John Green – The Anthropocene, reviewed (Hörbuch) (John Green – Wie hat Ihnen das Anthropozän bislang gefallen?)
Die Idee, dass wir im Anthropozän leben – also dem geologischen Zeitalter, dass sich durch die Gestaltungskraft des Menschen auszeichnet – ist mittlerweile ziemlich Standard geworden. Ob Plastik in den Weltmeeren, Versiegelung der Böden, Versalzung von Gewässern oder natürlich die allgegenwärtige Klimakrise – überall hinterlassen wir Menschen unseren Fußabdruck und verändern den Planeten. Auch das mittlerweile wohl sechste Massensterben geht auf unser Konto. Von den Dodos zu hawai’ianischen Singvögeln ist niemand vor unserer mörderischen Ignoranz sicher. In dieser Sammlung von Essays beschäftigt sich John Green mit den Facetten dieses Zeitalters und nähert sich der menschlichen Natur an. Es ist eine großartige, weit gefasste Reise durch das Anthropozän, persönlich und gleichzeitig allgemeingültig, wunderbar geschrieben und eindrücklich verfasst.
Anhand der kanadischen Wildgans etwa erkundet er das Verhältnis zwischen Tier und Mensch im Anthropozän: erst von Jägern bis zur Ausrottung gejagt, indem sie gefangene Wildgänse flugunfähig machten und als Köder nutzten – um die Köder aber wie geliebte Haustiere zu hätschen und zu pflegen – legte die Art nach Verbot des Lebendköders eine massive Erholung hin. Das Einerlei der Vorstädte bietet ihnen einen idealen Lebensraum, und in vielen Regionen des amerikanischen Suburbia sind die Wildgänse mittlerweile eine Pest. Trotzdem erinnern sie Green stets an die wilde Natur.
Das Verhältnis von Mensch und Tier spielt auch bei seinen Gedanken zu domestizierten Tieren eine Rolle. Fast alle Säugetiere, die auf der Erde existieren, sind Haus- und Nutztiere. Was uns nicht nützt, töten wir, wenngleich oftmals unbewusst durch Vernachlässigung, weil wir es nicht bewahren. Der einzige Schutz neben dem Faktor Nützlichkeit ist es, wenn die Jungtiere einer Spezies uns an unsere eigenen Babys erinnern. Ob das für oder gegen uns spricht, bleibt offen.
Diese Betrachtungen stehen neben mehreren Essays, die sich mit dem menschlichen Zeitverständnis und unserem Ort in der Zeit befassen. So zeigt Greene etwa, wie jung wir Menschen als Rasse sind. Elefanten sind um ein Vielfaches länger auf der Erde unterwegs als wir, und dasselbe gilt für eine ganze Reihe von Spezies, auch solche, die wir mittlerweile ausgerottet haben oder im Begriff sind auszurotten.
Gleichzeitig gibt es uns Menschen aber doch schon länger, als unser Geschichtsbewusstsein uns oft Glauben macht. Die Lascaux-Höhlenmalereien etwa sind rund 12.000 Jahre alt, und es gibt noch ältere Zeugnisse menschlichen Schaffens. So fremd uns die Malereien auch sind – bis heute ist unklar, welchen Zwecken sie dienten und was sie genau symbolisieren, und wir werden es wohl nie erfahren -, so vertraut ist uns der Aufwand, der zu ihrer Erstellung betrieben worde, inklusive dem Bau von Gerüsten. Auch, dass weltweit diverse Kulturen die gleiche Kunst unabhängig voneinander entwickelten ist ebenso faszinierend wie mysteriös.
Überhaupt, die Kunst. Green betont auch in mehreren Essays, dass wir Menschen eine kollaborative Spezies sind. Für ihn ist das ein bestimmendes Merkmal. Michelangelo bemalte die Sixtinische Kapelle nicht alleine, sondern mit einer Menge von Helfern, und für Green verblasst Edisons Leistung der Erfindung der Glühbirne vor der kollektiven Leistung der Schaffung eines Energienetzes, das in der Lage ist, Millionen und Abermillionen von Glühbirnen verlässlich mit Strom zu versorgen. Immer wieder lenkt er den Blick auf diese Wunder inkrementeller menschlicher Zusammenarbeit, ob in Kunst oder Technik.
