Finnlandisierung als Endpunkt des Ukrainekriegs

In russlandfreundlichen Kreisen ist das Wort von der „Finnlandisierung“ der Ukraine ein geläufiges. Dahinter verbirgt sich der Status Finnlands als „neutrale“ Nation nach dem Zweiten Weltkrieg: die Sowjetunion verzichtete darauf, das Land mit Gewalt in seine Blockstruktur zu integrieren; dafür verzichtete Finnland seinerseits auf den Beitritt zu westlichen Bündnissen (NATO und EG) und nahm keine Marshallplanhilfe in Anspruch. Mit dem Untergang der Sowjetunion war diese Regelung dann passé. Als Folge dieser „Finnlandisierung“ (ein pejorativ gebrauchter Begriff, den vor allem Franz Josef Strauß als Kritik an der Ostpolitik verwendete und der erst später eine positivere Konnotation annahm) war Finnland bis in die 1980er Jahre hinein im Vergleich zu Europa deutlich unterentwickeltes Land, das erst mit der weitgehenden Aufgabe der Neutralitätspolitik ab 1986 und eine folgende engere Anbindung an die EG (und dann den Beitritt in die EU 1995) wirtschaftlich erfolgreich wurde. Vorher zeichnete sich die finnische Volkswirtschaft auch durch eine große Abhängigkeit von der Sowjetunion und ihre Innenpolitik durch eine große Interventionsfurcht aus, die der UdSSR große Mitspracherechte einräumte. Allein das zeigt schon, dass „Finnlandisierung“ für die Ukraine keine sonderlich attraktive Option ist.

Trotzdem bietet Finnland für das Land einen guten Vergleichspunkt und in gewisser Weise ein Vorbild, wenngleich nicht so, wie die Putinversteher-Fraktion das üblicherweise fasst. Die Neutralisierung des Landes (die de facto ein Fall in die russische Einflusssphäre darstellen würde) ist aus offensichtlichen Gründen für Kiew unattraktiv, und die Bevölkerung des Landes hat spätestens seit dem Februar 2022 keinerlei Interesse mehr daran. NATO- und EU-Beitritt sind, ungeachtet ihrer Realisierungschancen, die Fluchtpunkte ukrainer Außenpolitik und ukrainischer Wünsche. Der Vergleichspunkt ist daher weniger Finnland im Kalten Krieg als Finnland 1918-1940.

Bis 1918 gehörte das heutige Finnland zum russischen Imperium. Es waren die russische Niederlage im Ersten Weltkrieg und ein taktisch geschicktes Bündnis mit den kurzfristig siegreichen Deutschen, mit denen im Bürgerkrieg die Sozialisten brutal niedergeschlagen wurden, die dem Land die länger ersehnte Unabhängigkeit brachten, die es auch über den Zusammenbruch des kurzlebigen Brest-Litowsk-Systems hinaus bewahren konnte. Dieses System ließ Russland – respektive die innerhalb seiner Grenzen entstehende Sowjetunion – als grundsätzlich revisionistische Macht in die Außenpolitik der 1920er und 1930er Jahre eintreten, neben Deutschland, Japan und Italien.

Für Russland war die Unabhängigkeit Finnlands wie die der osteuropäischen Staaten kein hinnehmbarer Zustand. Lenin hatte diese Unabhängigkeiten alle akzeptiert und anerkannt, weil er fälschlicherweise (und aus profunder außenpolitischer Naivität und Traumtänzerei) davon ausgegangen war, dass ohnehin die Weltrevolution vor der Tür stand und so bürgerliche Konzepte wie Grenzen und Nationalstaaten bald der Vergangenheit angehören würden. Andere Staaten wie die Ukraine wurden militärisch geschlagen und annektiert. Die Niederlage der Roten Armee von Warschau (das „Wunder von der Weichsel“) und die Niederlage der Sozialisten im finnischen Bürgerkrieg, die Niederschlagung der roten Aufstände in Deutschland und anderswo aber machten diese Hoffnungen zunichte. Unter Stalin wandte sich die Sowjetunion erst nach innen und stabilisierte sein Regime durch den Doppelschlag der Industrialisierung (mit den berühmt-berüchtigten Fünfjahresplänen) und des Holodomors, der Millionen Tote verursachenden Hungersnot.

Solcherart die eigene Macht abgesichert machte sich Stalin daran, einen expansionistischen Kurs zu fahren und die alten Kolonialgebiete wieder zu erringen. Profunde Spannungen mit Japan (wegen der Gebietsverluste aus dem russisch-japanischen Krieg 1905) und den osteuropäischen Staaten waren die Folge. Aber erst der Aufstieg der anderen großen revisionistischen Macht, Deutschland, gab Stalin den außenpolitischen Spielraum, den er brauchte: der sich abzeichnende Krieg mit Frankreich und Großbritannien machte expansionistische Forderungen plötzlich möglich, und im Windschatten des Krieges fiel Stalin erst in Polen ein, dessen Ostteil er sich 1939 einverleibte, annektierte Bessarabien und 1940 die drei baltischen Staaten. Das nächste Opfer des Annexionshungers war Finnland.

Doch die Finnen wehrten sich gegen die sowjetischen Forderungen, die einer Aufgabe ihrer Unabhängigkeit gleichkamen. Das war Stalin natürlich nur Recht: er schickte die vorher an den Grenzen mobilisierte Rote Armee nach Finnland, um das Land zu unterwerfen, weitreichende Annexionen durchzusetzen und es in einen Satellitenstaat zu verwandeln. Das Manöver misslang gründlich. Der Winter erwies sich als wesentlich problematischer für die unzureichende sowjetische Logistik und die Finnen wehrten sich wesentlich verbissener als angenommen. Die Sowjets verloren Unmengen an Menschen und Material. Westliche Unterstützung für Finnland hielt sich in engen Grenzen: die USA waren durch die Neutralitätsgesetze und Frankreich und Großbritannien durch den Krieg mit Deutschland gehemmt. Angesichts der Kräfteverhältnisse schloss Finnland im Frühjahr 1940 nach einem halben Jahr erbitterter Kämpfe und absehbaren sowjetischen Durchbrüchen Frieden. (Ich habe mit dem amerikanischen Militärexperten Jim McGeehin einen Podcast zum Thema aufgenommen.)

