Evangelikale in Russland stellen keine Türken ein und missverstehen Zuckerberg – Vermischtes 12.04.2018

Im Folgenden finden sich einige interessante Artikel über die ich in letzter Zeit gestoßen bin sowie einige Anmerkungen dazu. Zur besseren Bezugnahme in den Kommentaren sind die Artikel durchnummeriert.

1) White Evangelicals are steadily losing followers and political clout

A couple of weeks ago I read Frances FitzGerald’s The Evangelicals, and I was a little surprised to learn that the evangelical movement has been in pretty weak shape for the past decade or so. One reason is that the old warhorses—Falwell, Robertson, Dobson—are either old or dead, and very few new warhorses have taken their place as leaders of the movement. What’s worse, many of the new ones who have developed high public profiles, like Rick Warren, are less interested in the old social hot buttons and prefer to devote more of their time to things like helping the poor. This partly explains why evangelicals were so eager to support Donald Trump, even though he’s pretty obviously the least godly president in recent memory. They were looking for any port in a storm, and their followers liked Trump. So they jumped on his coattails in hopes that some of his popularity would rub off on them.

Es gehört zu den Standardweisheiten in jeder Betrachtung der USA, dass das Land deutlich religiöser ist als (West-)Europa. Weniger bekannt ist, dass der in Europa allgemein schon lange festgestellte Trend, dass die Menschen immer weniger religiös werden, auch in den USA zu beobachten ist und dort auch und ganz massiv die radikalen Evangelikalen trifft, deren gewaltiger Einfluss auf die US-Politik immer mehr schrumpft (aber relativ immer noch groß ist, selbstverständlich). Spannend ist dabei, dass nicht die Evangelikalen als Ganzes weniger werden, sondern dass es ein Generationending ist: die sterben schlichtweg aus.

Warum ist das so? Ein wichtiger Grund ist die Homo-Ehe. Junge Menschen, selbst wenn sie sehr religiös sind, stimmen ihr überwiegend zu. Die radikale Feindschaft der alten Evangelikalen gegenüber der rechtlichen Gleichstellung sorgte dafür, dass sich eine ganze Generation überwiegend von der Bewegung abwendete. Ebenfalls spannend ist, dass die Abnahme der Evangelikalen als Anteil an der US-Bevölkerung besonders mit Beginn der Obama-Ära einen Schlag einstecken musste. Das zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, wer an der jeweiligen Regierung ist: Progressive Vorbilder in höchsten Stellen können die Mentalitätseinstellung einer Gesellschaft entscheidend beeinflussen, und umgekehrt.

Weitere interessante statistische Teile aus dem Artikel sind der Zusammenhang von Diversität in einem Bundesstaat mit der Rigidität der Evangelikalen – wo je weniger diversifiziert die religiöse Zusammensetzung des Staates ist die Evangelikalen umso radikaler auftreten – und der Zusammenhang von Religionszugehörigkeit und Parteizugehörigkeit. Bei letzterem kann man deutlich sehen, dass die „klassisch weißen“ Religionen zwar deutlich mehr Republicans als Democrats umfassen, aber viel weniger als man annehmen könnte. Die harten Parteigänger sind eine Minderheit, und sollten sie die Mehrheit verlieren – etwa über ein Thema wie die Homo-Ehe – kann der ganze Laden sehr schnell sehr stark schrumpfen.

2) The Conservatives are wrong – Having more people in employment doesn’t reduce poverty

The poor you will always have with you. Yet as a society we can have more or less poverty. And it’s a depressing fact that British poverty has been on the rise again in recent years. A new report from the Joseph Rowntree Foundation (JRF) highlights that a long period of reduction in poverty (defined as those living on less than 60 per cent of median incomes after housing costs) came to an end around 2010. The child poverty rate fell from 33 per cent in 1996 to 27 per cent in 2010. But it has now risen again to 30 per cent. Pensioner poverty two decades ago was 30 per cent. It dropped to 13 per cent in 2012 but has since crept up to 16 per cent. For the population as a whole the poverty rate glided down from 24 per cent in 1995 to 21 per cent in 2014. But it has now edged back up to 22 per cent.

