Beobachtungen aus der Zweitkorrektur

Eine der schönsten alljährlich wiederkehrenden Pflichten von Lehrkräften ist die Korrektur der Abiturprüfungen. Die Ironie, die aus diesen Zeilen trieft, wird hoffentlich deutlich; nach der Aufsicht dieser Prüfungen ist ihre Korrektur vermutlich die unangenehmste Pflicht für Lehrkräfte überhaupt, zumindest für mich. Ich habe dabei dieses Jahr (und auch in den vergangenen) einige Beobachtungen gemacht, die die ich hier teilen möchte und die mich ärgern. Ich stehe quasi in der Tradition von Bob Blume (Spiegel-Bestsellerliste, ich komme…!), auch wenn ich die zehn Dinge vermutlich nicht voll bekomme.

Einführung für Anfänger*innen

Für diejenigen, die das Prozedere des Abiturs hier in Baden-Württemberg nicht kennen (ich nehme an: fast alle), hier kurz die Basics. Die Schüler*innen (und/oder in manchen Fächern die Lehrkräfte) bekommen eine Auswahl an Aufgaben, aus der sie eine bestimmte Menge auswählen dürfen beziehungsweise müssen. Die Lehrkräfte wissen vorher üblicherweise nicht, was genau aus den Pflichtthemen drankommen wird; in jedem Fall wird nicht alles, was Thema ist, auch aktiv abgefragt. Das ist für die Schüler*innen eher nachteilig, weil die Abituraufgaben ins Detail zu gehen pflegen, weswegen viel gelernter Stoff „umsonst“ gelernt wurde. Für das Lernziel ist das natürlich durchaus so beabsichtigt; schließlich sollen mehr Fähigkeiten als bloßes auswendig Lernen abgeprüft werden.

In Deutsch sind das am allgemeinbildenden Gymnasium drei Aufgaben, die durch das Kultusministerium aus sechs potenziellen Aufgabenformaten ausgewählt werden. Es werde vier Pflichtlektüren gelesen, von denen zwei im einen und zwei im anderen Aufgabenformat abgeprüft werden (was bedeutet, dass man alle vier kennen muss). Die zweite Aufgabe ist entweder eine Gedichtinterpretation oder ein Gedichtvergleich (meist, aber nicht immer, ein Vergleich) oder eine Kurzgeschichteninterpretation. Und die letzte Aufgabe ist eine Texterörterung mit Schwerpunkt entweder auf der Erörtertung oder der Analyse oder ein Kommentar. In Deutsch am beruflichen Gymnasium sind das vier Aufgaben; die ersten beiden weitgehend identisch mit dem allgemeinbildenden Gymnasium, die dritte Texterörterung in den beiden genannten Varianten und die vierte der Essay.

In Geschichte stehen am allgemeinbildenden Gymnasium entweder die Entwicklung der Moderne (weitgehend 19. Jahrhundert) oder das geteilte Deutschland un der Kalte Krieg im Abitur auf dem Tablett. Am beruflichen Gymnasium, wo das Fach mit Gemeinschaftskunde kombiniert ist, sind es Weimar/Nationalsozialismus, Kalter Krieg/geteiltes Deutschland, politische Partizipation und Sicherheitspolitik/Außenpolitik. Ab dem Abitur 2024 sollen diese Themen in der Prüfung miteinander verknüpft sein, was ganz neue Herausforderungen für die Schüler*innen bereitstellen wird.

Warum ich das alles erkläre wird gleich deutlich werden, aber vorher brauchen wir noch Kontext zum Korrekturverfahren. Die Abiturarbeiten werden von den jeweiligen Fachlehrkräften erstkorrigiert, dann anonymisiert und an eine (ebenfalls anonyme) Zweitkorrekturschule weitergeleitet, wo sie dann zweitkorrigiert werden. Weichen die Noten von Erst- und Zweitkorrektur zu weit voneinander ab, gibt es zudem eine ebenfalls anonyme Drittkorrektur. Es ist ein sehr aufwändiger und sehr sorgfältig durchgeführter Prozess, was nicht unerheblich zur Belastung der Schulverwaltung, Schulleitung und beteiligten Lehrkräfte beiträgt.

Nachdem wir die Basics aus dem Weg geräumt haben, können wir nun zu meinen Ärgernissen kommen.