In diesem Frieden annektierte die Sowjetunion rund 10% des finnischen Gebiets, aber die eigentlichen Kriegsziele wurden nicht erreicht. Anstatt wie in Polen, dem Baltikum, der Ukraine oder am Schwarzen Meer eine Wiederherstellung des Imperiums zu erreichen und der ehemaligen Kolonie seinen Willen aufzuzwingen, blieb Finnland unabhängig – und wandte sich nur ein Jahr später in einem Revanchekrieg gegen die Sowjetunion, den es 1944 zwar verlor, der aber der sowjetischen Bedrängnis gegen Nazi-Deutschland nicht eben zupass kam.

Einige Leser*innen mögen etwas verwirrt sein, dass ich hier von „Imperium“ und „Kolonien“ spreche. Russland aber ist in seinem Wesenskern ein imperialer Staat, der sich koloniale Gebiete unterworfen hat – nur dass anders als bei den europäischen Kolonialmächten diese Kolonien nicht in Afrika oder in Übersee lagen, sondern direkt angrenzen. Das ändert aber wenig daran, dass Sibirien, die Kaukasusregion, Polen, Finnland, die Ukraine, Kasachstan und so weiter letztlich Kolonien des Moskauer Zentrums waren und sind. Genauso wie Frankreich und Großbritannien lange an einer malaise d’empire litten, überwand auch Moskau seine imperialen Phantomschmerzen bis heute nicht. Der Ukrainekrieg wird daher am besten als ein revisionistischer, revanchistischer Kolonialkrieg begriffen.

Die Parallelen zum Winterkrieg wurden schon oft bemerkt. Man sollte sie nicht überstrapazieren, aber die massive Überlegenheit der imperialen Seite gegenüber ihrer ehemaligen Kolonie und eine völlige Unterschätzung ihrer Widerstandskraft, die unzureichende Vorbereitung des Krieges, die mangelhafte Logistik, die miserable Moral der Truppe, der wesentlich höhere Widerstandswille des Gegners – all diese Faktoren gleichen sich durchaus frappant.

Für die Zwecke dieser Abhandlung aber ist vor allem das Resultat interessant. Finnland hatte 1940 trotz aller unerwarter Erfolge und Zähigkeit keine Chance, die Sowjetunion militärisch zu schlagen. Zwar bezahlte die Rote Armee jeden Meter finnischen Bodens mit Blut. Aber sie hatte genug Blut in Reserve und keinerlei Hemmungen, es auszugeben. Zwar eroberten die finnischen Widerstandskämpfer die Herzen der „freien Welt“ im Sturm, wurden Molotow-Cocktails und Sniper ikonisch. Aber letztlich konnte wenig Zweifel bestehen, dass die Sowjets am Ende die finnische Armee schlagen würden – allein, der Preis war angesichts der dräuenden Konfrontation mit anderen Mächten zu hoch. Also gab sich Stalin mit Gebietsgewinnen zufrieden und wandte sich – vorerst – anderen Schauplätzen zu.

Eine ähnliche Situation sehen wir auch in der Ukraine. Zwar sind deren Kräfte relativ zu Russland wesentlich umfangreicher als die Finnlands gegenüber der UdSSR; zwar stehen der Ukraine unendlich viel mehr Hilfen der „freien Welt“ zur Verfügung als dem skandinavischen Underdog im Winterkrieg; zwar ist der Widerstandswille der ukrainischen Armee ungebrochen; zwar fährt die russische Armee gewaltige Verluste ein und bezahlt jeden Meter Boden mit Blut. Aber die russische Armee entrichtet den Preis, und sie konsolidiert ihre Gewinne, blutigen Meter um blutigen Meter.

Nichts davon entspricht Putins Plan, so wenig wie das blutige Ringen im Winter 1939/40 Stalins Plan entsprochen hatte. Das eigentliche Kriegsziel, die Wiederherstellung imperialer Macht, ist in weite Ferne gerückt. Längst geht es nur noch darum, auf welchen Gebieten die imperiale Flagge einst wehen wird. Dass der Rest dem Zugriff entzogen ist, steht außer Frage. Wie Finnland 1940 hat die Ukraine ihre Unabhängigkeit und Souveränität verteidigt und damit ihr größtes Kriegsziel erreicht. Wie Finnland 1940 hat die Ukraine aber auch nur wenig Aussicht auf einen militärischen Sieg.

Ob man diesen nun wie Kiew als eine komplette Vertreibung aller russischen Soldaten von ukrainischem Staatsgebiet in den Grenzen von 2013 versteht, in den Begriffen des Westens als Wiederherstellung des Status Quo vor Februar 2022 oder in Maximalideen wie einer blau-gelben Siegesparade auf dem Roten Platz, aktuell scheint keines dieser Szenarien sonderlich realistisch. Genauso wenig steht allerdings, glücklicherweise, ein russischer Durchbruch zu erwarten.

Meine Vermutung ist daher, dass das Ende dieses Konflikts ein Szenario ähnlich des Winterkriegs bereithält: Gebietsverluste für die Ukraine, aber die Sicherung der eigenen Souveränität und eine emphatische Ablehnung jeglicher Rückkehr in die kolonialen Strukturen des imperialistischen Moskau. Anders als Finnland aber dürfte die Ukraine eine Einbindung in das westliche System erwarten können – ob nun mit offizieller NATO- und EU-Mitgliedschaft oder ohne.

