Flüchtlingskrise 2.0

Was seit einigen Tagen an der türkisch-griechischen Grenze passiert, ist ein weiteres Mal ein Fiasko mit Ansage. Europa hatte das „Problem“ Flüchtlinge nach einem kurzen Sichtbarwerden 2015 wieder an die Peripherie ausgelagert oder gleich in einem mehr als fragwürdigen Abkommen an die Türkei verschachert. Genau dieser Deal fällt uns jetzt aktuell vor die Füße.

Der Blick zurück

Bevor wir uns den aktuellen Geschehnissen widmen, lohnt sich aber auch hier noch mal der Blick in die etwas entferntere Vergangenheit, denn weder die Ereignisse von 2015, noch die derzeitige Entwicklung sollten irgendjemanden überraschen.

Insbesondere Deutschland hatte sich seit den frühen 1990ern in der Frage von Asyl und Flüchtlingspolitik mit Hilfe der Dublin-Abkommen schadlos gehalten. Das erste Abkommen war 1990 kurz vor dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens von 12 europäischen Staaten unterzeichnet worden, als die vom Westen unterstützen Diktaturen in Nordafrika und im nahen Osten noch weitgehend stabil waren und den Industrienationen die Flüchtlinge aus den regionalen Konflikten weitgehend vom Hals hielten.

Deutschland hatte seinerzeit – ohne einen wirklichen Anlass – gerade keine Phase extremer politische Hetze gegen Flüchtlinge und Asylbewerber erlebt. Insbesondere die Unionsparteien hatten das Thema auf die Tagesordnung gesetzt und das Klima massiv verschärft. (Der damalige CDU Generalsekretär Heiner Geißler hatte bereits 1986 gewarnt, dass man diese Ausländerfeindlichkeit und den rassistischen Tenor nie wieder würde einfangen können, wenn man das Thema zur politischen Stimmungsmache einsetzen würde – er sollte Recht behalten). Aber auch die SPD fuhr die „das Boot ist voll“ Schiene, insbesondere unter ihrem Vorsitzende Lafontaine. (Tatsächlich war es die FDP, die damals zuletzt umkippte.) Die Quittung dieser Rhetorik folgte in Form des zunehmenden Rechtsradikalismus und den Anschlägen mit zahlreichen Todesopfern in den frühen 90ern.

Im sogenannten „Asylkompromiss“ 1992 wurde das Recht auf Asyl im Grundgesetz bis auf eine formale Hülle weitgehend ausgehöhlt Flüchtende wurden verpflichtet, ihren Antrag auf Asyl im ersten sicheren Land zu stellen, das sie erreichen.
Insbesondere für Deutschland, das außer der Nordseeküste über keine EU-Aussengrenze verfügt, waren die Dublin-Abkommen eine bequeme Lösung, um sich aus der Verantwortung zu stehlen und für die kommenden Jahre berief man sich auch gerne auf diese Verträge.

Ein Sprung nach Vorn. Während der Finanzkrise kommunizierten Italien und Griechenland wiederholt, dass sie die Kosten der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge, die Europa seit einigen Jahren verstärkt über das Mittelmehr erreichen, nicht mehr tragen konnten.
Die Staaten des EU-Zentrums und einmal mehr vor allem Deutschland (und da besonders der damalige Finanzminister Schäuble) wiesen die Bitten um Hilfe brüsk zurück. In den deutschen Medien gilt das Ansinnen nur als ein weiteres Beispiel der faulen Südländer, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen wollen.

Ein weiterer Sprung um ein paar Jahre. Stabil war in Nordafrika und im nahen Osten nicht mehr viel. Der arabische Frühling hatte die (lange vom Westen unterstützen) Diktaturen entmachtet. Von den versprochenen Demokratiebewegungen nach westlichem Vorbild war allerdings auch nicht viel zu sehen. Stattdessen zeigte sich eine unübersichtliche Mischung mit teils wenig sympathischen Akteuren aus dem islamistischen Bereich, Warlords und Drogenbaronen.
Die Flüchtlingslager rund um die Krisenregion quollen über und die Flüchtlingsorganisationen bettelten geradezu um Mittel, um die Geflüchteten vor Ort versorgen und menschenwürdig unterbringen zu können. Die Welt und insbesondere die westlichen Industriestaaten reagierten nicht. In den Lagern mussten die Rationen drastisch gekürzt werden, teilweise auf weniger als die Hälfte. Es kommt, was kommen musste.

