Statistiken und Verwerfungen nach dem Boom

Ende der 1960er Jahre begann eine der größten Verwerfungen seit der Industriellen Revolution, die häufig unter „Strukturwandel“ gefasst wird: die Deindustrialisierung Europas zugunsten eines stark anwachsenden Dienstleistungssektors. Der Typus des „Malochers“, der so lange das Bild des Arbeiters bestimmte und der für das Selbstbild der Nachkriegs-Wachstums-Ära so entscheidend war, begann an Strahlkraft zu verlieren. Stattdessen rutschten die westlichen Industriegesellschaften in eine Strukturwandelskrise, aus der sie als Dienstleistungsgesellschaften wieder auftauchten sollten. Lutz Raphael legt mit „Jenseits von Kohle und Stahl“ eine vergleichende Sozialgeschichte, die die Entwicklung ab dem Ende der 1960er Jahre bis in die 1990er Jahre hinein in Deutschland, Frankreich und Großbritannien nebeneinderstellt. Forschungsansätze verschiedener Art, die den Umbruch „von unten“, aus der Perspektive der Betroffenen, erklären sollen, verknüpft er dabei mit einer klassischen Ereignisgeschichte, die gleichwohl stets die große Thematik im Blick haben soll. Inwieweit dieser Forschungsansatz aufgeht, soll die Rezension klären.

Der erste Abschnitt, „Die Vogelperspektive: Drei nationale Arbeitsordnungen im Umbruch„, beginnt in Kapitel 1, „Industriearbeit in Westeuropa nach dem Boom: Die politökonomische Perspektive„, erst einmal mit Raphaels Versuch, die wirtschaftlichen Grundzüge der Epoche quasi noch aus der Vogelperspektive zu beschreiben. Er sieht einen grundlegenden Prozess der Deindustrialisierung in Westeuropa ab den 1960er Jahren, der aber regional höchst unterschiedlich verlief. Der grundsätzliche Trend der Tertiärisierung, also des Bedeutungszuwachses der Dienstleistungen, verlief in Großbritannien mit der stärksten Intensität, während in Frankreich und Großbritannien die meisten der neu entstehenden Dienstleistungssektoren an den industriellen Kern gekoppelt blieben. Dieser Prozess lässt sich nur global verstehen, denn er ging Hand in Hand mit der gleichzeitigen Industrialisierung Südostasiens (die gleichwohl außerhalb von Raphaels Studie liegt und daher hier nur referenziert wird). Rapahel bezeichnet dies als eine grundlegende „Neuverteilung“ der industriellen Substanz in globalem Maßstab.

Dies hatte Arbeitsplatzverluste von rund 10% im industriellen Sektor zur Folge, die allerdings zu 20-25% ein Statistikeffekt waren, da die Unternehmen viele Jobs in Tochterfirmen auslagerten, die offiziell Dienstleiter sind. Die grundsätzliche Qualität und Anforderungsprofile dieser Jobs blieben weitgehend erhalten. Rund 50% der Jobverluste entsprachen Verlagerungen in die Billiglohnländer und waren unwiderbringlich verloren, weitere 25% stellten Rationalisierungsopfer dar, die der steigenden Effizienz und dem Siegeszug der Mikroprozessoren geschuldet waren (dazu später mehr).

