Die Sozialausgaben sind in Deutschland traditionell hoch. Selbst in der Europäischen Union nimmt das größte Land eine Spitzenposition ein. Die typischen Risiken des Lebens wie Alter, Arbeitslosigkeit und Krankheit sind weit überproportional über den Staat abgesichert. Entsprechend sind die Ausgaben des Sozialstaates mit einer inhärenten Dynamik versehen. Die bis 2040 anstehenden demographischen Verwerfungen, die zu einer gravierenden Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung führen werden, wirken als Treibsatz für die Staatsverschuldung. 16 Jahre der Kanzlerschaft unter Angela Merkel haben neue Sätze gezündet, die bald explodieren werden. Die gute konjunkturelle Entwicklung der Nullerjahre und die anschließende Pandemie haben die existenziellen Probleme überdeckt. Die neue Bundesregierung wird vor weitreichenden Entscheidungen stehen, denn die Basis des Sozialstaates erodiert.
Lesedauer: 4 Minuten
Die Deutschen sind ein sozial denkendes Volk, keine Partei kann dies außeracht lassen. Das Vertrauen in den Staat ist groß, für größtmögliche soziale Sicherheit und Gerechtigkeit der Lebenschancen zu sorgen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil verwaltet den mit Abstand größten Einzeletat. Dennoch sind die gestalterischen Möglichkeiten eng begrenzt, fast die gesamten Ausgaben sind durch Leistungsgesetze auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte festgezurrt.
Aber die Deutschen sind auch sehr unzufrieden mit der sozialen Lage. Umfragen zeigen immer wieder, dass mehr als die Hälfte findet, es ginge in unserem Land sozial ungerecht zu. Zwei von drei Deutschen empfinden ihr Land als sozial ungerecht. Die Bürger fürchten Altersarmut, sehen die Leistungen des Gesundheitssystems als verbesserungsbedürftig und schauen mit Neid auf Privatversicherte, und sehen Gier bei Pflegeversicherungsbetrieben. Das Hartz-IV-System für Langzeitarbeitslose steht in der Kritik seit es geschaffen wurde. Dabei haben die Deutschen eine eindimensionale Sicht auf das, was soziale Gerechtigkeit und Respekt von Leistung ausmacht: Geld.
Doch Geld ist endlich und damit die Möglichkeiten, damit soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Schlimmer: neue Leistungen haben in der Vergangenheit zu mehr Ungerechtigkeit geführt. Die Besserstellung von Müttern unter Rot-Grün führte zur Mütterrente I, dem Rentenausgleich für Frauen, die vor 40 Jahren ihre Kinder bekommen haben, zur Mütterrente II und nun zu Forderungen nach der Mütterrente III. Die von der amtierenden Bundesregierung eingeführte Grundrente führt zu weitergehenden Forderungen, der Mindestlohn fordert immer mehr ein Wettbieten zu immer höheren Lohnuntergrenzen heraus.
Der Selbstbetrug bei der Rente
Die Frage, ob wir uns das, was wir als sozial gerecht empfinden, überhaupt irgendwann noch leisten können, wir totgeschlagen: in einem reichen Land wie diesem müsse das möglich sein. Ökonomen sind da wesentlich nüchterner:
„Den Projektionen zufolge werden die alterungsbedingten öffentlichen Ausgaben ab Mitte der 2020er Jahre deutlich steigen und nach dem Ausscheiden der Babyboomer aus der Erwerbsphase um das Jahr 2040 ein neues Ausgabenplateau erreichen. Die Alterung der Bevölkerung und der demografiebedingte Ausgabenanstieg werden sich jedoch auch darüber hinaus fortsetzen. Der demografische Wandel ist somit kein temporäres Problem, das eine lediglich vorübergehende fiskalische Anspannung auslöst, er impliziert vielmehr eine dauerhafte Aufgabe für die öffentliche Finanzplanung.
Das schreibt das Bundesfinanzministerium in seinem aktuellen Bericht zur Tragfähigkeit der Staatsfinanzen. Kostenexplosionen ohne Leistungsausweitung, das ist die Kernbotschaft. Wenn wir uns heute schon kaum noch in der Lage sehen, die Anforderungen an den Staat noch aus den bestehenden Einnahmen, Steuern und Beiträge der Sozialversicherungen, zu decken, wie wird das in den kommenden Jahren?
Der Bundesfinanzminister ist da eiskalt. Die Frauen sollen mehr arbeiten. Bisher arbeiten Frauen 31 Stunden in der Woche, während es Männer auf 39 Stunden bringen mit fallender Tendenz. Mittelfristig kalkulieren die Ökonomen mit einem Anstieg der Frauenarbeit auf 32 Stunden. Allerdings werden sie dazu noch Überzeugungsarbeit leisten müssen, denn in Umfragen zeigt der weibliche Teil der Gesellschaft keine Bereitschaft, ihre Erwerbsarbeit zu erhöhen.
Die Tragfähigkeitsanalyse der Bundesregierung der gesetzlichen Rentenversicherung reicht gerade bis zum Jahr 2025, nicht einmal 4 Jahre also. Jede Mittelfristplanung von börsennotierten Kapitalgesellschaften hat einen weiteren Horizont. Bis zum Ende der nächsten Legislaturperiode ist das Rentenniveau von 48% festgeschrieben. Doch erst ab 2025 geht das Gros der Babyboomer in Rente, sinkt das Erwerbskräftepotential gravierend und schnell. Behördenleiter Olaf Scholz, der bekanntlich Bundeskanzler werden will, verspricht die Festschreibung diese Niveaus bis zum Sankt-Nimmerleinstag. Man kann das Betrug nennen. Ohne angebliches Wissen, wie sich die Einnahmen des Staates und der Rentenkasse in den nächsten fünf bis zehn Jahren entwickeln werden, gibt ein führender Politiker eine Garantie ab, die er gar nicht einhalten muss.
Genauso behauptete Scholz in der Wahlarena der ARD, das Renteneintrittsalter würde nicht weiter erhöht. Im Vorwort des Tragfähigkeitsberichts schrieb er etwas anderes:
„Die aktuelle Entwicklung zeigt, dass im flexiblen Übergang in den Ruhestand erhebliches Potenzial für die Erwerbstätigkeit Älterer liegt.
Sprich: Wenn die Menschen später in Rente gehen, lassen sich die Kosten der Alterung leichter bewältigen. Eigentlich eine Binse, die der Kanzlerkandidat der SPD seinen Wählern jedoch nicht zumuten mag. Die einzige Partei, die den Finanzminister ernst nimmt, ist die FDP, die für eine Flexibilisierung des Renteneintrittsalters wirbt.
Auch die Grünen, die Linkspartei ohnehin, wollen das derzeitige Rentenniveau sichern, was angesichts der Zahlen wie ein schlechter Scherz wirkt. Die Solidarrente wurde einstmals als selbsttragendes System geschaffen. Heute überweist der Bundesfinanzminister jährlich rund 100 Milliarden Euro an die Rentenkasse, ein Drittel deren Einnahmen. Begründungen gibt es viele, aber nicht die Einsicht, dass das Umlageverfahren kein sich selbst tragendes System mehr ist.
Im Gegenteil. Statt dass die Versicherten mit ihren Beiträgen entscheiden, welche Rente sie im Alter erwerben, bestimmt allein die Politik, wie hoch die Ansprüche ausfallen. So lobt Scholz dieser Tage, alle Prognosen der Neunzigerjahre über steigende Beitragssätze und sinkende Renten hätten sich als falsch herausgestellt. Da lebt der selige Norbert Blüm wieder auf. Nicht nur mit Einführung der Ökosteuer wurde 1999 ein weiterer Teil der Einnahmen auf den Steuerzahler ausgelagert, auch das Rentenniveau wurde nicht durch wirtschaftliche und demographische Entwicklungen gesichert, sondern per Gesetzesakt aus dem Bundeshaushalt.
Man kann es Selbstbetrug oder Lüge nennen. Doch ökonomische Zwänge lassen sich nicht auf Dauer ausbremsen. In der nächsten Legislaturperiode werden weiterreichende Planzahlen für die Rentenversicherung auf den Tisch, schließlich kann die Politik nicht retroperspektivisch Planungen aufstellen. Aus der Prognose der Beitragseinnahmen, mindestens bis 2035, wird die Politik über die Konsequenzen streiten müssen.
In Gesundheit und Pflege hat die Politik unter der großen Koalition die Leistungsansprüche erheblich ausgeweitet. Im Tragfähigkeitsbericht rechnen die Wissenschaftler mit höheren Kosten. Der Anteil am BIP, der für Gesundheit aufgewendet werden muss, wird danach von heute 6,9% auf 7,3 – 7,5 Prozent in den kommenden 13 Jahren steigen. Anders ausgedrückt: neben dem Beitragsanstieg in der Rentenversicherung um 5%-Punkte ist in der GKV ein weiterer Anstieg um rund 1%-Punkt zu kalkulieren.