Themenwahl

Die Möglicheit, aus verschiedenen Themen wählen zu können, gehört zentral zur Natur des Abiturs. Dadurch wird garantiert, dass ein möglichst breiter Teil des Bildungsplans prüfungsrelevant ist, dass unterschiedliche Interessen und Fähigkeiten gleichermaßen zum Zuge kommen und dass das Abitur eine ALLGEMEINE Hochschulreife ist. In der Theorie. Die Umsetzung führt zu Problemen. Die Bildungspläne sind notorisch zu voll, so dass alleine das Unterrichten des prüfungsrelevanten Stoffes „Mut zur Lücke“ erfordert, was angesichts dessen, dass die Lehrkraft keinerlei Einfluss auf die Aufgabenstellungen hat, immer eine Wette auf Kosten der Schüler*innen ist.

Allzu häufig wählen Lehrkräfte daher einen Weg, den ich stark ablehne: sie unterrichten manche Themen nicht oder nur sehr oberflächlich und legen den Schüler*innen dringend nahe, bestimmte Themen in der Prüfung nicht zu nehmen. Es gibt wenig Dinge, die mich so wütend auf Kolleg*innen machen wie das. Ich finde es ein absolutes Unding. Woher weiß ich, dass die Leute das machen? Einerseits, weil genügend Kolleg*innen es offen zugeben. Aber bei der anonymisierten Zweitkorrektur gibt es ebenfalls klare Anzeichen.

Einige Beispiele von diesem Jahr. In Geschichte hatte ich eine Zweitkorrektur mit insgesamt elf Aufgabensätzen. Alle elf wählten die erste Teilaufgabe. Nun kann es natürlich sein, dass alle elf Schüler*innen zufällig ein Faible für den Nationalsozialismus und die Weimarer Republik hatten. Wahrscheinlich ist das aber nicht. Dasselbe Spiel in Deutsch, wo von 14 Arbeiten immerhin zwei nicht dieselbe Aufgabe wählten. Bei fünf verfügbaren Aufgaben ist das kein Zufall.

In Deutsch betrifft das in der Mehrzahl der Fälle die Literaturaufgabe. Sie ist die „lernbarste“ und damit berechenbarste der Aufgaben (in den letzten Jahren wurde deswegen in gleich zwei Reformschritten der Versuch unternommen, diese Aufgabe schwerer zu machen, was auch gelungen ist). Da die Lektüren gleichzeitig die größte Unterrichtszeit verbrauchen, ist das nur nachvollziehbar. Ich habe schon diverse Male von Kolleg*innen gehört (Vorsicht, anekdotische Evidenz) dass sie die Schüler*innen NUR die Lektüren vorbereiten.

Das Problem ist dabei einfach, dass den Schüler*innen damit aktiv Chancen genommen werden. Zwar sind die Lektüren durchaus die breitenwirksamste Aufgabe; irgendwie kriegen alle da was hin. Es macht also, wenn man Dinge ausschließt, Sinn, nicht die Lektüren auszuschließen, sondern Kurzgeschichte oder Erörterung (die unberechenbarsten Formate). Aber es nimmt den Schüler*innen die Möglichkeit, ein Abitur mit ihren eigenen Schwerpunktfähigkeiten zu schreiben, einmal davon abgesehen, dass das Thema dann meist auch nicht richtig unterrichtet wird und die Kompetenzen deswegen komplett fehlen.

Mich macht das bei der Korrektur immer total wütend. Ich halte es für unprofessionell und unfair gegenüber den Schüler*innen.

Methodische Schwächen

Eine weitere Sache, die mich wahnsinnig ärgert, ist, wenn offenkundig eine Klasse methodisch nicht richtig unterrichtet wurde. Das mache ich daran fest, dass ein ganzer Satz Aufgaben denselben Fehler hat. Ein Beispiel: ich hatte in der Zweitkorrektur einen Satz Kommentare. Alle diese Kommentare waren gleich aufgebaut – gleich falsch. Die Qualität innerhalb dieses falschen Aufbaus schwankte stark, aber diesen falschen Aufbau hatten sie alle. Die einzige Erklärung dafür ist, dass es dem Kurs so beigebracht wurde.

Das stellt mich als zweitkorrigierende Lehrkraft vor in Dilemma. Entweder ich sehe über diesen Fehler hinweg, was ich eigentlich nicht darf und was gegenüber all denjenigen, die es richtig gemacht haben, unfair ist. Oder ich strafe einen kompletten Kurs ab und benote ihr Abitur schlecht, weil ihre Lehrkraft sie nicht richtig unterrichtet hat. Für mich ist das eine wahnsinnig unangenehme Situation.

Und das passiert leider immer wieder, gerne auch in Verbindung mit dem gerade erläuterten Themenwahl-Problem. Man kriegt dann einen Kurs, in dem fast alle dieselbe Aufgabe haben – sehr wahrscheinlich von der Lehrkraft entsprechend instruiert – und dann ist es auch noch falsch. Es läge nahe anzunehmen, dass das der Lehrkraft Probleme verursacht. Aber weit gefehlt.

