Bücherliste Januar 2022

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.

Diesen Monat in Büchern: Gesellschaftsgeschichte, Zombiekrieg, Demokratie, Marshall-Plan

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Fleisch

BÜCHER

Bert Altena/Dick von Lente – Gesellschaftsgeschichte der Neuzeit 1750-1989

Ein Buch von UTB in Händen zu halten ist, wie die Angelsachsen sagen würden, ein „trip down the memory lane“. Ich glaube, ich hatte seit Abschluss meines Studiums keines mehr in der Hand. Für diejenigen, die mit dem Konzept nicht vertraut sind: UTB publiziert so genannte „Studienbücher“, also Überblickswerke, die sich vorrangig (aber nicht nur) an Studierende des jeweiligen Faches richten und einen Überblick zum jeweiligen Thema bieten. Ich hatte Werke von UTB sowohl in Deutsch als auch in Geschichte und Politikwissenschaften in der Hand. Dass ich jetzt wieder einen Band lese zeigt aber, dass für das einschlägig interessierte Publikum eine Immatrikulation nicht erforderlich ist.

Der vorliegende Band beschäftigt sich, kaum überraschend, mit der „Gesellschaftsgeschichte der Neuzeit 1750-1989“, wobei der Titel trotz der scheinbaren Präzision etwas irreführend ist. Präziser hätte man ihn „Gesellschaftsgesichte der westlichen Welt in der Neuzeit 1750-1989“ nennen sollen, denn um diese geht es hier. Man könnte behaupten, das sei bereits im Konzept der „Neuzeit“ mit angelegt, die als Kategorisierung nur aus westlicher Perspektive irgendeinen Sinn macht.

Denn das Startdatum 1750 verweist auf die Epoche der Aufklärung, die mit ihrem „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, in den Worten Kants, den Startschuss für die Neuzeit im westlicheren Europa bildet – und gleichzeitig eine starke Divergenz zu anderen Teilen der Welt, besonders Osteuropas und des Osmanischen Reichs begründet, die bis heute fortdauert. Allein über die Sinnhaftigkeit dieser Einteilung könnte man komplette Bücher schreiben (und das ist auch passiert), aber es macht wenig Sinn, diese Grundprämisse des Werks großartig zu kritisieren. Die Autoren stellen sich in eine klassische Tradition der Epocheneinteilung, und da sie ein Überblickswerk schreiben sind derartige Debatten nicht ihr Fokus.

Nichtsdestotrotz ist es instruktiv, einen Moment bei der Epocheneinteilung zu verweilen. Denn Strukturen wie diese bestimmen unser Denken. Eine „Neuzeit“ hat bereits in ihrer Konzeption die Prämisse enthalten, dass die Epoche etwas Neues ist, und weil wir „neu“ eigentlich immer auch mit „besser“ assoziieren, wird gleichzeitig ein Fortschritt impliziert. Das war den Zeitgenossen übrigens durchaus klar; sie titulierten ihre Zeit bewusst als „Neuzeit“, um sie vom „finsteren Mittelalter“ zuvor abzugrenzen. (Wer wissen will, wie es auf einer Feuerwehrwache bei Großalarm aussieht, sollte einmal die Debatte um die Korrektheit des Begriffs „Mittelalter unter Mediävisten anschneiden.) Aus dem gleichen Grund erfand das späte 19. Jahrhundert für sich den Begriff der „Moderne“, den wir mittlerweile mit der unglücklichen Begriffskonstruktion der (bezeichnenderweise negativ besetzten) „Post-Moderne“ abgelöst haben. Was kommt danach? Post-Post-Moderne? Kategorisierungen bergen immer Fallen.

Ironischerweise ist die Neuzeit tatsächlich der Anbruch einer neuen Zeit, denn ab 1750 beginnt nicht nur ein neues geistesgeschichtliches Kapitel mit dem Durchbruch der Aufklärung, mitsamt den Revolutionen und seismischen politischen Verschiebungen, die sich daraus ergeben, sondern auch der Beginn des modernen Bildungswesens und, vor allem, der Industrialisierung und damit der modernen Welt, wie wir sie kennen.

Altena und van Lente strukturieren ihr Buch klar durch: die Neuzeit wird in drei große Unterepochen gegliedert – 1750-1848, 1848-1918, 1918-1989 – und diese wiederum werden in Entwicklungen der Ideengeschichte, der Wirtschaft, des Bildungswesens, der Politik und so weiter zerlegt und jeweils einzeln betrachtet. Da das Buch „nur“ 400 Seiten hat, müssen dabei zwangsläufig Kurzabrisse und Verallgemeinerungen herauskommen; da das Ganze auch noch komparativ die westliche Welt abdeckt, bleibt alles Oberflächenbetrachtung. Das kann für ein Überblickswerk auch gar nicht anders sein, aber festzuhalten ist es in jedem Falle. Für vergleichende Betrachtungen beschränken sich die Autoren weitgehend auf Frankreich, Großbritannien, Deutschland, die USA und die Niederlande. Das ist ziemlich klassisch, hat aber den Nachteil, weite Teile Europas auszugrenzen. Osteuropa nannte ich bereits, aber auch Süd- und Nordeuropa kommen kaum vor. Die „Neuzeit“, die wir haben, ist sehr dezidiert die westliche, das muss wirklich erneut klargemacht werden.

Große Überraschungen sind in dem Werk nicht vorhanden, die Darstellungen entsprechen dem breiten Konsens der Geschichtsforschung. Wirtschaftliche Entwicklungen wie Urbanisierung und Industrialisierung hin zur Entwicklung der zweiten Industrialisierung mit dem Fokus auf Chemie- und Elektrotechnik über den Massenkonsum zeichnen ein bekanntes Bild. Eine kleine Überraschungen für mich war der kurze Zeitraum, in dem die höhere Bildung explodierte (eine Verdreifachung in kaum einem Jahrzehnt; kein Wunder wurden damals massenhaft Gymnasien und Universitäten gebaut!). Solcherlei kleine Informationsbröckchen finden sich anhand ausgewählter Statistiken auch für diejenigen, die sich bereits im entsprechenden Bereich auskennen. Das ist bei mir für den letzten genannten Zeitabschnitt sicherlich der Fall; ich war schon immer Zeithistoriker.

