Rezension: Sascha Lobo – Die große Vertrauenskrise. Ein Bewältigungskompass

Sascha Lobo – Die große Vertrauenskrise. Ein Bewältigungskompass (Hörbuch)

Vertrauen ist ein hohes Gut. Ohne Vertrauen in das politische System hat die Demokratie ein Problem. Und das Vertrauen war noch nie so niedrig, ob in die gewählten Politiker*innen, die Parteien, die Behörden, die Medien, die Wirtschaft – die Vertrauenskrise ist, das bestätigt Umfrage um Umfrage, allumfassend und hat keine Autorität unberührt gelassen. Sascha Lobo hat sich die Frage gestellt, wo und wie das Vertrauen verloren ging, warum das so ist und was man dagegen tun kann. Und weil Dinge zu fragen eine gute Sache ist, darüber ein Buch zu schreiben aber noch eine bessere, hat er genau das gemacht. Und ich rezensiere es hier. Und hoffe, dass niemand merkt, dass ich Selbstverständlichkeiten ausspreche um meine fehlenden Ideen für eine schmissige Einleitung zu kaschieren und darüber, notabene, das Vertrauen in dieses Blog verliert, so es je existiert hat. Womit wir endlich beim Thema wären.

Abschnitt 1, „Die Implosion des Vertrauens„, beginnt mit Lobos zentraler These der großen Vertrauenskrise: etwas sei zerbrochen. Er versucht in diesem Abschnitt, das Phänomen zu erfassen.

Kapitel 1, „Altes Vertrauen, neues Vertrauen – wenn sich mit der Welt auch die Gefühle ändern„, untersucht die deutsche Vertrauenskrise anhand dreier Ereignisse um die Jahrtausendwende, wo Lobo ungefähr den Beginn der Vertrauenskrise ausmacht. Der Beginn des 21. Jahrhundert bot mit 9/11, dem Desaster der Telekomaktie und dem Kohl’schen Schwarzgeldskandal gleich drei Ereignisse, die das Vertrauen in die Sicherheit, die Wirtschaft und Medien sowie die Politik erschüttert hätten.

Natürlich gab es auch früher schon Korruptionsskandale in der Politik, gab es wirtschaftliche Fehlstarts und Terrorismus. Aber um die Jahrtausendwende kam ein Faktor hinzu, der für Lobos Gedanken einen Roten Faden darstellt: der Aufstieg des Internets, der für einen grundlegenden Wandel im Vertrauen gesorgt habe. Er unterscheidet konkret altes und neues Vertrauen; das alte, in der vordigitalen Zeit entwickelte und ein neues, das sich gerade erst in der Formung befindet. Verschwörungsglauben und Internet sorgten für ein Zusammenbrechen des alten Vertrauens.

In Kapitel 2, „Das Transparenzdiktat – Vom Ende des Herrschaftswissens„, geht er weiter ins Detail. Anhand der Verhandlungen um das Freihandelsabkommen TTIP, die scheiterten und unter Trump endgültig begraben wurden, erklärt er das Konzept von „Herrschaftswissen“, also dem Wissen, das staatliche Organe geheimhalten oder zumindest nicht offen teilen (eng verwandt damit ist das deutsche „Amtsgeheimnis“, das jeden noch so mundänen Vorgang vor seinen Bürger*innen versteckt). Dieses Konzept habe zwar lange funktioniert – im alten Vertrauen -, im neuen Vertrauen allerdings trage es zentral zur Vertrauenskrise bei.

Dies liege am „Transparenzdiktat“, also dem Verlangen der Öffentlichkeit, sämtliche Vorgänge offenzulegen, auch wo dies, wie bei Freihandelsabkommensverhandlungen, nicht sonderlich zielführend ist. Die Abwesenheit von vollständiger Transparenz wird bereits mit Misstrauen begleitet und als Defizit begriffen. Der Vertrauensverlust in die Politik werde durch den „Machbarkeitszwang“ komplimentiert, also die Forderung seitens der Öffentlichkeit, dass grundsätzlich alles von der Politik geregelt werden können müsse. Dieser uneinlösbare Anspruch und die Offensichtlichkeit seines Scheiterns durch das Transparenzdiktat gingen eine unheilige Allianz ein.