Die Bundesregierung will dies mit der Wunderwaffe Frauenerwerbsarbeit ausgleichen, die linken Parteien kalkulieren mit höheren Beitragseinnahmen durch den Einbezug der heute privat Versicherten. Unter den Tisch fällt dabei, dass die PKV seit längerem von großen Nachwuchssorgen geplagt ist. So werden die Pläne von Grünen und SPD zur Milchmädchenrechnung, denn schon heute besteht das Gros der Privatversicherten aus Beamten und Pensionären, bei denen der Staat schon heute die zusätzlichen Kosten trägt.
Mehr als die Entwicklung der Sozialversicherungen und ihren Leistungen beschäftigten sich die linken Parteien in diesem Wahlkampf mit der Ausweitung der Sozialleistungen für Langzeitarbeitslose und der Lohngestaltung im unteren Einkommenssegment. Der Hartz-IV-Satz soll zwischen 50 und 100 Euro steigen. Gleichzeitig versprechen alle drei die Anhebung des bisher durch eine Lohnfindungskommission festgelegten Mindestlohns auf 12 Euro, wobei die Linkspartei ein Jahrmarktangebot von 1 Euro Bonus bietet.
Der fragwürdige Respekt des Olaf Sch.
Die sozialen Probleme des prekären Bereichs sind jedoch anders gelagert. Sozialwissenschaftler haben seit langem die Armutsfalle ausgemacht. Sie besagt, dass es Menschen mit geringem Einkommen praktisch unmöglich ist, sich durch eigene Anstrengungen aus ihrer Situation herauszuarbeiten. Bereits vor vier Jahren listete die Bertelsmann Stiftung in einer Studie auf, dass Geringverdiener mit Transferentzugsraten von 80 Prozent und mehr rechnen müssen, wenn sie eigenes Einkommen verdienen. Dieses negative Zusammenspiel von Sozialtransfers, Besteuerung und Sozialbeiträgen wird durch die Pläne der linken Parteien noch verschärft. Entweder Grüne und SPD wissen nicht, was sie da tun oder es ist ihnen egal.
Olaf Scholz wirbt im Wahlkampf für Respekt vor der Leistung kleiner Einkommen. Sein Respekt ist dabei sehr zweifelhaft. Mit der Erhöhung der Transferleistungen würden Millionen Geringverdiener zu Kostgängern des Staates. Damit diese nicht ungleich untereinander behandelt werden, müssen sie alle Anträge auf Zusatzleistungen stellen. Viele der heutigen Mindestlohnbezieher stocken ihre Sozialleistungen auf. Sie erhalten BAföG, Wohngeld, Hartz-IV und andere Begünstigungen. Die Sozialleistungen sind von Einkommensgrenzen abhängig, steigt das Bruttoeinkommen, werden ihnen Leistungen gestrichen.
Nehmen wir eine Alleinerziehende, die ein Kind durchbekommen muss und zusätzlich einer Teilzeitbeschäftigung nachgeht. Bei unterstellten Wohnkosten von 700 Euro und einem Bruttoeinkommen von 850 Euro (20 Stunden) kommt sie auf einen Nettoverdienst von 680 Euro und einen Hartz-IV-Anspruch von knapp 1.000 Euro. Insgesamt stehen ihr somit rund 1.480 Euro zur Verfügung.
Nach den Vorstellungen von SPD und Grünen würde sie zukünftig bei einer Mindestlohnerhöhung um 26% auf 12 Euro einen Bruttoverdienst von 1.080 Euro und netto 864 Euro niederschlagen. Mit dem höheren Lohn würde ihr Sozialanspruch jedoch auf 845 Euro sinken, per Saldo hätte die fleißige Frau keinen einzigen Cent mehr! Die Armutsfalle, die Rote und Grüne weiter verschärfen wollen, schlüge voll zu.
Respekt ist offensichtlich das, was Olaf Scholz für den Staat meint.
Der Ansatz der FDP klingt da problembewusster und mehr an einer Lösung orientiert. Die Liberalen wollen die Sozialleistungen des Staates zu einem Bürgergeld umformulieren bis hin zu einer negativen Einkommensteuer. Dadurch würden die Anrechnungen sinken, Geringverdiener hätten in jeder Phase des Mehrverdienstes effektiv mehr. Sozial ist nicht immer das, wo sozial draufsteht.
Sie haben die Wahl: Parteien, die vor den Finanz- und Sozialproblemen die Augen verschließen oder Parteien mit Problembewusstsein.
Scholz hat in einer Wahlarena auch ein „Bürgergeld“ in Aussicht gestellt. Ein deutliches Signal an die FDP. Lindner wird trotzdem mit Laschet gehen – anders kann man seine Rede im Bundestag kaum interpretieren.
Olaf Scholz braucht für seine Pläne die FDP. Natürlich wird längst kalkuliert. Fakt ist aber, das heutige System ist maßgeblich von der SPD mitgestaltet worden. Es fusst auf Abhängigkeit. Die Sozialdemokraten denken vor allem daran, die Transfersätze zu erhöhen und nehmen dafür in Kauf, dass die Armutsfalle noch tiefer, noch breiter wird. Das hat nichts mit Respekt zu tun.
Ich ging davon aus, dass es zu einem Aufschrei führt zu sehen, dass eine arbeitende junge Mutter zum Sozialamt gezwungen wird, obwohl sie genügend verdient um sich und ihr Kind über Wasser zu halten. Aber ich habe in solchen Debatten auch gelernt: Staat geht vor. Gerade Linke argumentieren an der Stelle, der Lohn müsse selbstverständlich so hoch sein, dass er auch problemlos die Steuer- und Abgabenpflichten abdeckt. Wenn nicht, ja dann muss Hilfe beantragt werden.
Ich sehe hier ein ähnliches Problem wie bei Migration: keine Seite vertraut der Rhetorik der anderen. Wenn Linke von „Gerechtigkeit“ und „Solidarität“ sprechen, hören Konservative und Liberale nur „höhere Steuern für Leistungsträger*innen“; wenn Konservative und Liberale von „Eigenverantwortung“ und „Flexibilisierung“ hören, hören Linke nur „Kürzung“. Und das ist zu Unrecht, in beiden Fällen. Denn letztlich geben FDP und CDU genausowenig zu, dass all ihre Vorschläge letztlich verbrämte Rentenkürzungen sind, die für das Gros Sozialhilfeniveau bedeuten, wie die linken Parteien zugeben, dass nur durch massive Ausweitung der Zuschüsse (und damit einhergehende haushaltspolitische Belastungen) das derzeit ohnehin erbärmliche Niveau aufrechterhalten kann. Ehrlich ist die Debatte nicht, von beiden Seiten nicht. Einen Ausweg sehe ich auch hier nicht wirklich; wie bei der Migration murksen wir mit dem aktuellen Zustand weiter.
Ich könnte jetzt empört schreiben, dass das FDP-Programm einen Fehdehandschuh wirft, aber das ist mir zu billig 😛
Wenn Du richtig rechnest, fällt Dir sicher auf, dass die Vorstellungen der FDP statisch betrachtet zu mehr Hartz-IV führen und Steuerverzicht im unteren Einkommenssegment. Also ziemlich genau das, was linke Parteien fordern. Die Liberalen gehen damit in Siebenmeilenstiefeln auf die andere Seite zu. Nur, denen geht es ja gar nicht darum, Menschen aus der Abhängigkeit zu bringen. Denen geht es darum, ihren Wählern, den Sozialwissenschaftlern, Beschäftigten in den Arbeitsagenturen, Jugendhilfearbeitern usw. Beschäftigung zu sichern. Die Menschen sollen sich nicht herausarbeiten.
Wo übrigens gehen die Grünen auf die Bedenken der Gesellschaft bei der Migration ein? Das, Stefan, ist der Fehdehandschuh. Einfach sich auf den Standpunkt zu stellen, ihr müsst schon auf unsere Seite kommen.
Wie gesagt, mangelndes Vertrauen ist das Problem, nicht Substanz.
Anderes Denken, andere Haltung.
Zahlreiche Politiker linker Parteien geben inzwischen ganz offen zu, dass sie sich nicht damit beschäftigen, Menschen zu Eigentümern zu machen, zu Gutverdienern, zu selbständigen Bürgern. Liberale wollen genau das. Ob man das glaubt oder nicht, ist nicht die Frage. Die Frage ist der Ansatz.
Das Beispiel zeigt es doch: Viele Mindestlohnempfänger werden ihr 25%-Plus direkt beim Bundesfinanzminister abliefern müssen. Sag‘ bitte nicht, dass Scholz das wahrscheinlich nicht bedacht hätte.
Mir muss entgangen sein, dass die SPD die Steuern für Geringverdiennde erhöhen will.
Kauf‘ Dir doch bei Gelegenheit eine Mausefalle und studiere sie. Eine Falle zeichnet sich dadurch aus, dass sie mindestens zwei Enden hat.
Die Armutsfalle, von der wir sprechen, besteht aus zwei Enden – nicht einem, wie Du meinst.
1. Die Abgabenlast für prekär Beschäftigte bis in den mittleren Einkommensbereich hinein ist sehr hoch und hat schnell die 40%-Grenze erreicht. Vom Verdienst bleibt relativ wenig übrig, bei Mehrarbeit und Lohnerhöhungen wird bald zwischen 60 und 70 Prozent abgeführt. Das Mehrarbeiten und das Anstrengen lohnen sich nicht, um damit höhere Einkommensbereiche ansteuern zu können.
