Bücherliste November 2023

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.

Diesen Monat in Büchern: Vertrauenskrise, Zukunftsministerium, Videospiele

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: –

Bücher

Sascha Lobo – Die große Vertrauenskrise. Ein Bewältigungskompass (Hörbuch)

Vertrauen ist ein hohes Gut. Ohne Vertrauen in das politische System hat die Demokratie ein Problem. Und das Vertrauen war noch nie so niedrig, ob in die gewählten Politiker*innen, die Parteien, die Behörden, die Medien, die Wirtschaft – die Vertrauenskrise ist, das bestätigt Umfrage um Umfrage, allumfassend und hat keine Autorität unberührt gelassen. Sascha Lobo hat sich die Frage gestellt, wo und wie das Vertrauen verloren ging, warum das so ist und was man dagegen tun kann. Und weil Dinge zu fragen eine gute Sache ist, darüber ein Buch zu schreiben aber noch eine bessere, hat er genau das gemacht. Und ich rezensiere es hier. Und hoffe, dass niemand merkt, dass ich Selbstverständlichkeiten ausspreche um meine fehlenden Ideen für eine schmissige Einleitung zu kaschieren und darüber, notabene, das Vertrauen in dieses Blog verliert, so es je existiert hat. Womit wir endlich beim Thema wären.

Abschnitt 1, „Die Implosion des Vertrauens„, beginnt mit Lobos zentraler These der großen Vertrauenskrise: etwas sei zerbrochen. Er versucht in diesem Abschnitt, das Phänomen zu erfassen.

Kapitel 1, „Altes Vertrauen, neues Vertrauen – wenn sich mit der Welt auch die Gefühle ändern„, untersucht die deutsche Vertrauenskrise anhand dreier Ereignisse um die Jahrtausendwende, wo Lobo ungefähr den Beginn der Vertrauenskrise ausmacht. Der Beginn des 21. Jahrhundert bot mit 9/11, dem Desaster der Telekomaktie und dem Kohl’schen Schwarzgeldskandal gleich drei Ereignisse, die das Vertrauen in die Sicherheit, die Wirtschaft und Medien sowie die Politik erschüttert hätten.

Natürlich gab es auch früher schon Korruptionsskandale in der Politik, gab es wirtschaftliche Fehlstarts und Terrorismus. Aber um die Jahrtausendwende kam ein Faktor hinzu, der für Lobos Gedanken einen Roten Faden darstellt: der Aufstieg des Internets, der für einen grundlegenden Wandel im Vertrauen gesorgt habe. Er unterscheidet konkret altes und neues Vertrauen; das alte, in der vordigitalen Zeit entwickelte und ein neues, das sich gerade erst in der Formung befindet. Verschwörungsglauben und Internet sorgten für ein Zusammenbrechen des alten Vertrauens.

In Kapitel 2, „Das Transparenzdiktat – Vom Ende des Herrschaftswissens„, geht er weiter ins Detail. Anhand der Verhandlungen um das Freihandelsabkommen TTIP, die scheiterten und unter Trump endgültig begraben wurden, erklärt er das Konzept von „Herrschaftswissen“, also dem Wissen, das staatliche Organe geheimhalten oder zumindest nicht offen teilen (eng verwandt damit ist das deutsche „Amtsgeheimnis“, das jeden noch so mundänen Vorgang vor seinen Bürger*innen versteckt). Dieses Konzept habe zwar lange funktioniert – im alten Vertrauen -, im neuen Vertrauen allerdings trage es zentral zur Vertrauenskrise bei.

Dies liege am „Transparenzdiktat“, also dem Verlangen der Öffentlichkeit, sämtliche Vorgänge offenzulegen, auch wo dies, wie bei Freihandelsabkommensverhandlungen, nicht sonderlich zielführend ist. Die Abwesenheit von vollständiger Transparenz wird bereits mit Misstrauen begleitet und als Defizit begriffen. Der Vertrauensverlust in die Politik werde durch den „Machbarkeitszwang“ komplimentiert, also die Forderung seitens der Öffentlichkeit, dass grundsätzlich alles von der Politik geregelt werden können müsse. Dieser uneinlösbare Anspruch und die Offensichtlichkeit seines Scheiterns durch das Transparenzdiktat gingen eine unheilige Allianz ein.

Dabei lösten sich, wie Kapitel 3, „Rechts-Links-Schwäche  – Wie die Globalisierung und Digitalisierung politische Einstellungen prägen„, darlegt, auch die alten politischen Orientierungen auf. In den großen Fällen der Vertrauenskrise zeigt sich ein Überlappen von rechten und linken Einstellungen, die die alte politische Achse immer weniger zielführend mache (markant am Phänomen Wagenknecht oder der Imfpgegnerschaft illustriert, die auch nicht zufällig überlappen). Diese neue Anti-Vertrauens-Allianz hänge mit der stark gestiegenen Geschwindigkeit von Veränderungen zusammen, die als belastend empfunden wird und gegen die man sich unabhängig von diesen Koordinaten zur Wehr setzt. Auf diese Art entstand ein gewaltiger Vertrauensverlust in den Staat im rechten politischen Spektrum, der das alte Misstrauen der Linken ablöste (ohne gleichzeitig auf der Linken zu einem komplementären Vertrauensgewinn zu führen).

Der Grund für diesen rapiden Vertrauensverlust von Rechts sieht Lobo im Erbe der 68er: Der „Marsch durch die Institutionen“ sei erfolgreich gewesen, nicht nur indem er Figuren wie Otto Schily und Joschka Fischer an die Regierung brachte, sondern auch, indem er das vorher nur rhetorische Versprechen des Staates, für Gleichberechtigung und Minderheitenschutz zu sorgen, einlöste. Dieser Erfolg, den er als „Entbigottisierung der Konservativen“ bezeichnet, habe dazu geführt, dass der Staat zum Schützer der Individualrechte wurde, und das eben nicht nur rhetorisch für die Mehrheitsgesellschaft. Die radikale Rechte sei nun nicht mehr als „ungezogene Verwandte“ gesehen worden, sondern habe nicht mehr ins nun entbigottisierte konservative Spektrum gepasst. Stattdessen zeigten sich Menschenverachtung und Hass offen; diese Gruppen wanderten in das neu entstehende rechtsradikale Milieu ab.

Gleichzeitig sei die Politik immer globaler geworden (Angela Merkel war als Kanzlerin etwa zehnmal häufiger im Ausland als Helmut Kohl!), was zu einer Entfremdung von den Alltagssorgen der breiten Bevölkerung („Raumschiff Berlin“, wie man so schön sagt) und einem Effekt der Abgehobenheit, der Entfernung und des gegenseitigen Unverständnis‘ geführt habe, der wiederum partei- und ideologieunabhängig war und deswegen das Misstrauen sowohl auf der Rechten wie der Linken befeuerte. Zudem scheine Lobbyismus dank der deutlich gestiegenen Transparenz wesentlich häufiger zu sein und werde medial viel öfter thematisiert, obwohl eher das Gegenteil der Fall ist; der entstehende Eindruck allerdings trage wesentlich zum Vertrauensverlust bei.

Natürlich gehören dazu, wie Kapitel 4, „Sind die Medien schuld? Wer die Wahrheit sucht„, beschreibt, die Medien genauso wie Politik ins Boot. Ich erwähnte bereits beiläufig den Medien-Politik-Komplex „Berlin-Mitte“, der ein Paradebeispiel des Sandwichproblem der Politik darstellt, weil der Eindruck von Abgehobenheit und Themenferne entstehe.

Angesichts der nunmehr offenen Bedrohung durch Rechts (Stichwort Entbigottisierung) kommen die Medien zudem in die Verlegenheit, die Rolle der Verteidiger der Demokratie ausfüllen zu müssen – was kein Problem sei, genau das sollten sie in einer Demokratie auch! – , aber allzu oft in eine Verteidigung der Person Angela Merkels abgerutscht sei, was wiederum wegen des Gefühls der Verschmelzung von Politik und Medien die Vertrauenskrise befeuert habe.

Zudem erschlage die Masse der Nachrichten die Menschen. Dank Handys und 24/7-Newscycle seien wir beständigen Nachrichten ausgesetzt, die zur Aufmerksamkeitsgenerierung auch noch mit großer Dringlichkeit daherkommen. Daraus entstehe eine Gefühl der Dauerkrise und ein Effekt des „blaming the messenger„, in dem die Medien vage verantwortlich für die als krisenhaft empfundene Weltlage gemacht würden. Dabei unterlägen sie ebenfalls dem Transparenzdiktat, dem sie im Großen und Ganzen auch nachkämen – nicht, dass dies gouttiert würde, denn obwohl etwa der Spiegel den Relotius-Skandal mustergültig aufgearbeitet habe, ändere dies nichts daran, dass er von dem Magazin beständig vorgewürfen werde. Dass unzweifelhafte wirtschaftliche Interessen bestünden, die Artikel als Clickbait ausstaffierten um Aufmerksamkeit zu generieren und diese zu verkaufen, sieht Lobo als weiteren Faktor für den Vertrauensverlust in Medien.

Der letzte Faktor sei in der mangelnden Diversität der Redaktionen und besonders der Chefredaktionen zu suchen, die eine Verengung des Blickwinkels und damit das Entstehen einer soziokulturellen Blase zur Folge hätten. Ostdeutsche, Arme, Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch Frauen und Minderheiten blieben weiterhin unterrepräsentiert, was in manchen dieser Gruppen einen Vertrauensverlust zur Folge habe.

Inzwischen machen den Medien, wie Kapitel 5,Emotionen über alles – Soziale Medien und Engagement„, zeigt, zudem die Sozialen Medien Konkurrenz. In den Sozialen Netzwerken blühen die Fake News, die durch die Algorithmen wegen ihres hohen Engagements belohnt werden und wirtschaftlich besonders ertragreich seien. Generell belohnten die Algorithmen Hetze aller Art, die zudem durch mangelnde Moderierung besonders ausbreitungsfähig sei. Dass den Sozialen Medien schon immer besonders geringes Vertrauen entgegengebracht geworden sei, mache die Lage nur noch schlimmer, weil eine Einstellung von „nichts zählt“ sich breit mache, ein Leitmotiv, auf das später zurückgekommen werden wird. (Anmerkung: Das Kapitel ist länger; meine Zusammenfassung ist bewusst knapp, weil mir das alles als weithin bekannt und rezipiert erscheint. Gleiches gilt für das Folgekapitel.)

Neben diesen Mechanismen gibt es auch aktive Beförderung von Lügen und Hetze, wie Kapitel 6, „Die von Lügen profitieren – Warum Putin, Xi und Trump auch unsere Demokratie bedrohen„, darlegt. Lobo zeigt anhand von Putins Trollfabriken, wie Russland (und inzwischen zunehmend auch China, vor allem über Tiktok) die westlichen Sozialen Medien mit Unsinn flutet, um auf diese Art und Weise absichtlich das Misstrauen in das System zu stärken. Er erklärt hierfür die Methoden der Herrschaftssicherung, die diese Diktatoren im eigenen Land durch solche Lügen anwenden und quasi in die Verschwörungsblasen des Westens exportieren: gerade die albernen, offensichtlichen Lügen dienen der Vergewisserung der Loyalität der Anhänger*innen. Trump hat das zur Meisterschaft gebracht.

In diesem Kontext taucht auch das Phänomen der Projektion auf, also dem Gegner genau das vorzuwerfen, was man selbst tut. Das sei etwa während der Brexitkampagne in großem Maß geschehen, und dass Trump ein Meister dieser Technik ist, sollte eigentlich unkontrovers sein. Auf diese Art werden aber das Misstrauen weiter gestärkt, weil „alternative Fakten“ ins System gespeist werden, die das bewusste Ziel hätten, Vertrauen zu zerstören.

Im letzten Teil dieses Abschnitts, Kapitel 7, „Die Revolte gegen Vernunft – Was Vertrauenspanik auslöst„, befasst sich Lobo mit dem Phänomen der Verschwörungstheorien. Diese sind vor allem deswegen so bedrohlich, weil sie für anfällige Personen wie ein Anker wirkten: wer einmal einer Verschwörungstheorie nachgehe, folge sehr wahrscheinlich auch weiteren (die der Algorithmus gefällig beschaffe). Dabei spiele die Glaubhaftigkeit keine besonders große Rolle, sondern das Gefühl, selbst etwas erarbeitet zu haben (daher auch der in der Szene geläufige Aufruf, „selbst zu recherchieren“), das dann tiefer und tiefer ins Netz führt. Lobo betont hier auch die Rolle, die soziale Vereinsamung spielt: je weniger Sozialkontakte, desto anfälliger für diese Theorien. Das Ganze wird durch das Beispiel der QAnon-Verschwörungstheorie aufgezeigt, die nicht nur reichlich absurd ist, sondern auch zu real sehr tödlichen Konsequenzen geführt hat. Die Theorien sind zwar in sich gespalten und widersprüchlich, aber das spiele keine große Rolle, weil ihr vereinender Faktor das Misstrauen gegen die „offizielle“ Weltsicht sei.

Vor allem zwei Portale stächen hier als Haupttäter hervor. Einmal ist das YouTube, das über seinen Algorithmus einen wahren Kaninchenbau aufbaut, in den man fällt: schaut man ein Video, schlägt der Algorithmus unbarmherzig weitere vor; man kann sich tage- und wochenlang darin verlieren. Der andere Haupttäter ist der russischstämmige Instant-Messenger Telegram, der mit dem (gelogenen) Versprechen auf Verschlüsselung als eine Art Plattform für Verschwörungstheorien aller Art diene und sich vor allem der Glaubwürdigkeit durch die persönlichen bekannten Kontakte und das intime Mittel der Sprachnachricht verlasse.

Eine gänzlich andere Richtung der „Vertrauenspanik“, also einer Überreaktion auf fehlendes Vertrauen, findet sich, wenn Menschen mit einem grundsätzlich berechtigten Anliegen über das Ziel hinausschießen. Ein Beispiel hierfür sei die Maskendebatte während Corona, in der manche Menschen ihr Gegenüber als Schwerverbrecher behandelt hätten, nur weil dessen Maske verrutscht sei. Ein weiterer Aspekt sei die aus Aktivist*innenkreisen stammende „Toxische Wokeness“, also ein ins Extrem übersteigerter Reflex, gegen echte und eingebildete Ungerechtigkeiten mit maximaler Verve vorzugehen. Toxische Wokeness habe dazu geführt, dass in der Mehrheitsgesellschaft das Gefühl auftritt, man dürfe bestimmte Dinge nicht mehr sagen. Dies hänge auch damit zusammen, dass in Sozialen Medien jederzeit ein Shitstorm drohe, wenn man Wörter „falsch“ verwende.

