Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.
Diesen Monat in Büchern: Napoleons Soldaten, Krieg im Mittelalter
Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: –
Martin Clauss – Ritter und Raufbolde. Vom Krieg im Mittelalter (Hörbuch)
Der Krieg im Mittelalter fasziniert ungemein. Eine lebendige Reenactment-Szene legt davon genauso beredtes Zeugnis ab wie die Mittelaltermärkte und allerlei LARP-Veranstaltungen. Der Autor dieser Zeilen ist kein Fremder des Nachstellens mittelalterlichen Waffengebrauchs. Umso umstrittener ist der tatsächliche historische Hintergrund. Über Kriegführung im Mittelalter gibt es zahlreiche verschiedene Sichtweisen und widerstreitende Positionen. Das liegt neben dem zeitlichen Abstand auch an der Art der Quellen. Die geringe Zahl von Schriftkundigen, die Schreibanlässe (üblicherweise zur Verherrlichung der Herrschenden) und die Kosten von Schreibunternehmungen wirkten alle daraufhin, dass der eigentliche Alltag praktisch nicht beschrieben wurde. Die mittelalterlichen Autoren setzten die Kenntnis über das Geschäft des Krieges üblicherweise voraus, was aus ihrer Perspektive verständlich, für die Geschichtswissenschaftler*innen heute aber ein entsprechendes Problem ist. Martin Clauss unternimmt es in diesem Band nun, einen Überblick über „Krieg im Mittelalter“ zu geben, was neben den angesprochenen Problemen auch wegen der geografischen Breite und natürlich der temporalen Ausdehnung über fast ein Jahrtausend ein sportliches Unterfangen ist. Wir müssen uns daher ein idealisiertes mitteleuropäische Hoch-Mittelalter denken.
Im ersten Kapitel, „Adel, Klerus und Bauern – Krieg in der Gesellschaft des Mittelalters“, fragt Clauss vor allem, wer eigentlich kämpfte und aus welchem Grund. Bereits hier gibt es zahllose Darstellungen, die sich alle widersprechen. Fand der Krieg im Mittelalter als Lehenaufgebot statt, in dem Bauern mit Sensen neben Rittern standen? Oder war es vor allem eine Angelegenheit von Berufsarmeen? Für Clauss ist es effektiv eine Mischung. Die Fürsten hoben sowohl „Wehrpflichtige“ aus als dass sie professionelle Söldner einstellten und einige kleine eigene Kontingente unter Waffen hielten.
Das hatte direkte Konsequenzen für das Training der Männer. Wir wissen wegen der dürren Quellenlage nicht viel, aber vermutlich gab es so gut wie keine dezidierten Trainingszeiten – sowohl aus logistischen als auch finanziellen Gründen. Die Heere des Mittelalters waren ohnehin sehr klein, verglichen mit dem was es vorher und nachher gab, weil die mittelalterlichen Strukturen keine größeren Truppenkontingente versorgen konnten. Zusätzliche Trainingszeiten waren ausgeschlossen, so dass Training vermutlich auf dem Marsch passierte und in den Schlachten sehr schlecht ausgebildete Gemeine auf hoch professionalisierte Adelige trafen.
Diese Asymmetrie erklärt auch die Bedeutung der Ritter. Die Adeligen wurden durch ihre Bevölkerung versorgt und konnten es sich leisten, nichts zu tun als auf den Krieg zu trainieren; vom Besitz der entsprechenden Ausrüstung einmal ganz abgesehen. Die hervorgehobene Stellung der Ritter hatte also auch mit dem schlechten Trainingsstand des Rests zu tun. Wo die Gemeinen eigene Waffen und Training vorweisen konnten, wie etwa im Fall der englischen Langbogenschützen, nivellierte sich die Bedeutung der Ritter sehr schnell. Diese waren daher mindestens genauso sehr ein gesellschaftliches wie militärisches Phänomen.
