In seinen zunehmend verzweifelten Versuchen, eine Angriffslinie gegen Joe Biden zu finden, setzte Präsident Trump vor einigen Wochen noch auf die Karte, ihm vorzuwerfen, gar keinen Wahlkampf zu führen, sondern sich im Keller zu verstecken. Die amerikanische Linke ging sofort ihrem Hobby nach, den Untergang an die Wand zu malen und fürchtete, dass Biden tatsächlich den Wahlkampf versemmle. Heute, wo Biden seit anderthalb Monaten stabil zwischen 7% und 10% in den Umfragen vorne liegt und in einzelnen Umfragen sogar 15% (!) Vorsprung erreicht, ist dieser Vorwurf weniger zu vernehmen. Dabei tut Biden nicht mehr als vorher. Seine Aussagen sind kurz, geradezu lächerlich allgemein und unspezifisch gehalten und er ist öffentlich nicht eben sonderlich sichtbar. Was gerne übersehen wird: Genau das ist seine Wahlkampfstrategie, von Beginn an gewesen. Biden ist ein Leinwand-Kandidat.
Was ist damit gemeint? Die Strategie, die Biden von Anfang an gewählt und seither durchgezogen hat, ist vor allem als „generic Democrat“ anzutreten. Dabei handelt es sich um eine Kunstkonstruktion aus der Welt der Wahlforscher; in Umfragen wird neben den tatsächlichen Kandidaten auch die Parteiaffiliation abgeprüft. WählerInnen werden gefragt, ob sie ungeachtet der Person eher jemand von den Republicans oder Democrats wählen würden; diese imaginären, nicht näher definierten Personen werden als „generic Republican“ oder „generic Democrat“ bezeichnet und geben Aufschluss über die Beliebtheit der Partei relativ zu den Kandidaten. Üblicherweise haben die konkreten KandidatInnen der GOP bessere Werte als ihr generisches Gegenüber, weil die Partei bei den Wählern absolut verhasst ist, während es bei den Democrats eher umgekehrt ist; die generische Variante liegt hier gerne vor den konkreten KandidatInnen.
Diese Strategie ist im Übrigen bei den Democrats häufig zu finden. Schillernde KandidatInnen wie Elizabeth Warren, Bernie Sanders oder Alexandria Ocasio-Cortez sind eher die Ausnahme; die meisten WählerInnen entscheiden sich für die Chuck Schumers, Amy McGraths und Amy Klobuchars der Partei. Auf der Präsidialebene dagegen ist sie, weil die zugehörige Entwicklung eher neu ist, bisher nicht erprobt worden. Sowohl Obama als auch Clinton stellten sich deutlich außerhalb ihrer Partei, um die Wahl zu gewinnen. Aber der Popularitätsgewinn der Partei insgesamt in den letzten Jahren macht die Strategie für Biden zu einer echten Option.
Dies gilt umso mehr, als Biden selbst kaum eine andere Wahl hat. Auf Basis seiner Persönlichkeit kann er keinen Wahlkampf machen. Sucht man nach einer Definition für das schwer übersetzbare Wort gaffe, das einen Fehltritt im Wahlkampf beschreibt – man denke etwa an Romneys „binders full of women“ oder Obamas „you didn’t build that“ – ist die Chance gut, daneben ein Foto von Joe Biden zu finden, der einen Hang zu Abschweifungen hat, die ihm nicht eben helfen.
Biden ist außerdem schon so lange in der Politik, dass er zahllose Positionen vertreten hat, die in der heutigen politischen Umgebung, höflich gesagt, fragwürdig sind. Von seiner Opposition gegen Klimaschutz zu seiner Begeisterung für rassistische Politiken und Kollegen aus dem Süden, von seiner Zerstörung von Anita Hill zur Unterstützung des Irakkriegs findet sich genug, was den Zorn der linken Parteibasis erregen könnte. Diese Hunde schlafen zu lassen ist sicherlich weise.