Weniger sattelfest dagegen bin ich bei dem, was für gewöhnlich unter „Neuzeit“ läuft, also vor allem dem 18. und früheren 19. Jahrhundert. Vom Entstehen der Kaffeehäuser – einer Institution, die mittlerweile überhaupt nicht mehr existiert, und nein, Starbucks zählt nicht – über die Politik des Vormärz‘ war für mich eine Menge Neuland. Zu den Dingen, die ich theoretisch weiß, die mich aber in ihren konkreten Ausprägungen jedes Mal aufs Neue überraschen (wie auch bei der Lektüre von Hedwig Richters „Demokratie – Eine deutsche Affäre“) ist die Internationalität des Vormärz und der Revolution von 1848/49.

Trotz vieler Versuche, dieses Thema in den Bildungsplänen zu internationalisieren, wird die Geschichte hierzulande doch weiterhin sehr deutschlandzentriert erzählt. Dass 1848/49 überhaupt eine europäische Revolution war ist irgendwie im Bewusstsein, auch in meinem, nur auf abstrakter Ebene angekommen, wenn überhaupt. Auf der langen, langen Liste der Themen, mit denen ich mich näher beschäftigen muss, gehört das mit Sicherheit zu den großen Elementen.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Lektüre eines Studienbuchs wie diesem nicht unbedingt ein großes Lesevergnügen darstellt. Es ist geradezu der Zweck, nüchterne Informationsvermittlung ohne große stilistische Schnörkeleien zu produzieren. Dementsprechend ist das Buch trocken, ein narrativer Bogen fehlt völlig. Das ist nicht schlecht und für den Zweck sicherlich die richtige Wahl, macht aber die Lektüre entsprechend anstrengend. Wer sich davon nicht abschrecken lässt und einen Überblick über die Epoche will, macht aber sicher nichts falsch.

Max Brooks – World War Z (Max Brooks – Operation Zombie)

Vielen Lesenden dürfte der Titel „World War Z“ von einem im Großen und Ganzen unbedeutenden, maximal mittelmäßigen Actionstreifen mit Brad Pitt aus dem Jahr 2012 bekannt vorkommen. Schon weniger Leuten dürfte bekannt sein, dass der Film auf einem Buch mit demselben Titel (und der absolut beknackten deutschen Übersetzung „Operation Zombie. Wer länger lebt, ist später tot“) basierte. Das Buch selbst ist ein geister Nachfolger zum ironischen „Zombie Survival Guide“ (deutsch) desselben Autors. Verwirrt? Dabei haben wir noch gar nicht angefangen.

Die „Handlung“ des Buchs (ich möchte es nicht „Roman“ nennen, aber das von Brooks hier geschaffene Genre lässt sich allenfalls als „Mockumentary“ betiteln) setzt 20 Jahre nach dem titelgebenden „World War Z“ ein, als der Journalist Max Brooks (ja, der Autor ist gleichzeitig der personale Erzähler) eine Reise um die Welt unternimmt, um mit Überlebenden zu sprechen und ihre Erinnerungen für die Nachwelt aufzuzeichnen. Letzten Endes ist das Buch eine geschriebene Version der Dokus von Ken Burns oder Studs Terkel: Zeitzeug*innen berichten von ihren Erlebnissen, und das Ganze wird in ein Narrativ zusammengeschnitten.

Im Fall von „World War Z“ beginnt dieses Narrativ mit dem Kapitel „Warnungen“, in dem „Max Brooks“ einige Zeug*innen der ersten Ausbrüche befragt. Es bleibt bewusst etwas unklar, woher die Krankheit eigentlich kommt, die Tote wiederauferstehen lässt. Offenkundig ist, dass die ersten Ausbrüche unter Kontrolle gebracht werden – meist sehr gewalttätig – und die fehlende Kooperation der Regierungen und die Weigerung der Öffentlichkeit, die Gefahr ernstzunehmen, verhindern, dass der folgende pandemisch-globale Ausbruch unterbunden werden können. Angesichts unserer eigenen Erfahrungen scheint Brooks‘ Version der Ereignisse geradezu optimistisch, in der zwar spät, aber immerhin entschlossen reagiert wird. Eine Zombie-Leugner*innen-Bewegung jedenfalls fehlt.

Im folgenden Kapitel „Panik“ berichten die „Zeug*innen“ von den Wellen von Zombies, die über die Welt herfallen und beleuchten unterschiedliche Reaktionen. Aus dem Brad-Pitt-Film bekannt ist die israelische Reaktion, die eine riesige Mauer um ihr ganzes Land herumziehen und sowohl Jüd*innen als auch Palästinenser*innen aufnehmen, eine Vision, die gleichzeitig dystopisch und utopisch ist. Andere Reaktionen fallen in Muster nationaler Stereotype. So führt etwa die russische Armee zur Aufrechterhaltung der Disziplin die Dezimierung ein: in Einheiten, die ihre Stellung nicht halten, wird jeder zehnte Mann exekutiert. Derartig krude Stereotype bleiben leider nicht die Ausnahme. Besonders problematisch fand ich die südafrikanische Reaktion, in der Nelson Mandela mit einem überzeugten Apartheid-Befürworter die Bevölkerung kategorisiert und nur eine bestimmte Menge besonders wichtiger Personen selektiert und für den Neuaufbau des Landes rettet, während der Rest der Bevölkerung als Ablenkungsmanöver den Zombies zum Fraß vorgeworfen wird.