Der Klerus hatte keine offizielle Rolle im Gefecht und galt grundsätzlich als Nicht-Kombattant. Generell teilte das Mittelalter nicht wie wir heute in Soldaten und Zivilisten ein, sondern in bewaffnet und unbewaffnet. Wer eine Waffe trug, war legitimies Ziel; wer keine trug, nicht (zumindest in der Theorie). Griff ein Priester also zur Waffe, beschützte ihn sein Stand nicht; trug er keine, unterschied ihn wenig von einem Bauern, der keine Waffe besaß. Dass diese Unterscheidungen in der Praxis häufig nicht klar eingehalten wurden und Bewaffnete die Unbewaffneten unterdrückten, versteht sich schon fast von selbst. Es gehört zum hässlichen Antlitz praktisch jeden Krieges.
Wichtig ist außerdem Clauss‘ Betonung der Rolle des Krieges für die Legitimation des Adels, vor allem des Königs. Kriegführung galt als zentrale Aufgabe des Monarchen, durch die er Ruhm und Ehre sammelte. Einen Krieg zu führen brauchte daher keines speziellen Anlasses; erklärungsbedürftig war eher, keinen Krieg zu führen.
Das zweite Kapitel, „Feldschlacht, Belagerung und Kriegszug – Formen des Krieges“, diskutiert die verschiedenen Formen, die der Krieg nehmen konnte. Die Feldschlacht ist in den Quellen das vorherrschende Element, doch wir wissen ziemlich genau, dass sie die absolute Ausnahme darstellte – wie übrigens auch durch große Teile der Neuzeit hindurch. Ein Merkmal von Feldschlachten sind ihre hohen Verlustzahlen, und auch wenn sich die Herrscher kaum um das Schicksal ihrer Untergebenen scherten, so waren Ausrüstung, Aushebung und Bewaffnung der Soldaten doch teuer. Das änderte sich eigentlich erst mit den Massenheeren des 19. Jahrhunderts, in denen Leben sehr billig wurde. Dazu kommt, dass Feldschlachten sehr risikoreich sind: man kann viel gewinnen, aber auch sehr viel verlieren. Entsprechend stellen sie die Ausnahme dar. Die Quellen betonen sie allerdings, weil sie den Herrschern gute Repräsentationsmöglichkeiten bieten und eine Art literarisches Genre darstellen.
Der Standardfall der Kriegführung war der Kriegszug: die Armee zog ins Feindgebiet, suchte Land zu besetzen und in einigen Fällen die feindliche Wirtschaft zu stören (besonders berühmt ist hier die Chevauchee des 100jährigen Krieges). Die geringe Größe der mittelalterlichen Armeen setzte all diesen Unternehmungen aber klare Grenzen. Eine Sonderform des Kriegszugs war die Belagerung, bei der versucht wurde, die Versorgung einer Festung oder Stadt abzuschneiden und diese so zur Aufgabe zu zwingen. Die Versorgung der Truppen war aber für die Belagerer selbst mindestens genauso schwer wie für die Eingeschlossenen. Die Belagerungen konnten gewaltige Ausmaße annehmenc, mit Grabensystemen, die den Befestigungen des Ersten Weltkriegs zur Ehre gereichten.
Das dritte Kapitel, „Gewalt trifft alle – Die Opfer des Kriegs“, zeigt die Auswirkungen dieser Kriegführung unter anderem auf Zivilisten. Denn diese waren zwar als Unbewaffnete keine legitimen Kriegsziele; wurde jedoch die Wirtschaft des Feindes attackiert, spielte das schnell keine Rolle mehr. Auch bei Belagerungen konnte kaum unterschieden werden und wurde das auch gar nicht erst versucht: das Aushungern gelang umso schneller, je mehr unbewaffnete Mäuler zu versorgen waren. Clauss erzählt eine erschütternde Episode, in der Zivilisten (in einem verbreiteten Manöver) aus einer belagerten Stadt getrieben, aber von den Belagerern nicht durchgelassen wurden. Sie verhungerten elendig zwischen den Linien. Die Belagerer machten nur ein humanitäres Zugeständnis: neugeborene Kinder wurden aus den Gräben geholt, getauft und dann wieder hinuntergelassen. Andere Gewaltmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerungen betraf etwa Deportationen, die auch keine Erfindung der Moderne sind.