Gerade die Bekanntheit Bidens – der Mann ist seit mittlerweile 40 Jahren Berufspolitiker in Washington – hilft ihm dabei. Irgendwie war „Uncle Joe“ schon immer da, er ist eine berechenbare Größe. Ihn als sozialistischen Albtraum aufzubauen ist schwer, und Trump hat es erfolglos versucht. Auch der Versuch seines Teams, einen identity-politics-Kulturkampf gegen Biden zu führen – ohnehin die einzige Art Wahlkampf, auf die Trump sich versteht – ist krachend fehlgeschlagen. Gerade Biden, der in den Vorwahlen noch als Sargnagel der Progressiven galt, gewinnt gerade den Kulturkampf – ohne ihn selbst zu führen.
Das liegt daran, dass er im Endeffekt ein Leinwand-Kandidat ist. Beobachtende können auf ihn projizieren, was auch immer sie möchten. Die linke Parteibasis kann auf das Programm schauen, das sie ihm aufzuzwingen in der Lage war, und findet die progressivste Plattform, mit der je einE KandidatIn ins Rennen ging. Eher durchschnittliche Parteigänger finden in Bidens wohltemperierten Statements zu Black Lives Matter und anderen Themen dieser Tage die Bestätigung, auf der richtigen Seite zu stehen, ohne den Status Quo allzu sehr in Frage zu stellen. Schwarze Wähler sehen den Vizepräsidenten Barack Obamas und das Versprechen auf die Restauration dieser happy days. Eher konservativere Wählerschichten sehen einen alten, weißen Mann aus dem Mittleren Westen, der nie das typisch linke Kulturkampfvokabular im Mund führt. Republikanisch Wählende, die mit Trump hadern, können sich eine Rückkehr der inzwischen ohnehin zur Unkenntlichkeit verklärten Präsidentschaft Clintons vorstellen. Und so weiter und so fort.
Als Biden sich für die Strategie entschloss, effektiv als Person überhaupt nicht in Erscheinung zu treten, war sehr ungewiss, wie sich dies gegen die praktisch ausschließlich personenzentrierte Wahlkampfmaschinerie eines allen Sauerstoff im Raum aufsaugenden Trump machen würde. Es war aber auch die einzige Strategie, mit der Biden eine echte Chance hatte. Und was man auch davon halten mag, der Kandidat zieht diese Strategie durch.
Nichts ist von den gaffes zu spüren, für die er berüchtigt ist. Wo er im Wahlkampf noch einen 70jährigen Kritiker zum Armdrücken aufforderte, weil er von ihm kritisiert wurde, hat inzwischen eine staatsmännische Milde von ihm Besitz ergriffen. Kurz gesagt: Biden könnte genauso gut „Keine Experimente“ auf seine Wahlplakate schreiben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist das eine gute Strategie.
Aber noch zu Beginn des Jahres und selbst in den ersten Pandemie-Monaten sah das noch anders aus, und es gibt keine Garantie, dass es so bleiben wird. Aktuell weigern sich die republikanischen Abgeordneten und Gouverneure sowie natürlich Trump beharrlich, damit aufzuhören ihre eigene Bevölkerung zu töten. Aber es ist damit natürlich nicht gesagt, dass die derzeitige Ablehnung dieser Riege sich nicht wieder legt.
Umgekehrt ist selbstverständlich vorstellbar, dass die katastrophale Pandemie-Politik der GOP den lang erwarteten Bruch der Partei bringt, mit einem Erdrutschsieg für Biden und, dank der Polarisierung und zunehmendem straight-ticket-voting, auch den der Democrats in den down-ballot-races vom Senator bis zum Hundefänger. Die Pandemie hat viele Gewissheiten über den Haufen geworfen, und die Lage ist volatil.
Joe Biden jedenfalls hat bereits vor Monaten eine Wette abgeschlossen: dass die Mehrheit des Elektorats Trump nicht will und sich nach Normalität sehnt. In diesem Fall steht er glänzend da; niemand verkörpert aktuell Normalität und Beständigkeit so wie der deutlich über siebzigjährige Joe Biden. Sollte allerdings die Bevölkerung Hunger nach Wandel und tief greifenden Änderungen haben, dürfte seine Wahlkampfstrategie nach hinten losgehen. Diese Dynamik habe ich bereits vor einiger Zeit ausführlich skizziert.