Dabei lösten sich, wie Kapitel 3, „Rechts-Links-Schwäche  – Wie die Globalisierung und Digitalisierung politische Einstellungen prägen„, darlegt, auch die alten politischen Orientierungen auf. In den großen Fällen der Vertrauenskrise zeigt sich ein Überlappen von rechten und linken Einstellungen, die die alte politische Achse immer weniger zielführend mache (markant am Phänomen Wagenknecht oder der Imfpgegnerschaft illustriert, die auch nicht zufällig überlappen). Diese neue Anti-Vertrauens-Allianz hänge mit der stark gestiegenen Geschwindigkeit von Veränderungen zusammen, die als belastend empfunden wird und gegen die man sich unabhängig von diesen Koordinaten zur Wehr setzt. Auf diese Art entstand ein gewaltiger Vertrauensverlust in den Staat im rechten politischen Spektrum, der das alte Misstrauen der Linken ablöste (ohne gleichzeitig auf der Linken zu einem komplementären Vertrauensgewinn zu führen).

Der Grund für diesen rapiden Vertrauensverlust von Rechts sieht Lobo im Erbe der 68er: Der „Marsch durch die Institutionen“ sei erfolgreich gewesen, nicht nur indem er Figuren wie Otto Schily und Joschka Fischer an die Regierung brachte, sondern auch, indem er das vorher nur rhetorische Versprechen des Staates, für Gleichberechtigung und Minderheitenschutz zu sorgen, einlöste. Dieser Erfolg, den er als „Entbigottisierung der Konservativen“ bezeichnet, habe dazu geführt, dass der Staat zum Schützer der Individualrechte wurde, und das eben nicht nur rhetorisch für die Mehrheitsgesellschaft. Die radikale Rechte sei nun nicht mehr als „ungezogene Verwandte“ gesehen worden, sondern habe nicht mehr ins nun entbigottisierte konservative Spektrum gepasst. Stattdessen zeigten sich Menschenverachtung und Hass offen; diese Gruppen wanderten in das neu entstehende rechtsradikale Milieu ab.

Gleichzeitig sei die Politik immer globaler geworden (Angela Merkel war als Kanzlerin etwa zehnmal häufiger im Ausland als Helmut Kohl!), was zu einer Entfremdung von den Alltagssorgen der breiten Bevölkerung („Raumschiff Berlin“, wie man so schön sagt) und einem Effekt der Abgehobenheit, der Entfernung und des gegenseitigen Unverständnis‘ geführt habe, der wiederum partei- und ideologieunabhängig war und deswegen das Misstrauen sowohl auf der Rechten wie der Linken befeuerte. Zudem scheine Lobbyismus dank der deutlich gestiegenen Transparenz wesentlich häufiger zu sein und werde medial viel öfter thematisiert, obwohl eher das Gegenteil der Fall ist; der entstehende Eindruck allerdings trage wesentlich zum Vertrauensverlust bei.

Natürlich gehören dazu, wie Kapitel 4, „Sind die Medien schuld? Wer die Wahrheit sucht„, beschreibt, die Medien genauso wie Politik ins Boot. Ich erwähnte bereits beiläufig den Medien-Politik-Komplex „Berlin-Mitte“, der ein Paradebeispiel des Sandwichproblem der Politik darstellt, weil der Eindruck von Abgehobenheit und Themenferne entstehe.

Angesichts der nunmehr offenen Bedrohung durch Rechts (Stichwort Entbigottisierung) kommen die Medien zudem in die Verlegenheit, die Rolle der Verteidiger der Demokratie ausfüllen zu müssen – was kein Problem sei, genau das sollten sie in einer Demokratie auch! – , aber allzu oft in eine Verteidigung der Person Angela Merkels abgerutscht sei, was wiederum wegen des Gefühls der Verschmelzung von Politik und Medien die Vertrauenskrise befeuert habe.