Fehlende Feedback-Schleife

Der Abiturprozess ist anonymisiert. Das ist einerseits gut, weil es eine maximale Objektivität bei der Korrektur erlaubt. Ich korrigiere Nummern – einen Aufsatz von Schüler*in 004 aus Schule 793, um zwei erfundene Beispiele zu nennen – so dass persönliche Vorlieben nicht hineinspielen können. Treten sie bei der Erstkorrektur auf, werden Zweit- und Drittkorrektur sie fast sicher eliminieren. In diesem Sinne ist das System absolut vorbildlich und funktioniert auch sehr gut. Ich merke jedes Jahr aufs Neue, dass meine natürliche Neigung, „meinen“ Schüler*innen entgegenzukommen und sie nachsichtig und zu ihrem Vorteil zu korrigieren bei Zweitkorrekturen völlig fehlt. Das sind Nummern, und so behandelt man sie auch. Ohne zwei bis drei Jahre vorhergehenden Unterricht und ihre Gesichter vor Augen fehlt jeder emotionale Bezug. Das ist beabsichtigt.

Ein Problem ist diese Anonymität, weil sie keinerlei Rückmeldungen erlaubt. Ich erfahre zwar als Lehrer, welche Noten Zweit- und gegebenenfalls Drittkorrektur ergeben haben (die Schüler*innen erfahren nicht einmal das, sie bekommen nur die Endnote, ohne irgendeine Begründung), aber als Zweitkorrektor erfahre ich gar nichts. Ich erfahre nicht, ob es eine Drittkorrektur gab, was am Ende herauskam, nichts. Ich korrigiere in ein Vakuum hinein.

Das ist blöd, denn wenn ich bei der Korrektur etwas falsch mache, werde ich das nie erfahren. Als Erstkorrektor sehe ich zwar vielleicht, dass die Noten der Zweitkorrektur abwichen und kann aus der Drittkorrektur Rückschlüsse ziehen, ob ich oder die Zweitkorrektur falsch lagen. Aber was der Grund war, was gegebenenfalls meine Schuld war, das weiß ich nicht. Ich kann also im nächsten Jahrgang nichts verbessern. Das ist extrem unbefriedigend und im Falle der oben genannten Probleme doppelt blöd, weil die Kolleg*innen nie eine Rückmeldung darüber bekommen werden, dass sie Fehler in der Unterrichtsplanung machen.

Aufgabenstellungen

Wegen der unter „Themenwahl“ schon besprochenen Fülle des Bildungsplans und „Mut zur Lücke“ gilt, dass diejenigen Teile des Bildungsplans, die nicht in der Prüfung vorkommen, häufig gar nicht unterrichtet werden (oder pro forma auf die Zeit nach den Klausuren geschoben werden, in denen Anwesenheit und Aufmerksamkeit eher mies sind). Das hat jetzt nicht direkt mit der Zweitkorrektur, sehr wohl aber mit dem Abiturprozess generell zu tun.

Offiziell verlangt der Bildungsplan, alle Teile gleichermaßen zu unterrichten, ob abiturrelevant oder nicht. Aber das ist völlig illusorisch, und jeder weiß es. Ich war letzthin in einer Fortbildung, wo deswegen richtig miese Stimmung war, weil die Fortbilder*innen natürlich auf der Gleichwertigkeit aller Inhalte bestehen mussten, während die Lehrkräfte entgeistert fragten, wie das gehen solle – und keine brauchbaren Antworten erhielten und auch nicht erhalten konnten.

Das ist vor allem deswegen ärgerlich, weil diese Inhalte natürlich nicht die übliche hochkulturelle Schiene betreffen (über die ich mich ja bereits hier ausgiebig beklagt habe), sondern „weiche“ Themen. Wenn also die Politik mal wieder verkündet, dass man jetzt auch moderne Inhalte wie Filmanalyse oder gesellschaftlich relevante Dinge wie Demokratiebildung im Bildungsplan verankert hätte, ist das schon wahr. Nur, die werden üblicherweise nicht unterrichtet, weil sie zu dem Teil des Bildungsplans gehören, der zuverlässig bis zum Ende des Schuljahrs aufgeschoben wird, wo dann wegen Aufsichten, Exkursionen und Feiertagen eh ständig was ausfällt und dann kommt man nicht mehr dazu. Schade, aber nächstes Jahr bestimmt!