Auch die Soldaten selbst waren natürlich Opfer des Krieges, denn die Gewalt betraf sie als Ausübende ja direkt auch selbst. Verletzungen, Traumata und alles andere betraf sie genauso wie Unbewaffnete. Wie viele Soldaten in den Schlachten tatsächlich fielen, ist sehr schwer zu rekonstruieren. Die Zahlenangaben aus den Quellen sind praktisch nutzlos, weil sie rein literarisch verwendet werden: die eigenen Verlustzahlen sind immer extrem niedrig, die der Gegner wahnsinnig hoch. Auch über Verwundungen und Gefangenschaft wissen wir wenig, weil sie in den Quellen praktisch nie thematisiert werden und wenn, dann um einen Punkt über die Gewalttätigkeit des Krieges generell zu machen. Die Quellen betonen zudem stets, dass die Gewalt vom Gegner ausgeht: die eigene Seite ist immer ehrenhaft, während der Gegner Massaker anrichtet.
Solche Massaker sind Legion. Das wohl berühmteste ist die Eroberung Jerusalems im Ersten Kreuzzug, bei der die christlichen Truppen ein Blutbad unter der Bevölkerung anrichteten, recht unabhängig von deren jeweiligem Bekenntnis. Diese Gewalt hatte auch pekuniäre Motive: Plünderung war die Haupteinnahmequelle von Soldaten und Heerführern gleichermaßen.
Im vierten Kapitel, „Wer den Krieg entscheidet – Helden und Feiglinge“, wirft Clauss einen Blick auf das persönliche Verhalten im Kampf. Kann man den Quellen glauben – und es sollte mittlerweile deutlich geworden sein, dass das emphatisch nicht der Fall ist – dann kämpften die Helden Duelle gegen feindliche Kämpfer. Vor allem die Könige erschlagen gerne im Alleingang ganze Hundertschaften, was mehr über den Stellenwert des persönlichen Tötens aussagt als über die Gestaltung eines realen Gefechts. Gegner zu töten jedenfalls galt als heldenhaft. Umgekehrt galt die Flucht vom Schlachtfeld als feige, weswegen die Quellen auch Heldentaten der eigenen Seite bei der Flucht betonen, wenn etwa ein flüchtender König geschickt Verfolgern entkommt und, natürlich, noch drei Dutzend von ihnen dabei erledigt. Umgekehrt betonen sie die Feigheit des Feindes.
An dieser Stelle diskutiert Clauss auch die Rolle der verschiedenen Waffengattungen. Hervorgehobene Stellung haben die Ritter, die entgegen landläufiger Vorstellungen gar nicht immer zu Pferd kämpften, denn: wer auf einem Pferd sitzt, kann schnell fliehen. Vertraute ein Feldherr der Standhaftigkeit seiner Truppen nicht, so war es oft vorteilhaft, diese abgesessen kämpfen zu lassnem damit sie nicht in Versuchung gerieten. Auch andere taktische Erwägungen machten es oft sinnvoll, nicht auf dem Pferd zu kämpfen, sondern zu Fuß.
Die Herausbildung einer dedizierten Infanterie, die diszipliniert im taktischen Verbund mit Spießwaffen kämpfte, war umgekehrt das langsame Ende der Ritter. Die Pferde waren ungemein teuer und ungemein verletzlich, und der Status der adeligen Reiterkämpfer hing direkt von ihrem Einfluss auf das Schlachtfeld ab. Als ihre einzigartig asymmetrische Stellung fiel, fiel auch der soziale Stand mit ihnen.