Abschnitt 2, „Die komplizierte Gegenwart„, versucht sich an Erklärungsansätzen, die die Vertrauenskrise weiter verstärken, und wendet sich konkreten Einzelphänomen zu.

In Kapitel 8, „Das Coronadebakel – Die tiefen Spuren der Pandemie„, behandelt Lobo das einschneidendste Ereignis der letzten Jahre, die Corona-Pandemie. In einem Umfeld ständig wechselnder Informationen fand ein gewaltiger Vertrauensverlust in Staat und Medien statt, der zu einem Teil selbstverschuldet ist (die unten näher beschriebene katastrophale Krisenkommunikation des Staates und die offenkundigen Defizite in der Vorbereitung trotz Pandemieplan), zum Teil aber in einem Missverständnis über die Funktion von Wissenschaft begründet ist, die sich selbst in Echtzeit beobachtbar und höchst öffentlich korrigierte (von der Wirksamkeit von Masken und Impfungen bis hin zu Übertragungswegen).

Das Resultat war ein doppelter Vertrauensverlust; einerseits der viel diskutierte gegenüber Staat und Medien, aber andererseits auch eine Gegenreaktion, die Lobo als „Vernunftpanik“ beschreibt: ein übertriebenes Gefühl seitens vieler Menschen, durch Kritiker*innen der Maßnahmen oder auch nur Menschen, die sie nicht zu 100% umsetzten, persönlich angegriffen zu werden. Bereits eine schief getragene Maske habe hier zu schweren Vorwürfen geführt. Diese Konflikte hätten Familien und Freundschaften zerrissen und zu einem gesamtgesellschaftlichen, kollektiv-gegenseitigen Vertrauensverlust geführt. „Vernunftpanik“ beschreibt also Überreaktionen auf eigentlich grundsätzlich vernünftige Befürchtungen, ein Phänomen, das man auch gut der letzten Generation vorwerfen kann.

Die Pandemie war aber auch ein Musterbeispiel für katastrophale Krisenkommunikation. Jens Spahn als Gesundheitsminister verkündete etwa im Brustton der Überzeugung absolute Wahrheiten, die bereits zwei Tage später hinfällig waren (etwa, dass Masken keine Schutzwirkung besäßen). Zahlreiche widersprüchliche Informationen waren im Umlauf, weil Institutionen langsam oder zögerlich reagierten (die StIKo etwa verlor gerade unter zur Vernunftpanik neigenden Menschen massiv an Vertrauen). Dazu käme, dass Behörden furchtbar kommunizierten, mit dem traurigen Höhepunkt jener viel zitierten Regelungen in Hamburg, die in absurder Kleinteiligkeit völlig nutzlose, gleichzeitig aber strafbewehrte Vorschriften machten. Zudem wurden Versprechen über zukünftige Maßnahmen („kein Lockdown“) immer wieder gebrochen, was besonders Kritiker*innen abstieß, während der wissenschaftlicher Stand viel zu spät umgesetzt worden sei, was die zur Vernunftpanik neigenden entfremdete. Insgesamt zeigte sich, dass die staatliche Notfallplanung untauglich war – der Pandemieplan enthielt über 1500 Seiten, von denen aber nur drei oder vier der behördlichen Kommunikation gewidmet waren, ein Missverhältnis, das bittere Früchte trug.

Dieses Staatsversagen indessen hat System. In Kapitel 9, „Die Austeritäter – Wenn der Staat nicht mehr richtig funktioniert„, führt Lobo das Misstrauen gegen die Problemlösungskompetenz des Staates auf die Dysfunktionalität vieler Systeme zurück – und diese auf jahrzehntelang verschleppte Investitionen in neue Infrastruktur (vor allem auf digitalem Feld) und in Reparaturen der bestehenden (etwa bei Autobahnbrücken u.Ä.). Weitere Beispiele finden sich leider im Überfluss, darunter der Klassiker der verrottenden Schulen.

Das Bildungssystem kann auch gleich für die zweite große Quelle des Vertrauensverlusts in staatliche Kapazitäten herhalten, die überbordende Bürokratisierung und mangelnde Digitialisierung. Man denke nur an den „Digitalpakt“, der Mittel für die Digitalisierung der Schulen bereitstellte, von denen kaum 1% abgerufen wurde – weil die Vorgaben dermaßen überbürokratisiert waren, dass sie an den Schulen zu völliger Überforderung führten. Solche Überbürokratisierung ist leider ein Breitenphänomen. Dazu kommt die lange Dauer sämtlicher Prozesse in Deutschland, die nicht erst seit dem BER legendär ist, und die bereits im Zusammenhang mit Corona angesprochene Kommunikationskrise und Komplexität der Prozesse.

Leider ist die Umsetzung wissenschaftlicher Expertise auch deswegen so problematisch, weil, wie in Kapitel 10, „Die herausgeforderte Wissenschaft – Die Krise der Expertise„, dargelegt wird, die Wissenschaft selbst auch in einer Vertrauenskrise steckt. Dies liegt einerseits an der „epistemologischen Krise“, in der sich die Wissenschaft befindet, wenn ihre Erkenntnisse nicht zu direkter Umsetzung führen beziehungsweise ihre Umsetzung unklar ist oder sich mit bisherigen Ergebnissen beißt. Dies führt zu einem (unberechtigten) Generalmisstrauen. Mir fällt da als Beispiel direkt ein Kommentar in einer Diskussion über Ernährung ein, der aus den geänderten Erkenntnissen eine generelle Nutzlosigkeit irgendwelcher Erkenntnisse über Ernährung ableitete.

Ebenfalls wenig hilfreich für Wissenschaftsvertrauen sei die Reproduktionskrise. Darunter versteht man die mangelnde Reproduzierbarkeit zahlreicher Studien, vor allem (aber nicht nur) in den Sozialwissenschaften. Noch wenig erforscht, aber ursächlich möglicherweise zusammenhängend, seien die geringer gewordene Halbwertszeit von Wissen und der Decline-Effekt: je öfter und länger vom Herstellungspunkt entfernt eine Studie reproduziert werde, desto geringer der Effekt.

Zudem kommuniziere Wissenschaft oft schlecht. Gerade in Deutschland bestehe, anders als in angelsächsischen Ländern, eine Verständlichkeit verschmähende Kultur, die gleich mit mangelndem Anspruch gesetzt und deswegen gescheut werde. Deswegen tue sich die Wissenschaft oft schwer, Erkenntnisse oder Debatten zu vermitteln. Dies sieht Lobo auch als eine Ursache für das geringe Verständnis der Funktionsweise von Wissenschaft.

Ein ganz anderes Thema behandelt Kapitel 11, „Der Verrat an der Jugend – Die Generationenfrage„. Lobo postuliert, dass die Politik von alten Menschen für alte Menschen gemacht werde, was man am Durchschnittsalter der Wählenden (über 50) und der Parteimitglieder (über 60) gut ablesen könne. Entsprechend macht er einen Verrat an der Jugend aus, für die die Eltern- und Großelterngeneration sich zwar mehr interessiere und sensibler sei als jede Generation zuvor, was aber gleichzeitig keinen Niederschlag in der Politik finde.

Die drei großen Punkte sind hier die Klimakrise, die von der Jugend als wichtiges Problem identifiziert sei, zu dem das Handeln der Politik aber in keinem Zusammenhang stünde, was zu Überreaktionen führe (siehe Letzte Generation). Offensichtlich ist die miese Digitialisierung, die dazu führe, dass der neue „Call of Duty“-Teil schneller heruntergeladen sei, wenn man nach Rumänien fliegt und es im dortigen Flughafen-WLAN zieht als im schrottigen deutschen Netz, bei dem man in vielen Regio-Zügen nicht einmal mobile Daten habe. Und zuletzt steht die Rente, die die junge Generation zwar bezahlen müsse, für deren eigenen Erhalt sie aber keinerlei Vertrauen habe.

Kapitel 12, „Maschinenvertrauen – Wie künstliche Intelligenz die große Vertrauenskrise beschleunigt und lindert„, schließlich, befasst sich mit einem Zukunftsproblem: der KI. Nach einer kurzen Erklärung zu Sprachmodellen wie ChatGPT behandelt Lobo die Frage von Deep Fakes, die es zunehmend unmöglich machen, Fälschung und Original zu unterscheiden. Das erlaubt Videos, Bilder und Sprachschnitte sämtlicher Menschen, die nicht als Fälschung zu entlarven sind. Lobo sieht darin nicht einmal ein zentrales Problem für Medien und interessierte Menschen, weil hier grundsätzliche Plausibilitätsprüfungen greifen, sondern für die verschwörungsanfälligen Menschen in Telegramgruppen.

Doch selbst abseits von Deep Fakes, die sich Akteure wie die Republicans oder Putin zunutze machen könnten, bestehen durch die KI Probleme. Durch ihre Natur als selbstlernendes System ist sie für die Programmier*innen grundsätzlich nicht vollständig berechenbar, was es unmöglich macht, stets zu erkennen, wenn die KI selbst Unsinn erfindet. Lobo nennt dieses Phänomen „Konfabulieren“, bei dem die KI eigene Quellen oder Fakten erfindet und sie im Brustton der Überzeugung ausgibt.

Gleichzeitig aber sei die Lösung für dieses Problem nur in der Kontrolle durch andere KI zu finden, quasi designierte Prüfungs-KI. Dafür braucht es natürlich ein entsprechendes Vertrauen in diese Systeme, das Lobo „Maschinenvertrauen“ nennt. Dieses bestehe bereits heute, weil dem Algorithmus von TikTok, Wikipedia oder dem Google-Such-Algorithmus großes Vertrauen entgegengebracht werde. Zudem sie Vernetzung hilreich, was im nächsten Abschnitt noch einmal eine Rolle spielt.

Der letzte Abschnitt, Abschnitt 3, „Ein Bewältigungskompass„, versucht sich an Lösungsskizzen für die Vertrauenskrise.

In Kapitel 13, „Aber was können wir tun? – Vorschläge für ein neues Gesellschaftsvertrauen„, geht er auf kollektive Lösungen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene ein. Am Beispiel der Entenjagd in Arkansas, die durch exzessive Schaffung von Wässerungsgründen zum Aussterben der Enten führte, zeigt Lobo, wie es richtig geht: die Behörde suchte den Kontakt zu den Jäger*innen und räumte deren Vorbehalte in persönlichen Gesprächen aus. Als dann die Maßnahmen ausgerollt wurden, war klar kommuniziert, dass diese Trial+Error waren – und Widerstand blieb fast aus. Für Lobo ist daher klar, dass der Aufbau von Vertrauen Transparenz benötigt.

Ein zweiter wichtiger Punkt ist für ihn das Vertrauen, das bekannten Einzelpersonen entgegengebracht wird – Influencern. Menschen, die man kennt – ob unter einem Pseudonym im Internet oder real unter Namen – und vertraut, vertraut man auch als Quelle eher. Diese Dynamik, die von Verschwörungstheorien ebenfalls ausgenutzt werde, ließe sich auch zur Vertrauensgewinnung nutzen, vor allem durch die bereits angesprochene Vernetzung.

Eine weitere Forderung besteht in der von Konsequenzen für Versagen der Politik, vor allem beim Einhalten von Vorgaben – etwa bis zum Stichtag X etwas umgesetzt zu haben, was üblicherweise keinerlei Konsequenzen hat – und bessere Regeln gegen Einflussnahme, vor allem Lobbyismus und Bereicherung, wobei ihm wieder die Maskendeals als aktuelles Beispiel dienen.

Im letzten Kapitel, Kapitel 14, „Aber was kann ich tun? – Wie wir selbst neues Vertrauen gewinnen können„, spricht sich Lobo für den Aufbau von „Vertrauensnetzwerken“ aus. Dies sei ohnehin bereits im Gange: Die Vernetzung über das Internet schaffe Strukturen, denen Menschen vertrauen. Es müsse der Politik, Wissenschaft und den Medien quasi gelingen, Teil dieser Strukturen zu werden.

Lobo fasst dies unter dem Begriff einer „neuen Vertrauenskultur“ zusammen. Diese erfordere auch einen Optimismus, ein gewisses Grundvertrauen, das aber nicht mehr wie im „alten Vertrauen“ Autoritäten entgegengebracht wird, einfach nur weil sie Autoritäten sind, sondern vielmehr den Vertrauensnetzwerken auf der einen Seite und, da bricht wieder seine digitalaffine Seite durch, Maschinenvertrauen auf der anderen Seite.

Eines vorneweg: ich bin nicht ganz neutral. Ich zähle Sascha Lobo zum erweiterten Freundeskreis und finde grundsätzlich spannend, was er produziert. Das quasi nur als Transparenzhinweis. Das gilt natürlich auch für das vorliegende Werk. Ich halte das Thema für überaus wichtig und seine Gedanken, die in einer Rezension wie immer nur stark verkürzt wiedergegeben werden können, für diskussionswürdig, so dass ich das Buch zur Lektüre nur empfehlen kann, und wenn es nur ist, um sich daran zu reiben. Ich habe aber einige Punkte, bei denen ich Kritik üben oder doch zumindest widersprechen will.

Der erste Punkt betrifft den deutschen Fokus von Lobos Abhandlung. Die Vertrauenskrise existiert in der gesamten westlichen Welt, ob Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder in den USA, wird aber hier ausschließlich mit deutschem Fokus diskutiert (außer in einigen Fällen, wo es in die Argumentation passt). Eine deutsch verengte Perspektive auf ein umfassendes Problem liberaler Gesellschaften muss aber notwendig verkürzt sein, was in der geradezu komischen Auswahl der Telekomaktie oder der Kohl’schen Schwarzgeldaffäre als relevanten Ereignissen ihren Niederschlag findet.

Mit ist auch unklar, warum mangelnde Diversität in den Medien zwar bei Ostdeutschen zu einem Vertrauensverlust führt, bei Frauen als Gruppe aber nicht. Ich teile durchaus die Kritik an der mangelnden Diversität und halte es auch für ein für die Fragestellung relevantes Problem; allein, solcherlei Fragestellungen finden sich nicht. Diese mangelnde Gewichtung der Faktoren zieht sich als Manko durch das gesamte Buch. So sehe ich zum Beispiel genauso wie Lobo die Reproduktionskrise der Wissenschaft, nur – wie viele Menschen wissen, was das überhaupt ist? Manche dieser Faktoren sind wesentlich relevanter als andere, aber hier im Buch stehen sie ungewichtet nebeneinander und sind eher deskriptiv; die Tiefenanalyse fehlt.