2. Bereits bei geringen Zuverdiensten erhält der Transferempfänger weite Teile seines Arbeitslohns auf den Sozialtransfer angerechnet. Für ihn lohnt sich die Arbeit nicht wirklich, es sei denn, er überwindet die Falle bis der Lohn so hoch ist, dass er (abzüglich Steuern und Sozialabgaben) über dem Sozialhilfesatz liegt – deutlich drüber.
Scholz will den Mindestlohn erhöhen und damit die Arbeitgeber für die Abgabenlast des Arbeitnehmers zahlen lassen. So soll Arbeit attraktiver werden, ohne dass der Staat auf einen Cent verzichten muss. Gleichzeitig will er aber auch Hartz-IV deutlich erhöhen, d.h. die Grenze, ab der ein Transferempfänger der Abhängigkeit entfliehen kann, wird nach oben verschoben. Im Ergebnis sorgt das nur dafür, dass Geringverdiener länger ihr Einkommen vom Staat bestimmten lassen müssen. Nach Scholz benötigt man noch mehr einen Durchschnittsverdienst, um mit Familie selbständig leben zu können. Linke Vorstellungen von Unabhängigkeit.
Die FDP setzt genau daran wie von der Bertesmann Stiftung empfohlen an. Wer verdient, muss in jeder Phase (deutlich) besser gestellt sein als jemand ohne Verdienst. So besteht jederzeit eine monetäre Motivation, sich hochzuarbeiten, Überstunden zu machen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Derzeit gibt es dazu Null Motivation, wenn jemand mit Wochenarbeitszeit sich kaum besser stellt als jemand mit Arbeitszeit Null.
SPD und Grüne wollen an dieser Falle nichts ändern. Die FDP will den GAP deutlich verkleinern. Die Linken behaupten, sozial zu sein, sind aber das Gegenteil.
1) Auch mit 30% Abgaben würdest du durch fleißige Arbeit nicht in höhere Einkommensbereiche kommen. Wer auf Mindestlohn bezahlt wird, kommt ja per Definition nicht in höhere Bereiche, selbst wenn er oder sie 24h am Tag arbeitet.
2) Die Abzüge sind ein Dauerproblem, da hab ich nie was anderes gesagt.
Was du sagst ändert nichts daran, dass die Geringverdiener profitieren. Das ist genau das Thema, was ich letzthin meinte: du redest hier von „Entfliehen von Abhängigkeit“, aber was du meinst ist: Kürzungen. Niemand hindert Unternehmen daran, Leute besser zu bezahlen.
Wer statt 500 Euro im Monat 1.000 Euro verdient, erlebt eine Verdopplung des Lohns. Wie lang mag das Gesicht wohl sein, wenn davon 0 Euro für die eigene Tasche übrig bleibt? Ob der-/ diejenige die angebotene Stelle mit mehr Arbeitsstunden annimmt? Was meinst Du? Genauso springt jemand von 1.200 Euro auf 2.200 Euro sehr ordentlich. Obere Einkommensbereiche ist eine Frage der Perspektive. Warum denkst Du so egalitär?
Es sind eben nicht (nur) die Abzüge. Ich habe doch ein sehr realistisches Beispiel angeführt. Und ich habe eine sehr detallierte Studie zitiert. Du hast genügend Material, das Problem in Gänze zu erfassen.
Könntest Du bitte anhand der angeführten Halbtagskraft noch einmal darlegen, wo genau sie als Geringverdienerin bei einer Erhöhung des Mindestlohns profitieren würde? Das würde mich echt brennend interessieren.
Nicht jedes Unternehmen kann so bezahlen, dass jeder Mitarbeiter mindestens ein Durchschnittsgehalt bezieht. Ist irgendwie schon logisch, oder? Und warum ist eigentlich immer der Arbeitgeber in der Pflicht, wenn die Daten klar sagen, dass der Staat das meiste kassiert? In unserem Beispiel mehr als 100%. Stell‘ Dir vor, jemand würde verpflichtet, nicht nur für lau zu arbeiten, sondern müsste noch Geld mitbringen. Du wärst der Erste, der „Skandal!“ schreien würde. Seltsamerweise findest Du es in Ordnung, wenn es um den Staat geht.
Du springst wie wild durch die Kategorien. Wir waren gerade bei 450 Euro Jobs. Ansonsten: no shit, wer mehr verdient hat am Ende mehr.
Hier war keineswegs die Rede von Minijobs, sondern von Geringverdienern.
Bitte zeige doch an dem Beispiel, wo die Frau durch die Erhöhung des Mindestlohns mehr Geld zur Verfügung hat. Zur Hilfe hatte ich ja die entsprechenden Rechner verlinkt, Du brauchst zur Überprüfung also nur die Werte einzugeben.
Nehmen wir eine Alleinerziehende, die ein Kind durchbekommen muss und zusätzlich einer Teilzeitbeschäftigung nachgeht. Bei unterstellten Wohnkosten von 700 Euro und einem Bruttoeinkommen von 850 Euro (20 Stunden) kommt sie auf einen Nettoverdienst von 680 Euro und einen Hartz-IV-Anspruch von knapp 1.000 Euro. Insgesamt stehen ihr somit rund 1.480 Euro zur Verfügung.
Nach den Vorstellungen von SPD und Grünen würde sie zukünftig bei einer Mindestlohnerhöhung um 26% auf 12 Euro einen Bruttoverdienst von 1.080 Euro und netto 864 Euro niederschlagen. Mit dem höheren Lohn würde ihr Sozialanspruch jedoch auf 845 Euro sinken, per Saldo hätte die fleißige Frau keinen einzigen Cent mehr! Die Armutsfalle, die Rote und Grüne weiter verschärfen wollen, schlüge voll zu.
Du sagst, das ist falsch. Was ist richtig?
Vorher waren es 450 Euro. Egal, das zerfasert gerade eh zur Unkenntlichkeit.
Bitte noch zum Kern: Wo profitiert eine Geringverdienerin?
Wenn ich bisher X Stunden für 450 Euro arbeiten musste und nun nur noch X-1 Stunden, profitiere ich.
Hocharbeiten tut sich damit niemand, weniger Stunden zu arbeiten. Minijobber können es sowieso nur zu etwas bringen, wenn sie aus den wenigen Stunden Beschäftigung rauskommen. Arbeitszeitreduzierung ist da kein Gewinn.
Minijobber arbeiten sich generell nicht hoch! Das ist doch eine völlig fantastische Debatte!
Aber Du bringst trotz mehrfacher Aufforderung nichts Klares zustande. Warum auch immer. Die Fakten sind glasklar und belegt, aber Du bringst es nicht über Dich zuzugeben, dass viele Geringverdiener wegen der Hartz-IV-Kürzungen keinen Cent Einkommen haben werden von einer Mindestlohnerhöhung. Ein LINKEN-Politiker hätte es nicht besser gekonnt.
Nein, aber sie würden weniger für das gleiche Geld arbeiten. DAS ist der Punkt. Das hat ja nichts mit dem Mindestlohn zu tun. Ich bin gerne dafür, dass die Abzüge auf Hartz-IV geringer sind, aber das hat doch gar nichts miteinander zu tun!
Leider wahr. Gehört das zum politischen Geschäft oder ginge das auch anders?
Das ginge schon anders. Nur gibt es eben bestimmte Bereiche, in denen dieses Vertrauen fehlt. Auf anderen Gebieten ist das viel unproblematischer; wenn es etwa um Verkehrspolitik geht oder so.
@ Stefan Sasse
Natürlich bedeuten Begriffe wie „Gerechtigkeit“ höhere Steuern und Umverteilung, NICHTS anderes. Und Dir ist auch klar, dass „gerecht“ ein sehr subjektiver Begriff ist, den jeder nach seiner persönlichen Situation auslegt. Somit gibt es nicht EINE allgemein gültige Gerechtigkeit, sondern nur VIELE individuelle, die gleichwertig gegeneinander stehen. Hier ist ein Mehrheitsentscheid nicht möglich.
Was mich auch immer wieder an dieser Diskussion ärgert, ist, dass offenbar niemand sich für das Thema Effizienz interessiert. Auch, dass das bestehende System für die da unten (fast) nichts besser macht, die ganz unten und ganz oben nie erreicht, scheint keinen von links zu interessieren. Es geht nur darum, mehr Geld in das bestehende, nicht funktionierende System zu stopfen, und weil es nicht funktioniert, noch mehr Geld.
Ganz grausam
Als Berater mit Einfluss der künftigen Regierung: Wo genau würdest Du ansetzen, um mehr Effizienz statt Geld ins System zu bringen?
@ CitizenK
Ich muss kein Koch sein, um zu erkennen, dass ein Essen versalzen ist. Wir beide (und nicht nur wir) wissen doch, dass wir zu viel Bürokratie haben.
Grundsätzlicher Ansatz könnte sein, dort zu schauen, wo es besser läuft; der deutsche Staat ist in einem Maße lernunwillig, dass es schmerzt.
Dann: JEDE Subvention, JEDE steuerliche Ausnahmeregelung, aber auch JEDE soziale Ausgabe auf den Prüfstand stellen.