Der Telegraph, ein linken Umtrieben eher unverdächtiges Blatt, erklärt dass obwohl in Großbritannien so viele Menschen wie nie zuvor in Beschäftigung sind die Armutszahlen sich verschlimmert haben. Für Konservative und Wirtschaftsliberale mag das überraschend kommen, aber nur weil jemand arbeitet heißt das nicht, dass er automatisch nicht arm ist. Die Situation, wie der Telegraph erklärt, ist im UK deswegen deutlich schlimmer als etwa hier in Deutschland (In den Kommentaren wurde letzthin überzeugend dargestellt, dass nicht alle Hartz-IV-Empfänger die Armutsdefinition erfüllen), weil die konservative Regierung unter Theresa May massiv die Sozialausgaben zusammengestrichen hat, und zwar vor allem in dem Bereich der Niedriglöhnern zugute kommt. Darunter sind etwa der soziale Wohnungsbau (die Miet- und Immobilienpreise sind im UK noch höher als bei uns) und Hilfen zum Lebensmitteleinkauf. Das führt dazu, dass Niedriglöhner im UK deutlich gefährdeter sind, ihren Lebensunterhalt trotz Vollzeitarbeit nicht bestreiten zu können. Dieser Bestand zeigt die Wichtigkeit, die ein vernünftiges soziales Netz hat, und man kann nur froh sein, dass die CDU/CSU und FDP beide (derzeit) nicht daran arbeiten, ähnliche „Reformen“ wie Theresa May durchzuführen. Vermutlich spielt hier auch mit hinein, dass die britischen Conservatives sich von den anderen christlichen Volksparteien des Kontinents abheben und wie so oft eher auf die andere Seite des Atlantiks als des Kanals schauen.

3) Sandra Bauer – gern. Meryem Öztürk – Nö.

Wer einen türkischen Namen hat oder ein Kopftuch trägt, hat bei Bewerbungen deutlich schlechtere Chancen – völlig unabhängig von der Qualifikation. Wie türkischstämmige Frauen noch immer auf dem deutschen Arbeitsmarkt diskriminiert werden, legt eine Studie nun ganz deutlich offen.  Die Ökonomin Doris Weichselbaumer von der Universität Linz in Österreich führte einen groß angelegten Feldversuch durch: Sie verschickte fast 1500 fiktive Bewerbungen an Unternehmen in Deutschland und analysierte die Rückmeldungen der Personalabteilungen. „Die Ergebnisse weisen eindeutig auf die – bewusste oder unbewusste – Diskriminierung von Bewerberinnen mit Kopftuch und Migrationshintergrund hin“, heißt es in einer Zusammenfassung des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), wo das Forschungspapier erschienen ist. Die Bewerberinnen waren alle in Deutschland aufgewachsen, hatten entsprechende beste Deutschkenntnisse und eine „deutsche“ Bildungs- und Ausbildungsbiografie.

Der Spiegel berichtet über die Ergebnisse einer Studie, in der mit einer absichtlich „deutsch“ gemachten Biographie (also hier geboren, normale Bildungsbiographie, fließende Sprache) mit der exakt selben Person massive Unterschiede in der Einladung zu Bewerbungsgesprächen bestehen. Von 18% Einladungen für Sandra Bauer geht es auf 13% Einladungen für Meryem Öztürk (gleiches Bild, gleiche Bewerbung, nur anderer Name). Fügt man ein liberales Kopftuch hinzu (das die Haare nicht komplett bedeckt) sackt die Quote auf 4% ab; nicht getestet wurde eine konservatives Kopftuch, wobei die Forscher annehmen, dass es dann noch schlimmer wäre. Das ist ein Problem, und die Lösung kann nicht darin bestehen ein Kopftuchverbot durchzusetzen.

Ein anderer interessanter Fund, den die Forscher gemacht haben, ist dass die Diskriminierung nicht nur anhand der Namens- und Kopftuchlinie verläuft, sondern auch entlang von Berufsgrenzen. Und das ist der wirklich beunruhigende Befund hier. Die fiktive Meryem Öztürk, ob mit Kopftuch oder ohne, erhielt umso mehr Einladungen (relativ zu Sandra Bauer), je weniger Kompetenzen ein Job verlangte, und umgekehrt. Die Differenz zwischen Bauer und Öztürk wurde umso größer, je besser bezahlt und angesehener ein Beruf ist, was auf eine Doppel-Diskriminierung von Muslimen hinausläuft, über die hierzulande dringend gesprochen werden muss.