Zudem erschlage die Masse der Nachrichten die Menschen. Dank Handys und 24/7-Newscycle seien wir beständigen Nachrichten ausgesetzt, die zur Aufmerksamkeitsgenerierung auch noch mit großer Dringlichkeit daherkommen. Daraus entstehe eine Gefühl der Dauerkrise und ein Effekt des „blaming the messenger„, in dem die Medien vage verantwortlich für die als krisenhaft empfundene Weltlage gemacht würden. Dabei unterlägen sie ebenfalls dem Transparenzdiktat, dem sie im Großen und Ganzen auch nachkämen – nicht, dass dies gouttiert würde, denn obwohl etwa der Spiegel den Relotius-Skandal mustergültig aufgearbeitet habe, ändere dies nichts daran, dass er von dem Magazin beständig vorgewürfen werde. Dass unzweifelhafte wirtschaftliche Interessen bestünden, die Artikel als Clickbait ausstaffierten um Aufmerksamkeit zu generieren und diese zu verkaufen, sieht Lobo als weiteren Faktor für den Vertrauensverlust in Medien.

Der letzte Faktor sei in der mangelnden Diversität der Redaktionen und besonders der Chefredaktionen zu suchen, die eine Verengung des Blickwinkels und damit das Entstehen einer soziokulturellen Blase zur Folge hätten. Ostdeutsche, Arme, Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch Frauen und Minderheiten blieben weiterhin unterrepräsentiert, was in manchen dieser Gruppen einen Vertrauensverlust zur Folge habe.

Inzwischen machen den Medien, wie Kapitel 5,Emotionen über alles – Soziale Medien und Engagement„, zeigt, zudem die Sozialen Medien Konkurrenz. In den Sozialen Netzwerken blühen die Fake News, die durch die Algorithmen wegen ihres hohen Engagements belohnt werden und wirtschaftlich besonders ertragreich seien. Generell belohnten die Algorithmen Hetze aller Art, die zudem durch mangelnde Moderierung besonders ausbreitungsfähig sei. Dass den Sozialen Medien schon immer besonders geringes Vertrauen entgegengebracht geworden sei, mache die Lage nur noch schlimmer, weil eine Einstellung von „nichts zählt“ sich breit mache, ein Leitmotiv, auf das später zurückgekommen werden wird. (Anmerkung: Das Kapitel ist länger; meine Zusammenfassung ist bewusst knapp, weil mir das alles als weithin bekannt und rezipiert erscheint. Gleiches gilt für das Folgekapitel.)

Neben diesen Mechanismen gibt es auch aktive Beförderung von Lügen und Hetze, wie Kapitel 6, „Die von Lügen profitieren – Warum Putin, Xi und Trump auch unsere Demokratie bedrohen„, darlegt. Lobo zeigt anhand von Putins Trollfabriken, wie Russland (und inzwischen zunehmend auch China, vor allem über Tiktok) die westlichen Sozialen Medien mit Unsinn flutet, um auf diese Art und Weise absichtlich das Misstrauen in das System zu stärken. Er erklärt hierfür die Methoden der Herrschaftssicherung, die diese Diktatoren im eigenen Land durch solche Lügen anwenden und quasi in die Verschwörungsblasen des Westens exportieren: gerade die albernen, offensichtlichen Lügen dienen der Vergewisserung der Loyalität der Anhänger*innen. Trump hat das zur Meisterschaft gebracht.

In diesem Kontext taucht auch das Phänomen der Projektion auf, also dem Gegner genau das vorzuwerfen, was man selbst tut. Das sei etwa während der Brexitkampagne in großem Maß geschehen, und dass Trump ein Meister dieser Technik ist, sollte eigentlich unkontrovers sein. Auf diese Art werden aber das Misstrauen weiter gestärkt, weil „alternative Fakten“ ins System gespeist werden, die das bewusste Ziel hätten, Vertrauen zu zerstören.