Nun kandidiert Biden als eine Leinwand, auf die jeder und jede Wünsche nach Belieben projizieren kann. Aber wie würde eine Präsidentschaft Bidens aussehen? Das ist das große Fragezeichen, und der Kandidat hat kein Interesse, die profunde Ambivalenz aufzulösen. Eher demokratisch-rechte WählerInnen sollen annehmen, dass er ein moderater Politiker ist, der die Linken in Zaum hält. Eher demokratisch-linke WählerInnen sollen annehmen, dass er sich gewandelt hat und dass die Parteibasis und der Bernie-Flügel ihm ihr Programm aufzwingen konnten.
Welchen Biden wir tatsächlich bekommen würden, hängt von den Begleiterscheinungen ab. Er selbst ist offensichtlich flexibel; es gibt nichts, was spezifisch mit seinem Namen verbunden wäre oder wogegen er sich prinzipiell gestellt hat. Entscheidend wird daher sein, welche Mehrheitsverhältnisse im Kongress herrschen, welche Bereitschaft zu prozeduralen Reformen besteht (Stichwort: court packing, filibuster) und wie viel Druck seitens der Wählerschaft auf ihn und seine zukünftige Administration ausgeübt wird.
Pointiert gesagt ist Joe Biden ein bisschen wie Angela Merkel. Das hat, wie niemand so gut weiß wie wir Deutschen, seine Vor- und Nachteile. Aber nach Trump ist die Aussicht auf eine Präsidentschaft der Eisernen Raute gar nicht mal so unattraktiv.
Ich bin weniger optimistisch. Ich sehe Trump nicht als verzweifelt, sondern eher dass ihn seine Berater dazu gebracht haben, sein Pulver für die entscheidende Phase des Wahlkampfs aufzusparen.
Die heiße (und vermutlich hässliche) Phase des Wahlkampfes kommt erst noch. Und wenn die Republikaner 2016 irgendwas gelernt haben, werden sie vor allem wieder darauf setzen, die Wähler der Demokraten zu demobilisieren. Da werden Hunter Biden, die Ukraine, Vorwürfe sexueller Belästigung und sicher noch reichlich mehr wieder auftauchen.
„…dass ihn seine Berater dazu gebracht haben, sein Pulver für die entscheidende Phase des Wahlkampfs aufzusparen…“
Trump ist durchaus am Poltern, aber es verfängt nicht:
https://www.washingtonpost.com/opinions/2020/07/15/trump-cant-land-blow-biden-its-driving-him-crazy
Ich würde mich freuen, wenn ich mich irre.
Ich sehe die Wahl für Biden auch noch nicht als verloren. Er kann jetzt den gleichen Mechanismus nutzen, der Trump ins Amt verholfen hat. Trumps wichtigstes Argument war, nicht Hillary zu sein. Biden stützt sich im Moment vor allem darauf, dass er nicht Trump ist.
Jepp. Hoffen wir, dass die Strategie aufgeht und ein Erdrutschsieg bei rumkommt.
Für einen Erdrutschsieg müsste noch etwas passieren, was zu einer deutlichen Demobilisierung der Trump-Anhänger führt.
Ich bin auch nicht sonderlich optimistisch, aber vor zwei Monaten hätte ich noch gesagt, es ist praktisch ausgeschlossen. Jetzt ist es in den Bereich des Vorstellbaren gerückt.
Geht mir exakt genau so.
Ich fand den Artikel sehr gelungen. Danke.