4) On the Tube, I saw the father I never met – and was happy to find I had nothing to say to him

My father couldn’t know that I would benefit from investment in schools, museums and fantastic teachers, and the world’s best mother. But I did, which means that while a number of people – the taxpayer, society, my mum – have a legitimate grievance against my father, I don’t, not really. It worked out OK. The dispiriting truth is that it might be different today: child poverty has increased every year for the past three years, even during periods of economic growth. Changes to the child maintenance regime have made it even harder to force absent parents to pay up, while the botched introduction of Universal Credit makes it more difficult for single parents in work to stay out of poverty. And so I walked away from the man who  was – or might have been – my father thinking this: I need to spend less time writing about an imaginary, lost parent, and more time writing about how much harder it is to be a kid like me today.

Stephen Bush beschreibt im New Statesmen sehr eindrucksvoll sein Verhältnis zu seinem Vater, den er nie kennenlernte weil der seine Mutter in frühen Jahren sitzen ließ. Besonders interessant für eine hier im Blog oft geführte Diskussion aber ist eine Nebenbeobachtung Bushs: dass seine eigene Biographie als schwarzes Kind in Großbritannien, das einen Aufstieg durch die Bildungsinstitutionen hinlegte und heute ein erfolgreicher Journalist ist (Bushs Artikel sind generell empfehlenswert, seine Analysen der britischen Politik und speziell der Conservatives und Labour sind exzellent) nur durch die Regierung von New Labour möglich war, die für Kinder wie ihn diverse Förderprogramme auflegte (die natürlich seit der konservativen Machtübernahme alle abgeschafft wurden). Das erinnert an die große sozialdemokratische Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre, die das Fundament für die heutige breite deutsche Mittelschicht legten. Es ist einfach wichtig, an der Regierung zu sein, wenn man für Menschen was erreichen will. Müntefering hatte Recht: Opposition ist Mist.

5) The Senate tries to figure out Facebook

The sound of the camera shutters told the story. On Tuesday, when Facebook CEO Mark Zuckerberg entered Room 216 of the Hart Senate Office Building to testify in front of the Senate Judiciary and Commerce committees, dozens of photographers crowded the witness table, and the space filled with the sound of rain beating on a tin roof. By the hearing’s end, five hours later, it faded to a slow drizzle. Zuckerberg had come, ostensibly, to discuss Cambridge Analytica’s use of data provided by Facebook users during the 2016 presidential election. He was scheduled to testify at 2:15 p.m., but the line for the public gallery started to form at 7:15 a.m. Reporters and staffers crammed into their reserved seats hours in advance. People seemed giddy to be there.

Das Beeindruckende an diesem Artikel ist weniger der Inhalt (wobei die Befragung Zuckerbergs tatsächlich eine wahnwitzige Zurschaustellung von Inkompetenz, Ignoranz und Faulheit war), sondern die Überschrift. Trotz der riesigen parteipolitischen Polarisierung werden „The Senate“, „The House“ und „Congress“ in den USA immer noch fast immer als institutionelle Blöcke gesehen, was deren Beliebtheitsraten im einstelligen Bereich mit erklären dürfte. Die Semantik hat da eben doch einen gewissen Einfluss.

6) No, it’s not spending that’s the problem

Over the next 30 years, net spending increases from 19.3 percent of GDP to 23.2 percent. That’s about one percentage point per decade, mostly due to rising health care costs. In other words, it’s not a lot. What’s more, if technological advances slow down health care spending—something I find likely even if it seems hard to believe right now—spending won’t go up even that much. But if you add interest on the national debt, spending goes up nearly 9 percentage points. That’s the killer, and there’s no technological advance that can change this. In the 2018 version of the CBO report, this will get even worse thanks to last year’s tax bill.

Kevin Drum verweist darauf, dass die langfristigen Defizite der USA nicht von den Sozialstaatsausgaben kommen – die bleiben sehr stabil und könnten, wenn man angesichts Kostenersparnissen durch technische Fortschritte im Gesundheitswesen optimistisch ist, sogar sinken – sondern von den riesigen Steuersenkungen. Die CBO-Annahmen sehen eine Steigerung des Defizits um 1% durch Sozialausgaben, aber um 9% wegen wegbrechender Steuereinnahmen. Es ist ziemlich offensichtlich, was hier passiert, und treibt einen in den Wahnsinn dass es in der medialen Diskussion immer unter den Tisch gekehrt wird.