Im letzten Teil dieses Abschnitts, Kapitel 7, „Die Revolte gegen Vernunft – Was Vertrauenspanik auslöst„, befasst sich Lobo mit dem Phänomen der Verschwörungstheorien. Diese sind vor allem deswegen so bedrohlich, weil sie für anfällige Personen wie ein Anker wirkten: wer einmal einer Verschwörungstheorie nachgehe, folge sehr wahrscheinlich auch weiteren (die der Algorithmus gefällig beschaffe). Dabei spiele die Glaubhaftigkeit keine besonders große Rolle, sondern das Gefühl, selbst etwas erarbeitet zu haben (daher auch der in der Szene geläufige Aufruf, „selbst zu recherchieren“), das dann tiefer und tiefer ins Netz führt. Lobo betont hier auch die Rolle, die soziale Vereinsamung spielt: je weniger Sozialkontakte, desto anfälliger für diese Theorien. Das Ganze wird durch das Beispiel der QAnon-Verschwörungstheorie aufgezeigt, die nicht nur reichlich absurd ist, sondern auch zu real sehr tödlichen Konsequenzen geführt hat. Die Theorien sind zwar in sich gespalten und widersprüchlich, aber das spiele keine große Rolle, weil ihr vereinender Faktor das Misstrauen gegen die „offizielle“ Weltsicht sei.

Vor allem zwei Portale stächen hier als Haupttäter hervor. Einmal ist das YouTube, das über seinen Algorithmus einen wahren Kaninchenbau aufbaut, in den man fällt: schaut man ein Video, schlägt der Algorithmus unbarmherzig weitere vor; man kann sich tage- und wochenlang darin verlieren. Der andere Haupttäter ist der russischstämmige Instant-Messenger Telegram, der mit dem (gelogenen) Versprechen auf Verschlüsselung als eine Art Plattform für Verschwörungstheorien aller Art diene und sich vor allem der Glaubwürdigkeit durch die persönlichen bekannten Kontakte und das intime Mittel der Sprachnachricht verlasse.

Eine gänzlich andere Richtung der „Vertrauenspanik“, also einer Überreaktion auf fehlendes Vertrauen, findet sich, wenn Menschen mit einem grundsätzlich berechtigten Anliegen über das Ziel hinausschießen. Ein Beispiel hierfür sei die Maskendebatte während Corona, in der manche Menschen ihr Gegenüber als Schwerverbrecher behandelt hätten, nur weil dessen Maske verrutscht sei. Ein weiterer Aspekt sei die aus Aktivist*innenkreisen stammende „Toxische Wokeness“, also ein ins Extrem übersteigerter Reflex, gegen echte und eingebildete Ungerechtigkeiten mit maximaler Verve vorzugehen. Toxische Wokeness habe dazu geführt, dass in der Mehrheitsgesellschaft das Gefühl auftritt, man dürfe bestimmte Dinge nicht mehr sagen. Dies hänge auch damit zusammen, dass in Sozialen Medien jederzeit ein Shitstorm drohe, wenn man Wörter „falsch“ verwende.

Abschnitt 2, „Die komplizierte Gegenwart„, versucht sich an Erklärungsansätzen, die die Vertrauenskrise weiter verstärken, und wendet sich konkreten Einzelphänomen zu.

In Kapitel 8, „Das Coronadebakel – Die tiefen Spuren der Pandemie„, behandelt Lobo das einschneidendste Ereignis der letzten Jahre, die Corona-Pandemie. In einem Umfeld ständig wechselnder Informationen fand ein gewaltiger Vertrauensverlust in Staat und Medien statt, der zu einem Teil selbstverschuldet ist (die unten näher beschriebene katastrophale Krisenkommunikation des Staates und die offenkundigen Defizite in der Vorbereitung trotz Pandemieplan), zum Teil aber in einem Missverständnis über die Funktion von Wissenschaft begründet ist, die sich selbst in Echtzeit beobachtbar und höchst öffentlich korrigierte (von der Wirksamkeit von Masken und Impfungen bis hin zu Übertragungswegen).