Auch unser Verständnis vergangener Epochen stellt Green auf den Prüfstand, wenn er etwa über Velociraptoren spricht, jene Fleisch fressenden Dinosaurier, deren Popularisierung durch das „Jurassic Park“-Franchise so gar nichts mit den real existierenden Lebewesen zu tun hat – so wie auch die Dinosaurier im „Jura-Park“ mehrheitlich der Kreidezeit entstammen. Aber Fakten kommen nun mal nicht in den Weg einer guten Geschichte, und im Geschichtenerzählen sind wir Menschen spitze.
Was uns dabei nicht gelingt, ist alle Sinne anzusprechen. Zwar schaffen wir Bild und Ton sehr verlässlich, aber der Geruchssinn bleibt weiterhin unmöglich. Das 80er-Jahre Phänomen der Sratch-n-Sniff-Stickers dient Green dabei ebenso zur Veranschaulichung wie der fehlgeschlagene Versuch einer VR-Achterbahn, Meeresaromen zu simulieren.
Die Vielzahl der Essays lässt sich hier unmöglich wiedergeben, aber die Themen reichen weiter von Monopoly zur amerikanischen Platane, von der QWERTY-Tastatur zu Disney World, von der Pest zu Auld Lang Syne. Allen Essays ist gemein, dass sie sowohl subjektive Eindrücke Greens als auch allgemeingültige, weitreichende Überlegungen enthalten. Es ist gerade diese Verbindung des beinahe autobiografischen, das immer wieder in die Essays einfließt, und ihre Tiefgründigkeit, die den eigentlichen Reiz des Buches ausmachen.
Auch der Entstehungszeitraum spielt eine Rolle. Green schrieb es während der Corona-Pandemie, und dieses Thema dringt immer wieder in die Essays ein. Vieles, was früher selbstverständlich war, ging verloren. Soziale Kontakte brachen weg. Einsamkeit bestimmte das Leben vieler Menschen. Green zeigt, wie dies zu Brüchen in der menschlichen Erfahrung führt, aber auch, in welcher Kontinuität es steht, ist doch Corona nicht die erste Pandemie, die wir als Spezies erleben.
Das Werk ist auch das erste Buch, das mich zum Weinen brachte. In einem besonders berührenden Essay beschreibt Green seine Erfahrungen als Kaplan in einem Kinderkrankenhaus (und das Googlen von Namen). Ich will gar nicht weiter ins Detail gehen, aber ich musste während dieses Essays nicht ein-, sondern gleich zweimal Tränen verdrücken, und weil ich das Hörbuch hörte, war das am Bahnhof. Aber was muss, muss.
Überhaupt, das Hörbuch. Green spricht die englische Fassung des Hörbuchs selbst, und wer ihn und seine Videos kennt weiß, dass der Mann erzählen kann (er begann seine Schreibkarriere auch beim Radio). Allein deswegen sei es an der Stelle sehr empfohlen. Die Genese des Buchs, das sei zuletzt als Kuriosum erwähnt, kommt aus dem gleichnamigen Podcast Greens, in dem er viele der Themen bereits verarbeitet hatte; das Buch ist sozusagen eine Überarbeitung dieses Podcasts, eine Veredelung des Formats.
Ich gebe dem Buch 5 Sterne.
Von den Dodos zu hawai’ianischen Singvögeln ist niemand vor unserer mörderischen Ignoranz sicher.
Es gehört zu den wirkmächtigsten, albernsten und letztlich aber gefährlichsten Überzeugungen unserer Wohlstandsgesellschaft, dass Umweltschäden eine Folge unserer Bösartigkeit, unserer Ignoranz, unserer Kurzsichtigkeit und unseres Egoismus‘ sind. So nach dem Motto: Wenn wir uns alle nur nachhaltig verhalten und unseren Konsum etwas zurückfahren, wird das alles wieder ins Lot kommen.
Das stimmt leider nicht. Alle wesentlichen Umweltprobleme heute beruhen auf dem Umfang unseres Besiedlungsaktivitäten und dem Niveau unserer Zivilisation. Beides hat nichts mit „Ignoranz“ zu tun, und im Umkehrschluss lässt sich auch beides nicht durch mehr Vernunft lösen. 8 Mrd. Menschen (oder mehr) führen zwangsläufig zu den Effekten, die man allgemein unter „Anthropozän“ fasst.