7) Oh yes, let’s talk about self-awareness in Syria // American interventionism in the Middle East in the past 4 decades has been a disaster

I don’t want to pretend that Obama’s approach to Syria was a model of foreign policy precision, but in the end he did the right thing: nothing. Syria was a lose-lose situation for the US from the start. It’s unlikely that any intervention would have “worked”—whatever that means—and it’s almost indisputable¹ that even the slim possibility of an effective intervention would have required a massive military effort. A bit of bombing and some arms delivered to our allies-of-the-moment never had a chance.

Excuses aside, though, the roll call is grim. The goals of American interventions have spanned the gamut from modest peacekeeping to regime change. With one arguable exception, none of these interventions had a positive impact on either the Middle East or the interests of the United States. Taken as a whole, they’ve been instrumental in creating the War on Terror we’ve been fighting since 9/11. Anyone who wants to be taken seriously when they argue for further US interventions needs to honestly engage with this history and then explain why this time will be different. And it better be a pretty good explanation.

Es dürften sich nur wenige Deutsche finden, die viele gute Worte für amerikanischen Interventionismus im Mittleren Osten haben. Eine der großen Hoffnungen vieler Trump etwas wohlgesonnener Beobachter war ja, dass der sich ostentativ gegen den Interventionismus wandte („Bush lied, people died“), während Hillary Clinton eher als Falke galt. Es war schon 2016 absehbar, dass bei Trump viel leeres Gerede dabei war und er sein Machismo-geschwängertes Dominanzverhalten jederzeit über isolationistische Grundtendenzen stellen würde, aber so oder so ist es höchste Zeit, dass die USA ihre Interventionen in diesem Bereich der Welt beenden. Die Bilanz ist, wie Drum richtig feststellt, ein einziges Desaster.

8) The worse a state does on improving health, the better it is for Trump // How has your state done on reducing the probability of death?

Every single state has reduced the chance of dying among the elderly, primarily thanks to huge advances in treating heart attacks. However, the differences between states are still very large. California has reduced the chance of dying by 13 percentage points, from 80 percent to 67 percent, while Mississippi has reduced the chance of death by only 4 points, from 84 percent to 80 percent. But now for the interesting part. The first thing I noticed about this chart is that it seems to be even more segregated by red and blue states than the chart for the middle aged. That got me curious about the actual correlation between change in health and other factors. At first I tried regressing on the African-American share of each state’s population, but that produced nothing. Then I regressed on each state’s margin of victory for Donald Trump.

It’s easy to look at this chart and notice that it’s mostly red states that have gone downhill. And that makes you wonder why they keep voting for Republicans. Why not vote for Democrats who take health care more seriously? This seems like absurd behavior until you look at it from a different angle: a lot of people in red states see (and live through) stuff like this and conclude that government doesn’t work. That being the case, why not vote for the party that says it wants to reduce government?

Einer der vielen Momente, in denen man nur den Kopf schütteln kann: je schlechter es einem Bundesstaat geht, desto eher wählt er Trump. Die Korrelation ist beinahe perfekt. Wenn man krank ist und arm und keinen Zugang zu einer Krankenversicherung hat, wird Republican gewählt. Das ist wie sich über sozialen Kahlschlag beschweren und FDP wählen. Warum?! Die Artikel bieten eine ziemlich plausible Erklärung: da in diesen US-Bundesstaaten der Staat völlig kaputt ist und nicht funktioniert (und wir reden hier wirklich von radikalem Kaputtmachen, da ist die FDP linksradikal dagegen), vertrauen die Leute nicht darauf, dass der Staat irgendwas gebacken kriegt – und wählen die Partei die verspricht, den Staat weiter zu zerstören. Damit schießen sie sich natürlich massiv selbst in den Fuß, aber packt man noch die üblichen republikanischen identity politics oben drauf ist relativ klar, warum die Democrats da so wenig Fortschritte machen.