Das Resultat war ein doppelter Vertrauensverlust; einerseits der viel diskutierte gegenüber Staat und Medien, aber andererseits auch eine Gegenreaktion, die Lobo als „Vernunftpanik“ beschreibt: ein übertriebenes Gefühl seitens vieler Menschen, durch Kritiker*innen der Maßnahmen oder auch nur Menschen, die sie nicht zu 100% umsetzten, persönlich angegriffen zu werden. Bereits eine schief getragene Maske habe hier zu schweren Vorwürfen geführt. Diese Konflikte hätten Familien und Freundschaften zerrissen und zu einem gesamtgesellschaftlichen, kollektiv-gegenseitigen Vertrauensverlust geführt. „Vernunftpanik“ beschreibt also Überreaktionen auf eigentlich grundsätzlich vernünftige Befürchtungen, ein Phänomen, das man auch gut der letzten Generation vorwerfen kann.

Die Pandemie war aber auch ein Musterbeispiel für katastrophale Krisenkommunikation. Jens Spahn als Gesundheitsminister verkündete etwa im Brustton der Überzeugung absolute Wahrheiten, die bereits zwei Tage später hinfällig waren (etwa, dass Masken keine Schutzwirkung besäßen). Zahlreiche widersprüchliche Informationen waren im Umlauf, weil Institutionen langsam oder zögerlich reagierten (die StIKo etwa verlor gerade unter zur Vernunftpanik neigenden Menschen massiv an Vertrauen). Dazu käme, dass Behörden furchtbar kommunizierten, mit dem traurigen Höhepunkt jener viel zitierten Regelungen in Hamburg, die in absurder Kleinteiligkeit völlig nutzlose, gleichzeitig aber strafbewehrte Vorschriften machten. Zudem wurden Versprechen über zukünftige Maßnahmen („kein Lockdown“) immer wieder gebrochen, was besonders Kritiker*innen abstieß, während der wissenschaftlicher Stand viel zu spät umgesetzt worden sei, was die zur Vernunftpanik neigenden entfremdete. Insgesamt zeigte sich, dass die staatliche Notfallplanung untauglich war – der Pandemieplan enthielt über 1500 Seiten, von denen aber nur drei oder vier der behördlichen Kommunikation gewidmet waren, ein Missverhältnis, das bittere Früchte trug.

Dieses Staatsversagen indessen hat System. In Kapitel 9, „Die Austeritäter – Wenn der Staat nicht mehr richtig funktioniert„, führt Lobo das Misstrauen gegen die Problemlösungskompetenz des Staates auf die Dysfunktionalität vieler Systeme zurück – und diese auf jahrzehntelang verschleppte Investitionen in neue Infrastruktur (vor allem auf digitalem Feld) und in Reparaturen der bestehenden (etwa bei Autobahnbrücken u.Ä.). Weitere Beispiele finden sich leider im Überfluss, darunter der Klassiker der verrottenden Schulen.

Das Bildungssystem kann auch gleich für die zweite große Quelle des Vertrauensverlusts in staatliche Kapazitäten herhalten, die überbordende Bürokratisierung und mangelnde Digitialisierung. Man denke nur an den „Digitalpakt“, der Mittel für die Digitalisierung der Schulen bereitstellte, von denen kaum 1% abgerufen wurde – weil die Vorgaben dermaßen überbürokratisiert waren, dass sie an den Schulen zu völliger Überforderung führten. Solche Überbürokratisierung ist leider ein Breitenphänomen. Dazu kommt die lange Dauer sämtlicher Prozesse in Deutschland, die nicht erst seit dem BER legendär ist, und die bereits im Zusammenhang mit Corona angesprochene Kommunikationskrise und Komplexität der Prozesse.

Leider ist die Umsetzung wissenschaftlicher Expertise auch deswegen so problematisch, weil, wie in Kapitel 10, „Die herausgeforderte Wissenschaft – Die Krise der Expertise„, dargelegt wird, die Wissenschaft selbst auch in einer Vertrauenskrise steckt. Dies liegt einerseits an der „epistemologischen Krise“, in der sich die Wissenschaft befindet, wenn ihre Erkenntnisse nicht zu direkter Umsetzung führen beziehungsweise ihre Umsetzung unklar ist oder sich mit bisherigen Ergebnissen beißt. Dies führt zu einem (unberechtigten) Generalmisstrauen. Mir fällt da als Beispiel direkt ein Kommentar in einer Diskussion über Ernährung ein, der aus den geänderten Erkenntnissen eine generelle Nutzlosigkeit irgendwelcher Erkenntnisse über Ernährung ableitete.

