Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.
Diesen Monat in Büchern: Verdun und Feminismus.
Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Ländliche Räume, Corona, Militär und Parlament.
Bücher
Olaf Jessen – Verdun 1916. Urschlacht eines Jahrhunderts
Die Schlacht von Verdun ist in vielerlei Hinsicht zum Inbegriff des Ersten Weltkriegs geworden. Das sorgte dafür, dass die anderen Fronten, vor allem die Ostfront, sowohl in Historiographie als auch im öffentlichen Bewusstsein deutlich in den Hintergrund gerieten, sehr zum Schaden des Verständnisses des Ersten Weltkriegs und seiner Konsequenzen. Warum also brauchen wir ein neues Buch zur Verdun-Schlacht?
Olaf Jessen beantwortet sich die Frage mit genügend Selbstvertrauen. Er erklärt die bisherigen Narrative – Geistloses Schlachten, Ausbluten des Gegners – für falsch. „Verdun“, so Jessen, „war eine Schlächterei – aber keine geistlose.“ Ihm geht es darum zu zeigen, was die strategischen Überlegungen beider Seiten waren, wie sie von der Schlacht verzerrt wurden und wie das Narrativ nach dem Krieg bewusst geschichtsklitternd gefälscht wurde. Zudem stellt er sich den Anspruch, als erster Autor die Kriegsgeschichte Verduns sowohl der Sicht des Generalstabs als auch der einfachen Soldaten miteinander zu verbinden.
Letztere Behauptung ist sicherlich zu hoch gegriffen. Ob Jessen der einzige ist, der je auf die nicht eben innovative Idee kam, die Realität in den Schützengräben mit den Planungen der „Chateau-Generäle“ zu kontrastieren, weiß ich nicht, aber das Ergebnis ist nicht sonderlich revolutionär. Es macht das Buch allerdings sehr lesbar – die starke Einbeziehung von Augenzeugenberichten gibt dem Ganzen einen Spannungsbogen, den Jessen in seiner Erzählweise noch verstärkt. Das geht gleichwohl zu Lasten der Analyse und wissenschaftlichen Nüchternheit, doch hier weiß Jessen sich durch eine sehr starke Quellenbasis und eine ausführliche Quellendiskussion im letzten Viertel des Buchs abzusichern.
Sehr erfolgreich ist der Autor auf jeden Fall mit seinem Ansinnen, die Logik der strategischen Planungen darzustellen. Es ist spannend zu sehen, wie beide Seiten unabhängig voneinander zu denselben Schlüssen kommen und mit ihren Ideen unabhängig voneinander scheitern – und wie auf beiden Seiten politische Zwänge und persönliche Ambitionen untrennbar mit militärischen Überlegungen vermischt werden.
Die Grundthese, zuletzt zusammengefasst, lautet in etwa so: Falkenhayn plante entgegen seiner späteren Behauptungen nicht, den Gegner „auszubluten“, sondern hoffte, die Verdun-Schlacht zu einem Durchbruch „über Bande“ nutzen zu können. Als „Trostpreis“ solle immerhin die Festung Verdun selbst winken. Erst, als beide Ziele nicht erreicht wurden, erfand er zum Selbstschutz die Idee des „Ausblutens“ der Gegner. Umgekehrt wollte Joffre mitnichten die Stadt von Anfang an verteidigen; vielmehr wurde sie erst im Verlauf der Gefechte mit jener Symbolik aufgeladen, die sie bis heute noch hat. Ironischerweise gingen Falkenhayns Pläne auf, nur waren die Prämissen dahinter falsch, weswegen der Durchbruch ausblieb.
Jessen muss sich wohl vorwerfen lassen, die Bedeutung seines Gegenstands gelegentlich etwas zu überhöhen. Verdun muss ihm so als zentrale Schlacht herhalten, die entscheidende Folgen bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein zeigt. In den Grundzügen sind seine Ausführungen sicherlich korrekt, aber in ihrer Drastik und weiter Reichweite doch etwas sensationalisiert. Darüber allerdings kann man leicht hinwegsehen; das Buch ist sehr flüssig, streckenweise gar spannend, und überaus lesbar geschrieben. Wer sich für das Sujet interessiert, kann deutlich schlechter wählen, und die Analyse der strategischen Überlegungen hilft dem Verständnis des ganzen Kriegsjahrs 1916 enorm.