9) Russland in einem Tweet

Am orthodoxen Osterfest hatte sich der gescheiterte Präsidentschaftskandidat der Kommunistischen Partei Russlands (11,8% der Stimmen), Pavel Grudinin, verabredet. Mit dem Veteranen russischer Politiker-Darsteller, KP-Parteichef Gennadij Sjuganov, traf er sich am Lenin-Mausoleum, um den Revolutionsführer dort mit Eiern und Osterbrot zu ehren. Das Geschehen wurde von Grudinin (mit dem Hashtag #Auferstehung versehen) ganz zeitgemäß auf Twitter veröffentlicht. Auf dem angehängten Foto ist zu sehen, dass Sjuganov eine kleidsame rote Daunenjacke trug, dass auch Kränze abgelegt wurden und Soldaten stramm salutierten. So weit, so absurd.

In einem faszinierenden Ausschnitt zeigt dieser Artikel der Salonkolumnisten die Realität einer Post-Truth-Gesellschaft auf, wo kommunistische Politiker ihre Treue zum Vaterland dadurch beweisen, dass sie vor Lenins Grab Ostern feiern. Nichts an dem Bild macht Sinn, aber in Russlands völlig zerstörter postfaktischer Gesellschaft spielen Sinn und Unsinn schon lange keine Rolle mehr, wie der Artikel eindrücklich belegt. Die Mechanismen, derer sich Putin (und vor ihm die Sowjets) seit Jahren bedient, werden gut dargestellt und kommen hierzulande ebenfalls immer mehr auf.

{ 27 comments… add one }
  • Rauschi 13. April 2018, 08:46

    zu 2)
    (In den Kommentaren wurde letzthin überzeugend dargestellt, dass nicht alle Hartz-IV-Empfänger die Armutsdefinition erfüllen),
    nicht alle, aber ein grosser Teil? Im Artikel geht es ja um working poor, das sind auch bei uns keine Bezieher von ALG2, bis auf die Aufstocker.
    Werden hier Äpfel mit Birnen verglichen?

    Lesen Sie ab und an auch mal die verlinkten Quellen Ihrer Mitautoren? Nein, habe ich mir gedacht, sonst könnten Sie ja nichts von „überzeugend dargelegt“ schreiben. Meine Quellen zählen aber nicht als „überzeugend dargelegt“?

    Wie in dieser Studie, das sind die Anteile der Bevölkerung, die unter 60% des Medians bekommen, seit 1995 gewachsen, Seite 554
    https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.560975.de/17-27.pdf

    Was schreibt Herr Pietsch als Beleg seiner Aussage?
    [Auf die Schnelle: Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Kapitel II.2 Wirkung von Sozialtransfers Seite 555ff.
    In dem Kapitel wird aufgezeigt, wie stark Hartz-IV (und andere Sozialleistungen, allerdings dürfte am unteren Rand das ALG-2 am wichtigsten sein) das Armutsrisiko reduziert – nämlich bis über 60%. Das deckt sich exakt mit der Aussage von Jens Spahn.]
    Downloadlink unter :
    http://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Bericht/Der-fuenfte-Bericht/Der-Bericht/der-bericht.html
    wenn ich da nachlese, finde ich aber unter diesem Kapitel, das sich die Zahl der Menschen mit einem Armutsrisiko erhöht hat. Wie das zu der Aussage „überzeugend dargelegt“ passt, bleibt ein Rätsel.
    2005: 22,4% 2014:23,4% nach bisheriger Definition ist das ein Anstieg, wenn das als Armutsbekämpfung gilt, dann weiss ich nicht so genau, was „Bekämpfung“ bedeuten soll.
    Da steht auch:
    [Das Armutsrisiko in einer hypothetischen Situation ohne Sozialtransfers liegt für die Gesamtbevölkerung je nach Datenbasis in den verschiedenen Beobachtungszeiträumen relativ stabil zwischen 20 und 25 Prozent. Besonders betroffen sind erwartungsgemäß Bevölkerungsgruppen, die in hohem Maße von Sozialtransfers profitieren. Dies sind vor allem Kinder und junge Erwachsene bis 24 Jahre, Alleinerziehende und Arbeitslose.
    Entsprechend reduzieren Sozialtransfers bei diesen Gruppen das Armutsrisiko am stärksten, teilweise um über die Hälfte. Bezogen auf die Bevölkerung insgesamt beträgt die Reduktion unabhängig von der Datenquelle rund ein Drittel.]
    Dann gibt es eine Tabelle mit der tollen Überschrift:
    Reduktion des Armutsrisikos durch Sozialtransfers gegenüber einer hypothetischen Situation ohne Sozialtransfers auf Basis SOEP
    aber diese Werte sinken seit 2005, das bedeutet, die Reduktion sinkt, auch nichts, was überzeugend irgendetwas in Richtung Armutsbekämpfung durch Hartz IV belegen würde. (sinken allgemein und auch für die Arbeitslosen seit 2005, Seite 557)
    Reduktion des Armutsrisikos:
    1995: 38.4% 2000: 40.6% 2005:37.3% 2010:35.5% 2012:33.9% 2014:32.4%