Ebenfalls wenig hilfreich für Wissenschaftsvertrauen sei die Reproduktionskrise. Darunter versteht man die mangelnde Reproduzierbarkeit zahlreicher Studien, vor allem (aber nicht nur) in den Sozialwissenschaften. Noch wenig erforscht, aber ursächlich möglicherweise zusammenhängend, seien die geringer gewordene Halbwertszeit von Wissen und der Decline-Effekt: je öfter und länger vom Herstellungspunkt entfernt eine Studie reproduziert werde, desto geringer der Effekt.

Zudem kommuniziere Wissenschaft oft schlecht. Gerade in Deutschland bestehe, anders als in angelsächsischen Ländern, eine Verständlichkeit verschmähende Kultur, die gleich mit mangelndem Anspruch gesetzt und deswegen gescheut werde. Deswegen tue sich die Wissenschaft oft schwer, Erkenntnisse oder Debatten zu vermitteln. Dies sieht Lobo auch als eine Ursache für das geringe Verständnis der Funktionsweise von Wissenschaft.

Ein ganz anderes Thema behandelt Kapitel 11, „Der Verrat an der Jugend – Die Generationenfrage„. Lobo postuliert, dass die Politik von alten Menschen für alte Menschen gemacht werde, was man am Durchschnittsalter der Wählenden (über 50) und der Parteimitglieder (über 60) gut ablesen könne. Entsprechend macht er einen Verrat an der Jugend aus, für die die Eltern- und Großelterngeneration sich zwar mehr interessiere und sensibler sei als jede Generation zuvor, was aber gleichzeitig keinen Niederschlag in der Politik finde.

Die drei großen Punkte sind hier die Klimakrise, die von der Jugend als wichtiges Problem identifiziert sei, zu dem das Handeln der Politik aber in keinem Zusammenhang stünde, was zu Überreaktionen führe (siehe Letzte Generation). Offensichtlich ist die miese Digitialisierung, die dazu führe, dass der neue „Call of Duty“-Teil schneller heruntergeladen sei, wenn man nach Rumänien fliegt und es im dortigen Flughafen-WLAN zieht als im schrottigen deutschen Netz, bei dem man in vielen Regio-Zügen nicht einmal mobile Daten habe. Und zuletzt steht die Rente, die die junge Generation zwar bezahlen müsse, für deren eigenen Erhalt sie aber keinerlei Vertrauen habe.

Kapitel 12, „Maschinenvertrauen – Wie künstliche Intelligenz die große Vertrauenskrise beschleunigt und lindert„, schließlich, befasst sich mit einem Zukunftsproblem: der KI. Nach einer kurzen Erklärung zu Sprachmodellen wie ChatGPT behandelt Lobo die Frage von Deep Fakes, die es zunehmend unmöglich machen, Fälschung und Original zu unterscheiden. Das erlaubt Videos, Bilder und Sprachschnitte sämtlicher Menschen, die nicht als Fälschung zu entlarven sind. Lobo sieht darin nicht einmal ein zentrales Problem für Medien und interessierte Menschen, weil hier grundsätzliche Plausibilitätsprüfungen greifen, sondern für die verschwörungsanfälligen Menschen in Telegramgruppen.

Doch selbst abseits von Deep Fakes, die sich Akteure wie die Republicans oder Putin zunutze machen könnten, bestehen durch die KI Probleme. Durch ihre Natur als selbstlernendes System ist sie für die Programmier*innen grundsätzlich nicht vollständig berechenbar, was es unmöglich macht, stets zu erkennen, wenn die KI selbst Unsinn erfindet. Lobo nennt dieses Phänomen „Konfabulieren“, bei dem die KI eigene Quellen oder Fakten erfindet und sie im Brustton der Überzeugung ausgibt.