Welche Inhalte im Abitur abgeprüft werden, ist im Vornherein festgelegt. So weiß ich zum Beispiel, dass die Geschichte der EU im schriftlichen Abitur nicht abgeprüft wird. Wie ausführlich also mache ich sie im Unterricht? Dinge, die gar nicht im Bildungsplan sind, die ich aber gerne machen würde – die Balkankriege der 1990er etwa oder die Agenda2010 – würden immer auf Kosten der Abiturvorbereitung gehen. Das zwingt mich als Lehrkraft ständig dazu, eine Abwägung zwischen Prüfungsvorbereitung und damit den alles entscheidenden Noten einerseits und sinnvollen, interessanten Lerngegenständen andererseits zu treffen, für die es aber effektiv keine Note gibt. Das ist, gelinde gesagt, scheiße.

Es wäre leichter zu ertragen, wenn nicht innerhalb der Themen auch noch eine Monothematik vorherrschen würde. Es ist ja nicht so, als würde je die „Goldenen Zwanziger“ oder die NS-Wirtschaftspolitik Gegenstand einer Prüfung wäre. Ich kann den Schüler*innen bereits im Vornherein die Themenbereiche nennen, die sehr wahrscheinlich drankommen werden, weil sie jedes verdammte Jahr drankommen. Nur als Beispiel für Weimar: Revolution, Krisenjahr 1923, Scheitern/Präsidialkabinette. Mit einer Außenseiterchance für die Außenpolitik Weimars. In den anderen Bereichen sieht es ähnlich aus, in Deutsch genauso.

Das hilft den Schüler*innen zwar, was ihre Noten angeht. Aber für ihr Wissen, für ihre Fähigkeiten und für ihre Interessen wie auch für die Möglichkeit, den Unterricht zu individualisieren und von Kenntnisschwerpunkten der Lehrkraft zu profitieren ist es furchtbar.

Fazit

Das alles sind Dinge, die mich am Abiturprozess massiv stören und die weitgehend bei meiner diesjährigen Zweitkorrektur aufgekommen sind. Das ist bei weitem keine abschließende Kritik an dem Prozess, und wir sind noch gar nicht bei den grundlegenden Problemen (wie sinnvoll ist unsere Prüfungskultur überhaupt?). Aber ich hoffe, dass es für Nicht-Lehrkräfte verständlich und interessant war und freue mich, wenn es Anstoß für eine Diskussion ist.

{ 28 comments… add one }
  • Tim 7. Juni 2022, 08:43

    Mich macht das bei der Korrektur immer total wütend. Ich halte es für unprofessionell und unfair gegenüber den Schüler*innen.

    Man sollte Abiturprüfungen nicht überschätzen. Was Schüler in der Oberstufe im Einzelnen lernen, ist doch weitgehend egal. Wichtig ist, dass Lehrer Begeisterung für ihr Fach wecken, so dass die Schüler nach der Schule wissen, was sie am meisten interessiert und welchen Weg sie weitergehen möchten. Fachlich müssen sie im Studium sowieso wieder bei null anfangen.

    Der richtige Weg wäre meiner Meinung, Schüler am Ende ihre Lehrer bewerten zu lassen. Das ist die Personengruppe, die eine bewertungsrelevante Leistung abgegeben hat und die ja schließlich auch dafür bezahlt wird.

    • Stefan Sasse 7. Juni 2022, 10:56

      Glaub mir, wenn’s nach mir geht, hätten wir den ganzen Buhei nicht. Aber leider nehmen sehr viele Leute diese Prüfungen sehr wichtig, insbesondere solche, die über die Zukunft der Schüler*innen entscheiden. Und ich muss als Lehrkraft erstens die Verordnungen umsetzen und zweitens im Interesse der Schüler*innen handeln. Letzteres ist leider optional, aber für mich gehört das essenziell zum Job.

      • Tim 7. Juni 2022, 11:23

        War nicht @Dich, sondern eher @Bildungsbürokratie. 🙂 Mir ist klar, dass Du zu den guten Lehrern gehörst und mit dem System sicher nicht immer glücklich bist. Ich staune immer wieder, wie schlecht das Bildungssystem organisiert ist und welche Fehlanreize es setzt.

        • Stefan Sasse 7. Juni 2022, 12:42

          Danke, zu viel der Ehre 🙂

          Aber ja, Pfadabhängigkeiten führen in jeder Instutition zu dummen Mechanismen 🙁

    • Thorsten Haupts 7. Juni 2022, 14:48

      Fachlich müssen sie im Studium sowieso wieder bei null anfangen.