Jens von Tricht – Warum Feminismus gut für Männer ist
Die Titelthese dieses Buchs zieht sich seit geraumer Zeit durch meine eigenen Blogbeiträge. Ich halte die Feststellung, dass das Patriarchat allen schadet und dass eine gleichberechtigte, gleichgestellte, paritätische Gesellschaft für alle Seiten ein Gewinn ist, für eine zentrale und noch viel zu wenig verbreitete Erkenntnis. Es ist eben kein reines Frauenthema, ein Nischending oder gar „Gedöns“, sondern geht uns alle an.
Deswegen ist es sehr zu begrüßen, dass der niederländische Feminist Jens von Tricht ein schmales Büchlein zu genau diesem Thema geschrieben hat, in dem er die wichtigsten Punkte ordentlich zusammenfasst. Für mich war die Lektüre nur eingeschränkt ergiebig; ich habe mich einfach schon zu viel mit dem Thema beschäftigt, als dass das Buch mir noch sonderlich viel geben könnte.
Für deutsche Lesende ebenfalls problematisch könnte der starke niederländische Bezug sein; die Personen und Ereignisse, die von Tricht anspricht, sind zumindest mir alle nicht geläufig, was eine starke Distanz zu den besprochenen Gegenständen schafft. Das nimmt der Argumentation nichts weg, mag aber für manche den Lesefluss stören.
Zeitschriften
Informationen zur politischen Bildung – Ländliche Räume
Die ländlichen Räume sind in der öffentlichen Diskussion gerade etwas mehr in den Fokus gerückt, zumindest wenn man die Menge der Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung zum Anlass nimmt. Aber auch der Aufstieg der AfD hat ein leicht vermehrtes Interesse an den Lebensrealitäten ländlicher Räume bewirkt, dem kurioserweise ein ähnliches Interesse an urbanen Milieus bisher abgeht.
In diesem Heft werden vor allem formelle Grundlagen gelegt, sprich: Definitionen und Analysen. Was sind ländliche Räume eigentlich, wie viele davon gibt es in Deutschland, wie groß sind sie, welche Unterschiede zu städtischen Räumen gibt es, und so weiter. Der, um es milde auszudrücken, sachliche Tonfall dieser Passagen wird immer wieder durch Ausschnitte aus Reportagen etwa des Spiegels oder der Zeit gebrochen, die dann quasi den „menschlichen“ Blick bieten. So ist für beide Seiten was dabei. Ich bin kein großer Reportagenfan und finde mich daher eher im analytischen Teil wieder.
Spannend ist vor allem, wie wenig Klischees über ländliche Räume pauschalisierbar sind. So gibt es ländliche Räume, in denen sehr wohlhabende Menschen leben (vor allem im Süden der Republik) und die gute Infrastruktur haben, und es gibt solche, auf die Klischees von desolater Infrastruktur und niedrigem Lebensstandard zutreffen (vor allem im Osten). Patentrezepte gibt es, wenig überraschend, dafür nicht.
Aus Politik und Zeitgeschichte – Corona
Die Beiträge in diesem Band befassen sich wenig überraschend nicht so sehr mit dem Virus als, wie der Titel es schon sagt, mit der einhergehenden Krise. Ich empfand das Gemisch der Beiträge als sehr schwankend. Manche Beiträge, wie das Interview mit Aladdin el-Mafalaani zur Bildungspolitik in Zeiten von Corona, sind sehr anregend und super interessant. Unbedingt lesenswert.
Andere dagegen, wie der Beitrag zum Föderalismus, kommen über Glückskeks-Rhetorik nicht wirklich hinaus. Ich habe nicht mal was gegen den Föderalismus, auf den der Beitrag ein Loblied singt, aber letztlich wird nur eine Reihe von Behauptungen aneinander gehängt, ohne eine Begründung mit anzubieten. Der Föderalismus habe für diese und jene Entwicklung der Krise super positive Effekte gehabt. Schon möglich, glaube ich auch gern, aber belegt wird das nicht.