Gleichzeitig aber sei die Lösung für dieses Problem nur in der Kontrolle durch andere KI zu finden, quasi designierte Prüfungs-KI. Dafür braucht es natürlich ein entsprechendes Vertrauen in diese Systeme, das Lobo „Maschinenvertrauen“ nennt. Dieses bestehe bereits heute, weil dem Algorithmus von TikTok, Wikipedia oder dem Google-Such-Algorithmus großes Vertrauen entgegengebracht werde. Zudem sie Vernetzung hilreich, was im nächsten Abschnitt noch einmal eine Rolle spielt.

Der letzte Abschnitt, Abschnitt 3, „Ein Bewältigungskompass„, versucht sich an Lösungsskizzen für die Vertrauenskrise.

In Kapitel 13, „Aber was können wir tun? – Vorschläge für ein neues Gesellschaftsvertrauen„, geht er auf kollektive Lösungen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene ein. Am Beispiel der Entenjagd in Arkansas, die durch exzessive Schaffung von Wässerungsgründen zum Aussterben der Enten führte, zeigt Lobo, wie es richtig geht: die Behörde suchte den Kontakt zu den Jäger*innen und räumte deren Vorbehalte in persönlichen Gesprächen aus. Als dann die Maßnahmen ausgerollt wurden, war klar kommuniziert, dass diese Trial+Error waren – und Widerstand blieb fast aus. Für Lobo ist daher klar, dass der Aufbau von Vertrauen Transparenz benötigt.

Ein zweiter wichtiger Punkt ist für ihn das Vertrauen, das bekannten Einzelpersonen entgegengebracht wird – Influencern. Menschen, die man kennt – ob unter einem Pseudonym im Internet oder real unter Namen – und vertraut, vertraut man auch als Quelle eher. Diese Dynamik, die von Verschwörungstheorien ebenfalls ausgenutzt werde, ließe sich auch zur Vertrauensgewinnung nutzen, vor allem durch die bereits angesprochene Vernetzung.

Eine weitere Forderung besteht in der von Konsequenzen für Versagen der Politik, vor allem beim Einhalten von Vorgaben – etwa bis zum Stichtag X etwas umgesetzt zu haben, was üblicherweise keinerlei Konsequenzen hat – und bessere Regeln gegen Einflussnahme, vor allem Lobbyismus und Bereicherung, wobei ihm wieder die Maskendeals als aktuelles Beispiel dienen.

Im letzten Kapitel, Kapitel 14, „Aber was kann ich tun? – Wie wir selbst neues Vertrauen gewinnen können„, spricht sich Lobo für den Aufbau von „Vertrauensnetzwerken“ aus. Dies sei ohnehin bereits im Gange: Die Vernetzung über das Internet schaffe Strukturen, denen Menschen vertrauen. Es müsse der Politik, Wissenschaft und den Medien quasi gelingen, Teil dieser Strukturen zu werden.

Lobo fasst dies unter dem Begriff einer „neuen Vertrauenskultur“ zusammen. Diese erfordere auch einen Optimismus, ein gewisses Grundvertrauen, das aber nicht mehr wie im „alten Vertrauen“ Autoritäten entgegengebracht wird, einfach nur weil sie Autoritäten sind, sondern vielmehr den Vertrauensnetzwerken auf der einen Seite und, da bricht wieder seine digitalaffine Seite durch, Maschinenvertrauen auf der anderen Seite.

Eines vorneweg: ich bin nicht ganz neutral. Ich zähle Sascha Lobo zum erweiterten Freundeskreis und finde grundsätzlich spannend, was er produziert. Das quasi nur als Transparenzhinweis. Das gilt natürlich auch für das vorliegende Werk. Ich halte das Thema für überaus wichtig und seine Gedanken, die in einer Rezension wie immer nur stark verkürzt wiedergegeben werden können, für diskussionswürdig, so dass ich das Buch zur Lektüre nur empfehlen kann, und wenn es nur ist, um sich daran zu reiben. Ich habe aber einige Punkte, bei denen ich Kritik üben oder doch zumindest widersprechen will.