So nennt Lobo zwar zahlreiche äußere Faktoren für die Vertrauenskrise, aber eine blinde Stelle des Buchs scheint mir die Natur der liberalen Gesellschaften selbst zu sein. Dies kommt zwar bei der Entbigottisierung der Konservativen vor, aber der Triumph des Individualismus als größerer Trend bleibt außen vor. Dabei erklärt der in meinen Augen einen guten Teil dessen, was während Corona passierte, oder auch die aggressiven Reaktionen auf Debatten wie das Böllerverbot. Wir sind als Gesellschaft insgesamt wesentlich liberaler und individualistischer als früher, was eine gute Nachricht für die Persönlichkeitsentfaltung, aber eine schlechte für das Vertrauen in Institutionen ist.

Kapitel 9 fiel mir spezifisch als eines auf, das einen starken „preaching to the choir„-Effekt aufweist: während progressiv eingestellte Menschen wie ich die Prämisse der Austeritäter (großartige Wortschöpfung) sofort teilen werden, werden eher FDP-liberal angehauchte Personen diese vermutlich ziemlich emphatisch ablehnen. Am schlimmsten fiel mir aber Kapitel 11 auf, das vor allem aus Projektion zu bestehen scheint: so sehr ich Lobos Einstellungen zur geradezu kriminellen Vernachlässigung der Klimakrise teile, so problematisch finde ich die Projektion dieser Einstellungen auf „die Jugend“. Die Verallgemeinerung funktioniert nicht, und sowohl meine anekdotische Erfahrung aus der Schule als auch die Umfrage- und Wahlergebnisse dieser Demographie stützen diese Thesen schlicht nicht, egal wie verbreitet die These auch sein mag.

Ein letzter Kritikpunkt betrifft die Toxical Wokeness. Auch hier bin ich inhaltlich völlig bei Lobo; ich denke nur, dass das Phänomen des Shitstorm in Sozialen Medien überbewertet wird. Zwar kann theoretisch jede*r Opfer eines Shitstorm werden; üblicherweise aber erfordert das eine große Reichweite, die nur ein Bruchteil der Nutzer*innen aufweist. Dass für Influencer*innen wie Lobo Shitstorms geradezu zur täglichen Erfahrung gehören, ist mir klar; das ist aber nichts, was sich so leicht verallgemeinern lässt – auch hier entgegen der verbreiteten Narrative.

Das alles ist aber tough love und Meckern auf hohem Niveau. Ich kann das Buch schon allein wegen der Gedankenanregung vollstens empfehlen und werde sicherlich immer wieder Bezug darauf nehmen.

Kim Stanley Robinson – The Ministry for the Future (Kim Stanley Robinson – Das Ministerium für die Zukunft) (Hörbuch)

Der Klimawandel eignet sich nur eingeschränkt für spannende Geschichten. Er vollzieht sich über einen langen Zeitraum, lässt sich von einzelnen heldenhaften Akteuren nicht effektiv bekämpfen und kennt keine leicht personalisierbaren Antagonisten. Entsprechend muss der Versuch, eine Geschichte über den Klimawandel und seine Bekämpfung zu schreiben, eine umfassende, Institutionelle und mosaikartige Erzählung darstellen. Genau eine solche hat Kim Stanley Robinson mit seinem Buch „The Ministry for the Future“ vorgelegt. Über einen Zeitraum von über zwei Jahrzehnten erzählt es eine mögliche Zukunft, deren Absprungpunkt im Jahr 2024 liegt. Bei der jährlichen Sitzung des COP, der Versammlung aller Nationen, die die Pariser Klimaverträge von 2014 unterschrieben haben, wird angesichts des mangelnden Fortschritts eine neue internationale Institution geschaffen, die den Spitznamen „Ministerium für die Zukunft“ erhält und von der ehemaligen irischen Diplomatin Mary Murphy geleitet wird. Auf diesem Ministerium und der Person Mary liegt der Fokus der Erzählung, sofern diese überhaupt so etwas wie einen Fokus hat.

Der Roman öffnet in Indien, mit dem Entwicklungshelfer Frank, der zusammen mit der Bevölkerung in einer nie dagewesenen Hitzewelle gefangen ist. Über mehrere Tage geht langsam das Wasser zur Neige und der Strom fällt aus, so dass die Klimaanlagen nicht mehr laufen. Die Menschen sterben in ihren Wohnungen ebenso wie auf den Straßen. Am Ende überlebt Frank nur durch eine Laune des Schicksals, indem er komplett in einem See untergetaucht und nur mit dem Gesicht an der Wasseroberfläche die Hitze übersteht – Zufall deswegen, weil praktisch niemand anderes dies überlebt hat. Rund 20 Millionen Inder*innen fallen dieser Hitzewelle zum Opfer.

Diese gigantische humanitäre Katastrophe erzeugt einen großen Handlungsdruck in Indien. Eine Terrororganisation, die sich die „Kinder Khalis“ nennt, nimmt ihre Tätigkeit auf. Sie wird im späteren Romanverlauf noch eine größere Rolle spielen; an dieser Stelle hören wir vor allem ihr Gründungsmanifest. Die Wut Indiens hat auf der Weltbühne erst einmal nur wenig Widerhall. Innerhalb des Landes allerdings stößt sie Veränderungen an, die sich noch als bedeutsam erweisen werden.

Der erste ist der Entschluss der indischen Regierung, durch das Versprühen von Chemikalien in der Stratosphäre Geo-Engineering zu betreiben: in Hunderten von Flügen wird eine Chemikalie ausgebracht, die einen Bruchteil des Sonnenlichts reflektiert und so eine Abkühlung erwirken soll. International wird diese Maßnahme wegen ihrer unabsehbaren Konsequenzen und globalen Auswirkungen scharf kritisiert, doch Indien akzeptiert die Sanktionen und führt die Operation trotzdem durch. Tatsächlich verhindert dies in den nächsten Jahren eine weitere Hitzewelle und scheint keine dramatischen Konsequenzen zu haben. Die Drohung, die Operation jederzeit zu wiederholen, wird zum Standardrepertoire indischer Außenpolitik.

Robinson beschreibt hierbei auch die Konturen der politischen Debatte, in denen Indien sich auf seine koloniale Vergangenheit beruft und auf dieser Grundlage jegliche Einmischung der westlichen Mächte ablehnt, die es für den Klimawandel verantwortlich macht. Zwar wird ihm diese Debatte der Heuchelei Indiens, dem es wahrlich nicht an Kohlekraftwerken mangelt, durchaus Raum gegeben; es bleibt aber offensichtlich, dass das Land hier einen Punkt hat. Das moralische Dilemma, einerseits global wirksames Geoengineering auf nationaler Ebene zu betreiben, andererseits aber zu versuchen die eigene Bevölkerung zu beschützen, weist bereits auf viele weitere solche Fragestellungen im Verlauf des Romanes hin.

Die Romanhandlung kehrt nun zu Frank zurück, der durch seine Erlebnisse schwer traumatisiert ist und versucht, den Kindern Khalis beizutreten, die ihn allerdings nicht haben wollen. Solcherart zurückgewiesen, versucht er durch Arbeit in Kühlhäusern und zuletzt sogar in der Antarktis sein Trauma zu bekämpfen, scheitert aber damit genauso wie mit psychiatrischer Behandlung. Schließlich verschlägt es ihn in die Schweiz, wo auch das Ministerium für die Zukunft in Zürich seinen Sitz hat. In einem zufälligen Zusammenstoß mit einigen jungen reichen Klimasündern tötet er aus Versehen einen von ihnen im Streit. Ein moralisches Problem hat er damit nicht.

Im Ministerium indessen werden wir Zeugen einer Besprechung unter den führenden Politiker*innen: das Ministerium hat natürlich nur ein sehr kleines Budget, so dass die Frage, wie man dieses am effektivsten einsetzen kann, eine entscheidende darstellt. Letztlich dreht sich die Debatte über den Bau und die Förderung von Infrastruktur auf der einen Seite oder den Versuch, die Gesetzgebung zu beeinflussen, auf der anderen Seite. Robinson und das Ministerium vertreten letztlich klar die Position, dass die wahre Macht immer bei der Legislative liegt und die rule of law letztlich über allem steht. Der erfolgversprechendste Ansatz ist daher, die Parlamente zu beeinflussen. In einem der vielen Exkurse, die in Art eines dialektischen Lerngesprächs geschrieben sind, ohne dass dessen Teilnehmende namentlich benannt wären und die sich anfühlen, als wären die Lesenden selbst Teil davon, untersuchte Robinson einige Ursachen für die Probleme, die aktuell vernünftige Gesetzgebung verhindern. Seine Antwort besteht in der großen Ungleichheit, die vor allem anhand des Gini-Koeffizienten deutlich gemacht wird. Die daraus zu ziehende Konsequenzen werden mit einer gewissen Ironie „as an exercice to the reader“ überlassen, ein Distanzierungsinstrument, das der Autor im Verlauf der Romanhandlungen immer wieder benutzen wird und das seine eigene Sicht auf die Dinge trotzdem keine Sekunde in Zweifel lässt, selbst wenn man nie ein Interview mit ihm gelesen hat.

Die Handlung kehrt nun zu Frank zurück, dessen Pfad sich erstmals mit dem Marys kreuzt. Er entführt sie und zwingt sie in einem Gespräch zu der Einsicht, dass sowohl sie als auch das Ministerium zu wenig tun. Auf ihre Frage, was sie mit Ihren beschränkten Mitteln denn noch mehr tun solle, erklärt er rundheraus, dass dies letztlich eine feige Verweigerungshaltung sei. Das Ministerium brauche eine Art „black wing“, der wie staatliche Geheimdienste Attentate und Sabotageakte vollführt. Mary ist von dieser Idee völlig geschockt und lehnen sie sofort instinktiv ab. Frank flüchtet schließlich und lässt Mary allein mit ihren Gedanken zurück, die mit ihrem Stabschef über genau diese Thematik spricht. Dabei stellt sich heraus, dass das Ministerium bereits eine solche Unterorganisation besitzt, von der Mary nichts weiß, damit im Falle eines Skandals das Ministerium und seine Spitze glaubhaft Unkenntnis versichern können. Was für Operationen diese geheime Flügel durchführt, bleibt allerdings unklar – was sich im gesamten Romanverlauf nicht ändern wird.

Die Schweiz wird indessen wie viele andere Länder der westlichen Welt von Klimaflüchtlingen geradezu überflutet. In seinem unkoordinierten Bestreben, irgendetwas zu tun, das ihn von der Antarktis zu dem Totschlag über Marys Entführung gebracht hat, beginnt Frank eine Beziehung mit einer Flüchtlingsfrau und ihren beiden Kindern und verschafft ihnen so ein besseres Leben. Diese Beziehung ist allerdings nicht von langer Dauer, zu volatil ist der traumatisierte Frank. Die Flüchtlinge indessen leben in Lagern ohne eine Zukunftsperspektive. Da sie in der Schweiz leben, bei einem rechtsstaatlichen Land, geht es ihnen materiell soweit gut, weil sie nicht existenziell gefährdet sind. Ein beneidenswerter Zustand allerdings ist ihr Dasein sicherlich nicht.

Damit wendet Robinson den Blick wieder zurück nach Indien. Das Land hat in den letzten Jahren eine eigene Methode entwickelt, mit dem Klimawandel umzugehen. Diese Methode beruht auf insgesamt drei Faktoren: einerseits die Lage Indiens, dessen Sonnenreichtum er ist zu einem prädestinierten Ort für einen möglichst schnellen Wandel hinzu Solarenergie macht, andererseits die Landwirtschaft, die wesentlich auf lokale Gegebenheiten, eine größere Diversität der angebauten Fruchtsorten und dadurch höhere Resilienz setzt sowie als letzten Faktor die Demographie des Landes, die durch die vielen Menschen die höhere Ineffizienz dieses Systems mit seinem wesentlich gestiegenen Arbeitskräftebedarf stemmen kann. Die relative Armut Indiens macht eine gestiegene Beschäftigung Millionen von Menschen im Landwirtschaftssektor zudem wesentlich unproblematischer, als dies in „höher entwickelten“ Ländern der Fall wäre.

Geoengineering indessen ist nicht auf Indien beschränkt. In der Antarktis versuchen diverse Forschungsgruppen, den rapiden Anstieg des Meeresspiegels dadurch aufzuhalten, das in irgendeiner Art und Weise das Abschmelzen der Gletscher verhindert wird. Der erfolgversprechendste Ansatz scheint zu sein, das durch die Klimaerwärmung stark angestiegene Wasser unter den Gletschern abzupumpen und dadurch deren Abrutschen ins Meer wieder auf sein natürliches Niveau zu verlangsamen. Dafür gibt es jedoch keine Mittel. Stattdessen werden fantastische Pläne diskutiert, vor allem von irgendwelchen Milliardären, die sich um das Abpumpen von Wasser aus dem Meer und das Verteilen über das Eis der Antarktis drehen. Dies ist bereits theoretisch so gut wie unmöglich, was gleichwohl niemanden davon abhält, diese fantastischen Pläne zu verfolgen, die wesentlich spannender klingen als das Verlangsamen von Gletschern. Die Arktis indessen schmilzt zum ersten Mal komplett ab und regeneriert sich durch einen Teufelskreis aus weiterer Erwärmung des Nordatlantiks auch nicht mehr – „a feedback loop with teeth“, wie Robinson das ausdrückt.

An dieser Stelle folgt die nächste Serie von Exkursen. Robinson erklärt die neoliberale Wirtschaftsordnung und den großen Einfluss der Reichen. Bei allen Erklärungen zur grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen haben sie offenkundig wesentlich mehr macht als der Großteil der Menschheit. Daraus resultiert für ihn die Notwendigkeit, ökonomische Anreize zu ändern. Der zukünftige Generationen in wirtschaftlichen Überlegungen praktisch keine Rolle spielen („going short on the future“), ist es notwendig, zukünftige Kosten greifbar zu machen und gleichzeitig eine Art Abschlusspunkt zu schaffen, damit Handlungsfähigkeit überhaupt gewahrt bleibt und nicht vor der immensen, uneinsehbaren Zukunft verloren geht. Er erklärt dies anhand eines Abschlags, der dazu führen müsse, dass eine Wette auf die Zukunft („going long on the future“) sich lohnen müsse. Diese Idee wird im späteren Romanverlauf für die Aktionen Marys noch zentral werden.