Bei den Salonkolumnisten wurde zudem noch eine weitere mögliche Folge des Krieges ins Spiel gebracht: eine Art Israelisierung. Gemeint war hier eine bleibende hervorgehobene Rolle der ukrainischen Streitkräfte. Der ständige Überlebenskampf des Staates gegen missgünstige Nachbarn hat ein sehr spezielles Verhältnis der israelischen Gesellschaft zu ihren Streitkräften bedingt, die für das Land eine treibende Rolle in seiner Modernisierung einnahmen, weil nur die Modernität und technische Überlegenheit der IDF und ihre hohe Effizienz das Überleben garantieren. Diese Rolle, so die These, könnten die ukrainischen Streitkräfte auch für die Ukraine übernehmen, die durchaus einen gewissen Bedarf an Modernisierung und Effizienz hat. Die Notwendigkeit, gegenüber weiteren russischen Revancheversuchen und Einflussnahme wehrhaft zu bleiben, könnte hier diesen Effekt hervorrufen.

All das kommt mit den üblichen Caveats, dass Voraussagen besonders dann schwierig sind, wenn sie die Zukunft betreffen, und dass jede historische Analogie nur soweit trägt, bis man zu genau hinschaut. Tiefere Analyse enthüllt grundsätzlich mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten, aber als Denkmodell hilft eine solche Analogie, Grunddynamiken zu veranschaulichen. In diesem Fall wäre das die de facto Niederlage der Russischen Föderation in der Ukraine, die ihre ursprünglichen Kriegsziele nicht mehr erreichen kann. Gleichzeitig aber ist ein Zusammenbruch ihrer Armee und eine komplette Niederlage auf dem Schlachtfeld sehr unwahrscheinlich. Es bleibt die Frage, welche Seite zuerst ermüdet und das Blutvergießen beenden will. Man sollte, auch mit Blick auf die Geschichte, hier nicht auf Wunder aus russischer Richtung hoffen.

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  • Lemmy Caution 27. April 2023, 10:51

    Osteuropäischen Geschichte war für mich ein blinder Fleck.
    Eins der für mich erstaunlichsten Phänomene ist der Variantenreichtum der konkreten Ausgestaltungen der Dominanz der wechselnden Großreiche Russland, Österreich(-Ungarn), Preußen, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, Osmanisches Reich über die native Bevölkerung.
    – Nach dem Nordischen Krieg konservierte das Zarenreich die interne politische Struktur der neu eroberten baltischen Gebiete unter deutschen Fürsten 150 Jahre weitgehend und scheiterten dann mit Russifizierung.
    – Die rumänischen Fürstentümer Walachei und Moldau blieben während der langen türkischen Dominanz Südosteuropas christlich, allerdings durften sie keine eigene Außenpolitik machen und wurden im 18. Jahrhundert durch erdrückende Tributforderungen immer wichtiger für die Finanzierung des Osmanischen Reiches.
    – Polen und Ungarn betrieben innerhalb Österreich-Ungarns eine Art v.a. kulturellem Imperialismus gegen ihnen untergeordnete Gebiete in heutigen Slowakei, Kroatien, Ukraine, Rumänien und Litauen.
    – Wenn man heute polnische Kaczyński Freaks auf Twitter provoziert, kommen die einem mit bismarckschen Kulturkampf.
    – das heutige Tschechien ist eines der ältesten Bestandteile des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation

    Imperialismus war lange Zeit kein Alleinstellungsmerkmal des Zarenreiches, nur blieben in Muskowien diese Einstellungen bestehen.

    • Stefan Sasse 27. April 2023, 13:02

      Für mich auch ein blinder Fleck, danke!

    • cimourdain 28. April 2023, 09:10

      Vermeide bitte den Begriff „Muskowien“. Dieser ist (Alt-)Nazijargon.

      • Lemmy Caution 28. April 2023, 23:00

        Die Nazis haben lediglich den im 17. Jhdt gängigen Begriff verwendet. Ich halte ihn für historisch korrekter als Rußland.

        • cimourdain 29. April 2023, 00:03

          … und das Hakenkreuz ist ein altindisches Symbol etc…
          Vor 2022 hat keine Sau den Begriff verwendet, das ist erst durch die „total keine Neonazis“ Azow-Leute populär geworden.

          • Lemmy Caution 29. April 2023, 07:53

            Ich habe in den letzten 3 Jahren sehr viel zu osteuropäischer Geschichte gelesen. Ich persönlich habe es daher.
            Asow war eine gemischte Gruppe, in der es eine gewisse Tradition der Toleranz gegenüber Neonazis gibt, die aber nicht mehr als neonazistisch bezeichnet werden sollte.
            Dies hier könnte bei einer differenzierteren Einschätzung helfen: https://de.wikipedia.org/wiki/Regiment_Asow

            • cimourdain 1. Mai 2023, 23:55

              Und mit wie vielen Ländern, die in den letzten 500 Jahren den Namen gewechselt haben, verwendest du das noch den alten Namen ? Abessinien, Siam, Persien ?

              Und dass es natürlich keine Nazis gibt, wo sie dem Westen nützlich sein könnten, kenne ich von der Operation „Paperclip“.

              • Lemmy Caution 2. Mai 2023, 06:39

                Aus persönlicher Wertschätzung gegenüber dir werde ich hier in Zukunft den Begriff Moskowien statt Muskowien verwenden.
                Den Begriff „Russland“ empfinde ich einfach als falsch. Das Land ist aus dem Fürstentum Moskau entstanden. Er bürgerte sich erst nach dem Sieg Zar Peters im Nordischen Krieg 1721 ein. Russland spielt eine Tradition mit dem Kyiver Rus vor, also ein Reich, das im Mongolensturm unterging. Ich nenne ja Belgien auch nicht Lotharingen.