Generell kann es bei einem solchen Buch nicht ausbleiben, dass die politischen Vorstellungen von Max Brooks den Rahmen definieren, schließlich kann er gottgleich beschließen, was hilft und was nicht, wer wie reagiert und für wen das Ganze am Ende aufgeht. Brooks‘ Sympathien liegen klar bei den „kleinen Leuten“, die, auf ihre eigenen individuellen Fähigkeiten zurückgeworfen, in der Zombie-Apokalypse überleben müssen. Die Staaten versagen weitgehend, vor allem moderne, liberale Staaten. Die Erfolsrezepte bestehen am Ende fast durch die Bank in einer radikalen Hinwendung zum Totalitarismus, in dem ein ominöses „wir“ – das wohl für die jeweiligen Gesellschaften als Ganzes steht und einen merkwürdigen Kollektivismus mit diesem typisch amerikanischen Individualismus paart – rückhaltlos hinter die Zombiebekämpfungsmaßnahmen rückt (mit Ausnahme der USA, wo praktisch in jedem kleinen Dorf einige Leute gegen die Regierung und ihre Maßnahmen aushalten und sich für unabhängig erklären).

Brooks bedient hier ein typisches Narrativ des Zombie-Genres, in dem Menschlichkeit und Moral als Schwächen betrachtet werden und rücksichtslos unterdrückt werden müssen, um der Bedrohung Herr zu werden. Er bleibt dabei differenziert genug, um nicht in faschistischen Propaganda abzurutschen, wie dies etwa bei „The Walking Dead“ der Fall ist. Aber die grundsätzliche Sicht durchzieht den Roman, und darüber muss man sich von Anfang an klar sein.

Aber zurück zum Text. Im nächsten Kapitel „Wendepunkt“, das noch vor der Halbzeitmarke des Romanumfangs kommt, werden einige Schlüsselelereignisse des Kampfs gegen die Zombiehorden beschrieben. Besonders einprägsam ist die Schlacht bei Yonkers, in der das US-Militär völlig darin versagt, mit seinem High-Tech-Equipment der Bedrohung Herr zu werden und in der die militärische Führung völlig versagt. Erzählt wird dies aus dem Mund eines einfachen Soldaten, der damals dabei war und die Offiziere für ihre Arroganz kritisiert – ein beliebter Topos von Militärgeschichten, der sich vor allem im Kontext des Ersten Weltkriegs oder Krimkriegs findet.

Zu diesem Zeitpunkt ist ein großer Teil der Weltbevölkerung bereits tot; die Zombie-Apokalypse ist ein umfassendes, erschütterndes Ereignis, und obwohl keine konkreten Zahlen genannt werden, entsteht der Eindruck, dass irgendwo zwischen 90 und 95% unter den Opfern sind. Die Überlebenden haben nun gelernt, wie man am besten gegen Zombies kämpft, aber die Zivilisation liegt in Trümmern. Der folgende „Totale Krieg“ (so das Kapitel) ist dann das eigentliche Herzstück, und es ist dieser Teil, der „World War Z“ besonders interessant macht und von anderen Werken der Zombie-Literatur abhebt.

Brooks konzentriert sich hier voll auf die Frage, wie die Rückeroberung der Zivilisation vonstatten gehen würde. Von Hilfseinsätzen über die Herstellung geeigneter Waffen (robuste Gewehre und eine Art Mischung aus Spaten und Axt sowie Ganzkörperrüstungen) zu der Rückerschließung abgeschnittener Communities ist alles dabei. Wir hören von einem amerikanischen Regierungsmitglied, das beschreibt, wie in einem riesigen „Re-Training“ Akademiker*innen in Blue-Collar-Jobs ausgebildet werden, weil diese benötigt werden und Intellektuelle nicht (ein weiteres typisches Element von Brooks‘ Ideologie ist die Intellektuellenverachtung, die sich in diesem politischen Spektrum häufig findet). Wir folgen einem Astronauten auf der ISS, der dafür sorgt, dass die Satelliten operationsfähig bleiben. Wir sind an Bord eines chinesischen U-Boots, das im großen chinesischen Bürgerkrieg mit einem Atomschlag die kommunistische Führung auslöscht (auch der Iran und Pakistan bekämpfen sich mit Atomwaffen, ein Echo der zur Entstehungszeit um 2006 prävalenten Ängste). Und so weiter.

Das Ausmaß der Zerstörung ist gigantisch, und über die vielen Zeug*innenberichte wird es den Lesenden wirklich offenkundig. Brooks macht keinerlei Illusionen über eine Rückkehr zu einem Status Quo. Noch in der Gegenwart von „Max Brooks“, zwanzig Jahre nach der Apokalpyse, gibt es Zombies, die jederzeit eine Bedrohung darstellen. Manche Länder sind komplett von der Landkarte verschwunden (in einem etwas absurden Twist verschwindet die komplette Bevölkerung Nordkoreas in unterirdischen Bunkern, und niemand weiß, ob sie noch leben oder Zombies sind; Nordkorea ist quasi ein No-Go-Area), andere haben sich neu konstituiert (Russland hat wieder einen Zaren, weil das die „natürliche“ Regierungsform der Russen sei). Brooks bricht hier auch gerne mit Erwartungen, etwa wenn Kuba besonders erfolgreich in der Eindämmung der Zombies ist und Flüchtlinge aus den USA aufnimmt (die dann aber natürlich unterdrückt und in Lager gesperrt werden; vom Regen in die Traufe).

Es ist schwer zu sagen, ob der Ausblick insgesamt optimistisch ist. Am Ende ist die Menschheit geeint gegen die Apokalypse, Konflikte zwischen den Staaten praktisch nicht existent. „Max Brooks“ zweifelt aber daran, ob dieser Effekt über die Zeitzeug*innengeneration anhalten wird – ein berechtiger Pessimismus, den wir aktuell über die Zeit des Kalten Krieges ebenfalls erleben. Es wurde ja schon oft die Theorie geäußert, dass Deutschlands Politik sich verändert habe, seit die Kanzler*innen keine Zeitzeug*innen des Zweiten Weltkriegs mehr sind. Man kann davon halten, was man will.

