayloristischen Organisation ging der Trend zu flexibleren, aber auch fordernderen Arbeitsorganisationen, in denen das Idealbild angestrebt wurde, nachdem jede*r Arbeiter*in bis zu fünf verschiedene Jobs beherrschte (multiskilling). In der Praxis wurde dieses Ideal wegen der Fluktuation und fehlender Ausbildung im Betrieb vor allem in Großbritannien selten erreicht, aber wo es gelang, entstanden große Produktivitätsgewinne.
Raphael beschließt das Kapitel mit sieben Feststellungen. Erstens nahmen die fachlichen Anforderungen an ALLE Arbeitenden zu; zweitens wurden Weiterbildung und -qualifikation für ALLE Arbeitenden zu essenziellen Identitäsmerkmalen; drittens die bereits erwähnte Flexibilisierung; viertens die Herausforderung, die darin vor allem für ältere Arbeitnehmende bestand; fünftens der Generationenbruch („Abschied vom Malocher“); sechstens die Disziplinierung durch eine Null-Fehler-Toleranz und größere Disziplin am Arbeitsplatz; siebtens die Reproduktion von Geschlechterrollen durch die Entindustrialisierung, da die Frauen von den Weiterbildungsangeboten weitgehend ausgeschlossen waren. Zuletzt erinnert Raphael noch einmal an die Bedeutungszunahme der Subjektivierung: was Kompetenzen wert waren und wie Arbeit konkret entlohnt wurde, war immer mehr bilateralen Abkommen von Arbeitnehmenden und Arbeitgebern unterworfen.
Korrektur zu Abschnitt 2 : „Die BRD hielt sich hier lange zurück, so dass die 48-Stunden-Woche dominierte (sie galt bis 1994!).“ Die gesetzliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden pro Woche (§ 3 ArbZG) gilt SEIT 1994, als das Arbeitszeitgesetz eingeführt wurde. Davor war sie allgemein ungeregelt.
In Tarifverträgen war (wie du darunter ja auch schreibst), die 40 Stunden-Woche seit den 60ern Standard mit Tendenz nach unten.
Danke, dann hab ich Raphael da falsch wiedergegeben.
Erstens nahmen die fachlichen Anforderungen an ALLE Arbeitenden zu; zweitens wurden Weiterbildung und -qualifikation für ALLE Arbeitenden zu essenziellen Identitäsmerkmalen; drittens die bereits erwähnte Flexibilisierung; viertens die Herausforderung, die darin vor allem für ältere Arbeitnehmende bestand; fünftens der Generationenbruch („Abschied vom Malocher“); sechstens die Disziplinierung durch eine Null-Fehler-Toleranz und größere Disziplin am Arbeitsplatz; siebtens die Reproduktion von Geschlechterrollen durch die Entindustrialisierung …
Mindestens 3 Punkte dieser Zusammenfassung sind fachlich einfach nicht haltbar: Die Steigerung der fachlichen Anforderungen an ALLE Arbeitnehmer gab es nicht, die angebliche Disziplinierung durch eine Null Fehler Toleranz ist nur für (wenige!) Bereiche (direkte Massenfertigung) zutreffend und wurde gleichzeitig durch Automatisierung weitgehend abgefedert, die Reproduktion von Geschlechterrollen ausgerechnet durch Entindustrialisierung ist schlicht Quatsch und entspricht auch weder den harten Indikatoren dieser Periode noch meinen Beobachtungen. Wenn diese Punkte tatsächlich von Raphael kommen, lohnt sich das Lesen vermutlich nicht.
Gruss,
Thorsten Haupts
In meinem Job ist die Akzeptanz gegenüber echten bloppern seit Ende der 90er eher gestiegen. Die Prozesse wurde auch um automatisierte Fehler-Vermeidungssystem erweitert, wie z.B. peer review, automatisierte Tests schreiben wurde ein immer riesigeres Thema, QM-Tools, die den source code nach bestimmten Regeln analysieren und die Entwickler auf mögliche Fehler aufmerksam machen. Man muß natürlich lernen, dieses Zeugs zu seinem Verbündeten zu machen.
Außerdem gab es ausgehend von Unternehmen wie google einen kulturellen Wandel, gemäß die Angst vor dem Fehler teurer ist als die Fehler selbst. Fehler sollte man selbstverständlich feiern -> https://digitaleneuordnung.de/blog/fehlerkultur/
Eins meiner größten Freuden bei meinem aktuellen Behörden-Kunden ist die ausbrechende Panik, wenn ich die dahin gebracht habe, dass die eine Entscheidung treffen müssen.
Dabei verstehen sich deren Spitzen „nicht als Experten, sondern Generalisten und Entscheider“. Entscheidungen sind natürlich ein todernstes Thema und die meeten dann immer wochenlang, bis sich wirklich jeder ausreichend abgesichert fühlt.