                • Stefan Sasse 2. Mai 2023, 11:38

                  Ne, aber Belgien nennt sich Belgien. Und Russland nennt sich Russland.

              • CitizenK 2. Mai 2023, 08:37

                Berechtigter Einwurf. Aber was genau folgt daraus in der konkreten aktuellen Situation?

                • Lemmy Caution 2. Mai 2023, 16:38

                  Psychologischer Aspekt eines Konfliktes, der in den nächsten 50 Jahren vielleicht bestehen bleibt. Das nationale Selbstverständnis vieler Moskowier ist mit meinen Vorstellungen eines friedlichen Europas nicht vereinbar.

  • Thorsten Haupts 27. April 2023, 10:55

    Aber die russische Armee entrichtet den Preis …

    Ja. Fragt sich nur, wie lange. Der Kernunterschied zur alten Sowjetunion: Diese hatte einen sehr deutlichen Geburtenüberschuss, die Bevölkerung wuchs also und war durchschnittlich jung. Inzwischen ist Russland auf dem westeuropäischen Durchschnittsniveau angelangt, die Geburtenrate liegt bei ca. 1,5 und damit schrunmpft die Bevölkerung im allgemeinen, besonders aber die wehrfähigen Jüngeren. Menschenwellen ohne Rücksicht auf Verluste auf den Gegner zu werfen, die bewährte „Taktik“ der Russen aus WK I und WK II, funktioniert vor dem Hintergrund nur noch begrenzt.

    Hinzu kommt, dass der Westen die relativ einfache Möglichkeit hätte, dieser Taktik zu begegnen. Was mache ich, wenn der Gegner mehr Menschen auf dem Schlachtfeld hat, als ich? Ich begegne dem mit höherer Feuerkraft. Die Ukraine braucht also Artillerie und Munition, und das in Mengen, dann helfen den Russen auch „mehr Soldaten“ nicht wirklich. Wenn wir das hinbekämen – ein sehr, sehr wackliges wenn – kann der Krieg durchaus damit enden, dass Russland mit einer ernsthaften Bedrohung der Krim an den Verhandlungstisch kommt. Das wäre aus meiner Sicht das wünschenswerteste, halbwegs realistische, Szenario.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 27. April 2023, 13:02

      Sehe ich auch so.

      • CitizenK 28. April 2023, 21:11

        Ist die Rückeroberung der Krim ernsthaftes Ziel oder Verhandlungsmasse?

        • Stefan Sasse 29. April 2023, 09:29

          Schwer zu sagen. Ich denke, dass das schon ernsthaftes Ziel in dem Sinne ist, als dass sie es erreichen wollen. Wie realistisch das ist, sei einmal dahingestellt, das kann ich nicht wirklich sagen.

        • Thorsten Haupts 29. April 2023, 11:38

          Letztlich egal – sie müssen in die Position kommen, die Krim ernsthaft zu bedrohen, um die Russen an den verhandlungstisch zu bekommen.

    • Ariane 27. April 2023, 15:46

      Zustimmung – (auch danke für den Gesamtartikel) ich finde es generell wie so ein Generationenclash, weil es tatsächlich viele Assoziationen aus Situationen mit Finnland oder den Weltkriegen weckt, wir aber heute in völlig anderen Zeiten leben.

      Da stellt sich ja nicht nur die Frage, wieviele Soldaten man zum Sterben da hat, die Menschen sind auch bei weitem nicht mehr so krass isoliert, bei allen protofaschistischen Zügen kann man nicht alles an Infos unterdrücken oder wegmanipulieren. Mit Rationalität ist es in Kriegsfragen und Protofaschismus vermutlich nicht soweit her, aber das kann ein Staat einfach nicht ewig durchhalten. (wenn auch leider bestimmt lange).

      dass Russland mit einer ernsthaften Bedrohung der Krim an den Verhandlungstisch kommt. Das wäre aus meiner Sicht das wünschenswerteste, halbwegs realistische, Szenario.

      Vielleicht nicht nur in Bezug auf die Krim, sondern auch auf die Ostukraine. Vor der offiziellen Invasion tobte da ja auch so ein unerklärter Halb-Bürgerkrieg, das könnte eventuell auch bestehen bleiben.

  • Detlef Schulze 28. April 2023, 08:58

    Ich glaube nicht wirklich, dass es ueber Jahunderte kohaerente Politik in einem Land gibt. Also, zu sagen, dass Russland schon immer imperialistisch war, ist mir zu allgemein und laesst keine Rueckschluesse auf die jetzige und zukuenftige russische Politik zu. Frueher hat wahrscheinlich jeder Herrschaftsbereich versucht sich territorial auszudehnen. Manche waren stark genug dies auch zu tun, ander eben nicht. Ansonsten glaube ich, dass dort, wo Macht breiter verteilt ist, Politik laenger kohaerent ist, als wenn es nur einen Entscheidungstraeger gibt. Das ist ganz besonders in Russland der Fall. Richtige imperiale Bestrebungen gab es eigentlich vor allem unter Stalin und jetzt unter Putin. Putins Vorgaenger dagegen hat quasi das Ende der Sowjetunion besiegelt.

    Des Weiteren muss man den Begriff einer Kolonie schon sehr dehnen, um aus Russland eine Kolonialmacht zu machen. Im Gegensatz zu franzoesischen oder britischen Kolonien, waren die Sowjetrepubliken ja integriert und die Buerger der Kolonien hatten dieselben Rechte. In der sowjetischen Fuehrung selber waren ja nicht nur Russen. Stalin war Georgier, Breschnew war Ukrainer und Gorbatschows Mutter ebenfalls. Wir sagen ja auch nicht, dass Kalifornien eine US-Kolonie ist, nur weil die Gebiete irgendwann kriegerisch erobert wurden.

    • Detlef Schulze 28. April 2023, 09:44

      Richtige imperiale Bestrebungen gab es eigentlich vor allem unter Stalin und jetzt unter Putin.