    nehme ich beide Befunde zusammen bleibt von der Aussage, Hartz IV wäre ein Armutsbekämpfungsprogramm nur heisse Luft.
    Witzig ist auch, was aus dem Bericht weg gelassen wird, denn bei dem Artikel ging es ja um Menschen in Arbeit, das schliesst die meisten ALG 2 Empfänger aus, bis auf die Aufstocker.
    Kapitel II.3
    Armutsrisikoquote der Erwerbstätigen auf Basis SOEP 1995:6.6% 2000:6.4% 2005:8.1% 2010:8.2% 2012:8.9% 2014:9.2%
    Doch, wir stehen Dank der Agenda 2010 viel besser als die Briten da, schon klar.

    zu 3)
    Ist es nicht exakt das, was ich für meinen Kollegen geschildert habe? Stimmt sowas erst, wenn es auch in der Zeitung steht?

  • Ariane 13. April 2018, 12:02

    zu 3)
    . Die Differenz zwischen Bauer und Öztürk wurde umso größer, je besser bezahlt und angesehener ein Beruf ist, was auf eine Doppel-Diskriminierung von Muslimen hinausläuft, über die hierzulande dringend gesprochen werden muss.
    Meiner Meinung nach darf man auch vor allem nicht vergessen, dass solche Situationen quasi nur das Resultat und die Spitze des Eisbergs sind. Die Probleme entstehen ja viel früher. Ich hab neulich mit einem Bekannten gesprochen, der einen afrikanischen Vater hat, aber ansonsten genauso Deutsch ist wie ich. Und der war tierisch genervt, dass jeder, mit dem man im Alltag so in Kontakt kommt (Schaffner, Kassierer, Arzthelfer etc.) automatisch besonders einfach und deutlich spricht, weil die automatisch davon ausgehen, dass er sie nicht versteht. Und wenn die Sache dann abgeschlossen ist, gratulieren sie zu seinen guten Deutschkenntnissen. Ist natürlich Quatsch, weil das seine Muttersprache ist. Uns gratuliert ja auch niemand zu unseren herausragenden Deutschkenntnissen. Die werden halt automatisch als fremd eingeordnet.
    Und natürlich kann man da vielleicht mit anonymen Bewerbungen, konkreten Programmen das ganze etwas abschwächen, aber ich glaube, es gibt da noch einen weiteren Aspekt: Es ist auch außerordentlich wichtig, dass „Fremde“ mit anderen Namen oder anderem Aussehen oder Hautfarbe in der Öffentlichkeit auftauchen, um eben eine gewisse Normalität herzustellen. Dass es Politiker gibt wie Cem Özdemir, Moderatoren wie Mola Adebisi oder Journalisten wie Mely Kylak usw. Dass in Schulbüchern nicht Michael und Thomas ein Eis kaufen, sondern Kevin und Ali. Und ironischerweise ist die Berichterstattung ebenfalls ein Problem, wenn nämlich die Debatte automatisch um Integrationsprobleme und Flüchtlinge etc. geht, werden auch die fremd aussehenden Deutschen automatisch in diese Kategorie einsortiert und ohne Zutun plötzlich wieder mehr ausgeschlossen als früher.