Lohnt sich die Lektüre? Ich denke Ja. Zwar sind einige von Brooks Versionen allzu brachiale nationale Stereotype, ist seine Grundhaltung als klassischer US-conservative nicht immer ganz leicht zu ertragen, aber die Lektüre entwickelt einen eigenen Sog, dem man sich schwer entziehen kann, und bietet Momente genuinen Schocks und der Kontemplation. Ich verstehe nicht, warum nicht längst jemand die Rechte erworben und eine Mockumentary im Ken-Burns-Stil daraus gemacht hat, das Material schreit geradezu danach (und nicht nach einem Blockbuster mit Brad Pitt). Das Hörbuch im Übrigen ist sehr empfehlenswert; es wartet mit einem Allstar-Cast von zig verschiedenen Sprecher*innen auf und verstärkt den Doku-Effekt ungemein. Ich beantworte die Frage nach einem Kauf daher klar mit „ja“. Auch über fünfzehn Jahre nach seinem Erscheinen kann „World War Z“ noch faszinieren.

Hedwig Richter – Demokratie. Eine deutsche Affäre

Mit ihrem Buch „Demokratie. Eine deutsche Affäre“ hat Hedwig Richter, Professorin für Geschichte an der Bundeswehruniversität in München, einen Bestseller hingelegt, der 2020/21 für eine lebendige Debatte gesorgt hat. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart untersucht sie in einem großen Bogen das Verhältnis der Deutschen zur Demokratie, und wie der Buchtitel schon verrät, stellt sie sich gegen die beliebten Sonderwegs-Narrative, die den Deutschen ein gestörtes Verhältnis zur Demokratie unterstellen, und attestiert ihnen stattdessen eine „Affäre“ mit ihr.

Das mag auf den ersten Blick überraschen, ist aber auf den zweiten Blick gar nicht so weit hergeholt, vor allem, wenn man den historischen Rahmen anschaut. Freiheit und Parlemantarismus waren in Deutschland über Jahrzehnte praktisch gleichbedeutend mit der Nation. Von den Befreiungskriegen zum Vormärz, von 1848 bis zur Parlamentarisierung 1918, von Weimar über Herrenchiemsee lassen sich klare Kontinuitäten ausmachen. Die NS-Zeit ist es, die als der große Zivilisationsbruch einer allzu rosigen Betrachtung im Wege steht, ebenso wie die Obrigkeitsstaatlichkeit so vieler Aspekte des Kaiserreichs.

Richter stellt für die Argumentation vier zentrale Thesen auf, auf die sie im Verlauf immer wieder zurückkommt: Demokratie sei eine Sache von Eliten, die das allgemeine Wahlrecht eher gegen den Widerstand der breiten Masse durchgesetzt haben. Demokratie sei eine Sache von Reformen, wogegen Revolutionen sich (mit wenigen Ausnahmen) eher als schädlich gezeigt hätten. Demokratie sei „wesentlich eine Geschichte des Körpers, seiner Misshandlung, seiner Pflege, seines Darbens – und seiner Würde“. Und Demokratie sei eine internationale Geschichte.

Letzterer Punkt dürfte der Unstrittigste sein. Die europäische Dimension der Revolution(en) von 1848 etwa wird bereits seit Längerem in Forschung und Unterricht herausgestellt. Auch der Blick in die USA ist immer instruktiv, wo sich im 19. Jahrhundert ein Prozess der Demokratisierung vollzog, der schlussendlich sogar in einen Bürgerkrieg mündete. Während Richter zwar immer wieder den Blick aufs Ausland lenkt, bleibt der Fokus aber klar auf Deutschland gerichtet. Und hier spielen vor allem die ersten beiden Punkte eine zentrale Rolle.

Dass die Liberalen des frühen 19. Jahrhundert, die durch den Vormärz hindurch für Verfassung und Rechtsstaat stritten, zur Elite des Landes gehörten, dürfte unbestritten sein. Auffällig ist, dass die Wahlverfahren der damaligen Zeit mit unseren heutigen Ansprüchen – gleich und geheim – nichts zu tun hatten; sie waren langwierige und ätzende Rituale mit beschränkter Entscheidungsmacht. Konsequenterweise entzogen sich viele Menschen diesen Wahlen – und forderten die Liberalen eine Demokratisierung des Wahlrechts (die immer auch mit einer impliziten oder expliziten Wahlpflicht einherging!) GEGEN den Willen derjenigen, die damit beglückt werden sollten. Diesen langen und kleinschrittigen Prozess sieht Richter als essenziell für das lange Einüben demokratischer Verhaltensweisen an, die Deutschland später sehr zugutekommen würden.

Diese Rolle der Eliten paart sich mit einer Ablehnung von Revolutionen, die als schädlich für das demokratische Projekt gesehen werden. Vorbild ist dabei vor allem die Französische Revolution, die in der napoleonischen Tyrannei endete, ein Schicksal, das die Liberalen unbedingt vermeiden wollten. Daher ihre Präferenz für Reformen, eine Linie, die Richter vorbehaltlos als richtig betrachtet. Selbst in den Revolutionen von 1848 und 1918 sieht sie mehr Ansätze für reformerisches Vorgehen als radikale Umsturzpläne; die Vertreter von Letzteren bleiben stets eine winzige Minderheit, die denn auch, anders als etwa in Russland, nicht gegen die tradierten Vorlieben ankommen.