      Ich meinte natuerlich nur die Zeit nach 1917.

      • cimourdain 28. April 2023, 15:25

        Natürlich gab es während der gesamten Sowjetzeit Bestrebungen, den eigenen Einflußbereich in Afrika, Lateinamerika und (Süd)ostasien zu erweitern. Sollte man durchaus als imperialistisch werten (beim Westen tu ich es ja auch).

        • Lemmy Caution 29. April 2023, 21:21

          Die sowjetische Unterstützung der Weltrevolution wies eine Menge interessante Details auf.
          Moskau unterstützte den kubanischen Revolutionsexport der 60er NICHT. Die stellte einen Bruch gegenüber der traditionellen sowjetischen Lateinamerika-Politik, die für die Region „objektive Bedingungen“ für die Revolution negierte.
          Erst nach dem Tod Ernesto Guevaras begann eine Annäherung und gewisse Synchronisierung. Kuba schickte Berater und Kämpfer für Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika, die zunächst gegen die noch bis zur Nelkenrevolution 1974 bestehenden Kolonien kämpften und dann gegen das Apartheids Regime in Südafrika. Das war im Sinne Moskaus.
          Dagegen kehrte Allende 1973 enttäuscht aus der Sowjetunion zurück, weil die sich nicht wirklich in Chile engagieren wollten. Die kannten die Kosten für die Unterstützung Kubas und wollten sich noch so was nicht aufbürden.
          Brechnew war in der Einschätzung der Kräfte realistischer als Putin.

        • Detlef Schulze 29. April 2023, 23:33

          Gegen ein politisches und wirtschaftliches Engagement ist erstmal nichts einzuwenden, das würde ich nicht imperialistisch nennen. Aber richtig, durch militärische Unterstützung wurden unzählige Kriege befeuert, vor allem nach Stalins Tod.

          • Stefan Sasse 30. April 2023, 11:21

            Vorher spielte das ja auf beiden Seiten auch noch nicht die Rolle.

    • sol1 28. April 2023, 12:04

      Warum eigentlich nicht?

      Rußland und die USA könnte man als kolonialistische Mächte betrachten, die nicht irgendwelche überseeischen Gebiete eroberten, sondern die jeweiligen Kontinentalmassen, bis sie zum Pazifik gelangten.

      Wie sehr die Deutung in den USA im Fluß ist, zeigt diese Story über „Die zweite Schlacht um das Alamo“:

      https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/usa-texas-alamo-kulturkampf-e625883/

      • Stefan Sasse 28. April 2023, 13:02

        Problemlos. In den USA ist der Sonderfall halt deswegen, weil die massive Einwanderung die örtliche Bevölkerung marginalisiert hat, so dass der Gleichberechtigung der Region wenig im Weg stand. Allerdings waren die USA um Umgang mit den Reservaten noch lange Zeit kolonial unterwegs.

        • Detlef Schulze 28. April 2023, 14:44

          Unter Kolonie versteht man doch eigentlich ein besetzes Land, dass nicht geographisch mit dem Besatzerland verbunden ist und das auch von den Besetzern nicht als Teil des Hauptlandes angesehen wird. Ob da jemand unterdrueckt wurde spielt doch fuer den Begriff keine so grosse Rolle. Martinique ist ja heute keine Kolonie Frankreichs, weil es ja den Departments in Frankreich gleichgestellt ist. Dagegen sind aber Puerto Rico oder American Samoa sehr wohl Kolonien der USA.

          • Stefan Sasse 28. April 2023, 18:58

            Es gibt keine allgemein anerkannte Definition, deswegen muss man sich immer erstmal drüber verständigen, was gemeint ist.

    • Stefan Sasse 28. April 2023, 12:58

      Was heißt „schon immer“? Wir reden ja hier von den letzten 300 Jahren ca., und da hast du schon Kontinuitätslinien.

      Korrekt, was die Führungsebene angeht. Aber die Minderheitenpolitik war sehr kolonial, vor allem im Umgang mit den -stans und dem Fernen Osten. Und aus DEN Regionen kam niemand aus der Führungsspitze.

      • cimourdain 28. April 2023, 15:21

        Mir fällt auf Anhieb Ponomarenko (Kasachstan) ein.

        • sol1 29. April 2023, 00:48

          Der war alles, aber kein Kasache:

          „Schon von 1937 bis 1938 gehörte er als Deputierter dem Obersten Sowjet der Sowjetunion an. Ein Jahr danach wurde er Instrukteur und stellvertretender Leiter der Abteilung der Leitenden Parteiorgane der KPdSU. 1938 schickte man ihn nach Weißrussland, wo er als erster Sekretär des ZK der KP Weißrusslands tätig wurde. Im folgenden Jahr nahm man ihn ins Zentralkomitee der KPdSU (ZK) auf. Von 1941 bis 1958 gehörte er zum Präsidium des Obersten Sowjets der Sowjetunion. (…) Im ZK der KPdSU, dem er von 1939 bis 1961 angehörte, war er von 1948 bis 1953 als Sekretär tätig. Von 1950 bis 1953 übte er gleichzeitig das Amt des Ministers für Erfassung der UdSSR aus. Anschließend übernahm er von 1953 bis 1954 das Kulturministerium. Von 1952 bis 1953 wurde er Mitglied des Präsidiums des ZK der KPdSU. Danach war er von 1953 bis 1956 Kandidat des Präsidiums des ZK der KPdSU. Von 1954 bis 1955 schickte man Ponomarenko als Ersten Sekretär der KP Kasachstans in die Kasachische SSR.“

          https://de.wikipedia.org/wiki/Panteleimon_Kondratjewitsch_Ponomarenko

          • cimourdain 29. April 2023, 07:36

            Stimmt. Danke

    • Lemmy Caution 29. April 2023, 21:32

      Es gibt wirklich ausgezeichnete Texte, die vielen deiner Äußerungen widersprechen.
      Das hier zum Beispiel.
      https://tower.mastersny.org/11837/opinion/new-look-at-war-and-peace-why-do-we-need-to-recognize-and-study-russian-imperialism/