Auch der Beitrag der verfassungsrechtlichen Perspektive, ein gerade in der Anfangszeit der Krise viel diskutiertes Thema, bleibt merkwürdig unscharf, kann sich nicht recht entscheiden, ob er einen allgemein Überblick geben oder die Frage fachlich untersuchen will und verliert sich in Verallgemeinerungen und wenig interessanten Statements.
Besser gefallen haben mir die Beiträge zum Thema politische Kultur und Parlamentarismus in Zeiten von Corona. Hier wird auch empirisch belegt, dass das oft behauptete Narrativ von einem Vertrauensverlust in Regierung und Medien nicht der Wirklichkeit entspricht. Die Datenlage hierfür ist überraschend gut, weil eine entsprechende Studie mit sehr großem Befragtenkreis (über 5000 Personen) über lange Zeit wöchentliche Befragungen durchgeführt hat. Das ist ziemlich stabil.
Insgesamt also ist die selektive Lektüre des Hefts durchaus zu empfehlen, aber die gennanten Beiträge kann man gerne überspringen. Alle Essays sind unter obigem Link auch online abrufbar.
Aus Politik und Zeitgeschichte – Militär
Ein Problem, das in der deutschen Debatte über Militär und Militäreinsätze besteht, ist, dass es kaum etabliertes vernünftiges Vokabular und Verständnis für die Konzepte desselben gibt. Die tief verankerte Militärskeptik in Deutschland, so segensreich sie auch nach zwei Weltkriegen für Europa und die Welt war, behindert eine vernünftige Debatte. Daher ist dieses Heft für Interessierte wertvoll, weil es in einigen Teilen Grundlagen legt, etwa in den Beiträgen Nina Leonhards zum Wandel des Soldatenberufs (besonders im Hinblick auf Stabilisierungseinsätze und die damit verbundenen Anforderungen) und dem Victoria Bashams über „liberalen Militarismus“, der durchaus als Komplementärstück verstanden werden kann und nüchtern die Tendenz liberaler Demokratien zu ebenso liberalem Einsatz ihres Militärs in der „dritten Welt“ untersucht.
Natürlich ist das nicht alles. So legt Benajmin Ziemann einige Grundlagen für die geschichtswissenschaftliche Untersuchung des Wechselspiels von Militär und Gesellschaft, während Herbert Obinger zurecht darauf hinweist, dass man die Rolle des Militärs als Impulsgeber für die Sozialpolitik weder ignorieren noch zu hoch ansetzen sollte – beides Extrempositionen, die sich leider im Diskurs immer wieder finden.
Johannes Varwicks Beitrag zu Trendwenden zeigt vor allem noch einmal den Status Quo der vielen Baustellen der Bundeswehr auf, vor allem was Finanzierung, Personal und Ausrüstung anbelangt, vergisst darüber hinaus aber auch nicht die fehlende politische Einbettung.
Die Beiträge Klaus Naumanns zu Rechtsextremismus in der Bundeswehr und Aurel Croissants und David Kuehns zu der Verbindung von Militär und Politik in Autokratien fallen vor allem durch ihre empirische Basis auf. Naumann weist nach, dass rechtsextremistische Einstellungen in der Bundeswehr nicht stark überrepräsentiert sind – wohl aber rechtskonservative Einstellungen. Beides kann nicht sonderlich überraschen, und der erste Befund ist, wie auch bei der Polizei, kaum Anlass zur Beruhigung.
Croissant und Kuehn hingegen haben gute Nachrichten im Gepäck; der Anteil der Militärdiktaturen hat weltweit abgenommen, und gleiches gilt für die Einmischung beziehungsweise den Einfluss des Militärs auf die Politik. Oft besteht das gegenteilige Problem in Autokratien: die Politik hat sich das Militär unterworfen und nutzt es als Unterdrückungswerkzeug.