Sicher, negative Zersiedelungseffekte kann man mildern, und wir sollten mit Hochdruck beginnen, menschliches Leben in möglichst wenigen möglichst großen Städten zu konzentrieren, um draußen wieder mehr Artenvielfalt zu ermöglichen. Aber selbst dann wird es allein durch die Landwirtschaft noch einen enormen menschlichen Fußabdruck geben.
Menschliche Flächennutzung (Besiedlung & Landwirtschaft) ist ein WESENTLICH größeres Umweltproblem als alles, was man normalerweise als Umweltproblem betrachtet. Einfach, weil wir damit anderen Arten Lebensraum wegnehmen. Das ist aber das Allererste, was eine Art nun mal zum Leben braucht. Die Menschen (insbesondere die moralisierenden Deutschen) lieben Fingerpointing, aber sie zeigen i.d.R. auf irrelevante Probleme. „SUVs sind das Problem“ – nein! Die Erschließung des gesamten Landes mit einem alles erfassenden Straßennetz ist das Problem!
Würde eine Senkung unseres zivilisatorischen Levels helfen? Nein. Selbst dann nicht, wenn wir den Level auf das Niveau von 1800 zurückschrauben. In diesem Fall würde wir viele, viele Erden nur für die Landwirtschaft benötigen. 8 Mrd. Menschen sind hungrig.
Also ist die beste Strategie, den nötigen Platz für Besiedlung & Landwirtschaft durch technische Mittel zu optimieren, und das geht nur mit einer technisch fortschrittlichen Zivilisation. An dieser Stelle sind wir heute. Wir können gewiss noch optimieren, doch der Fußabdruck der 8 Mrd. wird immer planetenprägend sein.
Und darum ist es Quatsch zu sagen: Wir machen den Planenten kaputt, weil wir böse/ignorant/egoistisch sind. Richtig ist: Wir machen den Planeten kaputt, weil wir da sind.
Jetzt kann man natürlich wohlstandsverlost sein und den Menschen ihre Existenz vorwerfen. Ich habe allerdings noch keinen Misanthropen erleben, der bei sich selbst mit der Problemlösung anfing.
Ich hoffe, es tat gut, dass aus deinem System rauszukriegen, weil das von dir Kritisierte da nicht stand, sondern du es nur reinprojizierst. Inhaltlich stimme ich dir zu.
Ich meinte Deine Wertung „mörderische Ignoranz“, die meiner Meinung nach sehr weit an der Realität vorbei geht. Wenn das gar nicht Deine Wertung ist – mea culpa.
Doch, die ist von mir. Das geht aber in meinen Augen nicht an der Realität vorbei; wir HABEN massenhaft Spezies gekillt, und wir taten es meist sehr, sehr ignorant. Da ist aber keine so heftige Wertung drin, wie du das empfindest, weil wie du sagst: es war wohl unvermeidlich.
Ich glaube, ich finde Deine Wertung trotzdem in prägnanter Weise falsch und irgendwie auch modisch. Sehr viele Leute reden heute sehr oft so.
Sicher! Aber das kannst du ja nicht einfach allen Leuten einfach mal unterstellen 😀
Zitat Tim:
„Ich habe allerdings noch keinen Misanthropen erleben, der bei sich selbst mit der Problemlösung anfing.“
Ich eigentlich auch nicht. Das hängt aber damit zusammen, dass gemäß Misanthropie eine Problemlösung gar nicht möglich ist. So definiert sich ja der Begriff. Alles andere wäre ja optimistisch und Fortschrittsdenken^.
Zitat Tim
„Und darum ist es Quatsch zu sagen: Wir machen den Planenten kaputt, weil wir böse/ignorant/egoistisch sind. Richtig ist: Wir machen den Planeten kaputt, weil wir da sind. “
Wenn das pure Dasein dasselbe ist wie kaputt machen, woraus logisch folgt: Ohne uns komischen Viecher wären die Dinge heile, dann ist das ja zweifelsohne ein typisch misanthropischer Befund; wesentlich gekennzeichnet durch die Ausweglosigkeit von „kaputt“.