Die Globalisierung ab den 1980er, besonders aber den 1990er Jahren war hierbei der größte Treiber der strukturellen Verschiebungen, und in diesen beiden Dekaden fand auch der Großteil der Arbeitsplatzverluste statt. In Großbritannien startete der Trend bereits in den 1970er Jahren und hatte wie bereits erwähnt wesentlich durchschlagenderen Effekt. Dagegen entstanden in Frankreich die relativ geringsten Verluste an Arbeitsplätzen im industriellen Sektor. In der BRD waren die absoluten Zahlen wegen der großen Ausgangsbasis – kein Land im Westen war so stark industrialisiert wie Westdeutschland – hoch, aber nur wenige Sektoren (vor allem Textil- und Schwerindustrie) verschwanden vollständig, die meisten blieben erhalten. Das betraf in allen Ländern Schlüsselsektoren (man denke nur an die Autoproduktion in der BRD!) blieben. Vereinfachend gesagt: Für den Binnenmarkt produzierende Branchen blieben, für den Weltmarkt produzierende Branchen gingen. Eine westdeutsche Besonderheit war der weitgehende Bestandserhalt der Werkzeugmaschinenhersteller, die nur hier als Sektor erhalten blieben, weil sie einen Prozess der Hyper-Spezialisierung unterliefen, der ihnen Marktnischen als Weltmarktführer sicherte. Eine Gemeinsamkeit aller drei Länder dagegen war der Bedeutungszuwachs kleiner und mittlerer Unternehmen, was den Anteil an der Industrie anbelangte. Dieser Zuwachs allerdings wurde durch den gleichzeitigen Prozess der Kapitalkonzentration konterkariert, der den Großunternehmen relativ mehr Macht als je zuvor zugestand.

Dazu kam, dass der Bedeutungsgewinn von Mikroprozessoren und Robotern eine riesige Investitionswelle bedeutete, die gewaltige Kapitalmengen erforderte, was wiederum die Großunternehmen begünstigte. In jedem Fall sorgte dieser Modernisierungstrend für massive Produktivitätsgewinne auf Kosten der Beschäftigung. Damit ging auch eine Komplexitätssteigerung der Arbeit einher, die unqualifizierten und niedrigqualifizierten Arbeitskräften ihren unsicheren Aufstieg in die untere Mittelschicht abrupt beendete und in vielen Fällen existenziell gefährdete. Die Adaption dieser neuen Technologien fiel in der Produktion sehr unterschiedlich und wurde nach dem Prinzip trial and error durchgeführt. Wesentlich klarer waren Effekt und Umsetzung in den Unternehmensorganisationen: die Hierarchien wurden flacher, es wurden bestehende Tätigkeiten outgesourced, was zu Arbeitsplatzverlusten führte. Auch dieser Trend aber wurde konterkariert, in dem Fall durch den Bedarf an zusätzlicher, neuer Verwaltung für die komplexer werdenden Lieferketten, die allerdings auch größere Fertigkeitsniveaus erforderten.

Auch die Finanz- und Wirtschaftspolitik spielten eine wichtige Rolle, weil sie die Profitmargen der Unternehmen veränderte. Die Stagflation,  der 1970er Jahre und die Rezession der frühen 1980er Jahre etwa hatte große Auswirkungen auf die Unternehmensbilanzen. Der Umschwung in der Wirtschaftspolitik zu Beginn der 1980er Jahre (Thatcher, Mitterand, Kohl) veränderte die Struktur der Wirtschaft ebenfalls grundlegend. In allen drei Nationen führte er zu einer Privatisierungswelle, deren Ausmaß allerdings sehr unterschiedlich war. In Großbritannien waren sie naturgemäß wieder am stärksten, aber hier hatten auch große nationale Unternehmen bestanden, wie es sie etwa in der BRD gar nicht gab. Das Land trieb daher die Entindustrialisierung politisch voran und riss dabei Lücken in die Wirtschaftsstruktur, die durch Importe geschlossen wurden, und setzte auf die Finanzindustrie und den Standort London als neue Wirtschaftstreiber, mit all den bekannten Folgen. Im Gegensatz dazu reagierten die BRD und Frankreich mit Erhaltungssubventionen auf den Prozess und bremsen ihn so sozialverträglich (wenngleich zu hohen Kosten) ab.

Die Entwicklung zum Finanzmarktkapitalismus mochte zwar in Großbritannien ihren Vorreiter gefunden haben, fand aber grundsätzlich in ganz Westeuropa statt. Die Bedeutung des Kapitals wuchs wie bereits beschrieben massiv an und führte zu einer Unterwerfung der Wirtschaft unter den Primat des Shareholder Value und der Banken. Damit ging ein anderes Mindset einher, das ich als Aufstieg der Manager (gegenüber den Unternehmern) beschreiben würde. Auch bei der Internationalisierung der Unternehmensstrukturen war Großbritannien Vorreiter, während Frankreich und Deutschland erst in den 2000er Jahren diesen Prozess nachvollzogen, da vorher starke Verknüpfungen der Unternehmen mit den nationalen Banken bestanden hatten („Deutschland-AG“). Dieser Prozess brachte auch ein deutlich gesteigertes Innovationstempo hervor; Raphael geht darauf nicht ein, aber es ist kein Zufall, dass der Ostblock gerade in dieser Epoche wirtschaftlich abgehängt wurde.