    Und (sorry ufert jetzt iwie etwas aus^^): Was mir an der Berichterstattung oft missfällt ist, dass das Rassismusproblem häufig so als Sache dargestellt wird, die hauptsächlich von den Dummen und Armen ausgeht, während die reichen Bildungsbürger (=alle anderen) total weltoffen sind. Diese Normalisierung und Vermischung findet hauptsächlich bei den Jüngeren statt (also so unsere Generation und jünger), wo es häufiger vorkommt, dass man anders aussehende Leute im Bekanntenkreis hat oder mit denen zur Schule gegangen ist. Und eben auch in der unteren Mittelschicht und Unterschicht, wo man enger mit ihnen zusammenwohnt und häufiger Migranten/Migrantenstämmige im Arbeitsumfeld hat. Während umgekehrt gilt: je älter und reicher man ist, desto weniger Berührungspunkte gibt es. Wohnort spielt da natürlich auch eine Rolle. Diesen Ansatz, das ganze also irgendwie als Unterschichtenphänomen abzustempeln, halte ich daher für grundfalsch, weil ich glaube, dass es da als erstes überwunden wird. Die Personalchefs, die diese Bewerbungen sortieren, sind ja ganz sicher keine armen Schlucker^^

    Das wird sich natürlich noch verschieben, in Migrantenfamilien findet ja häufig ein ähnlicher sozialer Aufstieg statt wie im Deutschland der 60er Jahre, was wiederum gut zu deinem nächsten Punkt passt. Denn je mehr Möglichkeiten und Angebote es gibt, desto schneller wird das stattfinden.

    • Stefan Pietsch 13. April 2018, 12:19

      Während umgekehrt gilt: je älter und reicher man ist, desto weniger Berührungspunkte gibt es.

      Ziemlicher Blödsinn. Je höher Du in der Unternehmenshierarchie stehst, desto mehr Kontakt hast Du mit den Elite-Immigranten, ob dies im IT-, Markteting oder bei Unternehmens- und Personalberatungen der Fall ist. Genau dort haben viele mit nicht-deutschen Wurzeln. Wer die Erfahrungen dort zum Gradmesser nimmt, erhält ein völlig geschöntes Bild über die Verhältnisse, das wenig mit den Statistiken und Studien zu tun hat.

      • Ariane 13. April 2018, 13:17

        Oh die Elite-Immigranten. Was ist das nun wieder für eine Kategorie? Wie werden die sortiert? Indische Programmierer = Elite-Immigrant und die anderen mehr so Allerwelts-Problem-Migranten oder wie? Oo

        Und wie dir vielleicht aufgefallen ist, rede ich gar nicht von Immigranten, sondern von Deutschen mit ausländischen Wurzeln. Deren Eltern oder Großeltern ganz unelitär aus Ostanatolien zum Autobauen gekommen sind oder aus dem Kosovo mit nichts geflohen sind und sich hier ein neues Leben aufgebaut haben. Davon gibts ja auch ein paar mehr als deine Elite-Immigranten in den Hightech-Chefetagen. In sowas sehr Mittelständischem wie der Großhandelsbranche beschränkt sich der Ausländeranteil übrigens auf den türkischen Kioskbesitzer und damit hat sich das. Da ist imo die Lücke: es gibt Elite-Immigranten, die bei dir rumhängen und eine Menge in der unteren Mittelschicht (Arzthelfer, Verkäufer, Handwerker, etc.) und in der Mitte fehlts (was eben nicht nur für die Arbeit, sondern darüber hinaus für das ganze Umfeld gilt)
        Und diese Familien haben ihren Lebensmittelpunkt eben nicht bei der Elite, sondern bei den Normalos. Dort wird es eben immer normaler, zusammen zur Schule zu gehen, zu arbeiten, nebeneinander zu wohnen, Fußball zu spielen usw. Und wenn man die Erfahrung gemacht hat, dass die anders aussehen, sonst aber nicht so unterschiedlich sind, überträgt sich das automatisch als wenn man nur unter Biodeutschen lebt und von anders aussehenden Menschen nur Horrormeldungen in den Medien liest.

        Natürlich gibt es auch weiter unten Rassismus, meiner Erfahrung nach direkter, während die reichen Bildungsbürger sich gewundener ausdrücken. Aber die Hauptproblematik liegt eben häufig da, weil die Befugnisse (wie Personal einstellen, politische Entscheidungen, Medien etc) dort auch größer sind. Wenn der arbeitslose Handwerker rassistisch ist, ist das auch nicht schön, aber er kann wenig Schaden darüber hinaus anrichten.