Gruß Jens
Eine Explosion der Zahl der Coronatoten in Florida, Arizona, Texas, Oklahoma, Georgia, North Carolina, Tennessee, Louisiana, South Carolina, Alabama und anderen GOP-Hochburgen könnte zu einer deutlichen Demobilisierung der Trump-Anhänger führen. Vor allem dann, wenn zunehmend keine Intensivbetten mehr zur Verfügung stehen, weil die Krankenhäuser überfüllt sind und auch weiße ältere Männer nicht mehr behandelt werden können. Ich denke mal, dass die Angst vor so einem Szenario bei den krankheitsanfälligen Bevölkerungsgruppen bereits jetzt in die sinkenden Umfragewerte von Trump mit hineinspielt. Und mit der Zunahme an schlechten Nachrichten wird sich dieser Trend wohl verstärken.
Das Mißmanagement der dortigen republikanischen Gouverneure wird auch immer abenteuerlicher:
https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/brian-kemp-verklagt-keisha-lance-bottoms-16865581.html
Ja, das hab ich auch gelesen. Grotesker geht es nicht mehr …
Es ist blanker Irrsinn.
Ja, das wäre die Hoffnung. Also dass wenn die Katastrophe eintritt, das zu Demobilisierung der Trumpisten führt, nicht, dass die Katastrophe eintritt.
Sehe ich auch eher so.
Frage ist halt, ob es wirkt. Diese Strategie erfordert essenziell, dass die Massenmedien mitspielen. Clinton wurde ja nicht von Trump zerstört, sondern von der New York Times.
Stimmt. Die New York Times hätte Clintons Emails niemals löschen dürfen …
Was Du bei dem Thema immer unterbewertest, ist das Alter eines Menschen. Biden ist bei Amtsübernahme Ende 70. Der Körper hat sich in dem hohen Alter schon deutlich zurückgebildet, die Muskulatur lässt sich selbst mit viel Training nicht mehr in der Form eines Endfünfzigern aufrechterhalten. Die Gehirnfunktionen sind deutlich eingeschränkt, was ältere Menschen dazu zwingt, ihren Bewegungsradius stetig einzuschränken. Komplexität wird deutlich reduziert.
Politiker sind davon nicht ausgenommen. Ich bezweifele daher, dass die körperliche wie geistige Kraft von Joe Biden noch reichen wird, seine Amtszeit nennenswert zu prägen. Er wird Verwalter des Apparats, politische Initiativen sind von ihm nicht zu erwarten. Immerhin, das wäre schon eine Verbesserung zu heute, aber darüber zu spekulieren, welche Akzente ein Endsiebziger einem Kontinent oder gar der Welt noch geben könnte, ist doch eine arg idealisierte Vorstellung.
Donald Trump ist 74, hat in den letzten Jahren spürbar abgebaut und bekommt ohne Hilfe kaum noch einen gerade Satz heraus. Insofern ist bei beiden Kandidaten der VP nicht ganz unwichtig.
Grundsätzlich geht es bei Beiden eigentlich auch weniger darum, was sie persönlich machen, sondern was die Funktionsträger unter ihnen mit ihrer Macht anfangen werden.
Ja, darauf will ich ja im Endeffekt raus. Er ist eine Leinwand, auf den andere ihre Vorstellungen projizieren. Welche sich davon durchsetzen, hängt davon ab, wer den Machtkampf in seinem Umfeld gewinnt, weil Biden selbst mit Sicherheit nicht prägend wird. Ich wäre da jetzt etwas weniger ageistisch unterwegs als du, aber in der Sache bin ich völlig bei dir.
Was bei Deinen Wahlkampf-Beiträgen immer gut dargestellt wird (und sonst meistens übersehen wird): Ein Kandidat muß sich für eine Strategie entscheiden und die durchhalten. Er kann sie nur bedingt an veränderte Bedingungen anpassen, ohne schwer bei Glaubwürdigkeit und Wirkungskraft einzubüßen.
Und es ist am Ende auch stark Glückssache, ob diese Strategie zu den Bedingungen zum Zeitpunkt der Wahl paßt oder nicht.
Ob also Biden am Ende als zuverlässiger und die ersehnte Normalität verheißender Kandidat einen Erdrutschsieg einfährt – oder als langweiliger und inkompetenter alter Mann den Anforderungen der dann aktuellen Krise nicht genügt: Das hat wenig mit ihm und seiner Strategie zu tun, aber viel damit, wie die USA zu diesem Zeitpunkt dastehen und welche Probleme für die Wähler oberste Priorität haben.