Dann: Korruption vernünftig bekämpfen, keine Kungelei mehr im Beschaffungswesen, 100 % Transparenz wie von Abgeordnetenwatch und Lobbycontrol gefordert.
Dann: Beschränkung der Kanzlerschaft auf 2x 5 Jahre, Abgeordnete eventuell 3x 5 Jahre (in diesem Punkt bin ich mir nicht so sicher).
So die Richtung
Amtszeitbeschränkungen haben den wahnsinnigen Nachteil, Expertise aus der Politik zu drücken. Sie verhindern außerdem eine politische Karriere, gerade wenn es BT-Mandate sind. Ich verstehe den Impetus dahinter, aber ich fürchte, die schaffen mehr Probleme als sie lösen.
Schröder wusste, dass es nach zwei Amtszeiten nicht besser wird. Das gilt für Merkel und ohne den Sonderfall Deutsche Einheit hätte das auch für Kohl gegolten. Nach acht Jahren im Amt ist der Amtsinhaber erschöpft. Expertise zählt da wenig. In Unternehmen bis hoch zu DAX-Konzernen wird der Vorstand auch munter durchgetauscht (Ausnahme: Eigentümergeführte Unternehmen). Wenn das zählte, was Du behauptest, wäre man in der Wirtschaft und in vielen Demokratien auf einem furchtbaren Irrweg.
Belieben zu scherzen? Schröder hat mit Zähnen und Klauen für eine dritte Amtszeit gekämpft.
Und ich sehe das Argument durchaus für Kanzler*innen, aber nicht für MdB. Aber selbst hier hinkt der Vergleich: Vorstand von Unternehmen A kann in Unternehmen B wechseln, aber Minister von Land A nicht zu Land B.
Auch hier ist der Zeitzeuge dem Historiker überlegen. Bei Amtsantritt sagte Schröder in mehreren Interviews, dass acht Jahre im Kanzleramt genug seien. So führte er auch. Nach gewonnener Bundestagswahl 2002 war er sehr erschöpft, den Koalitionsverhandlungen wohnte er mehr bei als sie zu führen („Lass mal gut sein, Hans“). Seine Kräfte kehrten Monate später zurück, als er im Zusammenspiel mit seiner Frau und Frank-Walter Steinmeier die Agenda 2010 entwarf, sein Vermächtnis, wissend, dass er für Bleibendes nicht ewig Zeit hatte. Seinen Adaltus hatte er da schon als seinen Nachfolger ausgemacht, der nach 2006 übernehmen sollte.
Der Absturz der SPD und die parteiinterne Revolte machten ihm einen Strich durch die Rechnung. Man sagt oft, er habe im Frühjahr 2005 die Nerven verloren. Aufgrund des Verlaufs halte ich das nicht für allein stichhaltig. Schröder wollte eins nicht, sich wie Schmidt von den Linken in der SPD killen lassen. Er hat auch einmal betont, das Schicksal in die Hand des Wählers legen zu wollen.
Im Wahlkampf hat er mehrmals etwas gesagt, was Merkel nie über die Lippen gekommen wäre: Er wisse, was er seiner Partei schuldig sei. Natürlich wollte sich Schröder nicht abwählen lassen, das ging schon gegen sein Selbstverständnis. Schon gar nicht wollte er gegen die von ihm wenig geschätzte Merkel verlieren. Aber auch die Landtagswahl 1990 gegen Ernst Albrecht wollte er unbedingt gewinnen. Die damalige Nominierung der populären Rita Süßmuth wirkte kurzzeitig frustrierend auf ihn.
Wenn man das Agieren unter dem Aspekt betrachtet, dass Schröder angesichts seines Lebensplans nach einer Exitstrategie suchte, ergibt alles Sinn. Auch, dass er anders als seine Nachfolgerin dem Monetären und Schönem zugeneigt ist, war schon damals kein Geheimnis. Niemanden, der sich mit Schröder näher befasst hatte, konnte sein schneller Abschied aus der Politik überraschen. Zum Vergleich: die Ex-Kanzler Brandt, Schmidt und Kohl gaben ihr Mandat nicht zurück, sondern blieben eine Weile noch Abgeordnete.
Letztlich weiß das, wenn überhaupt, nur Schröder selbst. Vermutlich nicht mal der.
@ Stefan Sasse 23. September 2021, 08:19
Amtszeitbeschränkungen haben den wahnsinnigen Nachteil, Expertise aus der Politik zu drücken.
Die Kunst der Politik (so hast Du es mir immerhin oft genug erklärt) ist doch, tragfähige Kompromisse zu schließen. Frei nach dem Motto „lassen wir die Fakten doch mal beiseite“ werden allzu oft gesichtswahrende Formelkompromisse angestrebt, die mit dem zu lösenden Problem nicht immer was zu tun haben.
Expertise bei Politikern wird vermutlich überschätzt; dafür hat man den Beamtenapparat.
Normalerweise ist das mein Argument ^^ Und für Minister*innen etc. gilt das auch, aber im Parlament haben Lobbyist*innen es noch leichter als ohnehin, wenn die Leute keine Erfahrung haben. Ist keine gute Idee…
Ist ja nicht falsch was du sagst. Und „Gerechtigkeit“ bedeutet nicht zwingend höhere Steuern; Umverteilung aber in jedem Fall, klar. Das tut „Flexibilität“ aber auch. Jede Politik stellt zwangsläufig manche schlechter, manche besser. Die Politik, die ALLE ohne Unterschied besserstellt, muss glaube ich noch erfunden werden. Die Frage ist ja: wen? Wie große ist das Missverhältnis? Usw.
@ Stefan Sasse
Wie Stefan P. klargemacht hat, ist unser aktuelles Prinzip Panne.
Beispiel Mindestlohn mit 12 Euro die Stunde: Wer einen Minijob auf Basis 450 Euro hat, profitiert nicht. Wer staatlich bezuschusst wird, profitiert nicht. Was soll so ein Mist? In so ein schräges System kannst Du Geld pumpen, bis der Arzt kommt, ohne das es hilft.
Die Frage lautet also nicht, wie viel in Euro umverteilt wird, sondern müsste lauten „Nach welchem System wird umverteilt“.
Nicht, um Dich zu Ärgern: Diese Frage hat hier im Forum bislang nur der andere Stefan gestellt, aber keiner von denen, die sich nach Eigenwahrnehmung besonders für die sozial und finanziell Benachteiligten einsetzen; die reden nur davon, mehr Geld ins System zu pumpen, dass man vorher den Wohlhabenden (an die Reichen kommt man eh nicht heran) wegnehmen will. So etwas Schlichtes hilft aber nicht.
Warum profitiere ich nicht? Ich muss für die gleichen 450 Euro dann weniger arbeiten. Selbstverständlich profitiere ich davon. – Davon abgesehen kann man die Grenze da gerne anheben, das soll an mir nicht scheitern.
Und ich behaupte schon, mich differenzierter zur Umverteilung geäußert zu haben; den Vorwurf kann ich nicht akzeptieren.
@ Stefan Sasse
Wer auf 450-Euro-Basis unterwegs ist, könnte mit mehr Geld mehr anfangen als mit weniger Arbeitszeit (zumal Anreise/Abreise bleiben). Das ist „profitieren“ vermutlich das falsche Wort.
Und selbst wenn Du Dich zum Thema Umverteilung schon differenzierter als andere äußerst, stellst Du doch die Systemfrage nicht. Aber die Situation der Leute verbessert Du nicht mit noch mehr Geld in ein dysfunktionales System, sondern nur durch ein besseres System.
Leider verhindert der Kontrollanspruch des Staats mehr Effizienz. Lieber hält man die Leute in Abhängigkeit, als sie dabei zu unterstützen, auf eigenen Beinen zu stehen.
Klar. Aber das ist ja nicht die Wahl. Niemand ist hingegangen und hat gesagt „Hey, wollt ihr weniger für das gleiche Geld arbeiten oder mehr arbeiten für mehr Geld?“ Die Frage, die gestellt wird, ist: „Wollt ihr weniger für das gleiche Geld arbeiten oder Gleich für das gleiche Geld?“
Und wenn man bedenkt, wie viel Ausbeutung und kriminelles Verhalten es seitens der Arbeitgebenden gibt, gerade im Niedriglohnbereich, ist ein Kontrollanspruch mehr als gerechtfertigt.
@Stefan Sasse
Keine Einwände gegen Kontrolle, auch keine grundsätzlichen Einwände gegen höheren Mindestlohn (solange der über eine AG/AN-Kommission und nicht über die Politik geregelt wird).
Das ändert nichts an der von Stefan P. beschriebenen Situation, dass das System nicht wirklich taugt.
Korrekt. Aber die Diskussion entzündete sich an der Frage, ob ein höherer Mindestlohn Minijobbern hilft, und da ist die Antwort ganz klar: ja, wenn sie Mindestlohn bekommen und der steigt hilft ihnen das natürlich.