Der erste Punkt betrifft den deutschen Fokus von Lobos Abhandlung. Die Vertrauenskrise existiert in der gesamten westlichen Welt, ob Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder in den USA, wird aber hier ausschließlich mit deutschem Fokus diskutiert (außer in einigen Fällen, wo es in die Argumentation passt). Eine deutsch verengte Perspektive auf ein umfassendes Problem liberaler Gesellschaften muss aber notwendig verkürzt sein, was in der geradezu komischen Auswahl der Telekomaktie oder der Kohl’schen Schwarzgeldaffäre als relevanten Ereignissen ihren Niederschlag findet.

Mit ist auch unklar, warum mangelnde Diversität in den Medien zwar bei Ostdeutschen zu einem Vertrauensverlust führt, bei Frauen als Gruppe aber nicht. Ich teile durchaus die Kritik an der mangelnden Diversität und halte es auch für ein für die Fragestellung relevantes Problem; allein, solcherlei Fragestellungen finden sich nicht. Diese mangelnde Gewichtung der Faktoren zieht sich als Manko durch das gesamte Buch. So sehe ich zum Beispiel genauso wie Lobo die Reproduktionskrise der Wissenschaft, nur – wie viele Menschen wissen, was das überhaupt ist? Manche dieser Faktoren sind wesentlich relevanter als andere, aber hier im Buch stehen sie ungewichtet nebeneinander und sind eher deskriptiv; die Tiefenanalyse fehlt.

So nennt Lobo zwar zahlreiche äußere Faktoren für die Vertrauenskrise, aber eine blinde Stelle des Buchs scheint mir die Natur der liberalen Gesellschaften selbst zu sein. Dies kommt zwar bei der Entbigottisierung der Konservativen vor, aber der Triumph des Individualismus als größerer Trend bleibt außen vor. Dabei erklärt der in meinen Augen einen guten Teil dessen, was während Corona passierte, oder auch die aggressiven Reaktionen auf Debatten wie das Böllerverbot. Wir sind als Gesellschaft insgesamt wesentlich liberaler und individualistischer als früher, was eine gute Nachricht für die Persönlichkeitsentfaltung, aber eine schlechte für das Vertrauen in Institutionen ist.

Kapitel 9 fiel mir spezifisch als eines auf, das einen starken „preaching to the choir„-Effekt aufweist: während progressiv eingestellte Menschen wie ich die Prämisse der Austeritäter (großartige Wortschöpfung) sofort teilen werden, werden eher FDP-liberal angehauchte Personen diese vermutlich ziemlich emphatisch ablehnen. Am schlimmsten fiel mir aber Kapitel 11 auf, das vor allem aus Projektion zu bestehen scheint: so sehr ich Lobos Einstellungen zur geradezu kriminellen Vernachlässigung der Klimakrise teile, so problematisch finde ich die Projektion dieser Einstellungen auf „die Jugend“. Die Verallgemeinerung funktioniert nicht, und sowohl meine anekdotische Erfahrung aus der Schule als auch die Umfrage- und Wahlergebnisse dieser Demographie stützen diese Thesen schlicht nicht, egal wie verbreitet die These auch sein mag.

Ein letzter Kritikpunkt betrifft die Toxical Wokeness. Auch hier bin ich inhaltlich völlig bei Lobo; ich denke nur, dass das Phänomen des Shitstorm in Sozialen Medien überbewertet wird. Zwar kann theoretisch jede*r Opfer eines Shitstorm werden; üblicherweise aber erfordert das eine große Reichweite, die nur ein Bruchteil der Nutzer*innen aufweist. Dass für Influencer*innen wie Lobo Shitstorms geradezu zur täglichen Erfahrung gehören, ist mir klar; das ist aber nichts, was sich so leicht verallgemeinern lässt – auch hier entgegen der verbreiteten Narrative.

Das alles ist aber tough love und Meckern auf hohem Niveau. Ich kann das Buch schon allein wegen der Gedankenanregung vollstens empfehlen und werde sicherlich immer wieder Bezug darauf nehmen.

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