Der mit Abstand innovativste Ansatz von Richters Darstellungen aber ist ihre Betonung der Körpergeschichte. Aus der Verfügungsgewalt über den eigenen Körper leitet sie die Demokratisierung her: ohne eigenen Körper kann es keine politische Mitsprache geben. Diese Gleichsetzung sorgt bis heute für die natürliche Ausgrenzung von Unterschichten, Frauen, Minderheiten, Sklav*innen und Kindern. In dem Maße, in dem (natürlich über Reformen!) Gruppen die Verfügungsgewalt über ihre Körper erlangten, wurde ihr Ausschluss aus der Politik zunehmend schwieriger zu rechtfertigen und schrittweise überwunden, von der Abschaffung der Sklaverei über das preußische Dreiklassenwahlrecht bis zum Frauenwahlrecht.

In dieser Struktur führt Richter durch die deutsche (und schlaglichtartig internationale) Demokratiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Vor allem die Hochzeit der Liberalen im 19. Jahrhundert wird dabei sehr positiv in Szene gesetzt, führt aber auch zu der bereits von mir jüngst angesprochenen Neubewertung des Kaiserreichs. Richter betont vorrangig die progressiven Elemente des Kaiserreichs. Sie verleugnet dessen dunkle Seiten nicht, hält sich aber abseits einer kurzen Benennung derselben überwiegend nicht groß mit ihnen auf. Aus meiner Sicht ist das unproblematisch, sind sie doch sattsam bekannt und geradezu überbetont.

Merklich ist ohnedies, dass die progressiven Seiten samt und sonders gerade nicht vom Obrigkeitsstaat herrühren, sondern im Gegensatz zu ihm stehen. Richter lenkt immer wieder den Blick auf die Bedeutung der Sozialdemokratie in der Demokratisierung weiter Unterschichten, sie hebt die Rolle der Frauenbewegung hervor und weiß den Machtkampf des Reichstags in Szene zu setzen, der gegen Ende des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg mit Macht nach vorne drängt.

Wesentlich kontroverser dürfte da schon die demokratisierende Wirkung des Ersten Weltkriegs sein. Denn dieser wird üblicherweise eher als Vorbedingung für den Absturz in die Schrecken des Nationalsozialismus erzählt, was auch nicht falsch und für Richter kein Widerspruch ist. In einem der kontroversesten Kapitel des Buches verbindet sie Nationalsozialismus (und Faschismus und Kommunismus) direkt mit der Demokratisierung: ohne eine egalitäre, stimmberechtigte Masse wären diese Totalitarismen nicht vorstellbar gewesen. Das ist sicherlich richtig, gleichwohl bleibt dieses Kapitel für mich das Unbefriedigendste. Ohne dass ich den Finger genau darauf legen könnte, woran das genau liegt, scheint es mir zu kursorisch, zu knapp gehalten und verdient eine stärkere, ausführlichere Analyse.

Am Ende geht Richter dann wohl etwas die Puste aus. Die Kapitel zur BRD lesen sich eher wie eine Pflichtübung, die im Telegrammstil die bekannten Entwicklungen aufzählt und in die Struktur ihres Buches packt. Auch die Ergänzungen zur DDR enthalten wenig Neues. Die spannenderen Elemente finden sich eher in den ersten zwei Dritteln, in der Entstehungsgeschichte der Demokratisierung, der Entwicklung des Vier-Ebenen-Modells und der Neubewertung des Kaiserreichs.

Empfehlenswert ist das Buch gleichwohl nachdrücklich. Zum Einen ist Richter, ungewöhnlich genug für deutsche Historiker*innen, leicht und eingänglich zu lesen, in Teilen sogar spritzig, und zum Anderen ist die Bedeutung von Demokratie, Demokratisierung und der damit verbundenen Mechanismen solcherart, dass die Beschäftigung mit ihnen, selbst wenn man den pointierten Thesen nicht vollen Herzens zustimmen mag, ungeheuer wertvoll.

Wer übrigens an einer „wissenschaftlicheren“ und wesentlich negativeren Rezension (einschließlich einer ausführlichen Replik Richters) interessiert ist, wird bei HSOZ-Kult fündig.

Benn Steil – The Marshall-Plan. Dawn of the Cold War

Der Marshall-Plan hat in Deutschland einen geradezu mythischen Ruf. In der merkwürdig verkürzten Geschichte der Nachkriegszeit (8. Mai –> Stunde Null –> Wirtschaftswunder) ist er eine der wenigen Ausnahmen, in denen ein politisches Ereignis dieser Zeit breitere Aufmerksamkeit erfährt, der Marshall-Plan. Üblicherweise wird er als großzügige Entwicklungshilfe der USA erzählt, die die deutsche Wirtschaft in Schwung gebracht hat. Wie so viele Narrative dieser mystischen Gründungszeit der BRD ist auch hier wenig Wahres zu finden.

Umso willkommener ist ein Werk, das die Geschichte des Marshall-Plans aufdröselt und ihn in einen globalen Kontext stellt. Benn Steils zentrale These ist, dass der Marshall-Plan als Startschuss für den Kalten Krieg gesehen werden muss. Entsprechend stellt er ihn in einen Kontext der Rivalität der ehemaligen Alliierten und des beginnenden Ost-West-Konflikts. Besonders Frankreich, Großbritannien und Italien – sowie die Ablehnung des Plans in Osteuropa – stehen im Fokus seiner Analyse, ehe er den Blick nach Deutschland endet. Denn die Ironie dieses Ansatzes ist es, dass Steil am Ende doch wieder bei Deutschland landet, um das sich alles dreht. Aber der Reihe nach.

Steil beginnt seine Erzählung mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Teilung Deutschlands. Europa, nicht nur der Verursacher des Krieges selbst, Deutschland, liegt in Trümmern. Das Land wird vom Alliierten Kontrollrat verwaltet, der alle Beschlüsse über die Zukunft Deutschlands im Konsens treffen muss. Diese Fakten werden von Steil weitgehend vorausgesetzt; hier hätte der Autor gerne eine etwas ausführliche Erklärung geben können, denn gerade die Funktionsweise des Alliierten Kontrollrats einerseits und die Konferenzen von Jalta und Potsdam sind entscheidend, um die Ereignisse zu verstehen und werden beständig rekurriert. Wer da ohne solide Vorkenntnisse kommt, dürfte sich schwer tun.

