Wenig überraschend interpretierte die BRD die Deindustrialisierung auch als eine Auflösung von Klassen und Schichten. Es gab zahlreiche Versuche, Deutungsmuster zu funden („Risikogesellschaft“ (Beck), „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze), „Informationsgesellschaft“ (Bell). Beliebt in der bundesdeutschen Soziologie ist auch die Konstruktion der Sinus-Milieus. Diese Entwicklungen untergruben die alte Mobilisierungssprache nachhaltig. In Frankreich und Großbritannien dominierten amerikanische Deutungsmuster, die in der Deindustrialisierung vor allem eine Individualisierung betrachteten. Alle drei Länder erlebten einen Aufschwung kritischer Berichterstattung über „Problemgruppen“, die sich diesem neuen Trend zu verweigern schienen (Arbeitslose, das Prekariat, etc.). Die alte Arbeitsgesellschaft verschwand fast völlig aus dem Blickfeld. Stattdessen entstand das Bild einer Gesellschaft, die die Kontrolle über ihre Ränder verloren hatte. Andere Scheidungslinien wie Rassismus und Sexismus wurden immer bedeutsamer. In der Soziologie breitete sich eine generelle Skepsis aus, inwieweit man überhaupt noch Kollektive fassen könne.
Zu diesem Prozess gehörte auch die Veränderung der politischen Kommunikation. Die Auflösung der traditionellen Milieus einerseits und der Siegeszug des nivellierenden Fernsehens andererseits erzwangen eine Anpassung der Parteien an die neuen Kommunikationsformen, die die alten Mobilisierungssprachen weitgehend verdrängte. In einer gewissen Weise war dem aber ein falscher Frühling der Klassensprachen vorausgegangen, der durch die günstige Beschäftigungssituation und das links-sozialistische Meinungsklima der 1960er Jahre geschaffen worden war. In Frankreich und Großbritannien war dieser Trend aber dank der stärkeren Klassenstrukturen wesentlich weniger ausgeprägt als in Deutschland.
In Frankreich verloren die sozialistischen Kampfbegriffe angesichts der Repression des Ostblocks 1956/68 massiv an Attraktivität, während umgekehrt die Mittelschicht ins Zentrum sozialdemokratischer Rhetorik zu rücken begann, ein Prozess, den auch New Labour und Schröders SPD rapide nachvollzogen. Die Sozialdemokratie wurde zunehmend zu einer Partei des Öffentlichen Dienstes und der Angestellten, was sich in ihrer Sprache deutlich abzeichnete. Auch hier sticht die deutsche Situation heraus, da der DGB bereits nach 1945 die Klassenrhetorik Weimars abgelegt und sich auf den Catch-All-Begriff „Arbeitnehmer“ festgelegt hatte. Um den Bedeutungsverlust der Arbeiter zu kompensieren bemühten sich die Gewerkschaften um die Aufhebung der alten Trennlinie, was final 2003 gelang.
Mit ihrem Verschwinden wurde die Arbeiterklasse immer zu einem Gegenstand von Kunst und Kultur. Die Produkte von Arbeiter*innen selbst hatten dabei keinen Erfolg; es waren Arbeiten von aus der Mittelschicht stammenden Intellektuellen ÜBER die Arbeiterklasse, die reüssierten. Dadurch wurde sie zunehmend exotisiert. Zwar wurde sie romantisiert; dies führte aber gleichzeitig zu einem Schein des Gestrigen und Vergangenen, was durch die offizielle Erinnerungspolitik (die vielen Zechenmonumente im Ruhrgebiet etwa) noch verstärkt wurde. In Großbritannien entwickelte sich ein eigenes Genre von Spielfilmen, vor allem im komödiantischen Genre, die die Arbeiterklasse thematisierten. Üblicherweise wurde, wie etwa in „Billy Elliot“, der Ausbruch aus diesem dem Untergang geweihten Milieu als erstrebenswert dargestellt.
Zum Abschluss des Kapitels fasst Raphael noch einmal seine wichtigsten Befunde zusammen. (1) Die Sprachen, die Arbeitern eine kollektive Existenz gegeben hatten, wurden leiser. (2) Ihre politischen Repräsentationsformate lösten sich auf. (3) Gesellschaftliche Ungleichheit wurde zwar im Diskurs nur noch als „Kaleidoskop feiner Unterschiede“ thematisiert, von den unteren Schichten aber durchgehend als „wir gegen die“ wahrgenommen. Raphael wendet sich daher entschieden dagegen, die Arbeiterklasse als verschwunden anzusehen, nur weil dies im öffentlichen Diskurs postuliert wird.