      Erzählen´s das mal ehemaligen Maschinenbaustudenten der RWTH Aachen … Ich sag mal so – ohne ausreichende Mathe-Oberstufenkenntnisse bzw. mit denen aus besonders schlechten Gymnasien wird das in vielen Studiengängen ein richtig mühsamer Weg. Natürlich kann man Politikwissenschaft oder Lehramt einfacher haben :-).

      Gruss,
      Thorsten Haupts

  • einfachnurRoland 7. Juni 2022, 09:13

    Ach war das zu meinen Zeiten noch schön, zwei Jahre vor Pisa.
    Ich hatte einen LK in Petergogik und einen in Bio, der direkt mit Sowi als vierten Abifach gekoppelt war. Damals wurde ja noch auf die Uni in Richtung Diplom vorbereitet. Da zählten noch Inhalte! Heute sind Unis auch nur noch Berufsschulen, damit unsere geliebte Freiwirtschaft ihre immensen Ausbildungskosten sozialisieren kann und es zählt die Bereitschaft alles zu lernen, was man vorgesetzt bekommt.
    Mal ehrlich Stefan: gute Noten sind was für Mediziner. Und ob man denen ein Buch über Bosniens jüngere Geschichte, den Pschyrembel oder ein Telefonbuch hinlegt ist doch eh‘ Wumpe…

    • Stefan Sasse 7. Juni 2022, 10:57

      Erstens teile ich deine düstere Sicht auf die Schule heute und die rosige auf die von gestern nicht und zweitens siehe meine Antwort zu Tim: Leider ist der ganze Kram ziemlich wichtig.

  • Thorsten Haupts 7. Juni 2022, 09:39

    Auch wenn Bildungspolitik vor 25 Jahren mal mein Schwerpunktinteresse war, bin ich zu einem umfangreichen Kommentar nicht ausreichend kompetent.

    Deshalb nur eine Bemerkung zu dem zentralen Thema des Blogartikels, der beobachtbaren Tatsache, dass Lehrkräfte wie Schüler in einem gegebenen Setting mit Schwerpunkt immer auf die Prüfungen hinarbeiten: Ich habe das Thema vor 30 Jahren für mich abgehakt. Es gibt, solange Prüfungen existieren, überhaupt keine menschlich umsetzbare Möglichkeit, Prüfungslernen zu vermeiden. Hat man Prüfungen, konzentrieren sich Schüler wie Lehrer an Schulen wie an Universitäten zwangsläufig auf prüfungsrelevante Inhalte, case closed.

    Will man das vermeiden, gibt es nur einen Weg – Prüfungen abschaffen. Halte ich selbst als Utopie für völlig irreal, nach meiner Lebenserfahrung wäre selbst eine Mehrheit der Schüler/Studenten dagegen, solange ihr Bildungsabschluss de facto gleichzeitig die Berufseintrittsprüfung darstellt.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 7. Juni 2022, 10:57

      Völlig richtig. Ich plädiere auch weniger dafür, sie komplett abzuschaffen, als die rigiden Muster zu durchbrechen und sie flexibler (und damit gleichzeitig anspruchsvoller) zu machen.

      • Thorsten Haupts 7. Juni 2022, 14:50

        Hmmm. Will Dir die Illusionen nicht nehmen – aber ein perfektes oder auch nur nahezu perfektes System ist IMHO ausgeschlossen und die Suche danach Zeitverschwendung. Die Gründe dafür liegen in der menschlichen Natur (der Lehrkräfte wie der Schüler/Studenten).

        • Stefan Sasse 7. Juni 2022, 16:07

          Diese Illusion habe ich auch nicht, keineswegs. Alles hat Vor- und Nachteile. Ich hätte nur gerne ein weniger schlechtes.

  • Tim 7. Juni 2022, 10:19

    solange ihr Bildungsabschluss de facto gleichzeitig die Berufseintrittsprüfung darstellt.

    Für meinen Bereich (IT) kann ich nur sagen, dass Zeugnisse oder Abschlüsse überhaupt keine Rolle mehr spielen. Bewerber legen sowas seit langem nicht mehr bei und erwähnen es nur am Rande. Selbst Fachkenntnisse sind nicht mehr unbedingt entscheidend, da Leute mit dem richtigen Antrieb sich alles schnell aneignen können. Eigentlich geht es heute vor allem um Persönlichkeit und Engagement.

    Ich kenne allerdings auch die Situation im öffentlichen Dienst ganz gut, und dort sind Zeugnisse weiterhin extrem einflussreich. Man fühlt sich in die 80er zurückversetzt.