Exakt. Danke fürs Lob 🙂
Hmmm … ich glaube, Du gibst Biden hier viel zu viel Credit für eine “Wahlkampfstrategie”, die so wahrscheinlich garnicht existiert. Wenn in Zweiparteiensystemen eine Partei massiv in der Wählergunst absackt, gewinnt die andere Partei per Default hinzu. Meine These ist, dass die Demokraten einen Sack Kartoffeln hätten nominieren können und heute würde der Sack Kartoffeln die Umfragen dominieren. Die Unterstützer der Demokraten sind in ihrer großen Mehrheit nicht pro-Biden sondern anti-Trump. Und Trump verliert an Boden, nicht weil Biden Stärke zeigt, sondern weil die amerikanische Wirtschaft kollabiert und weil er die Coronakrise katastrophalmöglichst gemanagt hat. Noch nicht einmal die Zurückhaltung von Biden ist selbstgewählte Wahlkampfstrategie, sondern der Mann kann aus gesundheitlichen Gründen garnicht raus, während eine Epidemie grassiert, die vornehmlich Alte das Leben kostet. Gäbe es die Coronakrise nicht, dann würde Biden jetzt von Veranstaltung zu Veranstaltung reisen. Und vermutlich Gaffes produzieren. Aber er hat halt das Glück, dass sich sein Gegner selbst zerstört, während er im Keller sitzt und Backgammon spielt. Das alles ist nicht zu kritisieren. Und ich wünsche Biden alles Gute im November. Aber wir sollten diesen “Wahlkampf” bitte nicht zum genial geplanten 13-dimensionalen Schach verklären …
Tu ich doch auch gar nicht. Mein Punkt ist ja gerade, das nicht zu tun. Biden hat sich bewusst dafür entschieden, ein Sack Kartoffeln zu sein (Leinwand-Kandidat). Mit derselben Strategie ist Merkel mehrere Wahlen lang auch gut gefahren. Ich versuche nur zu erklären, wofür er sich entschieden hat und warum das aktuell tut, mehr nicht.
Ich bin nicht sicher, ob Merkel und Biden dieselbe Strategie fahren. Merkel hatte gewöhnlich sehr hohe Zustimmungswerte und ihr Wahlkampf war nicht auf Inhalte sondern einzig auf ihre Person zugeschnitten. Biden hingegen hat keine besonders eindrucksvollen Zustimmungswerte. Und er macht schlicht überhaupt keinen Wahlkampf. Er ist einfach abgetaucht. Er wartet darauf, dass Trump sich selbst zerstört und profitiert dann davon, dass GOP-Wähler am Wahltag frustriert zuhause bleiben und davon, dass Trump-Gegner niemand anderen haben, den sie wählen können, als ihn. Die Parallelen zu Merkel sind da sehr begrenzt. 2017 war keine anti-Schulz-Wahl …
Lass dich nicht täuschen. Merkels Wahlkampf 2013 war auf ihre Person zugeschnitten, ja, aber 2009 zum Beispiel war voll das Biden-Modell.
Republikanisch Wählende, die mit Trump hadern, können sich eine Rückkehr der inzwischen ohnehin zur Unkenntlichkeit verklärten Präsidentschaft Clintons vorstellen.
Die Präsidentschaft Bill Clintons wird nicht zur Unkenntlichkeit verklärt. Ich war in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre mehrmals in den USA, an der Ostküste, an der Westküste und im Mittleren Westen. Das Land war damals gesellschaftlich nicht so gespalten und selbst in San Francisco waren Mieten noch einigermaßen bezahlbar. Es war die Zeit, wo man für die Vermittlung eines Burgerbraters ein paar tausend Dollar kassieren konnte. Es war die Zeit, wo die New Economy boomte, die Amerikaner ziemlich mit sich im Reinen waren und das außenpolitische Ansehen den höchsten Stand seit Beginn des Vietnamkrieges erreichte.