Ein weiterer Exkurs beschäftigt sich mit der Idee der Effizienz: diese ist eine Grundprämisse der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, sei aber nicht so selbstverständlich, wie dies oft erscheint. Robinson unterscheidet zwischen guter und schlechter Effizienz (so wie im Umkehrschluss guter und schlechter Ineffizienz). Dazu gehört auch das Paradox, dass größere Effizienz zu mehr Nutzung führt (neue Autobahnen mildern den Verkehrsstau nicht, effizientere Motoren senken nicht den Benzinverbrauch, etc.). Er sieht die Notwendigkeit, in bestimmten Sektoren weniger Effizienz zuzulassen, um so mehr Nachhaltigkeit zu erreichen und die Neigung des kapitalistischen Systems zur Selbstzerstörung einzuhegen. Dies geht nicht komplett in die Richtung von Degrowth, ist aber zumindest benachbart.

Weltweit nehmen indessen Katastrophen weiter zu. Langanhaltende Dürren und dazu ein Erdbeben machen exemplarisch klar, wie wichtig und gleichzeitig selbstverständlich die Gesellschaft ist: für Robinson ist dies eine weitere Zurückweisung neoliberaler Mantras, allen voran natürlich der plakativen Widerlegung von Margaret Thatchers „ there is no such thing as society“, das er in lyrischer Überhöhung durch die Opfer der Katastrophe in der dritten Welt ausstoßen lässt. Stattdessen bestätigt sich einmal mehr, dass die Menschen im Angesicht der Katastrophe zusammenrücken und sich gegenseitig helfen. Wir sind eine gemeinschaftliche Spezies, die, so die Moral dieser spezifischen Geschichte, sich nur lange Zeit eingeredet hat, aus egoistisch handelnden Individuen zu bestehen.

In der eigentlichen Handlung indessen wird die Welt durch eine Reihe koordinierter Terrorangriffe erschüttert: mit Schwärmen von Drohnen werden Flugzeuge zum Absturz gebracht, in denen ausschließlich oder vorrangig Geschäftsreisende untergebracht sind. Gleichzeitig werden mit ebenfalls Drohnen betriebenen Torpedos Containerschiffe versenkt. Als sich diese Anschläge in den folgenden Tagen und Wochen wiederholen, bricht der weltweite Verkehr ein und sorgt für einen tiefen Wirtschaftscrash. Der Tag der Anschläge ist von nun an als Crashday bekannt.

Im Ministerium für die Zukunft werden derweil zum ersten Mal Alternativen zum Wirtschaftssystem debattiert. Der erste Pfeiler hierfür ist der Anstieg an Leistungskraft von Künstlicher Intelligenz, die das alte Dilemma der sozialistischen Planwirtschaften, nicht und vor allem nicht rechtzeitig über die nötigen Datenmengen zu verfügen und diese auswerten zu können, potenziell lösen könnte. Da die „Tragik der Allmende“ ohnehin nicht existiert und ein Mythos ist, sind kommunale Reformen der Bewirtschaftung grundsätzlich denkbar. Vorerst allerdings bleibt das alles reines Gedankenspiel. Dasselbe gilt für die Überlegungen eines neuen sozialen Netzwerks, dass die Marktmacht der bestehenden soziale Netzwerke ersetzen könnte. Grundsätzlich soll ein solches Netzwerk Open Source und von den Nutzen selbst besessen und verwaltet werden, während die Daten durch Blockchain gesichert und im alleinigen Besitz der Nutzenden sind, so dass diese sie auf dem globalen Markt verkaufen können.

Die letzte systemische Idee ist die radikalste: ebenfalls durch Blockchain unterfüttert soll eine neue weltweite Reservewährung auf Basis des Einsparens von CO2 geschaffen werden. Diese Idee ist auch die erste, die Mary umzusetzen versucht, indem sie bei den Zentralbanken vorspricht. Diese lehnen sie allerdings rundheraus ab: die Idee, Quantitative Easing zur Rettung des Klimas anstatt zur Rettung der Banken zu betreiben, ist für sie systemwidrig und entspricht nicht dem Auftrag der Zentralbanken, gegen den zu verstoßen für sie unvorstellbar ist – obwohl sie, dies eine zentrale These Robinsons, so etwas wie die Weltregierung darstellen.

Von diesen luftigen Höhen der Weltpolitik begibt sich die Handlung nun wieder zurück zu den Klimaflüchtlingen in der Schweiz. Frank hat eine neue Berufung darin gefunden diesen zu helfen Und bietet daher für die Geschehnisse einen Blickwinkel. Es kommt zu Aufständen der Flüchtlinge, die mit der Gesamtsituation unzufrieden sind. Die aus der Sicht eines Geflüchteten erzählte Eruption von Gewalt ist auch deswegen interessant, weil aus Sicht der Geflüchteten die Behandlung in der Schweiz wesentlich besser ist als in den Ländern in denen sie vorher waren, aber der Anspruch der Schweiz ein viel höherer ist, so dass die vergleichsweise harmlose Entmenschlichung im Schweizer Flüchtlingssystem das Fass zum Überlaufen bringt. Eher am Rande wird der Aufstieg der rechtsradikalen Parteien erwähnt, was angesichts einer Flüchtlingspopulation in der Schweiz, die die angestammte Bevölkerung übersteigt, kaum verwundern dürfte.

Neben Indien wird als weiteres Positivbeispiel der Einstellung auf die Klimakrise Kalifornien vorgestellt. Der Bundesstaat erreicht den Robinsons Erzählung unter seinen progressiven Regierungen schnell Klimaneutralität und sticht besonders durch seine effiziente Wasserwirtschaft, die vor allem eine Mangelwirtschaft darstellt, sowie durch Renaturalisierungmaßnahmen hervor.

Weltweit, mit einem besonderen Zentrum in Frankreich, finden zu dieser Zeit gewaltige Proteste statt. Diese fallen vor allem durch ihre neuartigen Organisationsformen auf: gewaltige Menschenmassen sind involviert und legen das Leben in den Großstädten praktisch lahm. Angesichts der großen Wirtschaftskrise werden neue Formen gesellschaftlicher Organisationen ausprobiert. Die Proteste, zu groß und umfassend um von Polizei und Militär unterdrückt zu werden, wir werden so zu einem Labor neuer Gemeinschaftlichkeit.

Für Mary wird immer deutlicher, dass der Erfolg versprechend ist der Ansatz für das Ministerium darin besteht, sich auf Regulierung zu konzentrieren. Dies ist die logische Konsequenz der Analyse, dass die wahre Macht grundsätzlich in der Legislative liegt. Gleichzeitig sind die Marktkräfte und Marktmechanismen immer im Hinterkopf aller Beteiligten: Mary argumentiert deswegen für einen Ansatz von Zuckerbrot und Peitsche. Auf der einen Seite müssen Investitionen in CO2-Emissionen unattraktiv werden, wofür sie (und Robinson) vor allem für eine CO2-Steuer argumentieren. Gleichzeitig müsse es aber das Zuckerbrot geben, das Investitionen in saubere Investments oder sogar in CO2-negative Bereiche attraktiv macht. Genau hier kommt die Carbon Coin ins Spiel, die sie den Zentralbanken zu pitchen versucht: eine durch die Zentralbanken gedeckte Parallelwährung, die niemals unter einen bestimmten Preis fallen kann und durch Blockchain gesichert digital verfolgbar ist. Eine neu zu schaffende Industrie von Zertifizierungen müsste garantieren, dass die auf Grundlage von CO2-Einsparungen erfolgende Ausgabe der neuen Währung tatsächlich funktioniert. Auf diese Art und Weise würde eine zukunftssichere Investition geschaffen, die gleichzeitig garantiert den Klimawandel bekämpft, ohne dabei in kleinteilige Steuerung zu verfallen.

In der Antarktis stellt sich mittlerweile heraus, was alle bereits wussten: Meerwasser auf die Antarktis zu pumpen ist nicht nur logistisch nicht machbar, sondern auch praktisch nicht, so dass als einzige Alternative das Abpumpen des Wassers unter den Gletschern bleibt. In einem weiteren Experiment zeigt sich, dass dies auch möglich ist und dass, so man das im entsprechenden Maßstab betreibt, das Problem des Meeresspiegelanstiegs lösbar ist. Kalifornien muss indessen erfahren, dass auch gute Politik nicht vor Naturkatastrophen schützen kann. Sintflutartige Regenfälle sorgen für eine komplette Überschwemmung von Los Angeles, bei denen die Stadt praktisch vollständig zerstört wird.

Einige Jahre später gelingt es Mary Murphy unter dem Eindruck der sich drastisch verschlimmern und Klimakrise und den zunehmenden Naturkatastrophen endlich, die Zentralbanken von der Notwendigkeit der Einführung der Carbon Coin zu überzeugen. Gleichzeitig startet das Ministerium für die Zukunft sein eigenes soziales Netzwerk, YourLock, von dem man sich innerhalb ein bis zwei Jahren eine weitgehende Ersetzung sämtlicher bestehender sozialer Netzwerke erhofft. Jemand scheint zu glauben, dass diese Maßnahmen erfolgreich sein werden: Terroranschläge auf verschiedene UN-Institutionen, das Ministerium und die Schweizer Banken zwingen Mary in ein von Bodyguards bewachtes Versteck, sorgen aber dafür, dass die bisher eher ambivalente Schweizer Regierung zu einem der engsten Verbündeten des Ministeriums wird.

Insgesamt ist in diesen Jahren ein Wandel der Weltwirtschaft zu beobachten: es werden immer weniger fossile Brennstoffe verbrannt, mit dem größten Rückgang im Verkehrssektor durch das fast völlige Wegbrechen des Flugverkehrs und der Containerschifffahrt, wenngleich vor allem in der Energieerzeugung und im Individualverkehr weiterhin CO2 verbrannt wird. Die Wirtschaftskrise allerdings bleibt bestehen und hat ein Ausmaß wie in der Great Depression erreicht. In vielen Teilen der Welt werden deswegen alternative Konzepte ausprobiert, die potenziell als Vorbilder für den Rest der Welt dienen können. Besonders erfolgreich sind hier eine Art Bankenunion, gewissermaßen eine genossenschaftliche Organisation von Banken um die Macht des Finanzsektors zu beschneiden so wie die Kooperativen im Baskenland, die unter dem Stichwort Mondragon Schule machen sollen und in vielen von Robinsons Romanen eine Rolle spielen.

Die Carbon Coin erweist sich als ein großer Erfolg. Sie erfüllt die ihr zugedachte Rolle als sichere Investition und befeuert Investments zur Lösung der Klimakrise. Durch Blockchain ist zudem die lückenlose Verfolgung von Geld auf der ganzen Welt Standard geworden, was Steuervermeidung unmöglich macht und eine ganze Reihe progressiver Steuersysteme erlaubt. Damit sind die Grundlagen für einen Systemwechsel gelegt, der nur noch gewagt werden muss. Zahlreiche Staaten beginnen in den folgenden Jahren, Verhältnisse von minimalen und maximalen Vermögen festzulegen. Vorbild hierfür ist ausgerechnet die US Navy, in der die Admirale gerade einmal achtmal so viel verdienen wie die niedrigsten Mannschaftsdienstgrade, ohne dass dies die Leistungsfähigkeit der hoch effizienten Organisation mit ihrem ausgeprägten Korpsgeist angreifen würde. Die neue Regel ist ein Verhältnis von 1 zu 10 bei einem legalen Maximalvermögen von 50 Millionen Dollar, was dank des neuen Währungsregime auch in der Realität durchgesetzt werden kann.

Dieser Wandel geht allerdings nicht gerade ohne Probleme vonstatten. Die ohnehin leidende Wirtschaft stürzt in einen neuen Crash, Industrien werden nationalisiert, globale Finanzströme brechen zusammen. Neue Ideen werden ausprobiert. Wandel liegt in der Luft. Die Zeitgenossen vergleichen die Stimmung mit der etwa 100 Jahre zurückliegenden Revolutionsperiode der 1840er Jahre, die in dieser Erzählung weitgehend von unten und ohne zentrale Lenkung zu zahlreichen Protesten und dem Ausprobieren neuer Gesellschaftsformen geführt hat.

Ein weiterer wichtiger Faktor für das Funktionieren der neuen Parallelwährung ist die wirtschaftliche Wirksamkeit von CO2-Einsparungen. Da die neue Währung auf dieser Basis ausgegeben wird, werden wirtschaftliche Anreize vollkommen verschoben. Die in kleinem Maßstab etwa in Indien bereits ausprobierten Veränderungen im Landwirtschaftssektor hin zu nachhaltigeren Wirtschaftsmethoden lohnen sich plötzlich wirtschaftlich ungemein, vor allem für die niedrigsten sozialen Ränge in den am wenigsten entwickelten Ländern der Erde. Die neue Währung stellt somit ein gigantisches Umverteilungsinstrument dar, das auf Basis von CO2-Einsparungen funktioniert. Die globale Wirtschaftskrise ebnet daher im globalen Maßstab Ungleichheiten deutlich ein – durch gigantische Verluste an der Spitze in den entwickelten Nationen und durch große Gewinne am Breitenboden des globalen Südens.

Der nächste große Schritt in den Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise ist die sogenannte Half-Earth-Bewegung. Hinter diesem Schlagwort verbirgt sich die Idee, dass die Hälfte der Landfläche hat die Natur zurückgegeben und verwildert wird, da die intensive industrielle Landwirtschaft und die wesentlichen zu breite Besiedelung der Landschaft von den Emissionen her zu ineffizient sind. Zumindest für eine Übergangszeit von einigen Jahrzehnten ist eine starke Verdichtung der menschlichen Siedlungsgebiete ebenso notwendig wie ein Wandel zur regenerativen Landwirtschaft. Das Prinzip wird zuerst in unbewohnten Gebieten wie in Montana umgesetzt. Es ruft natürlich den Widerstand der eingefleischten Waffenfans in den USA hervor, die den ersten großen Treck der Wildtiere mit Gewalt aufhalten wollen. Das Ministerium organisiert dagegen einen friedlichen Massenprotest und hat darin Erfolg, das Mediennarrativ zu ihren Gunsten zu formen, was in einer breiten Akzeptanz für diese Form der Politik mündet. Die in kleinen Dörfern auf dem flachen Land lebenden Menschen werden ebenso wie die Menschen in den ausufernden Vorstädten durch großzügige Kompensationsangebote zum Umzug in die Städte bewegt. Da dies zur Einsparung von CO2 führt, können diese Maßnahmen mit Carbon Coins bezahlt werden.