Mit kaputt und heil steckt man jedenfalls eh tief in der Moral, was ja grundsätzlich kein Fehler ist, sogar unvermeidbar. Empirisch gibt es leider keine Auskünfte über diese Begriffe.
Danke!
Zustimmung, das Buch ist lohnend.
Der Podcast ist hier zu finden, so kann sich jeder selber ein Bild machen:
https://www.wnycstudios.org/podcasts/anthropocene-reviewed
@Tim: John Green ist weit weniger „moralisch“ als Stefan es darstellt. Er akzeptiert genauso die Tatsache, dass wir die Welt verändern (nicht einmal zwingend kaputtmachen), einfach weil wir da sind. Aber er zeigt, wie verzweigt und überraschend die Wechselwirkung zwischen menschlichem Handeln und der Welt sind.
Ich stell ihn doch gar nicht als moralisch dar…?!
Hmm, interessant und danke für die engagierte Rezension. Hört sich aber alles ziemlich schopenhauerhaft an 🙁 . Im Menschen kann sich die Natur offenbar nur geirrt haben…..
Zitat:
“ oder natürlich die allgegenwärtige Klimakrise – überall hinterlassen wir Menschen unseren Fußabdruck und verändern den Planeten. Auch das mittlerweile wohl sechste Massensterben geht auf unser Konto. Von den Dodos zu hawai’ianischen Singvögeln ist niemand vor unserer mörderischen Ignoranz sicher. “
….denn wenn das so ist, dann sind wir schon ziemlich scheisse.
Allerdings wird das „Anthropozän“ ja nur unterstellt, seitdem Homo sapi signifikante „Gestaltungskraft“ im Hinblick auf Mutter Erde nebst Atmosphäre hat; ab wann genau das angenommen werden kann ist wie üblich umstritten, aber jedenfalls waren „wir“ prä-anthropozänisch zum knackigen intervenieren zwar offenbar noch zu doof, aber das Leben war auch äußerst ungemütlich und jederzeit gefährlich, d.h. das Prä-Anthropozän war vermutlich alles andere als ein Grund zum jubeln und hat den Leuten wohl nicht so doll gefallen, um im Buchtitel zu bleiben.
Ohne all die Anthropozän-Sachen könnten übrigens unmöglich ca. 8 Milliarden von „uns“ aktuell rumlaufen, also kann sich jede(r) – insbesondere die auf dem komfortablen Sonnendeck – mit dem unangenehmen Gedanken befassen, ohne dieses Zeitalter gar nicht vorhanden zu sein und somit nicht die Gelegenheit zu haben, am Anthropozän rumzumosern.
Zitat:
„und in vielen Regionen des amerikanischen Suburbia sind die Wildgänse mittlerweile eine Pest“
Die Wildgänse könnten aber auch denken, wir sind die Pest. Es ist gar nicht so einfach festzustellen, wer da Recht hat.
Hängt mit der komischen Auffassung zusammen, dass das, was wir wollen, auch die Natur als Ganzes wollen muss, alles andere wäre „unvernünftig“. Wenn wir z.B. Ratten hassen, muss die Natur die auch hassen. Ist aber offenbar nicht so, denn dann gäbe es die ja gar nicht.
Also, ob die Natur überhaupt nett zu uns sein will, ist eine offene Frage, falls die überhaupt was will, also finalistisch Zwecke verfolgt. Klar ist allerdings, wer der Stärkere ist, wenn wir da „gestalterisch“ zu viel Stress machen.
Zitat:
„So zeigt Greene etwa, wie jung wir Menschen als Rasse sind.“
200.000 Jahre oder so werden IMHO wohl angenommen. Das ist für die Naturzeit insgesamt , also die Zeit ab Urknall, nicht mehr als ein Furz. Falls der Furz mal vergeht, herrscht wieder Ruhe.
Hört sich aber alles ziemlich schopenhauerhaft an . Im Menschen kann sich die Natur offenbar nur geirrt haben…..
Ne, gar nicht. Das Buch feiert die Menschheit, das Anthropozän und unsere Gegenwart ziemlich. Nur redet er halt auch über die Schattenseiten.
Gestaltungskraft vor dem Antropozän hatte der Mensch genug, wahrscheinlich hat er den Großteil der Megafauna ausgerottet.