Kapitel 3, „Politikgeschichte von „unten“: Arbeitskämpfe und neue soziale Bewegungen„, beginnt Raphael mit der Feststellung, dass die Arbeiterbewegung bis in die 1970er Jahre ein aktivistisches, progressives Geschichtsverständnis stetigen Fortschritts durch Protest hatte, das sich danach nachhaltig zerschlug. Neue Bewegungen dockten an die Protestmethoden an und machten sich sicht- und hörbar. Da Arbeiter*innen üblicherweise keinen Zugang zu materiellen oder kulturellen Ressourcen haben, bleiben sie ohne schlagkräftige Organisationen wie die Gewerkschaften ungehört. Raphael will deswegen betriebliche Auseinandersetzungen stärker unter die Lupe nehmen, spiegelbildlich zu Kapitel 1 ihren Einfluss auf die Wirtschaftspolitik untersuchen und die „Ereignisse“ (große Streiks etc.) betrachten.
Streiks wurden in den drei Ländern unterschiedlich gehandhabt. In Großbritannien waren sie rechtlich praktisch unreguliert und oblagen einem „anything goes“, während die BRD das Streikrecht am schärfsten begrenzte. Frankreich bildete hier den Mittelweg. Gleichwohl betrachteten während des Booms 1948-1973 die Gewerkschaften Frankreichs den Streik als ein regelmäßig anzuwendendes Mittel der Klassenbildung, während die britischen und westdeutschen Gewerkschaften auf Kooperation mit der Sozialdemokratie setzten (und im deutschen Fall auf die Tarifpartnerschaft).
Sowohl in Frankreich als auch in Großbritannien gelang es den Gewerkschaften Anfang der 1970er Jahre, gewaltige Erfolge durchzusetzen. Sie erlangten Inflationsausgleiche und andere monetäre Ergebnisse, aber anders als in der Bundesrepublik, wo die Löhne ebenso (und ohne riesige Streiks) stiegen wurden die Streiks von beiden Seiten auch als Kampf um die Wirtschaftsordnung wahrgenommen und geführt. Der britische Bergbaugewerkschaftsführer Arthur Scargill etwa brachte den Konservativen 1972 und 1974 vernichtende Niederlagen bei, die bei den Tories zur Erstellung einer neuen Strategie absoluter Härte und totalen Kampfes führten, die dann 1984 exerziert wurde – mit durchschlagendem Effekt. Auch in Frankreich gelang es den Gewerkschaften zu Beginn der 1980er Jahre nicht, ihre Erfolge zu wiederholen. Zwar versuchte die Regierung Mitterand kurzzeitig, Nationalisierungen durchzusetzen. Jedoch mussten sie unter dem Druck der wirtschaftspolitischen Wende (Neoliberalismus, Monetarismus, Kapitalisierung, siehe Kapitel 1) schnell eine Kehrtwende hinlegen.
In der Bundesrepublik brach 1987 eine Welle militanterer Streiks im Ruhrgebiet aus, als unerwartete Betriebsschließungen auch junge Arbeitnehmende betrafen. Vor allem die ausgleichende Politik der SPD-Regierung im Land entschärfte den Konflikt. Am relevantesten aber war die beginnende Kampagne für die 35-Stunden-Woche. Diese Forderung war hochumstritten und sollte von Seiten der Gewerkschaften Arbeitsplatzverluste reduzieren. Die Arbeitgeber lehnten sie vehement ab. Auffällig war die starke Politisierung; die CDU/CSU stellten sich emphatisch auf die Seite der Arbeitgeber, und mit Dehnungen und Übertretungen des Streikrechts wurde versucht, die Streikkassen der IG Metall überzustrapazieren. Der resultierende Kompromiss der 38.5-Stunden-Woche ist für Raphael vor allem darin bedeutsam, dass er einerseits einen Trend zur Flexibilisierung von Tarifverträgen begründete, andererseits aber die Wirtschaft auf den Pfad der Produktivitätssteigerung und Rationalisierung festlegte.
Das Zeitalter der großen Streiks aber war vorüber. Ein Gefühl der Machtlosigkeit machte sich breit, das zusammen mit der demobilisierenden und entmündigenden Massenarbeitslosigkeit die politische Aktion „von unten“ drastisch unattraktiver machte. Dazu kam die beschriebene Entwicklung, dass die Schuld für die Deindustrialisierung den arbeitslosen Arbeiter*innen selbst aufgebürdet und so individualisiert wurde; das Thema wurde in den Medien zudem banalisiert und kaum mehr berichtet. Der letzte Faktor war eine Entpolitisierung: die Wende der Linksparteien zu marktbasierten Konzepten ab den 1980er Jahren nahm den Staat als Adressat von Forderungen aus dem Spiel, da die etablierten Alternativen von Verstaatlichung und direkten wirtschaftlichen Eingriffen nicht zur Verfügung standen. Gleichzeitig gab die Politik viel Geld aus, um die Folgen abzudämpfen und das Thema so weiter aus den Schlagzeilen zu halten, mit entsprechenden Folgen für die Schuldenstände.