Das fünfte Kapitel, „Unser Bild vom Krieg im Mittelalter“, besteht nur noch aus einem kurzen Schlusswort. Clauss warnt davor, die Kriege des Mittelalters zu verherrlichen und als Gegenpunkt zu unserer eigenen Zeit zu begreifen. Sie waren genauso blutig, schmutzig und komplex wie unsere eigenen und eignen sich nicht zur Glorifzierung.
Diesem Schlusswort kann ich mehr zustimmen. Gleichwohl hat mich die Lektüre des Buchs unbefriedigt zurückgelassen. Denn die bereits eingangs erwähnten Schwierigkeiten, „das Mittelalter“ genauer bestimmen zu wollen, ziehen sich durch das komplette Werk. Clauss kommt nie wirklich zu einer genaueren Definition des Mittelalters, das sich zwar meist im Hochmittelalter findet, aber gelegentlich auch Ausflüge ins Spät- und Frühmittelalter unternimmt. Zudem bezieht er sich auf das Mittelalter der gemäßigten Breiten, irgendwo zwischen Pyrenäen und der Elbe, zwischen Alpenrand und Ostsee. Eine solche Eingrenzung ist kein Nachteil, aber man sollte sie schon deutlich machen.
Dieselbe Schwammigkeit betrifft die Schilderung von Mechaniken. Meist spricht Clauss von „Königen“, womit praktisch ausschließlich die deutschen Könige gemeint sind, ohne je klarzumachen, wie repräsentativ diese einerseits für Herrschaft und andererseits für die Kriegführung der Epoche sind. Die Fehden etwa spielen praktisch gar keine Rolle, die Kreuzzüge kommen nur am Rand vor. Die italienischen Stadtstaaten bleiben ebenso außen vor wie die skandinavischen oder slawischen Gegebenenheiten. Kurz: Clauss‘ Mittelalter ist eine kurze und geografisch sehr eingegrenzte Epoche.
Das Problem zieht sich dann über die Beschreibungen des Kriegsgeräts vom Dolch bis zur Hellebarde, vom Holzschild zur Gestechrüstung, die Clauss über das komplette Buch verteilt. Natürlich ist es hilfreich, diese Erklärungen zu bekommen, aber die Idee, dass sich der Kram über rund 1000 Jahre kaum verändert hat und keine Unterschiede nach Geografie und Einsatzzweck kennt ist, höflich ausgedrückt, nicht eben auf dem höchsten Stand der Forschung. Natürlich ist im Rahmen dieses kleinen Buchs nicht viel mehr zu machen, aber das wirft immer eher die Frage auf, ob der gesetzte Rahmen dann so sinnvoll ist, leistet Clauss doch letztlich genau jenen populären Irrtümern Vorschub, gegen die er eigentlich anschreiben wollte.