  • cimourdain 28. April 2023, 09:09

    Es ist bezeichnend, dass du in dem Artikel, [der imho insgesamt etwas nach Landserromantik müffelt] den Fortsetzungskrieg 1941 mit einem halben Satz und verniedlichenden Formulierungen ‚würdigst‘. Ehrlicher wäre gewesen zu schreiben was war: 1941 war Finnland Verbündeter der Achsenmächte. Dabei war die ideologische Nähe hilfreich, Mannerheim ist sozusagen als Protagonist des ‚weißen‘ Terrors politisch sozialisiert worden. Es war im Unternehmen Barbarossa voll integriert und führte seine Angriffe (z.B. Operation Silberfuchs) gemeinsam mit Wehrmacht und SS durch.

    • Thorsten Haupts 28. April 2023, 12:59

      1941 war Finnland Verbündeter der Achsenmächte.

      Oh, absolut. Es stand nämlich kein anderer zur Verfügung, um der Sowjetunion die in einem offenen Raubkrieg eroberten Gebiete wieder abzunehmen. Und „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ unterschreiben nun mal geschätzt 90% der Menschen.

      Ideologische Nähe ist da nahezu irrelevant. Und Mannerheim hat 1944 bewiesen, dass er zuallererst finnischer Patriot und eben kein Ideologe bis in den Tod war, was Teile der deutschen Nazis „auszeichnete“.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 28. April 2023, 12:59

      Es war nicht meine Absicht, das zu relativieren. Aber: ich weiß nicht, ob Finnland ohne den Winterkrieg ein Verbündeter gewesen wäre.

      • cimourdain 28. April 2023, 15:09

        Um diese Frage zu beantworten, schau dir die Geschichte seit der Unabhängigkeit an. Nach der von mir Erwähnten Niederschlagung einer sozialistischen Revolution gab es mehrere Versuche 1918 bis 1920 sowjetisches Territorium zu erobern, auch mit britischer und US-amerikanischer Unterstützung (vergleichbar mit dem polnisch-sowjetischen Krieg). Diese waren zwar erfolglos und endeten mit der Konsolidierung der Sowjetunion, führten aber zu einer starken großfinnischen Bewegung, die nicht nur die gesamte Osthälfte Skandinaviens beanspruchte, sondern auch Estland und Ingermanland.
        Die Sorge um die Sicherheit Leningrads ( der „offizielle“ sowjetische Grund für den Winterkrieg) war nicht unbegründet.

        • Thorsten Haupts 28. April 2023, 18:03

          Die Sorge um die Sicherheit Leningrads

          Bin ja immer wieder beeindruckt von der Sorge einiger Deutscher um (ausschliesslich) die Sicherheit Russlands und der Sowjetunuion. Rührend.

          Einwohner Finnland 1939 – 3,7 Millionen
          Einwohner Russland 1939 – 168 Millionen
          1:50

          Finnlands Bruttosozialprodukt 1939 – ca. 3,3 Mio. US$
          Sowjet. Bruttosozialprodukt 1939 – ca. 76 Mio. US$
          1:23

          Sowjet. Armee 1939 – ca. 250+ Divisionen (voll mobilisiert)
          Finn. Armee 1939 – ca. 10 Divisionen (voll mobilisiert)
          1:25

          Die Gegenüberstellung macht die Absurdität dieser zitierten Behauptung deutlich. Mit solchen Kräfteverhältnissen ist niemand auf der Welt jemals bedroht gewesen, nirgendwo.

          Gruss,
          Thorsten Haupts

          • Stefan Sasse 28. April 2023, 18:59

            Versteh ich auch nicht.

          • cimourdain 29. April 2023, 00:14

            Ihre Fähigkeit, eine Armee im gleichen Kontext als super-effizient zu loben und gleichzeitig als total ungefährlich zu bezeichnen, fasziniert mich.

            Davon abgesehen hatte sich der finnisch nationalistische Terrorismus nicht nur nach innen gerichtet sondern auch in der UdSSR seine Ziele gesucht. 1919 gab es einen konzertierten Angriff mit Brand- und Sprengstoffanschlägen in St. Petersburg und 1927 eine Serie von Bombenattentaten auf sowjetische Regierungseinrichtungen.

            • Thorsten Haupts 29. April 2023, 01:50

              Bei ausreichend ungleichen Kräfteverhältnissen (1:25) und vergleichbarer Technik wird die Effizienz völlig irrelevant.
              Der Rest Ihrer Ausführungen ist für mich nicht auf Anhieb überprüfbar, aber für den Diskussionspunkt – war Leningrad/St. Petersburg durch Finnland in irgendeiner Gefahr – ebenso irrelevant.

              • Stefan Sasse 29. April 2023, 09:31

                Genau. Das wäre wie zu argumentieren, dass Sarajevos Sicherheit 1914 durch Serbien bedroht war. War sie nicht. Das ändert natürlich nichts an state sponsored terorrism, aber Krieg ist vielleicht nicht ganz die äquivalente Antwort darauf.

        • Stefan Sasse 28. April 2023, 18:59

          Schon, aber wie einflussreich waren die Großfinnen? Inwiefern beeinflussten die Regierungshandeln?

          • cimourdain 29. April 2023, 00:36

            Mehrere Aspekte sind sehr vergleichbar mit Zwischenkriegsdeutschland.

            Großfinnland war erst einmal eine romantische Idee wie auch Großdeutschland oder der italienische Irredentionismus (z.B. Lönrot war ein Vertreter).

            Der Vertrag von Tartu (1920) wurde als ‚Schandvertrag‘ gesehen.