Es war die Zeit, wo sich viele in Amerika verliebten. Als Bill Clinton das Oval Office verließ, freuten sich die meisten nicht und sein Nachfolger Bush hatte auch deswegen lange mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen. Die friedfertige Zeit war vorbei.
Ich will damit gar nicht sagen dass die Clinton-Jahre nicht gut waren sondern dass die Republicans heutzutage gerne vergessen, mit welcher Schärfe sie ihn damals bekämpft haben. So wie sich die CDU heute nicht mehr gerne an die Opposition zu den Ostverträgen erinnert, gewissermaßen, oder die SPD nicht an ihre Kritik zur Westbindung erinnert werden will.
Die Clinton-Jahre waren in den Jahrzehnten, die ich überblicken kann und teilweise vor Ort erlebt habe, die mit Abstand besten. Die USA waren irgendwie befriedet (trotz des hässlichen Amtsenthebungsverfahrens), selbst im unteren Einkommenssegment gab es nach zwei Jahrzehnten des Absinkens deutlich steigende Löhne, mehr Sicherheit, hohe Prosperität.
Das Amerika, das ich zuletzt vor einigen Jahren erlebt habe, hat damit nicht mehr viel zu tun. Weswegen ich aufgehört habe, in die USA zu reisen.
Die Repulicans hatten immer ihr Problem mit den Clintons, das hat sich bis heute nicht geändert. Warum, das habe ich nie wirklich verstanden. Und nein, ich halte das nicht mit der Ablehnung der Ostverträge für vergleichbar. Das Thema war spätestens 1982 gegessen, der Hass auf Clinton wärt aber nun fast 30 Jahre.
Ich widerspreche deiner Einschätzung der Clinton-Zeit doch gar nicht ^^
Der Hass auf die Clintons ist tatsächlich pathologisch. Woher der kommt, keine Ahnung. Ist mir auch egal, ehrlich gesagt. Beide sind von der politischen Bühne endgültig abgetreten.
Das ist eine Ansicht, die man auch mit Umfragezahlen untermauern kann.
Zu Biden haben zwar nur 25 % eine „strongly favorable opinion“, aber auch nur 31 % eine „strongly unfavorable opinion“. Die Zahlen für Trump: 24 % „strongly favorable“, 53 % „strongly unfavorable“:
https://poll.qu.edu/national/release-detail?ReleaseID=3666
Die Zahlen für die Parteianhänger:
Rep:
* Trump: 68 % „strongly favorable“, 9 % „strongly unfavorable“
* Biden: 4 % „strongly favorable“, 68 % „strongly unfavorable“
Dem:
* Biden: 50 „strongly favorable“, 5 % „strongly unfavorable“
* Trump: 1 % „strongly favorable“, 90 % „strongly unfavorable“
Man sieht, daß die Demokraten über die Abneigung gegen Trump viel besser mobilisieren können als über die Zustimmung für den eigenen Kandidaten (ich bezweifele, daß ein/e andere/r wesentlich bessere Zahlen erzielen könnte).
Interessant auch der Blick in die Altersgruppen:
18-34:
* Biden: 9 „strongly favorable“, 18 % „strongly unfavorable“
* Trump: 9 % „strongly favorable“, 63 % „strongly unfavorable“
65+:
* Biden: 44 „strongly favorable“, 33 % „strongly unfavorable“
* Trump: 31 % „strongly favorable“, 53 % „strongly unfavorable“
Man sieht, daß keiner der beiden die Jungen auf positive Weise vom Hocker reißt – aber einer auf negative Weise.
Die Alten wiederum haben festgefügte Meinungen über die Kandidaten, die sich durch den Wahlkampf schwer verändern lassen werden.
Jepp.