Ich habe keinen Plan, wie man die Niedriglohnproblematik angeht. Ich bin ziemlich sicher, dass einseitige Flexibilisierung nichts helfen wird, denn wir hatten in den 200er Jahren eine höhere Flexibilität als jetzt im Niedriglohnsektor, und den Leuten ging es schlechter. Das kann nicht die Lösung sein. Auf der anderen Seite ist die Kritik völlig gerechtfertigt, dass diese Arbeitsverhältnisse eine Sackgasse sind. Nur: wer glaubt, eine 450-Euro-Jobberin beim Aldi könnte sich zur Filialleiterin hocharbeiten, wenn sie nur 25 statt 10 Stunden die Woche Waren über den Scanner ziehen würde, ist blanke Fantasie.
@ Stefan Sasse 24. September 2021, 09:31
Aber die Diskussion entzündete sich an der Frage, ob ein höherer Mindestlohn Minijobbern hilft, und da ist die Antwort ganz klar: ja, wenn sie Mindestlohn bekommen und der steigt, hilft ihnen das natürlich.
So wie einem Verdurstenden in der Wüste ein Schnapsglas voll Wasser hilft.
Aber auf das eigentliche Problem geht Du nicht ein.
Habe ich auch nie behauptet. Nochmal, die ganze Diskussion war nur, ob 450-Euro-Jobber*innen mit mehr Mindestlohn geholfen ist. Antwort: ja. Wie einem Verdurstenden in der Wüste mit einem Glas Wasser. Hat er dann in 3h wieder Durst? Sicher. Ist das Glas Wasser keinem Glas Wasser vorzuziehen? Genauso sicher.
@ Stefan Sasse
Ich halte die Diskussion von Deiner Seite für absurd. Eine geringere Arbeitszeit bei einem 450-Euro-Jobber kann u.U. eine Verbesserung sein, muss aber nicht.
Und ein Glas Wasser in der Wüste für eine großartige Verbesserung zu halten, weil das Verdursten um 3 Stunden nach hinten geschoben wird, verstehe ich auch nicht; der Ansatz müsste doch ein völlig anderer sein.
Ich habe kein grundsätzliches Problem mit einer Mindestlohn-Erhöhung und sträube mich nur dagegen, dass der nicht mehr von der Kommission festgelegt, sondern von Parteien politisch bestimmt werden soll. Ich sehe aber eben auch, dass dieser Weg in diesem System nur kosmetischer Natur, aber für die Allermeisten nicht wirklich hilfreich ist. Was gerade passiert, ist, dass sich der Staat eine große Armee von Abhängigen heranzüchtet.
In dieser Situation scheint Dir ein Mindestlohn von 12 oder 13 Euro aber schon zu reichen. Und dann (sorry, muss ein) frage ich mich wieder, ob es Dir wirklich um Hilfe für die Schwachen oder nur um linke Symbolpolitik und Rechthaberei geht.
Klar muss der Ansatz ein anderer sein, wenn man das Armutsproblem lösen will. Aber es ist völlig absurd zu behaupten, höhere Löhne würden dabei nicht helfen! Ich glaube, wir zwei haben gar keinen Dissens bei der Frage.
Das ist ein ziemlich absurder Ansatz: Ein höherer Mindestlohn, der als wesentlichen Vorteil bietet, dass prekär Beschäftigte noch weniger Stunden arbeiten müssen als ohnehin schon. Und das alles zu dem Preis höherer Kostenbelastung für Unternehmen und gestiegenem Arbeitsplatzrisiko.
Dabei geht Deine Argumentation an den Fakten vorbei. Selbst im langanhaltendem Aufschwung seit Anfang der Zehnerjahre sind die Arbeitsstunden von Mindestlöhnern gesunken anstatt gestiegen. Die Zahl der Geringverdiener entwickelt sich seit Einführung des Mindestlohns rückläufig. Die Arbeit ist nicht verschwunden, sie hat nur jetzt ein anderer. Das vorgebliche Ziel, bei einer Vollzeitbeschäftigung von seiner Arbeit leben zu können – bei einem Mindestlohn, der weit über den Sozialhilfesätzen liegt – wurde nicht im Ansatz erreicht.
In der Pandemie erwischte es in den OECD-Ländern weit überdurchschnittlich prekär Verdienende. Sie wurden arbeitslos. In Deutschland wurden sie ebenfalls entlassen oder gingen in Kurzarbeit. Fazit: Das Drehen an der Mindestlohnschraube ist keine Strategie zur Bekämpfung struktureller Armut.
Nicht sehr wahrscheinlich, dass Du und Erwin keinen Dissens habt.
Ich verstehe einfach nicht, warum weniger arbeiten bei höherem Lohn das Problem sein soll. Wenn diese Leute unterbeschäftigt sind (also nicht freiwillig nur so wenig arbeiten) dann erhöht gerne von 450 Euro auf 650 Euro. Oder macht andere sinnvolle Maßnahmen, um das zu fördern. Aber warum das ein Argument GEGEN den Mindestlohn sein soll, erschließt sich mir nicht.
By the way, ich find es süß, wie Leute freiwillig weniger arbeiten, wenn es deine Argumentation stützt, dass Frauen ganz freiwillig schlechte Jobs ohne Aufstiegschancen machen, aber wenn es um mehr Geld geht, dann wollen die in Wirklichkeit nichts sehnlicher, als in genau den Jobs mehr malochen. Was denn nun?
Du beschreibst ungewollt sehr gut, was den Unterschied zwischen mir als Liberalen und Dir als Linken ausmacht.
Minijobber jubbeln mit Sicherheit nicht, wenn sie als Ergebnis des Mindestlohns statt 10 Stunden die Woche nur noch 8,5 Stunden die Woche arbeiten müssen, am Ende aber keinen Cent mehr haben. Arbeitszeitverkürzung als Vorteil für jeden verkaufen zu wollen, hat schon etwas von der Arroganz einer Elite, die mit 60k, 80k, 100k Euro Jahreseinkommen überlegt, ob man nicht zur Work Life Balance ein paar Stunden weniger in der Woche arbeiten könnte, wo der finanzielle Nachteil erheblich durch niedrigere Steuern aufgefangen wird. Dort, wo man jeden Euro mehrmals umdrehen muss, sieht man die Dinge naturgemäß anders. Aber die linken Parteien wollen das Übel ja auffangen, in dem sie einfach das Abhängigenentgelt deutlich anheben. Passt dann alles schon.
Noch dazu arbeitest Du Dich die gesamten Kommentare an einem Bereich ab, der ohnehin deutlich schwindet und nicht das Kernproblem markiert. Strohmann schallt es da doch dauernd. Das Problem ist, dass es durch die Gestaltung des Steuer-, Sozialabgaben- und Transfersystems so unheimlich schwer in Deutschland ist, aus der Armutsfalle zu entkommen. Du hältst es offensichtlich für natürlich, dass man ein von Hartz-IV unabhängiges Leben nur dann führen kann, wenn man beim Durchschnittseinkommen angekommen ist. Und wir uns dann wundern, dass in Deutschland so viele Menschen dauerhaft in Arbeitslosigkeit festsitzen. Das ist aber reiner Zufall und nur bösen Arbeitgebern geschuldet, die nicht einfach so viel Lohn zahlen, dass es jedem bei extremer Steuerlast gutgeht.
Es macht einen erheblichen Unterschied ob jemand freiwillig und selbstbestimmt Entscheidungen für seine Lebensverhältnisse und Einkommen trifft – Stichwort Work Life Balance, siehe oben – oder ob der Staat ihn dazu zwingt, weil er ihm alles wegsteuert, was er über einem bestimmten Level selbst verdient. Liberaler und Linker – und beides sollten wir nicht eine Minute verwechseln, wer von uns was ist.
Ich bin ziemlich sicher, dass die jubeln. Ich kann mal ein paar fragen. Aber klar, du entdeckst dein soziales Herz wieder und argumentierst, dass gleicher Lohn für mehr Arbeit besser für die Leute sei. Ha. Ha. Ha.
Erzähl‘ bitte keine Fake News. Wenn jemand von seinem Einkommen 80 – 100 Prozent weggenommen bekommt, dann ist das Problem offensichtlich nicht sein Verdienst, sondern der, der ihm alles wieder wegnimmt. Ich finde es erstaunlich, dass Du seit einer Woche die Realität leugnest.
Wenn Du mal zurückblickst, dann habe ich kontinuierlich sozial argumentiert. Vielleicht erinnerst Du Dich noch, wie beharrlich ich in einer Debatte über Griechenland (und auch anderen) darauf verwiesen habe, dass nur wenig der gesamten Sozialausgaben tatsächlich bei den unteren 20% der Gesellschaft landet. Ich werte solche Betrachtungen als sozialer als wenn jemand dauernd ziemlich einfach fordert, es bräuchte höherer Löhne und Sozialausgaben.
Wenn ich einem Geringverdiener anbieten würde, für 450 Euro eine Stunde weniger arbeiten zu müssen oder bei gleichen Stunden 170 Euro mehr einzustecken, kenne ich keinen, der sich für Arbeitszeitverkürzung entscheiden würde. Ja, stell‘ mal die Frage. Vielleicht erlebst Du noch Überraschungen.
„Lieber hält man die Leute in Abhängigkeit“
Die Anrechnung jedweden Einkommens auf Sozialleistungen fußt auf einem konservativ/liberalen Mantra: Wer Geld vom Staat haben will (das andere erarbeitet haben) muss sich bescheiden. Das ist zunächst ja nicht falsch, Linke wären da großzügigier. Den falschen bzw. fehlenden Anreiz hat man offensichtlich nicht bedacht.