            Es gab direkt nach dem Bürgerkrieg (1918) massive weiße Säuberungen.

            Diese Gewaltbereitschaft von Rechts ging in der Zwischenkriegszeit in Terrorismus über, so wurde 1922 der Innenminister Rutavuori ermordet. Anschläge auf russischstämmige in Finnland waren bereits vor der Unabhängigkeit nicht selten und setzten sich auch danach fort.

            Eine großfinnische Kaderorganisation, die AKS, war in akademischen und militärischen Kreisen sehr populär.

            Es gab mehrere rechte Parteien und Kleingruppen, parlamentarisch waren sie nicht sehr erfolgreich, am besten schnitt die IKL mit 14/200 Sitzen ab.

            • sol1 29. April 2023, 00:59

              „Diese Gewaltbereitschaft von Rechts ging in der Zwischenkriegszeit in Terrorismus über…“

              Das scheint mir nach einem kurzen Blick in Wikipedia stark übertrieben zu sein:

              „The murder of a government minister is such a rare occurrence in Finland that it has almost completely overshadowed Ritavuori’s achievements as a builder of Finnish society.“

              https://en.wikipedia.org/wiki/Heikki_Ritavuori

            • Stefan Sasse 29. April 2023, 09:31

              Danke für den Hintergrund. Ich sehe auch, dass das durchaus eine „Gefahr für die Sicherheit“ ist, auf dem Level einerseits der Förderung interner Opposition und terorristischer Aktivität, aber relevanter ist natürlich das, was dann auch geschah: ein Bündnis im Falle eines Krieges mit anderen Großmächten, also ein opportunistischer Landgrab. Nur rechtfertigt das alles nicht den sowjetischen Angriffskrieg.

            • Thorsten Haupts 29. April 2023, 13:58

              Mehrere Aspekte sind sehr vergleichbar mit Zwischenkriegsdeutschland.

              Absolut möglich (nicht mein Interessengebiet). Nur eben auf der Basis eines um eine Zehnerpotenz geringeren Machtpotentials. Aber das entscheidet, ob übersteigerter Nationalismus für Nachbarn eine ernsthafte Gefahr darstellt. Vorausgesetzt – für Finnland unzutreffend – dieser Nationalismus übernimmt die Regierungsgewalt.

              Gruss,
              Thorsten Haupts

  • sol1 28. April 2023, 12:26

    Zum möglichen Fortgang des Kriegs kann ich den taz-Bundestalk von letzter Woche empfehlen:

    https://taz.de/Podcast-Bundestalk/!5929674/ (50:25 min)

  • cimourdain 29. April 2023, 08:03

    @Thorsten Haupts, Stefan Sasse
    Natürlich ist mir auch klar, dass Stalins Motivation nicht Leningrad betraf und auch nicht das unabhängige Finnland. Aber er war nun mal ein paranoider Psychopath (anders kann ich es nicht sagen), der vor allem im Inneren überall Feinde sah.
    Und da ist die relevante Befürchtung ein Wegbrechen der karelischen SSR gewesen. Auch dort gab es genügend Anhänger der großfinnischen Idee und auch die ‚Roten Finnen‘ waren nicht unbedingt sowjetloyal, viele waren ‚aus dem „Westen“ geflohen. Seine Politik der Säuberungen dürfte in Karelien ähnlich unbeliebt gewesen sein wie am Baltikum.
    Umgekehrt war die moderate Regierungspolitik (damit kein falscher Eindruck entsteht: die von mir oben beschriebenen rechten Kräfte haben diese nicht bestimmt) des unabhängigen Finnland international anerkannt und respektiert.

    • Stefan Sasse 29. April 2023, 09:32

      Ich hab nen großen Tip für Stalin: wenn du nicht deine Bevölkerung unterdrückst, Säuberungen durchführst und deine Nachbarn bedrohst, hast du vielleicht weniger Probleme mit solchen Sachen.

  • Ralf 30. April 2023, 20:08

    Anders als Finnland aber dürfte die Ukraine eine Einbindung in das westliche System erwarten können – ob nun mit offizieller NATO- und EU-Mitgliedschaft oder ohne.

    Die EU wäre völlig bescheuert, die Ukraine ohne NATO-Mitgliedschaft aufzunehmen. Die EU-Verträge enthalten eine Beistandsklausel. Das nächste Mal, wenn die Russen einmarschieren oder auch nur beschießen, wären Deutschland, Frankreich, Belgien etc. im Krieg gegen eine Atommacht. Oder aber man würde alternativ die Beistandsklausel ignorieren, womit die EU sich als terminal gescheiterter Schönwetterverein entlarven würde. Ach, wäre das verlockend für Putin …

    Wir werden uns folglich entscheiden müssen zwischen der Westintegration der Ukraine mit voller EU- und NATO-Mitgliedschaft. Außer den USA kann niemand die Sicherheit der Ukraine garantieren. Oder aber wir überlassen die Ukraine dem russischen Aggressor. Aber wozu dann die massive Aufrüstung des Landes und die Investitionen in eine Partnerschaft? Aus meiner Sicht läuft alles auf eine volle EU- und NATO-Mitgliedschaft der Ukraine hinaus. Die Frage ist nur, welche Gebiete Russland zuvor noch abspalten kann. Dabei wird die Krim fast sicher und der Donbas einigermaßen wahrscheinlich bei Putin’s bleiben.

    • Stefan Sasse 1. Mai 2023, 10:00

      Ich bin da gar nicht so sicher. Denn gerade die von dir genannten Probleme sind schon echte Hindernisse bei einer solchen Mitgliedschaft.

    • CitizenK 1. Mai 2023, 16:31

      Nach meiner Kenntnis muss der „Beistand“ nicht unbedingt aktiv-militärischer Natur sein. So gesehen ist das jetzt schon der Fall.