Karl J. Mayer – Napoleons Soldaten. Alltag in der Grande Armée (Hörbuch)
Die napoleonischen Kriege wirken bis heute nach. Waterloo ist geradezu sprichwörtlich für eine entscheidende Niederlage, den Ort, an dem sich letzte Hoffnungen verlieren und man durch und durch geschlagen wird. Napoleon selbst ist eine Ikone; ob auf einem Pferd in Feldherrenpose bei Überquerung der Alpen oder die Hand in die Weste gesteckt, der Korse – der im Übrigen gar nicht so klein war, wie das gerne behauptet wird – thront über einer ganzen Epoche, der er mit seiner „Grande Armée“ den Stempel aufdrückte. Wesentlich weniger als über den Kaiser der Franzosen weiß man häufig über diejenigen, die in dieser Armee marschierten. Sie war ein multinationaler Haufen, zusammengesetzt nicht nur aus Franzosen, sondern aus Mitgliedern all jener Staaten, die mehr oder minder freiwillig mit dem französischen Imperium verbündet waren. Karl J. Mayer schöpft aus den Aufzeichnungen dreier Veteranen der Grande Armée aus Deutschland, die er im ersten Kapitel kurz vorstellt: einem pfälzischen Barbier, einem Lehrer aus dem Hunsrück und einem schwäbischen Maurer, die alle an den Feldzügen teilnahmen.Diese Auswahl bedingt natürlich gleich zwei schwere Caveats für die Schilderungen: einerseits sind es deutsche Soldaten, die für Napoleon kämpfen; das heißt, dass sie auch nur eingeschränkt repräsentativ sein können. Napoleons Kernarmee schließlich bestand aus Franzosen; die Deutschen waren in unterschiedlichen Freiwilligkeitsgraden ihrer Landesherren dabei (die Soldaten selbst wollten häufig dieseits wie jenseits der Grenze nicht zum Kommiss). Andererseits aber ist natürlich ein Survivor’s Bias in den Schilderungen; die Betroffenen gehören zu den wenigen Überlebenden der Armee. Die allermeisten ihrer Mitglieder fanden den Tod. Zudem wurden die Aufzeichnungen erst viele Jahre nach den Geschehnissen erstellt und sind dementsprechend noch unzuverlässiger, als man das für Augenzeugenberichte ohnehin stets einberechnen muss. Da uns aber ohnehin nur wenig Quellen zum Leben der normalen Menschen aus dieser Epoche zur Verfügung stehen, kommt man um die Nutzung dieses Materials kaum herum.
Im zweiten Kapitel wendet sich Mayer dann „Wehrpflicht, Disziplin und Motivation“ zu. Die meisten Soldaten waren schließlich nicht freiwillig in Napoleons Diensten (der Lehrer aus dem Hunsrück ist hier das Gegenbeispiel; bis 1814 diente er in der Armee und behielt stets seinen Stolz, „dem Kaiser dienen“ zu dürfen. Er war Überzeugungstäter), sondern wurden gezogen. Das funktionierte damals im Losverfahren. Napoleon legte je nach seinem Bedarf für Kriegführung für jeden Jahrgang fest, wie viele Männer gezogen werden sollten. Diese Zahlen gingen an die untergeordneten Gliederungen, die dann die Namen aller Betroffenen in eine Lostrommel warfen und so lange zogen, bis sie die notwendige Zahl erreicht hatten. Da es zahlreiche Ausnahmen gab und mit entsprechender Barschaft Ersatzmänner gestellt werden konnten, traf die Wehrpflicht vor allem arme Männer – die Grande Armée war also mitnichten ein Abbild der gesamten Bevölkerung, weswegen das vollmundige Versprechen, dass mit entsprechender Leistung auch die Offizierslaufbahn winken könnte („jeder Soldat trägt den Marschallsstab im Tornister“), für die meisten mangels basaler Kenntnisse im Lesen und Schreiben nie in Frage kam.
Entsprechend hoch waren die Desertationsraten, was angesichts der harten Disziplin in der Armee noch verschärft wurde. Endlose Drills, lange Märsche und Gewalt durch Höhergestellte waren Alltag. Vor allem Letzteres unterscheidet die Armeen der Epoche von den heutigen: sowohl Offiziere als auch Angehörige von Einheiten höheren Rangs – etwa Grenadiere oder Napoleons Garde – konnten die einfachen Soldaten ohne Konsequenzen misshandeln und machten davon auch reichlich Gebrauch. Die Gepflogenheiten der Epoche waren hier noch deutlich anders, als sie das heute sind. Und bedenkt man, wie oft das selbst in modernen Armeen noch vorkommt und selbst in der Bundeswehr noch vor wenigen Jahren normalisiert wurde, nimmt das auch nicht wunders.