    • Stefan Sasse 7. Juni 2022, 10:58

      Du brauchst sie halt, um überhaupt in die Lage zu kommen, bei dir eine Bewerbung zu schreiben. Oder stellt ihr direkt Abiturient*innen ein? Üblicherweise steht da ein Studium davor, und gerade da spielen Noten die entscheidende Rolle.

      • Tim 7. Juni 2022, 11:19

        Nein, Noten spielen bei uns überhaupt keine Rolle. Du meinst wahrscheinlich die Schulnoten, die über die Zulassung zum Studium entscheiden. Das ist eine der Stellen, an denen Deutschland mutwillig Zukunft verschenkt. NC-Hürden sind die hilflose und bescheuerte Antwort des Staates auf die Frage, wie man Studienzahlen selektiv begrenzen kann. Bildungsbürokraten versuchen hier, ein Problem zu lösen, das sie selbst geschaffen haben.

        • Stefan Sasse 7. Juni 2022, 12:42

          Na, das geht schon über die Bürokratien hinaus. Auch in vielen Unternehmen sind die Schulnoten weiterhin die entscheidende Kerngröße, zumindest für die Vorauswahl. Dass dann bei mehreren ähnlich qualifizierten Bewerber*innen andere Faktoren herangezogen werden ist klar.

  • Detlef Schulze 7. Juni 2022, 12:08

    In meiner Abi-Pruefung im Leistungskurs Mathe konnte man waehlen ob man 2 Aufgaben lineare Algebra oder nur eine Aufgabe der lin. Algebra und eine weitere Aufgabe der Stochastik loesen wollte. Ich war der einzige in der gesamten Schule, der die Stochastik -Aufgaben bearbeitet hat. Waehrend die linearen Algebra-Aufgaben das gesamte Lernspektrum abgedeckt haben, ging es in Stochastik nur um die elementarsten Dinge (3 Wuerfel, 5 bunte Kugeln etc.) und der schwere Kram wurde nicht abgefragt. Der Teil war also wesentlich leichter, als die entsprechende Klausur im Unterricht.

    Das die anderen Schueler sich die Stochastik-Aufgabe (wahrscheinlich) zum Teil nicht mal angeschaut haben, lag aber sicher nicht am Lehrer. Stochastik wurde wesentlich ausfuehrlicher gelehrt, als es fuer die Pruefung noetig war und die Lehrerin hat auch extra darauf hingewiesen, dass diese Aufgaben in der Vergangenheit recht einfach waren aber haeufig ignoriert wurden. Offensichtlich haben manche Menschen einfach eine grundlegende Aversion vor bestimmten Themen, die dann das Denken blockiert. Das muss nicht Zwangslaeufig die Schuld der Lehrer sein. Allerdings merkt man schnell ob es am Lehrer liegt, wenn man die Ergebnisse von unterschiedlichen Schulen miteinander vergleicht.

    • Stefan Sasse 7. Juni 2022, 12:43

      Exakt, deswegen argumentiere ich ja mit der Zweitkorrektur. Meine anekdotische Evidenz ist zudem leider (aus Berichten sowohl von Schüler*innen als auch Lehrkräften), dass das sehr häufig vorkommt.

  • Stefan Pietsch 7. Juni 2022, 13:02

    Eine der schönsten alljährlich wiederkehrenden Pflichten von Lehrkräften ist die Korrektur der Abiturprüfungen.

    Das ist ein guter Einstieg um aufzuzeigen, was mich an der Argumentation des Artikels so wahnsinnig stört. Es geht um die Befindlichkeiten einer Branche, eines Bereichs, während in anderen in gleichen Dinge durchaus völlig anders betrachtet werden dürfen.

    Die Bildungspläne sind notorisch zu voll, so dass alleine das Unterrichten des prüfungsrelevanten Stoffes „Mut zur Lücke“ erfordert, was angesichts dessen, dass die Lehrkraft keinerlei Einfluss auf die Aufgabenstellungen hat, immer eine Wette auf Kosten der Schüler*innen ist.

    Der Satz suggeriert, es gäbe ein „Okay“-Maß. Das gibt es nicht. Übrigens haben wir in allen Bereichen des Öffentlichen die Angewohnheit, noch etwas mehr könne nie schaden. Wenn es aber das „Okay“-Maß nicht gibt, dann gibt es entweder Zuviel oder Zuwenig. Deutsche Schüler gelten im internationalen Maßstab weder als besonders allgemein gebildet noch besonders spezialisiert. In Deutschland herrscht in diesem Fall das ungesunde Mittelmaß. Ein Zuwenig wäre also mit Sicherheit schadhafter als ein Zuviel. Wer die Kritik übt, muss sich damit auseinandersetzen, wie modernen internationalen Lernanforderungen Genüge getan werden kann.