Aus Politik und Zeitgeschichte – Parlamentarismus
Im ersten Beitrag dieses Hefts von Claudia Gatzka, der ostentativ den Bundestag als Erinnerungsort parlamentarischer Kultur untersucht, sehen wir wie unter dem Brennglas die ganze Thematik vereint: die Deutschen hatten immer ein problematisches Verhältnis zu ihrem Parlament. Ein Sehnsuchtsort war es nie, und die Kritik der „Schwatzbude“, die Verachtung des Kompromisses und der Wunsch nach einer starken Exekutive war immer schnell zur Hand. Die aktuelle APuZ ist daher wohl zeitlos aktuell zu nennen.
Stefan Marschalls Beitrag zu Corona und Parlamentarismus dagegen ist alles, aber nicht zeitlos. Die Diskussion zu diesem Thema beherrschte auch das oben besprochene Corona-Heft, und ich habe ehrlich gesagt wenig Neues mitgenommen; die Tatsache, dass das Parlament sich zu großen Teilen aus der Corona-Krisenpolitik herausgenommen hat, ist glaube ich wenig bestritten. Marschall zeigt allerdings noch einmal detailliert die entsprechenden formalen Hintergründe auf, und parlamentarisches Formalwissen ist dünn gesät, weswegen der Beitrag seine Relevanz hat.
Spezifischer wird es mit Suzanne Schüttemeyers Untersuchung der parlamentarischen Arbeitsfähigkeit des 19. Bundestags. Man hat es über Corona beinahe schon vergessen, aber sowohl der Parlamentseintritt der AfD als auch die viermonatige Regierungsfindung haben die Arbeitsfähigkeit stark belastet.
Joachim Behnke beschreibt einen Dauerbrenner anderer Art: die Größe des Bundestags. Es ist eine Diskussion, die mich ehrlich gesagt nicht sonderlich reizt, aber Behnke fasst den aktuellen Stand und die Lösungsansätze sehr konzise zusammen.
Benjamin Höhnes Beitrag zu Frauen im Parlament fand ich ungleich interessanter. Einerseits liefert Höhne viel Empirie zum Thema, andererseits diskutiert er auch die strukturellen Ursachen für den niedrigen Frauenanteil über fast alle Parteien (selbst die Grünen kommen nur auf 40%). Relevant ist einmal mehr der Fokus auf Care-Arbeit: Da diese nach wie vor den Frauen überlassen bleibt, die Politik aber sehr viele Auswärtstermine zu Zeiten erfordert, die auch Hochzeiten für Care-Arbeit sind, sind Frauen oft außen vor. Gleichberechtigung ist eben ein integriertes Feld.
Frank Decker zuletzt befasst sich mit der geheimen Wahl von Regierungen im Parlament. Es ist eine spannende Debatte, ob man dieses Relikt beibehalten sollte oder nicht. Schließlich gehört es nicht unbedingt zu den demokratischsten Mechanismen, dafür aber zu den parlamentarischsten. Und das ist eben nicht immer deckungsgleich.
Ich bin auch der Meinung das Feminismus gut für die meisten ist.
Allerdings muss man, mittlerweile, fragen welchen Feminismus man meint.
Mit ist das gerade eben wieder Bewusst geworden als ich direkt nach deinem Eintrag diesen, wie ich finde sehr guten, Kommentar (zu einem verwandten Thema, die Kontroversen um JK Rowling, eine „klassische“ Feministin), bei der Süddeutschen gelesen.
„Wer als Feministin früher mal davon geträumt hat, die Welt so zu gestalten, dass Menschen nicht 24 Stunden am Tag und in allen Lebenslagen über ihr Geschlecht definiert werden, durchlebt gerade harte Zeiten.“
https://www.sueddeutsche.de/kultur/j-k-rowling-krimi-debatte-1.5051473
Aber sicherlich bessere als während der Traumzeit.
Klar!
@ derwaechter 2. Oktober 2020, 13:19
Ich bin auch der Meinung das Feminismus gut für die meisten ist.