      • Ralf 1. Mai 2023, 16:49

        Dasselbe gilt für den NATO Paragraph 5. Auch der stellt es den NATO-Mitgliedern frei auf den Angriff gegen einen Partnerstaat mit denjenigen Mitteln zu reagieren, die sie für “notwendig” erachten. Diese Mittel müssen – laut Vertrag – nicht zwingend militärisch sein.

        Allerdings ist die Intention des NATO-Paragraphen, ebenso wie die der EU-Bündnisklausel, kristallklar. In dem Moment, in dem etwa Russland im Baltikum einmarschiert und die NATO-Partner nicht Panzer sondern eine Protestnote schicken, ist das Bündnis tot. Genau das Gleiche gilt für die EU.

        • Stefan Sasse 2. Mai 2023, 06:35

          Das Problem ist nicht der Beistandsparagraf; der der EU ist tatsächlich STÄRKER als der der NATO. Relevant ist die dahinterstehende Drohung. Und bei der NATO ist sie dank des US-Militärs glaubhaft. Wer glaubt denn, dass die Bundeswehr gegebenenfalls relevant die Ukraine verstärkt?

          • Ralf 2. Mai 2023, 08:08

            Meine Rede.

            Die EU-Beistandsklausel ist im Kontext des NATO-Paktes entstanden und allenfalls für die ferne Zukunft wollte Europa eventuell mal selbst unabhängig und verteidigungsfähig sein. Und es waren ja auch fast alle EU-Mitglieder gleichzeitig NATO-Mitglieder. Also alles kein Problem. Bis zum russischen Angriffskrieg mitten in Europa. Plötzlich waren Länder wie Finnland und Schweden extrem exponiert. Das Problem haben wir nun (Finnland) bzw. werden wir hoffentlich bald (Schweden) lösen. Dann bleibt nur noch Österreich, das bedroht ist. Aber Österreich ist wenigstens von NATO-Staaten umgeben.

            Aber die EU wird sich das Problem wohl kaum mit der Aufnahme der Ukraine erneut – und dann sogar in gewaltig verschärfter Form – ins Haus holen. Die NATO-Mitgliedschaft muss also eine zwingende Voraussetzung zum EU-Beitritt sein.

            Die Alternative ist eben weder EU-Mitgliedschaft noch NATO-Mitgliedschaft. Aber dann wird Europa keinen Cent in den Wiederaufbau der Ukraine stecken. Und dann wird auch keine Partnerschaft ausgebaut. Warum auch? Das Land wird dann doch eh ein paar Jahre später von den Russen einkassiert.

            Den Zustand hätte man billiger haben können. Aus meiner Sicht sind die gegenwärtigen Investitionen in die Ukraine – militärisch wie zivil – nur zu erklären, wenn man später vorhat, das Land nicht an Putin zu verlieren. Sprich NATO- und EU-Mitgliedschaft sind eingepreist.

            • Stefan Sasse 2. Mai 2023, 11:39

              Ich meine, Österreich ist ja quasi die Definition eines Trittbrettfahrers. Das ist ja noch übler als bei der Bundeswehr.

              Ich teile deine Einschätzungen.

  • cimourdain 1. Mai 2023, 12:05

    Es ist bemerkenswert, dass weder dem Autor noch einem Kommentator (selbst eingeschlossen) im Zusammenhang mit Finnland und (Nicht)Krieg in Europa irgendeine Verbindung zur Konferenz von Helsinki und der KSZE/OSZE geliefert hat.
    Das Kriegsdenken ist tief in die Köpfe gepflanzt worden.

    • Thorsten Haupts 1. Mai 2023, 13:10

      Jo, das bringt ein Angriffs- und Vernichtungskrieg in der Nachbarschaft halt so mit sich. Beschwerden an einen Herrn namens Putin.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

      • cimourdain 1. Mai 2023, 17:52

        Zur Orientierung: Der letzte Angriffs- und Vernichtungskrieg in der Nachbarschaft ging gegen Serbien. Herr Clinton hat sich nicht für meine Beschwerden interessiert.

        • Thorsten Haupts 1. Mai 2023, 18:30

          Mit freundlichem Verlaub – das ist schlicht eine Legende. Das war weder ein Angiffs-, geschweige denn, ein Vernichtungskrieg.

    • Stefan Sasse 1. Mai 2023, 16:12

      Weil das mit dem Thema nichts zu tun hat?

      • cimourdain 1. Mai 2023, 17:55

        Äh, doch, zumindest wenn du nicht die nächsten 40 Jahre kalten Krieg willst.

        • Stefan Sasse 2. Mai 2023, 06:36

          Sicher, die KSZE könnte unter Umständen eine Wiederauflebung erfahren. Aber da müsste erstmal eine neue Entspannung vorher kommen, und so weiter. Das ging mir dann doch zu stark in die Zukunft. Und die KSZE betraf ja nicht vorrangig Finnland.

          • CitizenK 2. Mai 2023, 08:33

            Grundlage der KSZE war, bestehende Grenzen nicht in Frage zu stellen. Wo willst du da bei Putin ansetzen?
            Das frage ich mich auch bei all den Offenen Briefen für „Verhandlungen“. Verstehen die das nicht? Putin ist ja noch nicht mal bereit, sich mit den von ihm geschaffenen neuen „Grenzen“ zufrieden zu geben.

    • Lemmy Caution 1. Mai 2023, 17:47

      Die Sowjetunion unter Breschnew war eine konservative Macht, die eine Konsolidisierung anstrebte, d.h. die Arrondierung des Zuwachses an Einfluß in der Nachkriegszeit. Putins Moskowien (o statt u) agiert aber revanchistisch. Die wollen als Großmacht anerkannt werden, ohne dafür die Voraussetzungen zu besitzen. Der Besitz von Atomwaffen alleine qualifiziert dich nicht als Großmacht. Dann wären Indien, Nord-Korea und Pakistan Großmächte.

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