Von hier ausgehend zeigt Steil auf, welche Strategie die Sowjetunion in Europa verfolgte. Kooperation kam Stalin billig, denn die Zeit arbeitete für die Sowjets. Die miese wirtschaftliche Lage stärkte die Position der Kommunisten, und der zu erwartende Rückzug der USA würde die Situation, genauso wie 1918/19, dramatisch verschlimmern. Ein wirtschaftlicher Wiederaufbau Europas stand nicht in den Karten, Deutschlands sowieso nicht. Die offizielle Position der USA war eine Deindustrialisierung Deutschlands, und die politische Stimmung im Land war für einen schnellen Rückzug und eine Einforderung der extensiven Kriegskredite – was die Situation nach dem Ersten Weltkrieg wiederholt hätte, nur dieses Mal schlimmer, und den Kontinent der UdSSR ausgeliefert.

Es ist Steils Verdienst aufzuzeigen, dass der radikale Kurswechsel der USA bei weitem nicht selbstverständlich war. In der mythischen Geschichtsvariante, die in Deutschland gerne erzählt wird, stehen solche Gefahren überhaupt nicht ins Haus. Aber in Frankreich und Italien waren damals Kommunisten an der Regierung; in Großbritannien sozialisierte Labour den Bergbau. Die Lage sah gut aus für den Kreml. Steil arbeitet nun minutiös nach, wie einzelne amerikanische Offizielle (vor allem Botschafter George Kennan mit seinem berühmten „Langen Telegramm“ und Militärgouverneur Lucius Clay als de-facto „Diktator von Deutschland“) einen geradezu seismischen Kurswechsel einläuteten.

Hier wird von den Lesenden eine gewisse Bereitschaft abverlangt, die Rekonstruktion von Kabinettstreffen, Kongressdebatten und Abfolgen verschiedener Memos interessant zu finden. Einen guten Teil des Buches rekonstruiert Steil, wie eine neue Logik in der US-Administration Einzug hielt. Die Probleme, die hier zu lösen waren, waren vorrangig wirtschaftlicher Natur, aber eng mit der Politik des beginnenden Kalten Krieges verknüpft. Denn eine wirtschaftliche Erholung Westeuropas setzte Kooperation und Kapital voraus – Letzteres sollte eigentlich von deutschen Reparationen kommen (das war der Ansatz der Sowjetunion und Frankreichs). Die Gründe hierfür sind komplex und werden von Steil detailliert auseinandergenommen. Hier ist ein gewisser Biss der Lesenden nötig.

Man wird aber dafür mehr als belohnt. Die Grundlage dieser komplexen Interdependenzen macht wesentlich klarer, warum dem verhältnismäßig bescheidenen Umfang des Marshall-Plans (das nichtsdestotrotz das größte amerikanische Hilfspaket aller Zeiten konstituierte) so große Bedeutung beigemessen wurde. Das zentrale Problem, so Steil, war aber der Verstoß des Marshall-Plans gegen das Vier-Mächte-Statut. Da die wirtschaftliche Verfassung Deutschlands nur im Konsens bestimmt werden konnte und ein Wiederaufbau der deutschen Industrie genauso wie eine Reparationsregelung – beides zu diesem Zeitpunkt valide Optionen – Konsens erforderten, musste die Sowjetunion dazu gebracht werden, den ersten Schritt zu gehen.

Die Stalin gestellte Falle ging auf; die Sowjetunion beendete die Zusammenarbeit im Alliierten Kontrollrat und zwang den Ostblock, den Marshall-Plan abzulehnen. Dadurch zeigte sie ihr wahres Gesicht, das vorher unter Kooperationsrhetorik verborgen war und erlaubte den USA, voranzuschreiten. Steil zeigt auf, dass der Einfluss der USA auf die konkrete Politik der Empfängerländer gering war; obwohl ihnen technisch gesehen Mitspracherechte zur Verfügung standen, konnten diese in der Realität mit dem Geld machen, was sie wollten (was auch gut war). Der eigentliche Preis war politisch: die USA erzwangen durch den Marshall-Plan die Akzeptanz Großbritanniens und Frankreichs für ihre Deutschlandpolitik.

Und hier kommen wir zur Ironie von Steils Ansatz: gerade dadurch, dass er die eigentlichen, europaweiten Absichten der USA in den Blick nimmt, landet er wieder bei Deutschland, denn die Viermächteregelungen machten es zu einer Art Schleuse der gesamten Politik. Die „deutsche Frage“ stand im Zentrum, und die USA waren fest entschlossen, das Land wirtschaftlich gesunden zu lassen, um nicht wieder wie nach dem Ersten Weltkrieg die Reparationszahlungen an die anderen europäischen Mächte finanzieren zu müssen. Sie erzwangen den Verzicht auf Reparationen (Marshall-Gelder oder Reparationen war die Wahl; sie fiel leicht) und gaben dem Land dadurch bessere Startchancen als den Siegerstaaten (so viel zum Mythos Wirtschaftswunder!).

Doch ein zentrales Problem konnten die USA nicht lösen: damit die Marshall-Gelder wirken konnten, musste die Sicherheit Westeuropas gewährleistet sein, denn sonst würde man das Geld (wie im Fall der Tschechoslowakei) nur einer expansiven Sowjetunion in den Rachen werfen. Die Absicht der USA war eigentlich gewesen, ein militärisches commitment in Europa durch die wirtschaftliche Erholung zu verhindern; das Paradox war, dass die Erholung nur durch das militärische Engagement zu haben war. Steil verknüpft deswegen den Marshall-Plan direkt und unauflösbar mit der Gründung der NATO.