Kapitel 4, „Von Industriebürgern und Lohnarbeitern: Arbeitsbeziehungen, Sozialleistungen und Löhne„, geht wesentlich tiefer auf das Konzept des Industriebürgers ein. Raphael konstatiert, dass ein ganzes Bündel von Gesetzen, Sozialleistungen und vertraglichen Vereinbarungen über den eigentlichen Arbeitsvertrag hinaus die Lebensrealität bestimmten. Die Boomphase mit ihrer Stärkung der Gewerkschaften hatte zu einer mehrfachen Absicherung des Lohnarbeitsverhältnisses geführt, die synonym mit „guter Arbeit“ geworden war. Das bedeutete für Arbeiter*innen konkret die kollektiv-tarifrechtliche Absicherung von Löhnen und Arbeitsbedingungen, betriebliche Mitbestimmung, Instanzen für die Durchsetzung dieser Rechte und Schlichtung, Mindestlöhne, individuelle Schutzrechte und zuletzt arbeitsbasierte Ansprüche auf Sozialleistungen.
Raphael weist darauf hin, dass die oft gehörte Lesart, dass dieses Paket fordistischen Produktionsweisen entsprungen sei, in die Irre führe. Es war ein europäisches Unikum, wurde erst in der postfordistischen Ära geschaffen und kam erst nur Facharbeiter*innen und erst später auch Ungelernten zugute. Zwar durchbrach dieses Paket auf der einen Seite die Statusgruppen des 19. Jahrhunderts, schuf aber auf der anderen Seite neue, vor allem im Bereich der Geschlechter (männliches Einernährermodell, Frau als Hausfrau) und des Migrationshintergrunds (ungelernte und Hilfstätigkeiten bei Menschen mit Migrationshintergrund).
Ab 1975 geriet das Tarifrecht, die wichtigste Stütze des Systems, immer mehr unter Beschuss. Interessanterweise war dieser von konservativer Seite vorgebrachte Angriff mit einer Verrechtlichung der gewerkschaftlichen Erfolge verbunden: eine neue konservative Sozialpartnerschaft nach dem deutschen Modell wurde auch nach Frankreich und Großbritannien übertragen. Die Arbeiter*innen gaben gewissermaßen ihre Macht zugunsten einer Verrechtlichung ab, die den Spielraum der Gewerkschaften massiv einschränkte, gleichzeitig aber den Status Quo sicherte. Dieses interessengeleitete Arrangement erlaubte er der aufstrebenen „new economy„, sich weitgehend außerhalb der Strukturen der Industriegesellschaft zu entwickeln.
An dieser Stelle legt Raphael einen kurzen Exkurs zu gewerkschaftlicher Organisationsmacht ein. In Großbritannien schwand die gewerkschaftliche Macht in den 1970er und 1980er Jahren massiv; die Gewerkschaften verloren über die Hälfte ihrer Mitglieder. In neuen Unternehmen konnten sie sich kaum etablieren. In Frankreich ist eine ähnliche Krise zu beobachten. Die BRD stellt hier die Ausnahme dar; ihre Gewerkschaften kamen glimpflich davon, besaßen allerdings auch ein niedrigeres Ausgangsniveau. Wie in Großbritannien etablierten sie sich in den neuen Bundesländern niemals. Ähnlich sieht die Lage für die Mitbestimmung aus: in Großbritannien wurde sie praktisch pulverisiert, in Frankreich nahm ihr Wirkungsgrad immer weiter ab, während er in der BRD ab 1972 eher ausgebaut und institutionalisiert wurde.
Als nächstes wendet sich Raphael dem System der Löhne und Entgeltsysteme zu. Bis in die 1970er Jahre waren Akkordlöhne der Normalfall, wurden jedoch zunehmend durch Gruppensysteme abgelöst, die die Rolle von Maschinen und Teamwork stärker einbezogen. Die Gewerkschaftsmacht sorgte in Deutschland dafür, dass die Tariflöhne stets mit der allgemeinen Entwicklung mithielten (und zogen auch den Öffentlichen Dienst mit). Einbrüche erlebte das System erst mit der Ausweitung des Dienstleistungssektors und der Wiedervereinigung ab 1990, die für die dortigen Beschäftigten wesentlich schlechter waren. In Großbritannien dagegen war das System nie so flächendeckend gewesen und löste sich ab den 1970er Jahren immer mehr zugunsten des von Liberalen vertretenen Systems individueller Aushandlungen auf, so dass Durchschnittslöhne wenig aussagekräftig sind, weil innerhalb von Branchen starke Variationen bestehen. Zudem machen Überstundenregelungen in Großbritannien einen größeren Teil des Lohns aus (bis zu 40%). Frankreich beschritt hier den Mittelweg: das Lohngefälle war wegen der schlechteren gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht viel größer als in der BRD, aber insgesamt gab es mehr branchenweite Regelungen und Mindestlöhne als in Großbritannien.