Die Umdeutung, man wolle die Menschen absichtlich „in Abhängigkeit halten“, ist nicht gerechtfertigt.
Eher konservativ. Liberale wollen, dass die Leute aus der Abhängigkeit kommen und auf eigenen Füßen stehen. Die negative Einkommensteuer wurde von Liberalen erfunden.
Das war früher auch der Antrieb der Sozialdemokratie. Nur ist sie von dem Weg abgekommen. Langzeitarbeitslose und Dauer-Abhängige sieht man als gegeben an und nicht als Übergangsstatus, der zu ändern ist. So war nach Schröder die Politik der Partei ausgerichtet. Das Fordern kam in Verruf. Heute sind Teile der Partei so weit, den Sanktionsmechanismus als Ausdruck des Forderns vollständig aufzugeben. Gleiches gilt für die möglichst weitgehender Abschaffung anormaler Beschäftigungsverhältnisse. Entweder jemand bekommt einen gut bezahlten, voll sozial versicherten Job – oder nicht. Dann halt Antrag stellen.
Man kann auch das „Betrug“ nennen: Union und FDP legen sich fest: Steuersenkungen, Schuldenabbau, Schwarze Null. Gleichzeitig versprechen sie die Lösung aller Großprobleme von der Digitalisierung über Rente und Pflege bis zur Klimarettung. Sagen aber nicht, wo und wieviel sie Leistungen streichen werden. Die Mütterrente zu streichen (was die CSU nicht mitmacht), wird da nicht reichen.
Klar. Wie man denen immer „Wirtschaftskompetenz“ zusprechen kann ist ein reiner Treppenwitz, das ist Vodoo-Ökonomik.
Olaf Scholz weiß so genau um die Staatsfinanzen wie kaum ein anderer SPD-Politiker. Er hat die Aussagen im Vorwort sogar selbst geschrieben. Trotzdem erzählt er als Kanzlerkandidat das Gegenteil.
1. Von Schuldenabbau spricht keiner.
2. Konservative und Liberale versprechen nicht die Lösung aller Großprobleme. Solche Hybris ist linken Politikern vorbehalten.
3. In Digitalisierung, Pflege und Rente wird neben den bisherigen budgetierten Ausgaben eine mehr private Akzentuierung beabsichtigt. Wenn die Bürger Geld für den Klimaschutz ausgeben, braucht es der Staat nicht mit seinen Steuern.
4. Die Mütterrente kann nicht gestrichen werden.
5. Der Staat nimmt jährlich über 70 Milliarden Euro mehr aus der Einkommensteuer ein, als bei dem Beschluss der Einkommensteuerreform 2000 beabsichtigt war. Des weiteren nimmt er 12 Milliarden Euro aus dem Soli ein, der nach Ansicht der meisten Verfassungsrechtler grundgesetzwidrig ist. Sollte das so sein, wird der Fiskus das Geld zurückzahlen müssen – plus Verzugszinsen. Ein teurer Kredit beim Bürger und dazu noch ein Anschlag auf die Glaubwürdigkeit der Politik.
Das ist nur den linken Parteien egal. Ist der Ruf erst ruiniert …
@ Stefan P
Natürlich hat das mit dem Ruf nichts zu sagen, erst Recht nicht bei den Wählern der entsprechenden Parteien.
Aber die wichtige Frage ist: Wenn ich eine Planung für zukünftige Steuereinnahmen mache, und auf dieser Basis eine erforderliche Steuererhöhung kalkuliere – warum muss ich dann, wenn die realen Steuerzuwächse die geplanten Steuereinnahmen zuzüglich Steuererhöhung übertreffen, trotzdem Steuererhöhungen fordern?
Die aktuelle Informationslage ist für mich ein Indiz, dass das Wegnehmen wichtiger ist als das Helfen. Mag, wie von Stefan Sasse beschrieben, nur unangebrachtes Misstrauen sein. Aber warum bemüht sich niemand, dieses Missverständnis aufzuklären? Die aktuelle Steuererhöhungsdebatte ist eine Neiddebatte (unabhängig davon, wen man wie hoch besteuert).
„dass das Wegnehmen wichtiger ist als das Helfen“
Dieser Vorwurf kommt von Dir immer wieder. Ich kann das nicht sehen. Zustimmen kann ich in einem anderen Punkt: Dass die Politik zu wenig nach Möglichkeiten sucht ohne zusätzliche Steuern. Aber das gilt auch für die nicht-linken Parteien.
Etat-Kürzungen können wie Verbote 😉 Innovationstreiber sein. Aber das erfordert eine intensive und goodwill-getriebene Diskussionskultur – die wir noch nicht haben.
@ CitizenK
[„dass das Wegnehmen wichtiger ist als das Helfen“]
Dieser Vorwurf kommt von Dir immer wieder. Ich kann das nicht sehen.
Das wiederum kann ich nicht verstehen. Die Fakten sind klar: an die 40 Prozent der Einkommenssteuer-Einnahmen werden von den oberen 10 Prozent der Steuerzahler geschultert. Die unteren 10 Prozent erwirtschaften etwa 0,2 Prozent der Einkommenssteuer.
Wie man angesichts dieser Zahlen so tun kann, dass die stärkeren Schultern nicht schon DEUTLICH mehr als die schwachen Schultern zahlen, ist mir schleierhaft.
Ich verstehe immer wieder die Botschaft, dass da jemand „mehr“ verdient als Otto Normalverbraucher, und dass das „ungerecht“ ist. Von Hubertus Heil bis zur Linken-Parteichefin wird eine Neiddebatte geführt (wobei ich Janine Wissler zutraue, dass sie naiv genug ist, um zu glauben, was sie sagt; Hubertus Heil täuscht mit Absicht und Berechnung).
Es sind 55%. Die oberen 50% tragen 98% und die unteren 50% den Rest.
Es geht ja nicht um „mehr“ per se. Das ist Verzerrung. Finde mir die Linken, die mit 70k Jahresgehalt ein Problem haben. Und das sind schon deutlich die oberen 10% der Gesellschaft. Es geht, wie im berühmten Slogan, um die 1%. Dass die die Einkommenssteuer nicht trifft, ist mittlerweile sattsam bekannt. Aber das ist auch der Grund, warum ich beispielsweise dagegen bin, an der Einkommenssteuer rumzuspielen, sondern dafür bin, die Kapitalertragssteuer abzuschaffen, eine Vermögens- und eine gescheite Erbschaftssteuer einzuführen. Ich halte dieses Rumgeeiere an der Einkommenssteuer für eine Phantomdebatte. Die gehört, da haben FDP und Co völlig Recht, nach oben hin reformiert, sprich: die Grenze gehört deutlich nach oben gerückt.
Die Antworten auf grundsätzliche Fragen fehlen:
1. Ist es in Ordnung, dass das Steuersystem und insbesondere eine so zentrale Steuer wie die Einkommensteuer praktisch nur von einer Hälfte getragen wird? Was macht das mit dem Zusammenhalt der Gesellschaft, wenn offensichtlich ein Teil das Gefühl verliert, was „Steuerlast“ bedeutet?
2. Sollten Besteuerungsrelationen über mehrere Perioden gleich bleiben bzw. nur durch Parlamentsbeschluss geändert werden können?
Um diese Fragen geht es. Gut, den Linken nicht, aber sonst.
Angeblich graut selbst sozialdemokratischen und grünen Finanzexperten vor der Widereinführung der Vermögensteuer. Das ist einfach nur ein Schlager, den halt einige ernst nehmen.
Ich denke Du meinst die Abgeltungsteuer? Außer für Zinsen würde sich in der inländischen Besteuerung von Kapitalerträgen wenig ändern. Das ist auch so etwas, was Linke nicht verstehen: Bei Abschaffung der Abgeltungsteuer müsste wieder das komplizierte Anrechnungsverfahren eingeführt werden, um eine verfassungsrechtlich nicht zulässige Doppelbesteuerung von Kapitaleinkünften zu vermeiden. An der individuellen Steuerlast würde sich praktisch nichts ändern, wohl aber würde auch die internationale Besteuerung schwierig. Nicht rein zufällig haben die meisten OECD-Länder eine Pauschalbesteuerung von Kapitalerträgen.
Beispiel: Wenn ich Aktien von Amazon halte, müsste erst die Gewinnbelastung auf Ebene der Kapitalgesellschaft ermittelt werden, welche Amazon in einer Bescheinigung mitzuteilen hätte. Amazon ist aber keine deutsche Kapitalgesellschaft und nur bedingt greifbar. Soweit Amazon eine solche Bescheinigung nicht erstellt, könnte die volle Unterwerfung der Dividendenbesteuerung in Deutschland verfassungswidrig sein.
Was du forderst ist entweder Geringverdienende so hoch zu besteuern dass ihnen nichts zum Leben bleibt oder Höherverdienende nicht mehr zu besteuern. Mir ist klar dass es für die FDP auf Letzteres rausläuft, worauf man dann wegen mangelnder Einnahmen leider, leider, den Sozialstaat kürzen muss, aber das macht es nicht weniger falsch.