Das globale Flüchtlingsproblem ruft ebenfalls neue Ideen auf den Plan. Analog zu in den 1920er Jahren existierenden globalen Reisepässen soll eine Art Weltbürgerschaft initiiert werden, die die Ansiedlung erlaubt. Es wird noch Jahre dauern, bis dieses Prinzip umgesetzt wird, und Robinson legt Wert darauf, dass es sich nicht um Open Borders handelt: auch mit diesen Pässen dürfen die Länder weiterhin Quoten für die Ansiedlung festlegen und werden Flüchtlinge vor allem nach ihrer Verweildauer und dem durch die Klimakrise angerichteten Schaden verteilt. Die finalen Zahlen allerdings bleiben beeindruckend: die Schweiz allein nimmt am Ende die doppelte Zahl Flüchtlinge auf, die bereits im Land wohnt. Gleichzeitig versuchen die Länder der Welt das Möglichste, eine sichere Rückkehr in die Ursprungsländer der Geflüchteten zu ermöglichen.

Der Terrorismus des Crashday erfährt in diesen Jahren eine Ausdehnung auf den staatlichen Bereich. Neue Militärtechnologie, die im Endeffekt eine Kombination aus traditioneller Raketentechnik und Drohnen darstellt, macht praktisch sämtliches bisheriges militärisches Equipment überflüssig und ist nicht zu stoppen. Weltweit fallen den Anschlägen Institutionen und Einzelpersonen sowie wichtige Infrastrukturen Attacken dieser neuen Waffen zum Opfer, ohne dass jemals klar würde, wer die Angreifer sind. Es ist nur offensichtlich, dass die Waffen staatlich produziert wurden, nicht aber, an wen sie weitergegeben wurden und wer sie abfeuert. Im Kontext der Handlung bedeutet dies den Zusammenbruch des staatlichen Gewaltmonopols und eine gewaltige Unsicherheit, die allerdings direkt vor allem die Elite betrifft, während die breite Masse eher durch Beschädigungen der Infrastruktur und die weiteren Verheerungen des Weltwirtschaftssystems betroffen ist.

Ein weiterer großer Wandel jener Ära am Ende der 2040er Jahre ist der weltweite Zusammenbruch des Internets. Nach dem großen Erfolg von YourLock hat sich eine vollkommen neue digitale Biosphäre etabliert. Auf dem Gebiet der KI werden große Fortschritte gemacht; zahlreiche neue Entwicklungen dieser Zeit sind von einem Reichtum an Daten und Auswertungsmöglichkeiten geprägt und sorgen für eine Verbesserung bestehender Technologien. So wurden bereits im Rahmen des Half-Earth-Projekts Zehntausende von Tieren mit Peilsendern ausgestattet, eine Entwicklung, die immer weiter zugenommen hat und zu der Beschreibung als „internet of animals“ führt. Nicht nur bestehen so deutlich intimere Kenntnisse über die Tierwelt; diese ist auch enger mit der der Menschen verbunden. Robinson beschreibt ein größeres Zugehörigkeitsgefühl der Menschen mit der Fauna.

Die tiefgreifende Wirtschaftskrise hat zudem zahlreiche neue Wirtschaftsmodelle hervorgebracht, so dass der klassische Kapitalismus nur noch in einigen wenigen Weltregionen betrieben wird und durch die Kontrolle der Währungen und die damit einhergehende Wiedergewinnung der Souveränität der Legislativen ohnehin nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Gleichwohl sind viele dieser Initiativen Revolutionen unterhalb der Oberfläche, sie kommen ohne Guillotinen und spektakuläre Umstürze aus. Die alten Machtzentren existieren zwar weiterhin – so verschwinden die Oligarchen wieder von einem Tag auf den anderen, noch tun sie das widerstandslos – aber Ihre Position wird zunehmend prekärer, weil offener und auf wenige Bereiche begrenzt, so dass die von Keynes beschriebene „Euthanasie der Rentier-Klasse“ immer näher zu rücken scheint.

Franks Geschichte kommt in diesen Tagen zu einem traurigen Abschluss: nachdem ihm ein Gehirntumor diagnostiziert wurde, stirbt er im Hospiz unter Begleitung häufiger Besuche von Mary. Für diese kommt ihre Zeit im Ministerium ebenfalls an ein Ende: auf einer Sitzung der COP wird im Endeffekt der Sieg über die Klimakrise verkündet, seit Dank der Geoengineering-Maßnahmen der CO2-Gehalt der Atmosphäre konstant und relativ schnell zu sinken beginnt, nachdem er sieben Jahre zuvor stagniert war. Es bleibt zwar unglaublich viel zu tun, und die Probleme menschlicher Gesellschaften mit Ungleichheit, Bürgerkrieg, Unterdrückung und was der Möglichkeiten der Menschen, einander das Leben zu ruinieren, nicht noch mehr ist. Sie ist allerdings deutlich an einem Schlusspunkt ihres Lebens angelangt.

Nach ihrem Rücktritt nutzt sie daher die neu gewonnene Zeit und macht sich auf eine große Reise in einem Luftschiff rund um die Welt, die Robinson gleichzeitig die Gelegenheit gibt, eine Art Bestandsaufnahme zu unternehmen. Von der Regenerierten Tierwelt über menschenleere Landstriche zu immer wiederkehrenden Erkenntnis, wie dumm man in vergangenen Jahrzehnten gewesen war, hin zu den Erfolgen des Geoengineering (von einem riesigen chemischen Teppich auf dem Arktischen Ozean, der Sonnenlicht reflektiert, zu den Bestrebungen in der Antarktis, wo mittlerweile die militärisch nutzlos gewordenen Flugzeugträger als perfekt gewartete Atomreaktoren die Basis für einige zehntausend Arbeiter bilden). Der Roman findet seinen Ausblick in Marys Teilnahme an einem Fastnachtsfest in Zürich, der noch einmal eine Liebeserklärung an die Alpenrepublik bietet.

Das Buch als Roman zu bezeichnen, erscheint mir immer ein wenig als Etikettenschwindel. Eine klassische Handlung gibt es kaum, sieht man von den wenigen Elementen mit Mary und Frank ab. Stattdessen werden philosophische Untersuchungen gemacht, geradezu historische Abhandlungen eingefügt oder Augenzeugenberichte und Protokolle wiedergegeben. Diese Kombination hat ihren eigenen Reiz, ja hat aber eher etwas von einer Mockumentary als einem klassischen Roman. Das sollte vor der Lektüre bewusst sein. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für die Charaktere, sofern man diese überhaupt so nennen möchte. Überwiegend sind sie Gefäße für Ideen und kommen ohnehin nur kurz vor; im Fall der wiederkehrenden Charaktere reicht üblicherweise ein einziges Charaktermerkmal. Obwohl Mary in rund einem Drittel der Kapitel vorkommt, erfahren wir praktisch nichts über sie. Sie hat keinerlei Privatleben, ihre definierende Charaktereigenschaft ist Irisch zu sein und ansonsten wird sie graduell älter, ohne dass dies Auswirkungen hätte. Deswegen zieht sich das Ende des Romans auch furchtbar: der lange Ausblick der letzten rund 15% hat ein Feeling von „Die Rückkehr des Königs“, nur haben uns da die Charaktere interessiert und wir haben mit ihnen Gefühle verbunden. Auf den letzten 80 Seiten mehr Charakterentwicklung für die Hauptfigur zu betreiben als in den 500 zuvor ist nicht die cleverste Strukturentscheidung.

Überhaupt ist die Stagnation der Charaktere typisch für Robinsons Romane. In seiner berühmten Mars-Trilogie wurde ein Mittel erfunden, dass die gesunde Lebenserwartung und deutlich erhöhte und so die Erzählung über mehrere Jahrzehnte ermöglichte, ohne neue Charaktere einführen zu müssen. In diesem Roman bleibt Mary die Chefin einer politischen Institution, ohne auch nur ein einziges Mal einen Machtkampf kämpfen zu müssen oder über den Verlauf von rund 30 Jahren jemals von der Ablösung bedroht zu sein. Auch das Team um sie herum übernimmt in 30 Jahren keine neuen Aufgaben oder wendet sich zu neuen Ufern. Ich halte das nicht für einen Fehler Robinsons, sondern für eine bewusste Entscheidung. Seine Charaktere sind, wie gesagt, keine Charaktere; sie sind Gefäße für Ideen. Mary sollte man sich daher nicht als eine existierende Frau vorstellen, sondern eher als generische Verkörperung des Vorsitzes eine Institution.

Was die eigentliche Handlung anbelangt, sind solche Vereinfachungen natürlich ebenfalls angelegt. Robinson schreibt in einem etwas eigenwilligen Genre. Auf der einen Seite ist die Handlung von zahlreichen Katastrophen und Zusammenbrüchen gekennzeichnet, die sich bei dem Gegenstand des Klimawandels auch kaum vermeiden lassen. Das Buch ist aber auf der anderen Seite eine Utopie. Die Gegenseite kommt deswegen praktisch kaum vor. Sie wird mit geradezu lächerlicher Leichtigkeit ausgeschaltet und marginalisiert; der eigentliche Gegner bleibt die Klimakrise selbst und die Stupidität des Menschen. Selbst in den größten Katastrophen dominiert eine positive Sicht auf die Dinge. Der in einem Kajak durch das überflutete LA paddelnde Stadtbewohner Sich angesichts des Gemeinschaftsgeistes der Menschen beeindruckt. Obwohl die Weltwirtschaft mehrere große Crashs hinlegt und sich über die Handlung eigentlich nie auf das Niveau vor 2024 erholt, dominieren Erzählungen von Experimenten und spontane Massenorganisation, die geradezu linken Fieberträumen entsprungen scheinen.

Auch wenn Robinson wert darauf legt, nicht in das Horn der Degrowth-Bewegung zu blasen, läuft es doch oft darauf hinaus – zumindest für die oberen 10% der westlichen Gesellschaften. Das passt zu seiner grundsätzlichen ideologischen Ausrichtung: er lässt wenig Zweifel daran, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise sowohl selbstzerstörerisch ist als auch zu großer Ungleichheit führt, die ihrerseits zahlreiche negative Effekte hat. Die Einebnung dieser Ungleichheit ist für ihn deswegen ein klares Plus. Wenn er dafür den narrativen Zauberstab schwingen und die Politik eine erfolgreiche Nationalisierungen auf globaler Ebene durchführen lassen muss – so sei es.

Dabei muss man betonen, dass diese Visionen nicht einmal komplett unrealistisch sind, weil durchaus zu erwarten ist, dass die schiere Fülle von Katastrophen und Zusammenbrüche tatsächlich Handlungsspielräume eröffnen wird, die aktuell noch undenkbar sind. Gleichwohl erscheint es mir als ein deutliches Manko, wie wenig Widerstand vor allem von rechts sich all diesem Wandel entgegenstellt. Stattdessen dominieren wishfulfillment fantasies, etwa die Massenproteste selbst, die in ihrer friedlichen Selbstorganisation und unabgesprochenen Koordinierungsfähigkeit selbst manchen Anarchisten peinlich sein dürften. Auch der Erfolg des vom Ministerium produzierten sozialen Netzwerks ist so umfassend und widerstandslos, das ist kaum anders denn als Utopie beschreibbar ist.

Spannend allerdings bleiben diese Utopien alle dennoch – und auch erschreckend. Denn selbst in dieser vergleichsweise positiven Entwicklung, wie Robinson sie hier skizziert, sind die Katastrophen allgegenwärtig und leiden Millionen von Menschen.

Mit das revolutionärste Potential hat die Idee der durch Blockchain und die Zentralbanken abgesicherten Parallelwährung, weil sie wie eine Art silberne Kugel zahlreiche Umsetzungsprobleme angeht. Ohne marktwirtschaftliche Mechanismen aufzugeben werden diese in produktive Richtungen gelenkt und erlauben eine dezentrale Umverteilung, indem autonome Akteure am unteren Ende der Wertschöpfungskette plötzlich gewinnbringend arbeiten können. Dasselbe gilt für die unglaublich teure Zusammenarbeit der Staaten und die notwendigen Buyouts der Maßnahmenverlierer. Die dafür nötigen gigantischen Summen werden ausschließlich dadurch überhaupt möglich. Dies ist explizit eine Art Anwendung von MMT.

Was die Lesenden aber mit Sicherheit mit dem größten flauen Gefühl in der Magengrube zurücklassen dürfte ist die Rolle des Terrorismus. Ohne ihn wären die meisten der Klimamaßnahmen nicht vorstellbar. Es ist der Klimaterrorismus, der in Robinson Erzählung die Initialzündung allen Wandels gibt und der quasi eine notwendige Bedingung darstellt (wenngleich nicht hinreichend; die Kinder Khalis geben im Verlauf der Handlung nach ihrem Erfolg auf Intervention ihres Gurus den Terrorismus auf und winden sich Produktiveren Handlungsweisen zu). Robinson macht daraus auch wenig hehl; seine Romanfiguren sind allesamt Befürworter, egal wie zögerlich, von Gewalt gegen die Klimaverbrecher, wenngleich sie sich in der Ausprägung unterscheiden: manchen reicht die Sabotage und Zerstörung ihrer Besitztümer, andere gehen zu gezielten Ermordungen über. Als Leser in die Situation gebracht zu werden, mit Terroristen zu sympathisieren, gehört aber sicherlich nicht zu den leichtesten Leseerlebnissen.

Eine Idee des Romans, die sich sehr realistisch anfühlt, ist die der Notwendigkeit des Respekts für sämtliche Kulturen der Welt. Solche Nationen und Kulturen, die sich nicht respektiert fühlen, werden an den internationalen Maßnahmen nicht teilnehmen. Die erste erfolgreiche Integration nach der Indiens ist die Chinas, die zentrale Treiber bei der Carbon Coin darstellen. Hier fällt leicht, dass die Chinesen die Finanzwirtschaft immer schon als Instrument des Staates betrachtet haben und daher für sich das Narrativ entwickeln können, dass der Rest der Welt effektiv ihr System übernimmt. Dasselbe gilt im späteren Verlauf für Russland. Dieses entdeckt seine sowjetische Vergangenheit wieder und vergleicht diese positiv mit den zunehmenden Verstaatlichungen und Vergesellschaftungen im Roman. Historisch ist dies natürlich kompletter Quatsch, es ist allerdings sehr realistisch, dass ein solches Narrativ entstehen würde. In diesem Fall hat es die gute Auswirkung, eine positive Alternative zu den autoritären Regime Putins und Konsorten darzustellen.