Im dritten Kapitel, „Grundbedürfnisse: Essen, Trinken, Kleidung“, nimmt uns Mayer auf eine Reise durch den Magen der Soldaten – und das, was ihn verdeckt. Anders als die Soldaten des Ancien Régime, die eine Versorgung durch ein ausgeklügeltes Magazinsystem bekamen, lebten die Soldaten der levée en masse „aus dem Lande“, wie man so schön sagt. Das hatte eine Ursache in der Strategie, da es wesentlich höhere Mobilität erlaubte, aber auch schlicht in den Begrenzungen der Logistik: der Staat des frühen 19. Jahrhunderts konnte die Masse der Grande Armée überhaupt nicht versorgen, selbst wenn er gewollt hätte.
So plünderten die Soldaten regelmäßig die Landstriche aus, durch die kamen. Handelte es sich um Verbündete, lief das Ganze im Idealfall organisiert durch die örtlichen Behörden, die bestimmte Kontributionen lieferten und Quartier bereitstellten. Letzteres war eine häufige Unterbringungsmöglichkeit für Soldaten: genauso wie Magazine gab es viel zu wenige Kasernen (und die, die es gab, waren furchtbare Löcher), weswegen die Soldaten direkt bei Zivilisten einquartiert wurden, die auch die Versorgung zu leisten hatten. Angesichts betrunkener und verwildeter Soldaten war das bei den Zivilisten wenig überraschend sehr unbeliebt und hatte für die Kommandeure den Nachteil, dass das Zusammensammeln der Truppen aus zig Quartieren lange dauerte.
Deswegen übernachteten die Soldaten auf dem Marsch meist im Biwak: in selbstgebauten Hütten aus allem, was gerade zur Hand war (gerne auch bei den Zivilisten geplündert) oder direkt unter freiem Himmel. Die schweren Zelte, die die Armeen des Ancin Régime noch hatte, waren zugunsten höherer Mobilität abgeschafft worden; stattdessen erhielten die Soldaten einen Mantel, um sich zuzudecken. Dass das bei nur der kleinsten Witterung kaum ausreichend war, liegt auf der Hand, weswegen die Männer praktisch dauerkrank waren. Das Leben als Soldat war von Hunger, Kälte, Nässe und Krankheit geprägt.
Nicht leichter gemacht wurde es durch die Kleidung: die Uniformen waren ebenfalls Überbleibsel des Ancien Régime, unbequem und vor allem auf Repräsentation ausgelegt und dazu noch unpraktisch. Im Verlauf der napoleonischen Kriege verbesserte sich das immer weiter. So verschwanden etwa die langen Rockschöße und bedeckte die Weste endlich auch den Bauch (eine der Hauptquellen für Krankheiten bei Soldaten des 18. Jahrhunderts). Der Zweispitz, der sich bei Regen in eine formlose Masse verwandelte, wurde durch das Tschako ersetzt (das allerdings furchtbar unbequem gewesen sein muss).
Zu trinken gab es für die Soldaten überwiegend Alkohol. Das lag einerseits an der Schwierigkeit, an sauberes Wasser zu kommen; verdrecktes Wasser war schließlich eine weitere Hauptquelle für Krankheiten aller Art. Aber andererseits gehörte Alkohol zu den wenigen Annehmlichkeiten des Berufs, mit denen sich die Schwernisse etwas leichter ertragen ließen. Entsprechend waren die Soldaten häufig betrunken, was nicht eben dazu beitrug, dass sie sich zivilisierter verhielten.
Dieses Thema wird im vierten Kapitel, „Die Schrecken des Krieges: Verwundung und Gefangenschaft“, etwas mehr ausgestaltet. Oft genug waren nicht feindliche Soldaten diejenigen, die den Truppen mit besonderem Hass gegenüberstanden und sie im Falle einer Aufgabe ermordeten, sondern die Zivilbevölkerung. Besonders in Russland und Spanien sind zahlreiche Fälle überliefert, in denen Zivilisten gefangene Soldaten massakrierten – oft genug als Repressalie für zuvor erlittene Gewalt durch die Soldaten selbst, deren Plünderungen ohnehin schon schwer genug zu ertragen kamen, ohne dass eigene Massaker, Vergewaltigungen und Ähnliches dazu kamen.