Und damit kommen wir schließlich in den Sommer 2015. Wieder tut Europa nichts, als der Druck auf die Staaten der Peripherie immer weiter steigt. Sicher, es wäre damals möglich gewesen, die Lager so auszustatten, dass Geflüchtete dort unter humanen Bedingungen hätten untergebracht werden können. Allein, man unterlässt es. Selbst, als sich die Menschen ein weiteres Mal auf den Weg machen, dieses Mal um Zentraleuropa zu erreichen und man zumindest noch einige Tage für die nötigsten Vorbereitungen gehabt hätte, bleiben die Ziel-Länder passiv und schauen auf den Treck, wie das Kaninchen auf die Schlange.

Angela Merkel entschied schließlich – nicht zuletzt auf das Flehen von Ungarn und Österreich hin – die deutsche Grenze nach Österreich nicht zu schließen und für einen Moment den Druck aus dem Kessel zu lassen. (Die Frage, wie eine mögliche Alternative an diesem Punkt ausgesehen hätte, wäre allein eine Artikelserie wert.)
Dankbarkeit konnte sie davon von den Nachbarn im Südosten freilich nicht erwarten. Der damalige österreichische Minister für Integration und heutige Bundeskanzler Kurz und der ungarische Autokrat Orban werfen ihr noch Jahre später vor, dass sie ihre jeweiligen Länder davor bewahrt hat, überrannt zu werden.

Doch es gibt auch berechtigte Kritik. In Deutschland tut die Regierung lange sehr wenig, um den Satz „Wir schaffen das!“ Realität werden zu lassen. Es ist vor allem die Zivilgesellschaft, die einspringt und die Neuankömmlinge zumindest mit dem Nötigsten versorgt. Das Chaos, das die Rechten bis heute an die Wand malen, wurde von diesen Menschen verhindert.
Gleichzeitig kehrte die große Koalition kurze Zeit später zu ihrer restriktiven Linie zurück. Zwar kommunizierte man die Kehrtwende kaum, sicher auch um den erstarkten Rechten und Rechtsextremen nicht nachträglich Recht zu geben, tatsächlich verkaufte Europa aber bald mit einem fragwürdigen Deal mit dem Despoten Erdogan die Asylsuchenden und ging weitgehend auf den alten Kurs zurück.

Heute

Damit sind wir wieder in der Gegenwart angekommen. Dass das Abkommen mit der türkischen Regierung ein Problem werden könnte, zeigte sich schon vor einigen Monaten. Immer wieder drohte die AKP-Regierung die Aufkündigung an und versuchte, die Flüchtlinge als Druckmittel zu verwenden. Besonders wenig erbaut war man dort, dass die versprochenen EU-Mittel nur zweckgebunden ausgeschüttet werden und nicht einfach in den Staatshaushalt überführt werden konnten.

Man tat aber auch weiterhin nichts, um die Lage in den Flüchtlingslagern in Griechenland zu verbessern. Bilder von überfluteten Zelten und Kindern, die apathisch unter losen Planen hausen gingen in den letzten Monaten regelmäßig herum, ohne nennenswerte Reaktionen auszulösen. Von der oft beschworenen „Bekämpfung der Fluchtursachen“ – eine Formulierung, die in der Regel ohnehin nichts anderes ist, als ein Code, dass man nicht zu helfen gedenkt – ist auch fünf Jahre nach dem Flüchtlings-Sommer nichts zu sehen.

Selbst wenn sich die EU jetzt von Erdogan erpressen ließe und ihm seine Wünsche erfüllte (ja was eigentlich? Freie Hand gegen die Kurden? Unterstützung bei seinen territorialen Ambitionen in den Bürgerkriegsstaaten? Mehr Geld? Eine Fortsetzung des Beitrittsverfahrens?), wie lange würde es bis zum nächsten Mal dauern, dass der AKP-Präsident Flüchtlinge an die Grenze karren lässt?
Wenn Europa hier wieder Handlungssouveränität gewinnen will, muss es sich im Klaren sein, dass das ein teures Unterfangen wird. Die Menschen, die in den letzten Jahren in der Türkei geparkt wurden und die jetzt im Niemandsland zwischen Türkei und Griechenland von beiden Seiten drangsaliert werden, verschwinden nicht einfach. Das gleiche gilt für die Menschen in den Lagern in Griechenland.

Sicher ist es auch möglich, große Anzahlen von Menschen außerhalb Europas oder an der Peripherie zu beherbergen, aber man sollte sich keine Illusionen machen, dass auch das viel Geld kosten wird, wenn es sich um akzeptable Lebensbedingungen handeln soll und wir reden dabei über Jahre oder vielleicht Jahrzehnte. Wir reden von Menschen, die einen wesentlichen Teil ihres Lebens, manche Kindheit und/oder Jugend in diesen Lagern verbringen könnten. (Spätestens an dieser Stelle sollte klar sein, dass es auch nicht nur die Befriedigung der körperlichen Grundbedürfnisse wie Verpflegung und Obdach gehen kann, sondern man die Menschen auch sinnvoll beschäftigen muss, was bei einer Integration in einer Gesellschaft deutlich einfacher ist, als wenn man die Infrastruktur dafür erst von Null aus dem Boden stampfen wollte).