Allerdings muss man, mittlerweile, fragen welchen Feminismus man meint.
Grundsätzliche Zustimmung, selbst, wenn ich als machtloser Familienpatriarch (1 Frau, 4 Töchter) mit Definitionen überfordert bin.
Ansonsten Danke für den Link. Ich hatte nur am Rande mitbekommen, dass Frau Rowling kritisiert wird; kann ich nun etwas besser einordnen.
„Wer als Feministin früher mal davon geträumt hat, die Welt so zu gestalten, dass Menschen nicht 24 Stunden am Tag und in allen Lebenslagen über ihr Geschlecht definiert werden, durchlebt gerade harte Zeiten.“
Starker, zutreffender Satz der Autorin. Auch mir scheint, dass dieses Thema eher stärker hochkocht. Wie so häufig bei politischen Diskussionen werden erst Label festgelegt, und die dann für die Realität genommen. Anstatt dass das eigene Etikett definiert, was man ist, wird man zu dem, was auf dem Etikett steht, und in den Augen eines anderen zu dem, was der unter der Aufschrift versteht. Eigenartige Zeiten.
Und natürlich ist es ein normales Phänomen, dass die erste Generation einer Bewegung von den Entwicklungen der dritten und vierten Generation nicht mehr mitgenommen wird 😉
zu Jens von Tricht – Warum Feminismus gut für Männer ist
Ich halte die Feststellung, dass das Patriarchat allen schadet und dass eine gleichberechtigte, gleichgestellte, paritätische Gesellschaft für alle Seiten ein Gewinn ist, für eine zentrale und noch viel zu wenig verbreitete Erkenntnis.
Ja, aber …
Wie schon mehr als einmal erklärt, ist das Thema für mich ein bisschen sperrig. Selbst wenn ich aus einer Zeit komme, in der das Patriachat noch „trainiert“ wurde, sehe ich doch, dass in den meisten Bereichen das Thema (fast) durch ist, und in den verbliebenen Bereichen scheint man mir auf einem guten Weg zu sein; in einigen Bereichen haben bereits „die Frauen“ das Sagen.
So sehr ich dem Statement in der Theorie folgen kann, sehe ich Schwierigkeiten in der Praxis. Meine subjektive Wahrnehmung ist, dass es eben keine Gleichberechtigung gibt, bzw. geben kann. Je stärker die systemische Gleichberechtigung voranschreitet, je geringer die systemische (männliche) Dominanz wird, desto stärker wird sie von einer individuellen Dominanz abgelöst. Und ich sehe Schwierigkeiten, das sauber gegenüber systemischer Dominanz aufzulösen.
PS: Gelegentlich vergreife ich mich an Science-Fiction- oder Fantasy-Romanen. Von einer Autorin namens Ann Leckie stammt die Maschinen-Trilogie (im Original: Imperial Radch). Die Autorin hat statt des generischen Maskulinum Gender das generische Femininum gewählt. Die Übersetzerin hat diese Idee für die Übertragung ins Deutsche übernommen.
Während man das im englischen Original kaum merkt, bringt das in der deutschen Fassung einen krassen, gewaltigen Unterschied; so ist der militärische Dienstgrad einer Hauptperson „Leutnantin“, und ich eine ganze Weile gebraucht, um zu erkennen, dass es sich um einen Mann handelt.
Selbst wenn die Geschichte an sich aus meiner Wahrnehmug nach nur „gut“ und nicht „überragend“ ist, haben mich die Bücher doch allein aufgrund dieses Aspekts stark fasziniert (sicherlich auch immer wieder deutlich irritiert, aber das rechne ich eher dem Leser als dem Buch an).
Ich zweifle keine Sekunde, dass die Lage für Frauen und die Gleichberechtigung noch nie so gut war wie jetzt. Integrations-Paradox and all that.
Sehr spannend, danke für den Hinweis! Ich fürchte, ein mittelgutes Buch nur wegen eines sprachlichen Gags zu lesen reicht mir zeitlich nicht, aber das wird bestimmt mal noch jemand in gute Literatur verwandeln.