Etwas merkwürdig ist das Auslassen der islamischen Welt; zwar wird in einem Satz betont, dass sie neben Russland am größten unter diesem Problem leidet, Sie kommt allerdings danach effektiv nicht mehr vor. Geradezu anachronistisch ist die Sicht auf China, in dem Hongkong es schafft, durch Massendemonstrationen seine Unabhängigkeit zu bewahren und ein China der vielen Systeme mit Hoffnungen auf eine Öffnung irgendwann in der Zukunft zu erschaffen – eine Aussicht, die aktuell eher in eine gegenteilige Richtung läuft.

Auffällig für mich ist auch der Technologieoptimismus Robinsons. Auch wenn er eine sehr kritische Haltung gegenüber den Kryptowährungen hat, glaubt er doch an den durchschlagenden Erfolg des Blockchain Konzepts, glaubt denn die digitale Vernetzung der Menschen in einem besseren, nicht kapitalistischen System, das zu einer größeren Zusammengehörigkeit der gesamten Menschheit führen werde und beschreibt die KI als eine praktisch ausschließlich positiv genutzte Technologie.

Insgesamt ist der Roman für mich eine faszinierende, wenngleich teilweise frustrierende Lektüre. Nicht nur wegen der strukturellen und erzählerischen Schwächen, sondern auch, weil die Utopie ein Genre ist, das zwangsläufig stark von spezifischen politischen Überzeugungen geprägt ist (anders als die meist wesentlich generalisiertere Dystopie). Aber Robinsons Sachkenntnis und detaillierte Recherche machen das Werk zu einem spannenden Gedankenspiel und gibt Konzepte an die Hand, mit denen sich unsere heutigen Herausforderungen denken und bearbeiten lassen. Allein das lohnt die Lektüre allemal.

Tristan Donovan – Replay: The History of Video Games (Hörbuch)

Noch immer sind Videospiele ein vergleichsweise junges Medium. Wenn sie überhaupt als Kunst anerkannt werden, dann üblicherweise in einem sehr eingeschränkten Rahmen. Diejenigen, die das ändern wollen, versuchen durch allerlei Meinungsstücke, Analysen und Geschichtsschreibung, hier Fortschritte zu machen. Ein solcher Versuch liegt mit „Replay“ vor, dessen Autor Tristan Donovan versucht, eine Gesamtgeschichte des Mediums vorzulegen, die sich vor allem auf die Innovationen und wichtigen Entwicklungsschritte und weniger auf die berühmtesten und bekanntesten Titel fokussiert.

In Kapitel 1, „Hey! Let’s Play Games!„, starten wir in den 1940er und 1950er Jahren mit den ersten Computern, die damals noch Lochkarten nutzten und ganze Zimmerkomplexe füllten, um die Funktion der heutigen Taschenrechnerapps auszufüllen. Diese ersten Ansätze kamen von den wenigen Computer-Nerds der damaligen Zeit und waren natürlich blanke Spielerei, weil schon allein die Vorstellung, dass die sündteuren, riesigen Geräte jemals für private Spielereien gebraucht werden können, völlig absurd schien. Als in den Universitäten und im Pentagon in den 1960er Jahren aber erstmals halbwegs brauchbare Computerformate standen, gab es auch Leute, die darauf erste – sogar grafische – Spiele programmierten. Der überwiegende Teil der Informatiker war allerdings der Überzeugung, dass Computer eine unglaublich ernsthafte Sache seien, zu denen keinesfalls Spielereien passten.

Das änderte sich allerdings, als die privaten Spielereien einige Systemadministratoren von Leuten entdeckt wurden, die Begeisterung für das neue Medium mit Geschäftssinn und paarten. Kapitel 2, „Avoid missing ball for high score„, führt uns zum ersten Phänomen des Computerspielzeitalters: Pong. Das Spiel verbreitete sich rasant in den Arkaden, die bisher die Heimat von Pinball-Maschinen waren und denen ein Image von Sünde und organisierter Kriminalität anhaftete. Anders als Pinball aber begeisterten die neuen elektronischen Automaten nicht die Arbeiterklasse, die nach Feierabend ihr hat erarbeitetes Geld in den Maschinen verschwinden ließ, sondern die Jugendlichen#, die damals zum ersten Mal als eigene Konsumentenklasse entdeckt wurden.

Die Technik, selbstverständlich, ließ damals noch zu wünschen übrig. Es war vor allem der Neuigkeitswert der Maschinen und die Erschließung bisher ungenutzter Kundenpotentiale, die sie plötzlich interessant machten. Nachdem bei den ersten Computersystemen die Auseinandersetzung vor allem zwischen den ernsthaften Informatikern und den Spielern gewesen war, trat in den 1960er Jahren zum ersten Mal ein prägender anderer Konflikt auf: der zwischen Geeks und Unternehmern. Während erstere vor allem die Grenzen der Technik ausreizen und möglichst anspruchsvolle Spiele gestalten wollten, Interessierten sich letztere für die Vermarktbarkeit. Immer wieder prallten diese Vorstellungen aufeinander, befruchten sich aber gleichzeitig gegenseitig und sollten in den 1970er Jahren zur Eroberung der Wohnzimmer beitragen.

In Kapitel 3, „A Good Home Recreation Thing„, sehen wir die Entstehung der ersten Konsolen. Sie wurden als TV-Spiele vermarktet und benutzt, was der Technik klare Grenzen auferlegte. Zwar war es, anders als bei den existierenden und ihren Privathaushalten praktisch nicht verbreiteten Computern, auf diesen Konsolen möglich, grafische Spiele zu erstellen. Diesen Bemühungen waren allerdings klare Grenzen gesetzt, wie die Hardware von Computern, entsprechende Bildschirme und finanzielle Feuerkraft vorausgesetzt, würde sprengen können. Dies allerdings war zu jener Zeit noch Zukunftsmusik.

Auf Computern indessen fanden Ernsthaftere Spiele eine Heimat, eine Dynamik, die den Gegensatz zwischen Computern und Konsolen noch über viele Jahre prägen sollte. In dieser Periode war der König des Computers das Textadventure, bei dem die Spielenden Texte lasen und sprachliche Befehle eingaben, die je nach Programmierfähigkeiten des Studios unterschiedlich gute Ergebnisse hervorbringen konnten.

In diese Zeit fällt auch der kometenhafte Aufstieg der Firma Atari, den wir in Kapitel 4, „Chewing Gum, Bailing Wire and Spit„, verfolgen. Die titelgebenden Materialien waren in einem geflügelten Wort in den Anfangsjahren der Firma das einzige, das die Kisten zusammenhielt. Bei Atari zeigte sich der Konflikt zwischen den Geeks und den Unternehmern am deutlichsten: die hochfliegenden Visionen der Geeks produzierten einige innovative Produkte, die großen Erfolg hatten, aber ihnen fehlten die unternehmerischen Fähigkeiten, um diesen zu verstetigen. Das war dann die Rolle der Unternehmer, die aber gleichzeitig zu einem Abfall der Produktqualität führten – der dann 1982 zur Katastrophe führen sollte.

Eine weitere Firma, die in diesen Tagen ihre Gründung erfuhr, war Apple. Auch sie trat an, um Videospiele in das heimische Wohnzimmer zu transportieren. Der Apple II nahm den auch den Kampf mit anderen Heimrechnern auf. Gleichwohl blieben Computer in dieser Zeit noch ein absolutes Nischenprodukt, während Konsolen wie die von Atari den Markt eroberten.

Die Genres unterschieden sich auch entsprechend deutlich. In Kapitel 5, „The Biggest Eureka Moment Ever„, werden die Genres vorgestellt, die die damaligen Computerspiele dominierten. Wegen der Hardwarebeschränkungen konnten Actionspiele, wie sie auf den Konsolen populär waren, nicht hergestellt werden. Stattdessen dominierten Rollenspiele, die sich für eine Adaption auf der Genre der Textadventure hervorragend eigneten und Adaptionen von Brettspielen, vor allem der beliebten Wargames, deren komplexe Regelwerke das Spielen am heimischen Spieltisch neben ihrer großen Länge zu einer Qual machen konnten, beides Faktoren, die der Computer lösen konnte.

Kapitel 6, „High-Strung Primadonnas„, wendet den Blick zurück zu Atari. Die Firma wurde durch Warner übernommen, was ihr den dringend benötigten Cash gabt, um ihre aufstrebende Konkurrenz beseitigen und Marktdominanz erreichen zu können. Für die Corporate Culture war dies jedoch ein Schock: die Profis von Warner Konten mit der Nerdkultur bei Atari wenig anfangen und umgekehrt. Zum größten Streit kam es jedoch, als den Kreativen klar wurde, welch großen Anteil sie an den Verkäufen hatte und wie wenig ihnen relativ dazu bezahlt wurde. Warner lehnte eine Beteiligung der Kreativen an den Gewinnen, wie sie etwa in Hollywood üblich war,  kategorisch ab, zu einem wahren Exodus dieser Kreativen führte, die ihre Kenntnisse in eigene Startup Firmen mit Namen und Atari Konkurrenz machten.

Doch nicht nur dieses Fleisch vom eigenen Fleisch bedeutete Konkurrenz für Atari. Wie Kapitel 7, „Pac-Man Fever„, zeigt, fand in den Arkaden genauso wie bei den Heimkonsolen ein riesiger Boom statt, bei dem technisch ausgereifte und hoch populäre Spiele die sauer verdienten Taschengeldbeträge der Teenager schluckten. Vor allem Space Invaders und Pac Man dominierten diese Phase. Letzteres schaffte es sogar durch seine Themensetzung, den bisher unerreichten Markt für junge Frauen zu erschließen und sie in die Arkaden zu locken. Es gelang der Industrie dadurch auch, das schlechte Image aus der Pinballzeit loszuwerden und sich als Orte für die Familie zu etablieren. Spielautomaten eroberten die neuen Malls und erlebten eine wahre Investmentblase, bei der selbst Friseure die Maschinen bei sich aufstellten, ohne realistische Chance, das Investment je zurückzuerwerben.

Kein Boom kommt jemals ohne Backlash aus. Kapitel 8, „Devillish Contraptions„, zeigt die erste große moral panic über Videospiele, ausgelöst (unbeabsichtigt) durch den damaligen Surgeon General, der in einem Interview beiläufig erwähnte, dass er wenig von den Spielen halte und dann als Kronzeuge für ihre angeblich gesundheitsschädliche Wirkung herangezogen wurde. Seine Versuche, deutlich zu machen, dass er dies so nie gesagt oder gemeint habe, blieben in der aufgeheizten Atmosphäre selbstverständlich ohne Wirkung.

Doch auch jenseits der Tugendwächter*innen geriet die Branche in Schwierigkeiten. Die Blase musste irgendwann platzen, und Anfang der 1980er Jahre tat sie das mit Gewalt. Eine Ursache dafür war die unglaublich schlechte Qualität der damaligen Spiele, weil zahlreiche Drittanbieter Schrottprodukte für die Atarikonsole produzierten. Die Firma hatte nie erwartet, dass jemand außer ihnen spiele für ihr Gerät herstellen würde und deswegen keinen Schutz eingebaut. Aber auch die Spiele der Firma selbst waren unter dem Druck Warners wesentlich schlechter geworden. Legendär war hier das in wenigen Wochen zusammengeklöppelte „ET“, das versuchte, von der Filmlizenz zu leben und den Ruf der Firma und des Mediums nachhaltig ruinierte. Aber selbst bessere Spiele gerieten an die Grenzen der Technologie: zu wenig Arbeitsspeicher und die schlechten Bildschirme des Fernsehers sorgten für sehr repetitives und primitives Gameplay.

Dazu kam die Konkurrenz von einer ganz neuen Technologie, den Videorekorder. Er führte zu einer wahren Renaissance des Films, weil er es den Jugendlichen erlaubte, ihre Lieblingsfilme zu jedem beliebigen Zeitpunkt anzusehen. Damit war eine Konkurrenz für die Bildschirmzeit entstanden, die wesentlich mehr zu bieten hatte als die immer gleichen schlechten Videospiele. Der Konsolenmarkt crashte und würde sich lange Zeit nicht davon erholen. Spiele kehrten in ihre Rolle als Nischenprodukt auf Computern zurück.

In Kapitel 9, „Uncle Clive„, wirft Donovan den Blick auf die Industrien Großbritanniens und Spaniens. Der britische Markt litt von Anfang an darunter, dass es keine europäischen (geschweige denn britische) Hersteller von Computern gab, die amerikanische Computertechnologie war weit voraus. Erst der Erfinder Clive Sinclair erfand billige Elektronik für den Massenmarkt, die britischen Spieleentwicklern – zu denen er auch selbst gehörte – einen eigenen Markt erlaubte. Die britische Spieleindustrie fiel vor allem durch surreale Spiele auf, die eine ganz eigene Art von Humor hatten und nicht eben weltweit vermarktbar waren. In Spanien dagegen entstand in jenen Jahren zwar eine leidlich erfolgreiche Firma, die jedoch im großen Crash mit untergingen und ohne Reserven keine Überlebenschance hatte. Damit endete der kleine spanische Markt effektiv komplett.

Die französische Computerspieleindustrie indessen, die in Kapitel 10, „The French Touch„, beschrieben wird, fiel durch „anspruchsvolle“ Spiele auf. Das spezifisch Französische war ihre Betonung des Historischen gegenüber dem Fantastischen, was das Genre anbelangte. Weltweit führend waren die Franzosen allerdings in der Grafik, weswegen sie von amerikanischen Unternehmen immer wieder angeheuert wurden, um den titelgebenden „French Touch“ Anspiele anzubringen.

Anders als in Spanien gelang es der kleinen Spieleindustrie in Italien, die Periode zu überleben und Spiele für den italienischen Markt zu produzieren. Diese erreichten jedoch nie eine Bekanntheit über die Halbinsel hinaus und blieben daher weitgehend unrezipiert.

Der letzte Blick des Kapitels wendet sich auf den deutschen Markt, der zwar größenmäßig durchaus relevant war, jedoch durch einen eigenen Genre-Schwerpunkt auffiel: die Aversion gegen Gewalt in der deutschen Öffentlichkeit sorgte für eine starke Betonung von Aufbauelementen, die sich auch in Brettspielen findet und die bis heute ein Merkmal des deutschen Marktes darstellt. Der geradezu inquisitorische Eifer der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften sorgte zudem dafür, dass zahlreiche Spiele in Deutschland überhaupt nicht erhältlich waren.