Die Gefangennahme selbst war ein sehr ambivalentes Unterfangen. Unter normalen Umständen galten Soldaten, die die Waffen streckten, nicht mehr als Kombattanten und wurden inhaftiert, meist um nach Kriegsende freigelassen zu werden. Allein, die napoleonischen Kriege zogen sich, besonders mit Großbritannien, so dass die Gefangenen hier sehr lange inhaftiert waren. Dazu kam, dass in vielen Situationen keine Gefangenen gemacht wurden, weil man sie weder bewachen noch versorgen konnte. In diesen Fällen wurden sie meist ermordet. Die Quellen geben furchtbare Berichte aus Russland, in denen etwa Verwundete mit Knüppeln totgeschlagen werden, als ihr Tross sich von der Hauptarmee entfernte und vom Feind aufgebracht wurde.
Verwundungen gehörten zum Alltag der Soldaten. Der Stand der medizinischen Versorgung war erbärmlich: die Zahl des medizinischen Personals war völlig unzureichend, die Behandlungsmethoden primitiv (wenngleich besser als man manchmal annimmt). War der Verwundete einer von wenigen, so hatte er tatsächlich halbwegs gute Chancen, wie die Augenzeugenberichte eines Glücklichen demonstrieren. Doch in den großen Schlachten fielen zehntausende Verwundete an, eine Zahl, die Mayer auch als für moderne Systeme nicht verkraftbar beurteilt – und für das napoleonische System gleich dreimal nicht. Entsprechend schlecht waren die Überlebenschancen vieler Verwundeter. Ohne Betäubung und ohne Kenntnisse blieb oft nur die Amputation. Die Ursachen des gefürchteten Wundfiebers waren zudem mangels Bakteriologie völlig unbekannt.
Im fünften Kapitel, „Ausklang: Heimkehr“, sehen wir dann das Ende des Krieges für die Glücklichen, die ihn überlebt hatten. Sie wurden aus den Armeen entlassen, in der Hand einen Schuldschein für den wie stets ausstehenden Sold und Gutscheine für Transport nach Hause. Die drei Männer, auf denen Mayer seine Erzählung fußt, integrierten sich wieder gut in ihre Gemeinden – aber sonst hätten sie auch kaum später die Muße gefunden, ihre Erlebnisse aufzuschreiben.
Mayers Erzählung ließt sich flüssig und interessant genug, wenngleich sie natürlich unter den bereits angedeuteten Problemen leidet. Einerseits ist die Auswahl der Quellen eine, die den Anspruch des Titels, einen Einblick in den Alltag von „Napoleons Soldaten“ zu geben, schwer einlösbar macht. Die drei Schicksale repräsentieren eher die Verfügbarkeit deutschsprachiger Quellen als Repräsentierbarkeit, egal wie viel Mühe sich Mayer gibt, alles zu kontextualisieren. Die Knappheit des Werks erzwingt auch ein Zeichnen mit dem groben Pinsel, das starke Verallgemeinerungen zum Standard macht und immer wieder Probleme hat, die Distanz zum Gegenstand zu wahren.
So verweist Mayer zwar immer wieder darauf, dass Napoleon die Nähe zu den einfachen Soldaten vor allem als Propagandainstrument nutzte und etwa den von ihm gestifteten Ehrenorden für Hokuspokus hielt. Gleichzeitig aber verfällt er immer wieder in Napoleonfolklore, bedingen die Verallgemeinerungen eine zu große Nähe zum Gegenstand. Solange man sich klarmacht, dass das letztlich in einer solchen Darstellung unvermeidbar ist, ist das hier auch kein großes Problem. Mayer gibt sich alle Mühe, so viel Differenzierung wie möglich unterzubringen, und letztlich gelingt ihm das auch. Wer sich für die Thematik interessiert, sei das Büchlein daher rundheraus ans Herz gelegt.