Auf diese Art entsteht ein dichtes Bild von Interdependenzen, das zwar kompliziert und komplex ist, der Entflechtung aber mehr als lohnt und das Verständnis des Marshall-Plans vom Kopf auf die Füße stellt. Auch die Betonung wirtschaftlicher Zusammenhänge gefällt mir sehr, weil sie in der Geschichtswissenschaft immer noch stiefmütterlich behandelt wird. Wer also die Beschäftigung nicht scheut, sollte sich das Buch unbedingt zulegen.

ZEITSCHRIFTEN

Aus Politik und Zeitgeschichte – Fleisch

Zu den wohl triggerndsten Themen des Dauerkulturkampfs unserer Tage gehört die Frage des Fleischkonsums. An wenigen Orten sind solch vorhersagbare Reflexe am Werk wie in der Frage, ob das Steak zur (deutschen) Leitkultur gehört. In der kürzlich erschienenen (und wie üblich kostenlos beziehbaren) „Aus Politik und Zeitgeschichte“ wird der Versuch unternommen, den ganzen Themenkomplex „Fleisch“ von mehreren Seiten und so sachlich wie möglich anzugehen. Schauen wir, ob das den Autor*innen der insgesamt sechs hier versammelten Essays gelungen ist.

Den Aufschlag macht Gunther Hirschfelder, der „eine Kulturgeschichte des Nahrungsmittels Fleisch“ vorlegt. Von den Jagenden und Sammelnden der grauen Vorzeit bis zur heutigen Dienstleistungsgesellschaft zieht sich sein Bogen. Die Entwicklung, die er „vom Wohlstands- zum Krisensymbol“ nachzeichnet, ist dabei nicht sonderlich überraschend: war Fleisch über weite Teile menschlicher (Siedlungs-)Geschichte ein Luxusgut, so ist es seit dem 20. Jahrhundert zu einem massenkonsumierten Lebensmittel geworden, das nun, an der Schwelle des 21. Jahrhunderts, langsam seine Strahlkraft zu verlieren beginnt.

Weniger überzeugend an dieser Aufstellung ist die Frühzeit des Menschen, wo Hirschfelder mit sehr grobem Pinsel weitreichende Behauptungen aufstellt, die so in der Wissenschaft zumindest umstritten sind und die auch gar nicht zu seinem eigenen Fachgebiet gehören, so etwa, dass die Umstellung von ausschließlich pflanzlicher auf zumindest teilweise tierische Nahrung für den Wachstums des Gehirns der Frühmenschen um immerhin 200% verantwortlich war. Wie fast immer sind Versuche, irgendwelche Vergleiche oder Lehren aus und mit der Frühgeschichte zu machen, so problematisch, dass man es am besten sein lässt. Interessant für uns ist ohnehin erst die menschliche Siedlungsgeschichte, denn hier können wir wenigstens halbwegs gesicherte Aussagen machen – auch wenn etwa der Speiseplan mittelalterlicher Bauerfamilien ebenfalls wesentlich unklarer bleibt, als Hirschfelder das hier suggeriert.

Auffällig fand ich die Menge des Fleischkonsums, die Hirschfelder schön herausarbeitet. Die Deutschen essen durchschnittlich 60 Kilogramm Fleisch pro Jahr, eine Verdreifachung gegenüber dem Stand vor 100 Jahren, und eine Menge, die in den letzten zwanzig Jahren nur unwesentlich sank. Diese Menge hängt dabei ziemlich deutlich mit der Verfügbarkeit billigen Massenfleisches zusammen.

Die Debatte darüber, ob der heute unverändert extrem hohe Fleischkonsum neben dem unbestreitbaren Problem für Umwelt-, Klima- und Tierschutz auch ein moralisches Problem darstellt, ob wir Menschen des frühen 21. Jahrhunderts uns also moralisch schuldig machen, wenn wir Fleisch konsumieren, ist das Herzstück des eingangs angesprochenen Kulturkampfs ums Fleisch. Besonders von überzeugten Vegetarier*innen und Veganer*innen wird er bereits seit Langem geführt, aber diese waren stets eine kleine Minderheit. Mittlerweile aber ist die Debatte im Mainstream angekommen, wo sie allzu oft im Lärm des Kulturkampfs versandet. Es ist daher willkommen, dass Bernd Ladwig im Essay „Kritik am Fleischkonsum“ eine relevante Dichotomie aufmacht und die Frage stellt: „moralisch oder moralistisch?“

Beide Begriffe werden nämlich in der öffentlichen Debatte gerne synonym verwendet, sind es aber nicht. Ladwig unterscheidet beides anhand einer nützlichen Definition, die weit über die Fleisch-Frage hinausgeht. Moralistisch – und damit verwerflich – ist es, anderen ein unmoralisches Verhalten vorzuwerfen, für das sie nichts können. Er definiert vier Schritte: a) Liegt das Verhalten in meinem Verantwortungsbereich? b) Betrifft das Verhalten jemand, der moralisch um seiner Selbst willen zählt? c) Habe ich eine Möglichkeit, anders zu halten? d) Konnte ich wissen, dass mein Verhalten falsch war? Nur, wenn alle diese Schritte gegeben sind, ist moralische Kritik angebracht, ist ein Verhalten moralisch falsch. Ansonsten liegt Moralismus vor.

Nach dieser Definition wendet Ladwig das Prinzip auf Fleischkonsum an. Schnell beantwortet er die Frage, ob etwas moralisch schlechtes geschieht, mit „ja“. Angesichts von Massentierhaltung und Folgen des Fleischkonsums kann man kaum zu einem anderen Ergebnis kommen. Wesentlich problematischer aber sind die anderen Fragen: Kann ich etwas dagegen tun (eher nicht, wobei die Wirkung von Boykott im Graubereich belassen wird) und brauchen wir Fleisch vielleicht, so dass der Erhalt der Spezies oder wenigstens unserer Gesellschaft den Fleischkonsum erfordert und so das Leiden der Tiere quasi moralisch überstimmt? Diese Fragen sind wesentlich schwerer zu beantworten.