    Vor allem wird ein uniques Verständnis von Prüfungen aufgezeichnet. Lehrbuchhaft gesprochen zählen Prüfungen zum Bereich der Überwachungsmaßnahmen. Mit Prüfungen sollen der Allgemeinheit ein bestimmtes Sicherungsniveau vermittelt werden. Die Prüflinge erfüllen bestimmte Standards. Das kann bei Abiturienten nicht anders sein als sonst im Leben.

    Dazu zeichnen sich Prüfungen dadurch aus, dass sie prozessunabhängig vorgenommen werden. Weder wird alles, also jede Einzelheit des Prozesses geprüft noch weiß der zu Prüfende, was aus dem gesamten Prüfungsobjekt drankommt. Bei einer Steuerprüfung kann sich der Steuerbürger auch nicht damit entschuldigen, dass außerhalb der geprüften Sachverhalte alles pickobello war. Im Gegenteil: Viele in Deutschland, so sie eben nicht geprüft werden, haben nicht das geringeste Problem, dass in diesem Bereich die Prüfungen oft besonders unfair sind.

    Unschönes Wort: Was ist fair? Es liegt in der Natur von Prüfungen, dass es zum Bestehen oder für die gute Bewertung auch etwas Glück bedarf, vor allem, wenn der Prüfungsstoff sehr umfangreich ist. Das ist bei der Führerscheinprüfung nicht anders als beim Wirtschaftsprüferexamen. Ich gehöre zu einem Jahrgang, der es im BWL-Examen besonders hart erwischte. Die Noten des Jahrgangs waren durch die Bank schlechter. In die mündliche Prüfung im Fach betriebswirtschaftliche Steuerlehre durften wir uns das jeweilige Prüfungsthema aussuchen. Geprüft wurde immer in Dreiergruppen. Ich kam mit zwei jungen Frauen dran.

    Es gehört zum Allgemeinwissen, dass internationales Steuerrecht zu den schwierigsten Fachgebieten überhaupt gehört. Unter den Prüfungsanordnungen war es also durchaus strategisch richtig, diesen Bereich nur oberflächlich zu lernen und sich auf andere zu konzentrieren. Leider hatte ich die Rechnung ohne meine Kommilitoninnen gemacht. Ich weiß bis heute nicht warum, aber sie entschieden sich beide für Internationales. Damit war die Entscheidung gefallen. Es tröstet mich immerhin bis heute, dass beide durchfielen, obwohl ich sonst nicht zur Schadenfreude neige.

    Das Beispiel zeigt: selbst wenn Prüflinge selbst das Prüfungsgebiet wählen können, kommt nicht unbedingt was Vernünftiges dabei heraus. Und mit Fairness hat das auch nichts zu tun.

    Allgemein störend scheint für Dich der Pear Review zu sein. Solche Zweitprüfungen schreibt der Staat zur Qualitätssicherung inzwischen in sehr vielen Bereichen vor. Das gilt z.B. auch, man ahnt es, in der Wirtschaftsprüfung und bei Steuerprüfungen. Prüfen, prüfen, prüfen. Es geht nicht, dieses Prinzip für sich selbst abzulehnen, es aber im generellen zu fordern und für richtig zu halten. Das ist klassisches Cherry Picking.

  • Kirkd 7. Juni 2022, 13:59

    Ich sehe die Probleme ähnlich wie Du. Als ich in Bayern Abitur gemacht hatte, war das auch so.

    In Physik hiess es immer, Kernphysik machen wir nur in Grundzügen, dann können wir uns auf die anderen 3 Bereiche fokussieren. Dumm nur, wenn die Eletrotechnik – Aufgabe total abgespaced ist …

    In Geschichte hat unsere Lehrerin gesagt, Nachkriegszeit kommt nicht dran.
    Es bestand dann Auswahl zwischen „Bayerische Autonomiepolitik seit 1806“ (LOL), Stresemanns Aussenpolitik und Analyse irgendeines Historikertextes zum Stauffenbergattentat. Bayerische Lokalhistorie nahm keiner, Stresemann war schwer und bei Stauffenberg glaubten alle, dass es mit Hitler böse, Stauffenberg gut getan war. Die Ergebnisse waren entsprechend.
    Ich hatte mir die vierte Aufgabe zum 2+4 Vertrag durchgelesen und konnte sie mit meinem eigenen Wissen gut lösen. Das hat mir ein Stauffenbergdebakel erspart. Aber wie Du sagst: den Schülern wurde eine Chance genommen und Kenntnisse zum 2+4 Vertrag hätten ihnen ohnehin nicht geschadet.