Danke für die Erklärungen zur Abgeltungssteuer. Mir geht es um das Problem, dass diese EInkünfte wesentlich weniger besteuert werden als Erwerbsarbeit. Und das ist ein Problem. Wie das genau gelöst wird überlasse ich gerne Steuerexpert*innen.
Seit den Achzigerjahren lag der Fokus der Einkommensteuerpolitik darauf, Geringverdiener und untere Einkommen zu entlasten. So wurde der Eingangsteuersatz mehrfach abgesenkt und Grundfreibeträge erhöht. Konsequenterweise hätten auch die übrigen Steuersätze abgesenkt und übrige Freibeträge wie Steuerstufen erhöht werden müssen. Die Kilometerpauschale von 0,15 bzw. 0,30 Cent gibt es so in der Höhe seit dreißig Jahren, obwohl die Fahrtkosten erheblich gestiegen sind. Das hat man unterlassen. Das Ergebnis ist die schrittweise Verlagerung der Einkommensteuerlast auf die oberen 50%. Das sollte man wissen, wenn man über steigende Steuern für die oberen Einkommen philosophiert. Es hat jedenfalls dazu geführt, dass die Mehrheit heute kaum weiß, wie sich hohe Einkommensteuersätze anfühlen. Und so wird dann gewählt,ohne Auswirkungen für einen selber.
Das führt uns zum zweiten Punkt. Über die Finanzminister Eichel und Steinbrück wurde das vormalige Abzugsverfahren über das Halbeinkünfteverfahren zur Pauschalbesteuerung reformiert. Dass der Staat dabei auf Steuern verzichtet hätte, ist eine Legende. Steinbrück brauchte eine Story, um das komplizierte Verfahren der Besteuerung von Kapitalverträge politisch zu verkaufen. So denken die meisten bis heute, der Staat habe Kapitalisten etwas geschenkt. Die meisten haben allerdings keine Aktien, um die Besteuerung zu verstehen und schon gar nicht, mit alten Verfahren vergleichen zu können.
Für die Gewinnbesteuerung gibt es zwei Ebenen: die auf Seiten der Kapitalgesellschaft und auf Seite des Aktionärs / Gesellschafters. Bei Personengesellschaften sind sie identisch, da gibt es nur eine Ebene. Die Besteuerung erfolgt mit dem individuellen Steuersatz. Bei 100 Gewinn fallen rund 45% Einkommensteuern (ESt, Soli) an. Der Unternehmenseigner behält 55. Merken!
Bei einer Kapitalgesellschaft ist das wie gesagt anders. Der Gewinn von 100 wird auf Unternehmensebene einer Besteuerung von 30% unterworfen. Es bleiben somit 70. Die landen beim Aktionär / Gesellschafter, der im Zuge des Quellensteuerabzugsverfahrens mit einer Pauschalsteuer von 26% (inklusive Soli) belegt wird. Er zahlt darauf 18 Steuern und behält somit 52.
Wir vergleichen:
Im alten Anrechnungsverfahren müsste der Kapitalbesitzer 45% Steuern auf seine Kapitalerträge zahlen. Mit der Abgeltungsteuer behält er von ursprünglich 100 Gewinn 52 übrig. Das macht einen Steuersatz von 48%. Was genau wolltest Du jetzt ändern?
„Bei Personengesellschaften sind sie identisch“
Die gängige Argumentation (auch der FDP) lautet: Dann fehlt den Unternehmern das Geld zum Investieren.
Warum kann man das nicht so regeln, dass re-investierte Gewinnanteile steuerlich berücksichtigt werden?
Dann fehlt den Unternehmern das Geld zum Investieren.
Das ist so. Das versteht ja schon eine Sechsjährige mit ihrem Taschengeld.
Wollen Sie jetzt ein Cum-ex-langes Gutachten? Die kurze Antwort: Aus rechtlicher und betriebswirtschaftlicher Unmöglichkeit.
Die lange Version:
Ihre Idee greift sehr stark in das Eigentumsrecht und das Gleichheitsprinzip ein. Das sind gleich zwei Grundrechte. Was der Bürger mit seinem Eigentum macht, in die Dispositionsfreiheit darf der Staat eigentlich nicht eingreifen. Bis 2000 hatten wir in Deutschland eine höchst unterschiedliche Besteuerung von ausgeschütteten und thesaurierten Gewinnen, also solche, die im Unternehmen verbleiben. Das führte zum Lock-in-Effekt, d.h. Gewinne wurden im Unternehmen eingesperrt. Eine solche Anlagepolitik ist allein im Interesse großer, strategischer Anleger. So entstand durch Über-Kreuz-Verflechtungen die Deutschland AG. Insgesamt war das irgendwann nicht mehr wirklich sinnvoll.
Der Kern der Bilanzierung besteht aus der Bilanz und der Gewinn- & Verlustrechnung (G&V). Die G&V ist im Grunde das Unterkonto des Eigenkapitals (EK). Verkürzt gesagt habe ich auf der Aktivseite der Bilanz die liquiden (und übrigens auch nicht-liquiden) Mittel und auf der Passivseite das EK. Daraus wird schon deutlich: Liquidität und Gewinn sind nicht das Gleiche! Doch nur aus der Liquidität kann ein Unternehmen Investitionen tätigen. Ich kann durch eine Einfache Buchung (Goodwill an Ertrag) Gewinn schöpfen. Damit bekomme ich aber keinen Cent in die Kasse. Besteuert wird aber der Gewinn, nicht die Liquidität.
Wenn das soweit verstanden ist, wird leicht verständlich, warum niedrige Steuern nicht nur die Eigenkapitalbildung erleichtern, sondern vor allem Liquidität geben. Da der Nachsteuergewinn höher ist, steigt das EK, durch geringere Steuerzahlungen steigt die Liquidität. Im internationalen Vergleich sind deutsche Unternehmen immer noch unterkapitalisiert.
Mit dem Übergang vom Anrechnungsverfahren über das Halbeinkünfteverfahren zur heutigen Pauschalbesteuerung wurde die Bevorzugung von thesaurierten Gewinnen aufgelöst. Gewinne, die im Unternehmen verbleiben, werden genauso besteuert wie Gewinne, die ausgeschüttet werden. Die Anleger entscheiden allein, wo ihr Kapital besser angelegt ist: durch Verbleib im Unternehmen oder durch Neuanlage in anderen Unternehmen. Dieses international übliche Prinzip will keine Partei mehr aufheben, soweit ist man sich einig.
Die FDP setzt nun als Kompromiss mit den linken Parteien auf eine alte Idee: die (steuerlichen) Abschreibungszeiträume sollen deutlich verkürzt werden. Eine Investitionsausgabe führt bilanziell nur zu einem Aktivtausch, aber keinen Kosten. Es fließt aber Liquidität ab. Die Aufwendungen in Form von Abschreibungen entstehen erst später und mindern den Gewinn und damit die Steuerlast. Je länger der Abschreibungszeitraum, desto länger dauert es, bis durch „eingesparte“ Steuerzahlungen die abgeflossene Liquidität wieder ins Unternehmen geholt wird. Wird der Abschreibungszeitraum verkürzt, unterstützt der Staat damit die Investitionstätigkeit.
Eine solche Steuerpolitik kostet den Staat keinen Cent. Es verschieben sich allein die Einnahmenperioden. Da der Staat sich im Gegensatz zu Unternehmen zinslos finanzieren kann, ist die Zeitverschiebung kein Faktor. Naheliegend, dass sich die potentiellen Koalitionäre genau darauf verständigen werden.
Die Grundsatzfragen hast Du nicht beantwortet. Das sollte auch ohne tiefere Steuerkenntnisse nicht so schwer sein.
1. Ist es in Ordnung, dass das Steuersystem und insbesondere eine so zentrale Steuer wie die Einkommensteuer praktisch nur von einer Hälfte getragen wird? (..)
2. Sollten Besteuerungsrelationen über mehrere Perioden gleich bleiben bzw. nur durch Parlamentsbeschluss geändert werden können?
1) Wenn nur die Hälfte so viel verdient, dass etwas zu besteuern ist, sehe ich dazu keine Alternative. Ich hatte dir die zwei Optionen gegeben, das zu ändern. Entweder du besteuerst den unteren 50% die Lebensgrundlage weg oder du erhebst oben kaum mehr Steuern, um diese Parität zu schaffen. Was davon willst du? – Ich sehe nicht, warum diese Parität anzustreben wäre.
2) Ich bin mir nicht sicher, worauf das abzielt.
Da ist Deine Argumentation aber sehr widersprüchlich.
1) Wie kommst Du darauf, dass nur eine Hälfte der Einkommensbezieher leistungsfähig sei? Ich habe doch gezeigt, wie sehr die Politik über 35 Jahre die untere Hälfte entlastet hat. Das waren politische Entscheidungen, keine objektive Bemessungen. Dann hast Du doch nun oft argumentiert, Steuern dienten gar nicht der Erzielung von Einnahmen für den Staat, sondern der Einebnung von Einkommens- und Vermögensunterschieden.
Das Argument ist doch gar nicht Parität, was ist denn das für eine völlige Überzeichnung?! Natürlich steigt die Belastung mit dem Einkommen, das gälte übrigens auch bei einer Flat Tax. Das ist nicht der Punkt, sondern dass die untere Einkommenshälfte praktisch nichts zum Aufkommen beiträgt. Dazwischen liegt ein breiter Graben.