Ladwig argumentiert dabei mehrere Sichtweisen durch, offeriert Pro- und Contra-Argumente. Auch wenn er selbst am Ende zu dem Schluss kommt, dass Fleischkonsum tatsächlich unmoralisch ist, so warnt er doch vor zu harschen Forderungen, denn nicht nur ist es aktuell noch eine starke Klassenfrage (angesichts der Preise von Ersatzprodukten), sondern ein Wandel erfordert geradezu eine Revolution, die auf starke demokratische Vereinbareitsfragen stößt. Alles in allem war dieser Aufsatz der für mich aufschlussreichste und Augen öffnendste des Hefts.

Eine klarere kulturwissenschaftliche Fragerichtung stellt Martin Winter in seinem Aufsatz zu „Fleischkonsum und Männlichkeit“, in dem er genau diesen Zusammenhang untersucht. Er arbeitet dabei schön heraus, wie Fleisch mit zunehmender Verfügbarkeit ab dem 19. Jahrhundert zu einem Symbol für Männlichkeit wurde. Solange es noch gleichzeitig als Wohlstandssymbol fungierte, war die Menge des Fleischkonsums ein Zeichen patriarchalischer Herrschaft; seit der allgemeinen Verfügbarkeit im 20. Jahrhundert dagegen gilt es vor allem als allgemeines Männlichkeitssymbol. Wenig überraschend, dass Männer im Schnitt dreimal (!) so viel Fleisch essen wie Frauen. Eine lange Kulturgeschichte hat Geschlechteridentitäten und Fleischkonsum eng miteinander verknüpft.

Achim Spiller und Gesa Busch gehen von hier in den technischeren Bereich. Sie fragen, „wie Tiere zu Fleisch werden“ und stellen die Struktur der deutschen Fleischwirtschaft da. Bemerkenswert ist hier die große Rolle des Exports; so werden etwa rund 50% des deutschen Schweinefleischs exportiert, weil dieser Teil der Tiere auf dem deutschen Markt nicht nachgefragt wird (Ohren, Nasen, Füße, etc.). Diese große Bedeutung es Exports überrascht immer wieder, weil man sich Deutschland nicht als Exportland für landwirtschaftliche Produkte vorstellt, ist aber mengenmäßig ziemlich bedeutsam. Ebenfalls auffällig ist die starke Konzentration des Marktes auf einige wenige große Betreiber.

Von hier ausgehend skizzieren Spiller und Busch vier große Herausforderungen für die Transformation der Fleischwirtschaft: Gesundheit, Umwelt- und Klimaschutz, Tierschutz, Soziale Gerechtigkeit. Der hohe Fleischkonsum der Deutschen, vor allem an Rotfleisch, ist unstrittig gesundheitlich schädlich. Die Auswirkungen der Massentierhaltung auf Klima und Umwelt sind ebenso unstrittig, und dass sie für die Tiere nicht eben angenehm ist auch. Spätestens mit Corona sind zudem die Arbeitsbedingungen der Branche wieder verstärkt in den Blick geraten.

Schwieriger ist, daraus Konsequenzen zu ziehen. Deutsche Vorschriftsverschärfungen etwa führen wohl vor allem dazu, die Produktion ins Ausland zu verlagern, von wo aus das Billigfleisch dann importiert würde, so dass die einzige Konsequenz der Verlust der Fleischindustrie für die deutsche Volkswirtschaft wäre. Das heißt allerdings nicht, dass die deutsche Politik bereits alles Mögliche tun würde; bei Weitem nicht. Von besseren Labels über besseren Umweltschutz gibt es eine Reihe von umsetzbaren Maßnahmen.

Thorsten Schulten und Johannes Specht befassen sich dazu passend mit den Arbeitsbedingungen der Branche unter dem Schlagwort „Ein Jahr Arbeitsschutzkontrollgesetz“. Die miserablen Arbeitsbedingungen in der Fleischbranche hatten wahrlich genug Anlass zur Kritik gegeben. Allein, das Ergebnis der Untersuchung fällt eher bedrückend aus. Ein Jahr nach Verabschiedung hat das Gesetz bisher wenig Auswirkung auf die Praxis der Betriebe gehabt. Die Arbeitsbedingungen haben sich in einigen wenigen Bereichen leicht verbessert, aber insgesamt sind es vor allem mangelnde Kontrolle und Konsequenzen, die Verbesserungen blockieren.

Zum Abschluss befasst sich Deborah Williger mit dem Nischenthema des Schächtens, dem „Verbotenen Standard“. Sie zeigt die Wirtschaftsgeschichte der jüdischen Fleischindustrie auf, die in der wenig überraschenden Zerstörung durch die Nationalsozialisten endet. Deutlich überraschender ist, dass die rechtlichen Hürden, die im Nationalsozialismus gegen das Schächten errichtet wurden, danach nie wieder abgeschafft wurden. Bis heute ist Schächten in Deutschland schwer möglich, weswegen koscheres Fleisch – ebenso wie halal Fleisch – importiert werden muss. Dabei, so Williger, sei ordentlich durchgeführtes Schächten für die Tiere nicht quälender als andere Schlachtmethoden; die Ablehnung gehe eher auf alte Zerrbilder von blutrünstigen Juden zurück.

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  • cimourdain 1. Februar 2022, 15:46

    Meta: Bemerkenswert, wie viel mehr Interesse die Einzelrezensionen hervorgerufen haben. Die fünf Buchbesprechungen haben zusammen mehr als 100 Leserkommentare hervor gerufen. Das ist mehr als alle (9) Bücherlisten 2021 zusammen.

    • Stefan Sasse 1. Februar 2022, 18:10

      Ja, ich bin auch total positiv überrascht, wie gut das geklappt hat!

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