In Kapitel 11, „Macintonshization„, wendet sich Donovan der niederländischen Cracking- und Demoszene zu. Die niederländischen Computer-Geeks waren besonders gut darin, Programme zu cracken, um Kopierschutzversuche zu umgehen, und diese dann zu teilen. Die idealistischen Grundlagen der Szene schufen aber gleichzeitig eine neue Subkultur und ein neues Genre, die Demo: auf der einen Seite war dies eine Testversion des Programmes, auf der anderen Seite nutzten die Programmier*innen aber das Cracken, um ihre eigenen Fähigkeiten zu zeigen. Viele der Cracker*innen fanden dann auch Jobs bei den Firmen, deren Produkte sie „crackten“ und oft verbesserten (was in der „Demo“ dann vorgeführt wurde).

Eine weitere Neuerung jener Jahre war die Einführung graphischer Benutzeroberflächen. Die Idee, verschiedene Fenster mit der Maus zu operieren, kam erstmals in den 1980er Jahren auf und würde mit Windows zur Massenreife gelangen. Für Computerspiele war dies insofern relevant, als dass die Steuerung mit der Maus und das Anklicken von Fenstern neue Möglichkeiten für Spiele öffnete. Generell waren PC-Spiele wesentlich komplexer als die auf Konsolen, was sich vor allem im beliebten Genre der Rollenspiele zeigte. Diese eröffneten zahlreiche Möglichkeiten, wobei Richard Garriot („Lord British“, der Schöpfer der Serie Ultima) entsetzt war, dass die Spieler*innen vor allem als Serienmörder durch seine Spielwelten randalierten, weswegen er in Ultima 4 zum ersten Mal ein Moralsystem einbaute, das die Spieler*innen anleitete, „gut“ zu sein. Solche moralischen Spielweisen wurden danach in vielen Games aufgegriffen und sind bis heute relevant geblieben.

Kapitel 12, „A Tool to Sell Software„, erzählt den Aufstieg Nintendos nach. Die Firma, deren Genese mit der Produktion von Spielkarten begann, suchte vor allem nach dem titelgebenden Gerät, mit dem sich Software verkaufen ließ (anders als die anderen Konsolenhersteller der Ära, denen vor allem die Technik ihrer Konsolen wichtig war und die die Software als nachrangig einstuften, was zu der miesen Qualität vieler Spiele führte, die ja auch den Atari-Crash maßgeblich mitbestimmt hatte). Nintendos Erfolg blieb zwar zuerst noch auf Japan beschränkt, aber ihre kartellartige Herangehensweise an die Unternehmensorganisation, die eine klare Kontrolle der Software für ihr System mit sich brachte – eine Neuheit in der Branche – und die rigide Qualitätskontrolle mit Null-Toleranz-Politik für Bugs waren wegweisend. Dazu gehörten auch harte Regeln bezüglich des Inhalts; Nintendo-Spiele enthielten wenig Gewalt und wenig Sexualität, was für das auf Skandalen und Tabubrüchen beruhende Medium eine Neuheit war.

Der Durchbruch Nintendos in den USA wird in Kapitel 13, „I Could Have Sworn It Was 1983„, nacherzählt. Die Firma tat sich wegen der verbreiteten anti-japanischen Stimmung schwer; das erste Produkt der Firma floppte, schon allein, weil es direkt im Nachgang des Atari-Crashs von 1983 erschienen war. Die hohe Qualität der Spiele allerdings überzeugte im zweiten Anlauf mit der Nintendo-Konsole, die auch dank eines konzentrierten Marketingpushs mit kluger Unternehmensstrategie einen beispiellosen Siegeszug in den USA antrat und den Markt für Konsolen quasi im Alleingang wiederbelebte. Dasselbe gelang in in Europa nicht, wo Atari und Amiga dominant blieben und das Spielen eher auf Heimcomputern als auf Konsolen stattfand, ein Trend, der bis weit in die 2000er Jahre anhalten würde und Europa zu einem von Japan und den USA klar abgetrennten und nach anderen Regeln funktionierenden Markt machte.

Die Qualität änderte sich nur in der Bekämpfung von Bugs. In Kapitel 14, „Interactive Movies„, zeigt sich ein Wandel im Anspruch des Mediums. Die steigenden grafischen Fähigkeiten (16 Farben!) der Hardware brachten neue Ambitionen bei den Programmierer*innen hervor, die sich vor allem am Film orientierten. Ein Beispiel hierfür findet sich im Motion Capturing, das etwa „Prince of Persia“ eine ungewohnte Qualität der Animationen gab. Auch das Level-Design orientierte sich zunehmend an Hollywood und seinen Erzählstrukturen, vor allem was das Pacing anging.

Eine andere Richtung, in die diese Einflüsse und Ambitionen trugen, zeigt sich bei Lucasfilm Games, die mit der SCUMM-Engine das Grafik-Adventure perfektionierten. Dabei nahmen sie bewusst Einflüsse aus Hollywood auf, etwa im bahnbrechenden „Maniac Mansion“, das einen Horror-B-Movie veralberte (und wegen der Möglichkeit, einen Hamster in der Mikrowelle zu rösten, einen Skandal in Japan auslöste). „Monkey Island“, „Loom“ und weitere erzählten ebenfalls einprägsame Geschichten mit markanten Charakteren.

Ein weiterer Höhepunkt dieses Trends war „Wing Commander“, in dem lange Zwischensequenzen mit einprägsamen Charakteren und einer ausführlichen Story mit Weltraumkämpfen kombiniert wurden. Die Serie gehört gleichzeitig in die in Kapitel 19 besprochene Blase der interaktiven Spielfilme, denn Teil 3 und 4 der Reihe erreichten Zwischensequenzen in bis dato unbekanntem Umfang und Aufwand.

Wie jeder Trend gab es dazu auch eine Gegenbewegung. In Kapitel 15, „Ah! You Must Be A God„, begegnen wir den Programmierikonen Will Wright und Peter Molyneux, deren Spiele einen völlig anderen Ansatz verfolgten. Wrights erstes großes Spiel, „Sim City“, war ein riesiger Erfolg – obwohl es weder ein Ziel noch eine Story hatte. Der Sandbox-Ansatz, der Spielenden erlaubte, ihre eigenen Ziele zu setzen, erwies sich als wegweisend und unwiderstehlich. Molyneux hatte weniger Glück; seine ersten Unternehmungen waren Fehlschläge. Erst mit „Populous“ erreichte er einen Durchbruch – nicht, dass jemand daran geglaubt hätte; die Veröffentlichung war eher einem glücklichen Zufall geschuldet. Molyneuxs fehlende Fähigkeiten hatten ihn in das Genre der „Gottsimulation“ stolpern lassen, um quasi den Spielenden die Aufgabe zu geben, die miese KI auszugleichen. Auch „Populous“ hatte kein Spielziel und faszinierte durch die große Freiheit.

An Freiheit mangelte es neben modernen Computern bekanntlich vor allem in der Sowjetunion, in der nichts desto trotz Spiele programmiert wurden. Kapitel 16, „A Plane To Moscow„, erzählt die bizarre geschichte der Tetris-Erfindung durch einen sowjetischem Geek. Das Spiel, das sich wie ein Lauffeuer durch die wenigen Computer in dem totalitären Staat verbreitete, erreichte bald auch das Ausland, und die großen Publisher leckten sich die Finger danach. Einen Verbreitungsdeal in einem kommunistischen Staat zu schließen, der für „geistiges Eigentum“ gar kein Konzept hatte (außer, dass alles dem Staat gehörte), war nicht eben leicht, und die Beschreibungen der Verhandlungen sind geradezu surreal. Die unklare Rechtslage sorgte dafür, dass es Nintendo gelang, sich die Handheldrechte zu sichern (weil niemand auffiel, dass nur über normale Konsolen und Computer gesprochen war) und das Spiel zum Flaggschiff seines neuesten Produkts, des Gameboy, zu machen, was entscheidend zu dessen Erfolg beitrug.

Ähnlich wie in Europa spielten Konsolen im Ostblock generell keine Rolle; eigene wuzrden sowieso nicht entwickelt. Osteuropäische Spielehersteller produzierten deswegen nach der Wende vor allem Computerspiele, gerade eher anspruchsvolle, die eine klare Identität aufwiesen und osteuropäische Themen aufgriffen, etwa die Flugsimulation „IL2“, die die Luftschlachten über der Ostfront thematisierte, oder „Stalker“, das sich mit Tschernobyl beschäfitgte. Die Krone osteuropäischer Spieleproduktion dürfte die „Metro“-Reihe darstellen, die einen spezifisch russischen Post-Apokalypse-Touch mit sich brachte.

In Kapitel 17, „Sega Does What Nintendon’t„, erhält der bis dahin unangefochtene Platzhirsch für Konsolen, Nintendo, von seinem japanischen Rivalen Sega Konkurrenz. Deren Produktstrategie, die im titelgebenden Slogan versinnbildlicht wurde, war der Versuch, den Megadrive als Nintendo für Ältere zu vermarkten. Die Konkurrenz zwischen den beiden Firmen würde sich auf Jahre fortsetzen und war äußerst aggressiv und persönlich. Sega setzte sich bewusst von der Inhaltskontrolle auf Harmlosigkeit von Nintendo ab und produzierte anstößige Games, in der Hoffnung, Nintendo als Kinderprodukt einzuhegen und den Markt für Teenager zu dominieren.

Dazu brauchte es eine eigene Marke, die es mit Nintendos Mario aufnehmen konnte. Die Lösung dafür war Sonic, der superschnelle Igel. Die Geschwindigkeit sollte die überlegende Hardware des Megadrive demonstrieren, weil der Aufbau des Bilds auf dem Bildschirm für diesen wesentlich effektiver möglich war als für den in die Jahre gekommenen Nintendo. Sega setzte sich damit an die Spitze der aktuellen Trends.

Die Neigung von Spielen zu Gewalt rief allerdings, wie Kapitel 18, „Mortal Kombat„, zeigt, ihren eigenen Backlash hervor. Das titelgebende „Mortal Kombat“ gehörte zur Kategorie der vor allem in den Arkaden dominierenden Beat’em’ups, in denen zwei Kämpfer*innen gegeneinander antraten. Die Programmierer*innen machten sich wenig Gedanken über die Implikationen dessen, was sie taten. Als sie den „Finishing Move“ für Mortal Kombat programmierten, bei dem auf blutige Art und Weise der Unterlegene besiegt wurde (ein absoluter Renner unter den Spielenden), kam niemand auf die Idee, dass dies vielleicht nicht das beste Material für Kinder war (in einer gesegneten Tradition kümmerten sich die Eltern wenig um das, was ihre Kinder spielten).

Eine riesige Gewaltdiskussion brach sich in den USA Bann, als der demokratische Kongressabgeordnete Joe Lieberman im Kongress eine Untersuchung ansetzte und eine riesige Moral Panic auslöste. Der Spieleindustrie wurde schmerzhaft bewusst, dass sie keine Lobby in Washington besaß und keine Strategie für den Umgang mit solchen Skandalen besaß, was besonders deutlich wurde, als Nintendos und Segas Repräsentaten sich im Kongress vor laufenden Kameras gegenseitig zerfetzten und einander beschuldigten, dem Trend Vorschub zu leisten. Die moralische Panik hatte zwei bemerkenswerte Konsequenzen. Einerseits stiegen die Verkaufszahlen der krisitierten Spiele massiv an; Kontroverse war die beste Werbung. Zum anderen führte die Industrie ein Rating-System für Altersfreigaben ein, um Zensur durch die Politik zuvorkommen. Dieses hatte den paradoxen Effekt, dass wesentlich mehr gewalttätige und anstößige Spiele als vorher auf den Markt kamen, weil das Aufdrucken einer Altersbegrenzung jeglichen moralischen Druck von den Unternehmen nahm, der sie vorher zurückgehalten hatte.

Wenig überraschend, dass es Hersteller gab, die versuchten, pädagogisch wertvolle Spiele zu programmieren. Kapitel 19, „A Library In A Fish’s Mouth„, verfolgt die Entwicklung des ersten ansprechenden Lernspiels nach. Das Genre war bisher eine Halde für Müllsoftware gewesen, von bestenfalls drittklassigen Programmierer*innen nebenbei auf den Markt geworfen. Aber ein neues Medium, die CD,  ermöglichte neue technologische Sprünge durch wesentlich mehr Speicherplatz, die erstmals ausgerechnet von Lernspielen ausgenutzt wurden. Unter den konkurrierenden Formaten setzte sich die CD-ROM schnell als Marktführer durch und verdrängte die anderen Formate, und die rapide sinkenden Kosten für CD-Laufwerke läuteten das Ende der Disketten-Ära ein.

Der nun entstandene Speicherplatz erlaubte den Hollywood-Ambitionen vieler Kreativer völlig neue Möglichkeiten. In den frühen 1990er Jahren war das Genre des interaktiven Films plötzlich der letzte Schrei. Der Höhepunkt dieses Trends kam von Sierra Online, neben Lucasfilm Games wohl dem Hauptprofiteur des Adventure-Booms (man denke an King’s Quest oder Leisure Suit Larry): „Phantasmagoria“. Mit diesem Höhepunkt platzte aber die Blase der „interaktiven Spielfilme“, denen es nicht gelangt, die Kombination von Spiel und Film überzeugend hinzubekommen: die Spiele waren letztlich alle furchtbar schlecht, weil das vefügbare Budget in die Produktion des Films ging. Einen SM-Bondage-Horror-Film als bis dato teuerstes und aufwändigstes Spiel zu produzieren war vermutlich auch nicht Sierras beste Entscheidung.

Eine weitere Blase der frühen 1990er Jahre war Virtual Reality. Sie war damals in aller Munde und mit zahlreichen hochfliegenden Zukunftsvisionen bedacht, die von den technischen Grenzen der Zeit unmöglich eingelöst werden konnten. Zahlreiche Firmen verbrannten riesige Budgets im Versuch, Virtual-Reality-Hardware und Spiele zu erschaffen. Das Gamen im Cyberspace aber bleibt bis heute trotz immer wiederkehrender Versuche ein Desiderat.