Wir sollten endlich versehen, dass wir das Thema nicht loswerden können, dass wir uns nicht aus der Verantwortung stehlen können (nicht zuletzt, weil „wir“ als westliche Industrienationen durchaus unseren Anteil an den politischen Situationen in den jeweiligen Ländern haben).
Spätestens mit dem Türkei-Deal sollte uns auch klar sein, dass es mindestens keine Garantie gibt, dass eine Situation sich verbessert, wenn wir nur eine Weile den Kopf in den Sand stecken und so tun, als würden wir die Probleme nicht sehen. Wenn alle Akteure so (nicht-) handeln, wird uns das Problem wieder einholen, mit einer soliden Wahrscheinlichkeit sogar drastischer als zuvor.

{ 9 comments… add one }
  • Stefan Sasse 11. März 2020, 19:10

    Stimme dir weitgehend zu. Die Artikelserie über die Alternativen 2015 würde ich sehr gerne lesen!

    • TBeermann 11. März 2020, 20:22

      Das wäre wohl reichlich dystopisch, wenn die gleiche Anzahl an Flüchtlingen, die im Sommer 2015 durch Deutschland gegangen ist (wir reden da ja nicht nur von denen, die hier geblieben sind) in einem Land mit Rund 10 % der Fläche und der Bevölkerung gestrandet wären.

      Auch in Österreich war die Reaktion des Staates ja mehr als defizitär (Traiskirchen ist da ein Stichwort).

  • CitizenK 11. März 2020, 19:43

    Europa ist mit der Corona-Krise ausgelastet. Das Gesundheitswesen ist am Anschlag. Die Rezession wird kommen. Die Ressourcen sind einfach nicht da, um aufzufangen, was Politverbrecher ausgelöst haben. Unbegreiflich, dass die auf Konferenzen wie Ehrenmänner behandelt werden.

    Trotzdem möglich und dringend notwendig wäre Verbesserung der katastrophalen Situation in den Lagern in Griechenland. Kinder da herauszuholen wäre ein Schritt, mehrere deutsche Städte haben sich bereit erklärt. Viel mehr wird nicht geschehen:. Die Politik ist mit einem overload an Problemen konfrontiert: Corona, Klima, Rechtsextremismus, Handelskrieg, USA/NATO, Brexit.

  • cimourdain 13. März 2020, 12:00

    Danke, dass du mal die langjährige Entwicklung dargestellt hast. Diese Perspektive zeigt sehr deutlich, wie das Thema immer wieder verdrängt wird. Konkret:
    – Das UNHCR ist chronisch unterfinanziert und immer noch wesentlich auf eigenes Fundraising angewiesen.
    – Es gibt immer noch keinen europäischen Asylantrag.
    Was mich beim Istzustand außerdem erschreckt hat, war die Tatsache, dass Kriege nicht mehr zu Ende gehen und sich dadurch die Flüchtlingsstädte (von Lagern möchte ich nicht reden) über viele Jahre halten.
    Das andere ist die zynische Mitleidlosigkeit, die aus der Verdrängungspolitik erwächst. Lesenswert:
    https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/mar/08/detention-torture-and-killing-how-the-eu-outsourced-migration-policy

    • Rauschi 13. März 2020, 15:16

      @cimourdain
      grundsätzlich Zustimmung, bis auf einen Punkt:
      Das andere ist die zynische Mitleidlosigkeit, die aus der Verdrängungspolitik erwächst.
      Ich würde das andersrum sehen, die Verdrängung erfolgt aufgrund der zynischen Mitleidlosigkeit.
      Womit bewiesen wäre, das die Militäreinsätze andere Gründe als „Humanität“ haben. q.e.d.

      • cimourdain 13. März 2020, 19:45

        Ich sehe hier das kollektive Äquivalent zu dem, was in der (individual) Psychologie als kognitive Dissonanz beschrieben wird. Hier führt das konkret zu Opfer-Abwertung bzw. victim-blaming.

        • Rauschi 13. März 2020, 21:47

          Hier führt das konkret zu Opfer-Abwertung bzw. victim-blaming.
          Mag sein, aber das wäre auch wieder etwas anderes als zynische Mitleidlosigkeit, oder nicht?

  • Rauschi 13. März 2020, 15:44

    Vielen Dank für den Artikel und die nochmalige Einordnung der Reihenfolge der Ereignisse. Wer da jetzt noch davon spricht, irgendjemand wäre von der Entwicklung überrascht, der ist auch jeden Morgen überrascht, das dieses leuchtende Ding wieder am Himmel steht.

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