    • Stefan Sasse 7. Juni 2022, 16:06

      Diese Vernachlässigung der jüngeren Zeitgeschichte ist noch ein ganz anderes Thema, über das ich mich stundenlang aufregen könnte, genauso wie die Deutschland-Zentriertheit des Bildungsplans…

      • cimourdain 8. Juni 2022, 08:20

        Wieso ? Mit Bayerischer Autonomie ist doch ein Nicht-Deutschland Thema drin 😉 .

  • cimourdain 8. Juni 2022, 09:22

    Interessante Sichtweise, aber ich bin bei Thorsten Haupts: ‚Prüfungslernen‘ ist unvermeidbar. Dazu musst du nur anschauen, was sich Schüler von der Prüfung erwarten, nämlich ‚verlässlich‘ (angemessen) gute Noten. Deshalb meiden sie die Fachbereiche, die ein Risiko bergen könnten, selbst wenn es einfachere Aufgaben sind (Detlev Schulzes Stochastik-Beispiel).

    Und da schlägt das andere Problem zu: Die enge Verflechtung von Wissen und Kompetenz. Auch wenn in der Prüfung vornehmlich Kompetenz abgeprüft werden soll, ist doch das Fachwissen die treibende Kraft (bekannt die ‚Schrotflinten-Technik‘: Schreib einfach alles hin, was dazu passen könnte). Nicht ohne Grund ist das Fach, in dem sich Kompetenz am wenigsten durch Lernaufwand ‚simulieren‘ lässt (Mathematik), auch dasjenige, bei dem es praktisch jedes Jahr irgendwo Beschwerden wegen zu schwerer Prüfungen gibt.

    Noch eine Nebenbemerkung aus der ‚nutzloses Wissen‘ Kategorie zum anonymisierten Zweitkorrekturverfahren: Bei der Beamtenprüfung im Qing-China wurden die Prüfungsarbeiten anonymisiert, indem sie von Schreibern in roter Tusche kopiert wurden und nur die Kopie dem Korrektor vorgelegt wurden. So konnte dieser nicht den Prüfling an der Schrift erkennen.

    • Stefan Sasse 8. Juni 2022, 13:07

      Genau dagegen bin ich ja. Nichts zerstört echtes Lernen so sehr wie Prüfungslernen.

      • Thorsten Haupts 8. Juni 2022, 14:11

        Gegen etwas zu sein, was nicht zu verhindern ist bzw. die eigentliche Ursache dafür nicht abschaffen zu wollen/können, ist eine a weng inkonsistente Position?

        • Stefan Sasse 8. Juni 2022, 14:41

          Wieso? Viele Leute sind mit Dingen unzufrieden, die sie nicht direkt ändern können. Man muss erst mal Krach machen und ein Problembewusstsein schaffen, Druck aufbauen, und dann Veränderungen erwirken. Bohren dicker Bretter und so.

          • Thorsten Haupts 8. Juni 2022, 14:54

            Wir reden erkennbar aneinander vorbei. Meine Position ist ganz einfach – ist ein Problem grundsätzlicher Natur und ich kann oder will dessen Ursache eh nicht abstellen, interessiert mich das Problem nicht mehr. Das Problem ist dann der Preis für eine Grundsatzentscheidung – und ob der ein bisschen höher oder niedriger ausfällt, ist für mich irrelevant.

            Da auch Du das Grundsatzproblem (Prüfungen) nicht beseitigen willst, ging ich davon aus, dass die Suche nach besseren Lösungen damit obsolet geworden ist. Trotzdem eine (automatisch marginale) bessere Lösung zu suchen, war für mich ein Beleg für Inkonsistenz bzw. ich verstand Dich so, Du hieltest das Problem trotzdem für lösbar (= Problem beseitigt).

            Gruss,
            Thorsten Haupts

            • Stefan Sasse 9. Juni 2022, 17:21

              1) Ich würde Prüfungen sofort abschaffen.
              2) Ich sehe überhaupt nicht, warum die Suche nach besseren Lösungen obsolet sein sollte. Wann ist die Suche nach besseren Lösungen je obsolet?

              Ich sehe darin auch keine Inkonsistenz. Ich bin mit dem Status Quo unzufrieden, aber ich arbeite nun mal innerhalb eines Systems und versuche, innerhalb dieses Systems Verbesserungen zu erwirken. Ist das nicht gut…? Du klingst wie ein Linksradikaler 😀 Revolution oder Nichts! 😀

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