Das Problem ist, dass Biden so oder so seine Wähler dazu bringen muss, sich im Zweifel über Stunden vor einem heillos überlasteten Wahllokal anzustellen. Und da kann ein schmutziger Wahlkampf (den Trump aus dem ff beherrscht) gewaltig demobilisieren. So kommt zum Beispiel Bidens Unterstützung der 1994 crime bill und eine sehr unschöne Rede voller dogwhistling ( ‚Predators‘) jetzt auf. Wenn man die im Hinterkopf hat, muss man schon mit gewaltig zugehaltener Nase wählen gehen.
Und das andere worauf ich gespannt bin, ist ob sich die Binsenweisheit, dass der Erfolg viele Väter hat, das Scheitern jedoch ein Waisenkind ist, bewahrheitet. Wirst du, wenn diese Strategie nicht aufgeht, auch einen Artikel schreiben, warum Biden auf das falsche Pferd gesetzt hat oder warum er der falsche Kandidat war ? Oder werden wie beim Wahlkampf Clinto – Trump externe Gründe (Sexismus !) angeführt ?
Bislang zeigen alle Indikatoren, dass die Wählerschaft der Dems wesentlich mobilisierter ist als die Trumps.
Danke für den Artikel.
Die Strategie ist natürlich das beste, was er machen kann und ja der Vergleich mit Angela Merkel passt. Das ist ein bisschen wie hier auch, die anderen machen soviel Lärm, da reicht es manchmal ein Bild, ein Satz nach dem Motto „Ich bin da und nicht ganz so verrückt schlimm“ und dann gewinnt man automatisch.
Und er hat ja genug andere Democrats, die den Lärm mitmachen wie AOC oder andere. Find auch einige von den Wahlkampfspots die ich gesehen habe echt gut. Betone aber gleich, dass mir die USA so im Newsjunkietum immer ein bisschen durchrutschen. Aber bisher bin ich echt positiv beeindruckt. Hätte die totale Katastrophe erwartet, weil er nun mal kein guter Kandidat ist, und die blieb aus.
Eigentlich hatte ich die ganze Wahl schon abgeschrieben. Allerdings, in den USA ist der VP-Posten auch so wichtig. Dann ist noch eine zweite Persönlichkeit da, das macht die Sache strategisch natürlich schwieriger. Entweder hat man zwei Leinwände oder braucht Wonderwoman (AOC!^^), weil sich die Angriffe dann auf die Vizepräsidentin konzentrieren.
Ich denke seine VP sollte die Strategie teilen. Klappe halten, Projektionsfläche sein, fertig.
Meine Befürchtung, das funktioniert nur wenn es ebenfalls ein weißer, heterosexueller Mann ist. Egal wer es wird, Frau, LGBT, Schwarz, Latin. Der ganze Hass wird sich darauf abladen,
das ist das Problem mit Projektionsflächen. Entweder hat man zwei langweilige weiße Männer oder eben nicht und dann bekommt nur eine/r den Hass ab. Ach ganz vergessen, linker wäre er/sie auch noch, noch mittiger ist ja kaum möglich.
Glaube eine perfekte Lösung gibt es da nicht. Da wäre vielleicht jemand vom Typ AOC oder Pelosi wiederum gut, die sind daran schon gewohnt und haben meiner Meinung nach sehr gute Wege gefunden, mit dieser Feindbild-Rolle umzugehen. Während ein Typ wie Sanders, der mit Kritik nicht umgehen kann, absolut schlecht wäre. Man bräuchte einen Thunberg/Drosten-Typ, wo alle anderen sich davor stellen. Da bin ich nicht tief genug drinnen, aber wie gesagt, AOC würde als Typ passen, sie ist das totale Feindbild und kontert das oft mit einer Art selbstverständlichen Selbstbewusstheit. Sie hatte auch so ein tolles Wahlkampfvideo, hat mir sehr gefallen! Gleiches gilt auch für Pelosi, sie trollt die gut, wenn wieder so getan wird, als stünde sie für den Satan und nahenden Weltuntergang.
Würde jetzt vielleicht für Warren sprechen, aber die anderen kenne ich auch nicht so gut. Gibt es da solche Typen?
Das wird mit Sicherheit keine AOC werden. Biden wird sich nicht dermaßen eine offene Flanke auf der Linken gönnen.