Die beschriebenen Trends bedeuteten für viele Arbeiter*innen das Ende des (möglichen) Aufstiegs in die Mittelschicht und für viele andere den Absturz in die Prekarität. Die Jahre waren von einer deutlichen Zunahme instabiler Erwerbsverläufe gekennzeichnet. In Großbritannien und Frankreich litten besonders die Jugendlichen unter hoher Arbeitslosigkeit; das deutsche duale System integrierte diese im Gegensatz dazu viel besser und hatte daher eine niedrigere Jugendarbeitslosigkeit. Auch die Lage der Frauen ist bemerkenswert: die Textilarbeiterinnen, die den Großteil der Beschäftigten in diesem Sektor ausmachten, verschwanden weitgehend geräuschlos (ganz anders als die männlich dominierte Montanindustrie). Viele der Opfer dieser Arbeitsplatzverluste fanden sich im deutlich schlechter bezahlten und wesentlich weniger angesehenen Dienstleistungssektor wieder. Dieser etablierte sich in allen drei Ländern für alle Gruppen, aber eben besonders für Frauen.

Zusammengefasst: der Niedergang der traditionellen Industrien schaffte eine Beschäftigungskrise; die Deindustrialisierung war verknüpft mit einer weltweiten Neuverteilung von industriellen Ressourcen; der Finanzmarktkapitalismus übernahm vor allem in Großbritannien das Ruder, während in Frankreich und Deutschland Spielräume und Idiosynkratien erhalten blieben; ein genereller Rückzug der Rolle des Staates in der Wirtschaft war zu beobachten; und Deutungskämpfe um all diese Geschehnisse brachen aus – die Raphael in Kapitel 2 näher untersucht.

Kapitel 2, „Der Abschied von Klassenkämpfen und festen Sozialstrukturen„, schaut dann näher darauf, wie die Deutungskämpfe um die in Kapitel 1 geschilderten Prozesse abliefen. Grundsätzlich postuliert Raphael eine Problematik, das „Meinungswissen“ (also das Wissen der Menschen darüber, wie sie Meinungen bilden, wobei dieses Wissen unterbewusst abgespeichert und abrufbar ist) über lange Zeiträume klar zu erfassen. Das macht jede Untersuchung dieses Gegenstands zwangsläufig schwierig.

Er rät in jedem Fall zu Vorsicht bei klaren Siegesnarrativen, etwa für den Neoliberalismus; die reale Lage war viel differenzierter und lässt sich nicht so leicht vereinfachen. Der Neoliberalismus war zwar ab den 1970er Jahren im Aufschwung, aufbauend auf der Idee, dass ein jede*r des eigenen Glückes Schmied*in sei, wurde aber in jenen Jahren vor allem durch das allgemein verbreitete Krisengefühl befeuert. Er bot aber keine klaren Handlungsanweisungen, weswegen die mit ihm verbundenen Schlagworte eher diffus waren („Modernisierung“, „Dienstleistungsgesellschaft“).

Nach diesen grundlegenden Überlegungen wechselt Raphael in die nationalen Perspektiven. Die Analysen waren in Großbritannien immer klassenzentriert, mit einer entsprechenden Sprache. In Deutschland (Ost wie West) dagegen zog man aus Weimar die Lektion, keinen Gegensatz von Nation und Proletariat mehr zuzulassen und vermied daher größtenteils solche Sprache in der Mobilisierung der Arbeiterklasse. Die Idee vom „Industriebürger“ ersetzte die des „Industriearbeiters“. In Frankreich schließlich waren jahrzehntelang Kleinbürger der zentrale Bezugspunkt gewesen. Die Arbeiter rückten nur kurz in der Boomphase in die öffentliche Aufmerksamkeit, und diese Aufmerksamkeit ruhte stets auf einem prekären Kompromiss der Konservativen und der „Klassenparteien“, der mit dem Ende des Booms wieder aufgekündigt wurde.