Die technischen Voraussetzungen allerdings wurden mit dem Sprung in die Dreidimensionale, wie Kapitel 20, „The Ultimate Display„, zeigt, immerhin grundsätzlich geschaffen. Polygone und Bitmapping stellten Durchbrüche in der Grafiktechnologie dar, die den Computer ab Ende der 1980er Jahre erstmals wesentlich mächtiger machten als Konsolen (wenngleich dies VGA-Grafikkarten erforderte, die damals noch nicht weit verbreitet waren). Diese Technologie wurde von  id Software zur Meisterschaft gebracht. Mit der Jump’n’Run-Reihe „Commander Keen“ schufen sie farbenfrohe Actionwelten, die man bisher nur aus den Arkaden kannte. Wesentlich relevanter aber war der Sprung in den dreidimensionalen Raum, der mit „Wolfenstein 3D“ erreicht wurde (neben einem weiteren Skandal über Gewalt und das Zeigen nationalsozialistischer Propaganda). „Doom“ perfektionierte das Genre 1993 und führte das Deathmatch ein, das 3D-Shooter zu dem Internetphänomen der Zeit machte; „Quake“ würde später auf diesem Erfolg aufbauen. Der Erfolg der Firma gründete sich zu nicht unerheblichen Teilen auf dem Rockstar-Image des Firmengründers John Romero, der dem Ganzen eine glamouröse Übersteigerung gab.

Die Grafiktechnologie wurde allerdings von den Konsolenherstellern schnell adaptiert. Die nächste Konsolengeneration hatte eigentlich in einer Kooperation von Sony und Nintendo entstehen sollen, doch Nintendo verriet seinen Mitbewerber, um das Entstehen neuer Konkurrenz zu verhindern. Der Zug ging nach hinten los, denn Sony arbeitete mit Philipps zusammen und brachte mit Riesenerfolg die Playstation heraus, die ähnlich wie der Megadrive als Konsole für „Große“ vermarktet wurde und wesentlich „erwachsenere“ Spiele als Nintendo anbot – abgesehen vom CD-Format, das mit seinem gegenüber den Kartuschen Nintendos über deutlich mehr Speicherplatz verfügte.

Zum Erwachsenwerden gehörte auch die Diversifizierung der Spielenden. Kapitel 21, „We Take Pride In Ripping Them To Shreds„, befasst sich mit Frauen im Gaming. Die Möglichkeit, überhaupt weibliche Spielfiguren zu benutzen, war lange Zeit praktisch nicht vorhanden (wie übrigens auch Nicht-Weiße Avatare), weil man befürchtete, die fast ausschließlich männliche Spielerschaft zu verprellen. Erste Ansätze in Rollenspielen sorgten denn auch für mehr als hochgezogene Augenbrauen. Der Durchbruch in dieser Hinsicht kam mit Tomb Raider, das eher als Zufallsprodukt entstand, weil Eidos keine Indiana-Jones-Lizenz erhalten konnte. Lara Croft aber wurde zu einem Symbol von Weiblichkeit in Videospielen, im Guten wie im Schlechten.

Frauen als Kundinnen wurden zum ersten Mal aktiv im Barbie Fashion Designer umworben, der ein riesiger Hit war. Mädchen waren generell ein unterentwickelter Markt, der nur langsam entdeckt und erschlossen wurde. Computer galten als männliche Domäne, und die Männer (und Jungs) hielten Frauen offensiv vom Zutritt in diese Sphäre ab. Trotzdem entstanden erste weibliche Clans, die dann durch den grassierenden Sexismus quasi in feminstische Ecke gedrängt wurden: als Reaktion auf die männliche Aggression bildeten sie sich als reine Frauengruppen, die Stolz darauf empfanden, ihre männlichen Konkurrenten zu deklassieren. Mittlerweile haben sich diese harschen Fronten deutlich aufgelöst. Aber ich erinnere mich aus meiner aktiven Zeit noch gut an diese Dynamiken.

Nachdem die bisherigen Kapitel sich viel mit Grafik beschäftigten, wendet sich Kapitel 22, „Beatmania„, dem Ton zu. Erste Musikspiele entstanden bereits in den 1980er Jahren. In Japan waren sie sehr populär, während sie in den USA keinen allzugroßen Erfolg hatten. Das änderte sich erst um 2000 herum mit Guitar Hero und Konsorten, die den bestehenden Power-Fantasies rund um das Erledigen von Gegnerhorden, das Brillieren im Sport oder dem Retten fantastischer Welten die Komponente des Rockstars hinzufügten und vor allem als Partyspiele Furore machten und dadurch Gaming auch eher wenig erschlossenen Gruppen öffneten. Generell waren die Musikspiele allerdings über all die Zeit ein Riesending in den Arkaden, gewissermaßen ein letzter Höhepunkt, bevor diese endgültig vor den Heimgeräten kapitulierten und weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwanden.

Zwar verschwanden mit den Arkaden gesellige Orte des Videospiels, aber wie Kapitel 23, „You haven’t Lived Until You Died In MUD„, zeigt, kamen mit Multiplayerfunktionen ganz neue hinzu. Das erste Onlinespiel, Multi-User-Dungeon, erschien 1980 (!). Es war ein textbasiertes Adventure, das über die damals noch seltenen und sündteuren Modemverbindungen gespielt werden konnte (Season 2 der großartigen Serie „Halt and Catch Fire“ beschäftigt sich mit diesem Phänomen). Dabei kam sehr schnell der Konflikt auf, ob die Software eigentlich eine soziale Umgebung bereitstellte oder ein Spiel war. Dadurch, dass die Idealisten hinter MUD das Spiel offen hielten und es eine aktive Modder-Szene gab, existierte beides parallel, entwickelte sich aber zunehmend auseinander.

Die extrem hohen Preise für Onlineverbindungen (4-10$ pro Stunde, in 1980er Dollars) und die sehr geringe Userbase machten die Monetatisierung dieserr Spiele sehr schwierig, und diejenigen Unternehmen, die es in den 1980er und 1990er Jahren versuchten, scheiterten auch damit (darunter kurioserweise auch Lucasfilm Games). Der erste erfolgreiche Durchbruch dieser Ära war Ultima Online, das zugleich viele Probleme aufzeigte, die Multiplayerwelten bis heute plagten. Die Freiheit der Spieler führte zu Player Kills, generell asozialem Verhalten und dysfunktionalen Gesellschaften, gleichzeitig aber auch zu communitybasierten Ansätzen der Lösung. Die hohe Hürde und das frustierende Spielerlebnis für „Newbies“ hielt den Erfolg abseits der technischen Infrastruktur aber zurück; erst Everquest und vor allem World of WarCraft sollten das Problem mit strukturierten Quests lösen, die den Spielenden deutlich mehr Handlungsrahmen zur Verfügung stellten und Massive Multiplayer breitenfähig machten.

Dadurch entstanden die für Kapitel 24 titelgebenden „Second Lives„. Onlinewelten wurden immer mehr zu Orten, an denen die Spielenden signifkante Zeit verbrachten. Ein Vorreiter hier war ausgerechnet das in den 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre noch eher arme Südkorea. Durch ein Importverbot japanischer Software und die geringe Attraktivität (und damit Erschlossenheit) des Markts gab es eine große Raubkopienszene. Die Regierung investierte in den 1990er Jahren jedoch massiv in zukunftstechnologie Breitband, weil sie darin eine zukunftsträchtige Infrastruktur sah (eine Erkenntnis, die in Deutschland auch 30 Jahre später noch auf sich warten lässt). Internetcafes schossen aus dem Boden und erlaubten auch ohne den Besitz eines eigenen Computers das Teilnehmen am Onlinespiel.

In Südkorea wurden eigene MMORPGs entwickelt, die auch weitgegehend auf die geteilte Halbinsel beschränkt blieben und die den Fokus auf großen Gruppen legten, die etwa Burgbelagerungen und Ähnliches durchführten. Ein eigenes Phänomen aber war StarCraft, das in Korea gigantische Erfolge feierte, zu einem riesigen Massenphänomen wurde und die eSportsszene eigentlich begründete. Auf Jahre spielte Südkorea bei der Professionalisierung von Videospielen Spielen in einer völlig anderen Liga als der Rest der Welt, selbst als die USA und Japan (Europa sowieso).

Doch nicht alle Spielenden – nicht einmal die Mehrheit – war an so knallhartem Wettbewerb interessiert. Wie Kapitel 25, „Little Computer People„, skiziiert, waren harmlosere Simulationen wesentlich interessanter. Will Wright, der Kopf hinter SimCity, erfand eine Menschensimulation. Zuerst fand er damit bei Maxis kein Gehör, da das Managment nicht glaubte, dass diese Idee als Spiel taugte; erst als EA Maxis aufkaufte, ging „Die Sims“ in die Entwicklung und entwickelte sich zu einem gigantischen Hit. Der natürliche Narzismuss aller Spielenden erwies sich als massiver Anreiz, sich selbst im Spiel zu verwirklichen.

Das geschah auch über ein eher randständiges Feature, die Replayfunktion von Quake: sie begann ihr eigenes Genre der Filme durch Spielende, das in der Folgezeit Unmengen von Content in Form von Memes und Videos hervorbringen und die Spielenden auch kulturell untereinander verknüpfen sollte. Diese Verknüpfungen wurden für Wohl und Wehe der Spiele und ihrer Firmen immer wichtiger, so dass professionelles Community Managment zu einem dauerhaften Posten wurde.

Noch immer allerdings blieb Gaming auf einen recht überschaubaren Anteil der Bevölkerung beschränkt Es war, wie Kapitel 26, „All-Access Gaming„, aufzeigt, erneut Nintendo, die hier zu neuen Ufern aufbrachen. Als der Sega Dreamcast Ende der 1990er Jahre kläglich scheiterte und Microsofts XBox dank „Halo“ wie eine Bombe einschlug, schienen die Tage Nintendos, deren Nintendo64 nie die Höhen der vorherigen Maschinen erreicht hatte, trotz des Achtungserfolgs des Nintendo DS gezählt zu sein. Frühe Versuche mit bewegungssensitiven Controllern zahlreicher Firmen waren alle gescheitert. Nintendo allerdings gelang mit der Wii der Durchbruch, und trotz der schlechten Grafik machten die Controller, die Sportspiele und die geringe Hürde solchen Eindruck, dass plötzlich Millionen Menschen eine Konsole kauften, die vorher niemals Berührung mit Videospielen hatten.

Der letzte große Trend findet sich in Kapitel 27, „The Groovies Era Of Crime„, der sich mit der GTA-Serie beschäftigt. Diese brachte die Sandkasten-Welten (open world) zur Perfektion, indem sie glaubhafte Städte mit großer Freiheit der Spielenden vorlegte, was der Firma Rockstar lange Zeit weitgehend ohne Konkurrenz – neben Bethesda mit Elder Scrolls und Fallout – gelang. Daran kann man auch die zunehmende Bedeutung von Storytelling sehen (etwa anhand „San Andreas“), das bislang eher auf das Genre der Rollenspiele beschränkt war und nun auch in die Actionspiele Einzug fand, die bisher eher durch den Ansatz aufgefallen waren, den id-Gründer John Carmack formuliert hatte: Story in Shootern sei wie in Pornos, „expected but unnecessary„. In „Unreal“ wurde dies erstmals versucht, aber „Half-Life“ gelang dies dank des neuen Ansatzes „show don’t tell“ erstmals überzeugend.

Den Abschluss des Buchs macht Kapitel 28, „Magic Shooting Out Of People’s Fingers„, das sich mit der ökonomischen Seite der Branche beschäftigt. Einerseits hatten die großen Spiele mit ihrer Grafik und Komplexität zu einer Professionalisierung der Branche geführt, mit Multi-Millionen-Dollar-Konzernen in der üblichen Struktur solcher Konzerne, was zu „sicherem“ und die Kreativität erdrückendem Geschäftsgebahren führte. Das Internet und das Aufkommen digitaler Vertriebsplattformen, vor allem Steam, ermöglichte aber einer großen Indieszene ein ordentliches Auskommen.

An dieser Stelle endet das 2010 erschienene Buch mit der Feststellung, dass das junge Medium seine besten Tage wohl noch vor sich hat und zahlreiche kreative Entwicklungen noch ihrer Entdeckung harren.

Trotz seines mittlerweile stattlichen Alters von 13 Jahren (in dem Bereich eine halbe Ewigkeit) ist das Buch zu empfehlen. Das liegt daran, dass Donovans Struktur und Ansatz sehr wertvoll sind. Sein Fokus auf den Innovationen sorgt dafür, dass die letzte Zeit ohnehin nicht so bedeutsam ist, weil die entscheidenden Weichenstellungen bis in die frühen 2000er Jahre abgeschlossen waren. Die Struktur hat ihre Nachteile, weil das Narrativ immer wieder zwischen Zeitebenen hüpft, aber ist für den gewählten Ansatz sicherlich die richtige. Es wäre zu wünschen, dass weitere Werke anderer Autor*innen an die Arbeit anknüpfen und Aspekte detaillierter beleuchten.

Der Ansatz sorgt natürlich durch seinen Umfang dafür, dass die großen Unternehmen und Titel nur angerissen werden können. Ich habe, nur als ein Beispiel unter vielen, etwa Bluebyte und die Siedler vermisst. Aber da Donovan kurz darauf einging, dass Wirtschafts- und Aufbauspiele in Deutschland besonders populär waren (und sind, siehe auch der Brettspielmarkt) ist das grundsätzlich schon abgedeckt und mehr der Phantomschmerz der eigenen Nostalgie.

Am auffälligsten fand ich die Leerstelle bezüglich der Rolle der Spieler*innen, vor allem der prominentern, und der Clans. Die Seite der Kreativen wird gut abgedeckt, aber gerade diese fallen weitgehend aus (auch die Business-Seite spielt keine allzugroße Rolle, wo sicherlich auch eine Tiefenuntersuchung gut möglich wäre). Aber das alles ist Meckern auf hohem Niveau. Wer sich die für die Geschichte des Mediums interessiert, kommt an diesem Titel kaum vorbei.

 

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  • Lemmy Caution 5. Dezember 2023, 13:55

    Gibt ein politisches Buch, dass mich aktuell begeistert, wobei meine Fähigkeiten Englisch zu lesen lange nicht mehr so an eine Grenze gestossen ist:
    Ritchie Robertson, The Enlightenment: The Pursuit of Happiness 1680-1790.
    Muss schon einige Wörter nachschlagen.

    Während der Aufklärung erlebte Europa seinen kometenhaften Aufstieg gegenüber Indien, China und den muslimischen Staaten, trotzdem wird diese insbesondere geistesgeschichtlich hochspannende Epoche etwas stiefmütterlich behandelt. Seltsame Erbfolgekriege, anders als während der französischen Revolution wird kaum jemand geköpft und selbst Hexenverbrennungen geraten aus der Mode.
    Find aber den übrigens oft respektvollen Diskurs zwischen all den Philosophen sehr interessant. Prägte vielleicht unsere politischen Spielregeln stärker als die spektakuläreren Denker des 19. Jahrhunderts wie Nietzsche und Schopenhauer.

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