Wieso argumentierst Du bei solchen Zahlen immer, es würde nach oben umverteilt? Wieso bist Du angesichts solcher Zahlen dafür, die Belastungen noch stärker anzuziehen? Wieso kannst Du keine einfachen „Gerechtigkeitskriterien“ (siehe oben) definieren, weißt aber, was noch weiter zumutbar ist?
Die Steuerbelastung für untere Einkommen wurde wie gezeigt deutlich zurückgenommen, seit Kohl (der ja für Linke so eine Art Master ist) wurde der Eingangssteuersatz von 22% auf 14% abgesenkt. Gleichzeitig wurden die Sozialabgaben von 15,6% auf 39,95% erhöht. Warum ist das, wie Du so oft sagst, ungerecht, wieso ist das eine Umverteilung von unten nach oben, wenn die Unteren doch auf der steuerlichen Seite entlastet wurden? Bei Steuerzahlungen besteht kein Anspruch auf Gegenleistung, bei Sozialversicherungsbeiträgen sehr wohl.
2) Du hast behauptet, die Besteuerung von Kapitalerträgen sei zu niedrig. Jetzt kannst Du es nicht belegen. Tatsächlich gab es lediglich eine Systemumstellung. Und wer noch den Witz ernst nimmt, der Staat würde die Bürger entlasten, der wartet auch auf den Tag, wo Weihnachten und Ostern auf einen Tag fällt.
@ Stefan Sasse 25. September 2021, 11:20
Es geht ja nicht um „mehr“ per se. Das ist Verzerrung. Finde mir die Linken, die mit 70k Jahresgehalt ein Problem haben.
Das ist keine Widerlegung meiner Aussage.
Abgesehen davon liege ich in dem Bereich, und gelegentlich habe ich Probleme, weil ich als Berufspendler hohe Fahrkosten habe und einen zweiten Wohnsitz benötige. Nun könnte man der Meinung sein, dass das mein Problem ist, dass ich dann vielleicht zu viel Kosten habe, zu viel ausgebe, weil man mit dem Gehalt klarkommen müsse.
Auch OK. Dann soll sich der Staat aber auch so verhalten. Die Einnahmen sind hoch genug, um die beneiden uns (absolut und relativ) viele Länder. Die Ansprüche und die Ausgaben sind das Problem (und – natürlich – die mangelhafte Effizienz der Bürokratie).
Dass die die Einkommenssteuer nicht trifft, ist mittlerweile sattsam bekannt. Aber das ist auch der Grund, warum ich beispielsweise dagegen bin, an der Einkommenssteuer rumzuspielen, sondern dafür bin, die Kapitalertragssteuer abzuschaffen, eine Vermögens- und eine gescheite Erbschaftssteuer einzuführen.
Ja nun, das klingt eben bei SPD, Grünen und Linken etwas anders.
Ich weiß, ich lehne das aber ab.
@ Stefan Sasse 27. September 2021, 18:43
Ich weiß, ich lehne das aber ab.
Ist kein Argument.
Weißt Du aber auch.
Ja. 🙂
1. Wer Schulden für derart verwerflich und schädlich hält, muss sie irgendwann abbauen.
2. Nicht? Wer löst sie dann?
3. Das durch Steuersenkungen frei werdende Geld fließt – lt. Linder – allein in Investitionen und Arbeits- bzw. Ausbildungsplätze. Das ist auch mehr als Augenwischerei.
1. Bitte seriös.
2. Wir.
3. Stefan (und Sie?) sind sich doch einig, dass Steuern der Herstellung von Gerechtigkeit dient. Wieso finden Sie es gerecht, dass der Fiskus, ohne das ein Parlament das beschlossen hätte, auch dann mehr vom Einkommen des Bürgers erhält, wenn der sein reales Einkommen um keinen Cent erhöht hat?
Ansonsten wäre mir das, was Sie behaupten, neu. Der Staat jedenfalls schafft nach Ansicht der FDP keine Arbeitsplätze, um Himmels Willen!
3) Nein, tun sie nicht. Sie KÖNNEN diese Funktion haben, aber Steuern steuern. Was sie steuern bestimmt der Gesetzgeber (und die Realität).
Eine Antwort auf die Frage?
Wieso finden Sie es gerecht, dass der Fiskus, ohne das ein Parlament das beschlossen hätte, auch dann mehr vom Einkommen des Bürgers erhält, wenn der sein reales Einkommen um keinen Cent erhöht hat?
3) Die mit den höchsten Einkommen zahlen real einen geringeren Prozentsatz ihres Einkommens an Steuern und Abgaben (indirekte eingerechnet) als Geringverdiener.
Und, nicht vergessen: Der Gegenwind kommt nicht nur von links:
https://www.taxmenow.eu
… sie bekommen aber auch keine zusätzlichen Leistungen.
Die eine Hälfte sind Beiträge zur gesetzlichen Rente. Und ich warne Sie vor: jetzt müssen Sie ganz vorsichtig im Argumentieren sein, sonst zerlegen Sie Ihr Loblied auf die Umlagerente.
Da Gutverdiener nicht mehr in die Rente einzahlen, verzichten sie umgekehrt auf Leistungen im Alter und müssen entsprechend vorsorgen, um ihren Lebensstandard zu halten. Ähnlich sieht es bei der Arbeitslosenversicherung aus. Die Leistungen sind gedeckelt. Ein Vorteil ist nicht zu erkennen. Es sei denn … 🙂
@ CitizenK
Ja, nee, is klar. „Klima und Wirtschaft ohne Krise“ ist dann auch Betrug.
@ Stefan Sasse
Wenn ich ein Unternehmen gründen würde, wäre mir ein FDP-Mitglied als Geschäftsführer lieber als ein Vertreter von der Linken oder den Grünen.
Mir auch. Und eine Geschäftsführerin, wenn möglich.
„Klima und Wirtschaft ohne Krise“ ist Nonsens, Wischiwaschi, Blabla – auf Wahlplakaten. Nicht zu vergleichen.
Wenn ich ein Unternehmen gründen würde, wäre mir ein FDP-Mitglied als Geschäftsführer lieber als ein Vertreter von der Linken oder den Grünen.
Als jemand, der mal unter einem FDP-nahen Geschäftsführer arbeiten musste (bezeichnenderweise gibt’s die Firma heute nicht mehr), kann ich da nur sagen: Never again!
Warum hält sich hartnäckig der Mythos, die FDP besitze mehr Wirtschaftskompetenz als SPD, Grüne oder Linke?
Weil es nützlich ist und niemand es angreift.
Aber Vorsicht: Erwins Frage war nach Parteimitgliedschaft, nicht grundsätzlicher Nähe. Ich denke, dass wenn ich willkürlich FDP-Mitglieder herausgreife die Chance schon höher ist, einen Betriebswirtschaftler zu erwischen, als bei der LINKEn. Ein BWLer, der der LINKEn nahesteht, kann dagegen natürlich völlig problemlos kompetent sein.
@ Stefan P.
Gut erklärt, danke. Mit diesem Kompromiss rechne ich auch.
Finanzierung durch Abschreibungen ist ja nichts Neues für BWLer. Allerdings verschieben sich damit auch die Einnahmen-Perioden für den Staat – der das Geld halt auch jetzt braucht. Wenn das mit – quasi kostenlosen, sagen Sie ja auch – Krediten überbrückt wird – d’accord. Macht die FDP das mit?
Das Grundgesetz lässt diese Möglichkeit unter der Voraussetzung, dass der Bund einen Tilgungsplan vorsieht. In dem Fall wären das 1 bis 2 Legislaturperioden, also ungefähr die Zeit, die Olaf Scholz sicher als Kanzler regieren will.
Bund und Länder können Regelungen zur im Auf- und Abschwung symmetrischen Berücksichtigung der Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung sowie eine Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, vorsehen. Für die Ausnahmeregelung ist eine entsprechende Tilgungsregelung vorzusehen.
Die FDP hat im Wahlkampf mehrmals angedeutet, dass sie die Schuldenbremse so interpretiert. Einige Journalisten haben das auch aufgenommen. Norbert Walter-Borjans wird das als langjähriger Haushälter von Kommunen und Land sicher auch registriert haben. Wenn er sich anders äußert, dann ist das Nach-Wahlkampf-Getöse.
Einige Linke wie die Grünen wollen die Schuldenbremse generell aufweichen. Dauerhaft soll also nicht zum Gleichgewicht von Einnahmen und Ausgaben zurückgekehrt werden. Das ist die rote Linie des bürgerlichen Lagers. Artikel 109 III Grundgesetz gibt Bund und Ländern ausreichend Möglichkeiten, in bestimmten Haushaltsnotlagen kurzfristig schnell zu reagieren, ohne das prinzipielle Ziel damit zu gefährden. Die FDP hat diesen Aspekt übrigens auch aus Wahlkampfgründen nicht prominent herausgestellt, aber mehrfach erwähnt.
Damit sind die Kompromisslinien gezogen.
Lindner hat in der Tat entsprechende Andeutungen vor der Wahl gemacht. So könnte es gehen.