Daher sind die amtlichen Sozialdaten nur schwer vergleichbar. In Frankreich wurden die Arbeiter durch kommunistische Wahlerfolge aufgewertet, so dass die Gesellschaft ab 1947 in fünf Klassen eingeteilt wurde: cadres (die Elite), professions intermédiaires (höhere Angestellte), employés (Angestellte), ouvriers (Arbeiter), agriculteur/artisans/indépendants (Bauern/Künstler/Unabhängige, oder auch schlicht: Sonstige). Diese Anerkennung einer klaren Klassenstruktur macht die französische Taxonomie der britischen ähnlicher als der westdeutschen. Hier hab es die professional occupations, intermediate occupations, skilled occupations, partly skilled occupations und unskilled occupations. Versuche unter New Labour, diese Struktur zu modernisieren, fanden in der Öffentlichkeit wenig Anklang, weswegen das System grundsätzlich immer noch in Nutzung ist. Die BRD nutzte nur die drei Großkategorien, die bereits Bismarcks Sozialversicherungssystem gestaltet hatten: Arbeiter, Angestellte, Beamte. Die amtlichen Statistiken verfolgten stets das politische Ziel, Klassengegensätze zu negieren („Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“).

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  • Tim 12. Februar 2024, 09:02

    Der Neoliberalismus war zwar ab den 1970er Jahren im Aufschwung, aufbauend auf der Idee, dass ein jede*r des eigenen Glückes Schmied*in sei

    Wie immer bei diesem Thema kurz Faktenhygiene: Dies ist nicht die grundlegende Idee des Neoliberalismus und er baut auch nicht auf dieser Idee auf.

    • cimourdain 12. Februar 2024, 10:04

      Hier ist es mehr als nur „Faktenhygiene“. Ich denke, es ist kein Zufall, dass diese Begriffsumwertung vom Ordoliberalismus zur „Chicago-Ökonomie“ genau in den betrachteten Zeitraum fällt. Man könnte sagen, dass der Begriff mit der Sache aus der angloamerikanischen in die kontinentaleuropäische Gedankenwelt gekommen ist. Meines Wissens kommt der „neue“ Neoliberalismusbegriff wesentlich von britischen Thatcher-Kritikern wie Anthony Giddens.

      • Lemmy Caurion 12. Februar 2024, 17:10

        Der „alte“ Neoliberalismus als Synonym für Ordoliberalismus, der ja eine Art staatlich gebremster Kapitalismus darstellte, war zur Zeit des Aufkommens des links-propagandistischen Kampfbegriffs Neoliberalismus gegen „Chicago School“ als Begriff praktisch vergessen. Friedman, Hayek, etc hatten nicht viele Verbindungen mit den Ideen des Ordoliberalismus. Das war eine andere Zeit.
        Die erstaunlich populäre Identifizierung einer in den 70ern irgendwie naheliegenden ökonomischen Denkrichtungen mit einem angelsächsischen Kulturhintergrund kann ich nix abgewinnen. Keynesiastische Ansätze lieferten in den 70ern einfach keine Erklärungen für die damaligen empirischen Realitäten.
        In Großbritanien war halt der Niedergang wegen extrem durchsetzungsstarker Gewerkschaften besonders offensichtlich. Milton Friedman war wegen seiner Liebe zur Polarisierung und Provokation attraktiv für die Medien. Eins seiner beliebtesten Beispiele war die Preisfreigabe Ludwig Ehrhards mit der Währungsreform. In UK gabs noch bis weit in die 50er Lebensmittelmarken und festgesetzte Preise.
        Die D-Mark wertete im Breton Woods System der 50er und 60er 2 mal gegenüber dem Dollar auf (5%) während Pfund Sterling und Franc abwerteten.

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