        • Stefan Pietsch 13. April 2018, 13:50

          Und wie dir vielleicht aufgefallen ist, rede ich gar nicht von Immigranten, sondern von Deutschen mit ausländischen Wurzeln.

          Ich kann auch nur noch den Begriff „Deutsche mit Migrationshintergrund“ nehmen. Tatsächlich zeigen wir aber nicht dauernd unseren Pass vor, die Physiognomie scheint da ein besseres Identifikationsmerkmal. Ich frage jedenfalls nicht jedesmal „Du Deutsche?“ Ich spreche auch nicht automatisch mit jemanden, der nicht blond und blauäugig ist (ich übrigens auch nicht) langsam und besonders akzentuiert.

          Es gab diese Woche zwei Zahlen: 9,2 Millionen Bürger mit ausländischem Pass, die Hälfte aller Hartz-IV-Empfänger hat einen Migrationshintergrund. Wenn Du also sagst, Migranten wären genauso „normal“ wie Biodeutsche, dann passt das nicht mit den kalten statistischen Zahlen zusammen.

          Du und Stefan schlagt mit der Rassismus-Keule wild um Euch. So sehr, dass sogar Leute wie ich und Erwin Gabriel sich getroffen fühlen und das scheint nicht zufällig zu sein. Wir haben in Deutschland dagegen einen schnell wachsenden Antisemitismus, getrieben von muslimischen Migranten. Gestern wurden zwei Rapper bei der Echo-Verleihung, dem wichtigsten Musikpreis in Deutschland geehrt, die in ihren Texten Opfer des Holocaust verächtlich machen.

          Wir haben hier ein sichtbares Problem, aber dennoch thematisiert Ihr regelmäßig ein von Euch gefühltes Problem, das wenig greifbar ist, wenn es überhaupt so existiert.

          • Ariane 13. April 2018, 15:28

            Also erstmal um das zu sortieren: Ich schlage nicht wild mit der Rassismuskeule um mich. Ihr fühlt euch nur ständig angesprochen, wenn es ganz allgemein über Rassismus geht. Also tut mir ja leid, aber ist doch keine Lösung, gar nicht mehr drüber zu reden, weil ihr euch jedes Mal tödlich verletzt fühlt? Oo

            Es geht bei dem von Stefan angesprochenen Thema ja auch mehr um strukturellen Rassismus. Wenn der Personalchef Sabine Müller statt Ayse Özgün einstellt, heißt das nicht automatisch, dass der aber ein ganz böser Rassist ist. Genau wie die Leute, die annehmen, dass mein Bekannter kein Deutsch spricht genausowenig böse Rassisten sind, das ist ja meistens sehr nett gemeint. Das Problem ist also kein offenkundiger Rassismus, sondern eine Unterscheidung in Vertraut- und Fremdheit, die – und darum geht es in diesen Fällen ja – mit der Realität nicht übereinstimmt, was für die betroffene Gruppe handfeste Nachteile hat, von Kleinkram wie allgemeiner Genervtheit, weil die Leute sich nicht normal verhalten oder die von Stefan beschriebene Benachteiligung, wenn es um Jobs geht.

            Und aus der nüchternen Feststellung „es gibt hier ein allgemeines Problem, über das gesprochen werden sollte“ machst du „wir schlagen mit der Rassismuskeule um uns wegen gefühlter Probleme und zielen auf dich (und Erwin).“. Ähm ja. Also sorry, aber wer so argumentiert, braucht hier nicht mit Vorwürfen wegen gefühlter Probleme ankommen, den Rassismus-Schuh zieht ihr euch nämlich ständig selbst an, ohne dass ihr dafür Stefan, mich oder sonst jemanden braucht.

            • Stefan Pietsch 13. April 2018, 16:33

              Erwin Gabriel und ich (ich weiß, ich soll hier nur für mich sprechen) ziehen uns den Schuh an, als Stefan den Strahler auf Streulicht setzte mit „rassistischen Verhaltensweisen“. Damit wurden sämtliche Argumente pauschal zurückgewiesen, die gesellschaftliche Kritik an gruppenbezogenen Verhaltensweisen äußern, die sich beispielsweise auch durch kulturelle Herkunft determinieren. Diesen Schuh weisen wir kategorisch zurück.

              Ich kenne Rassisten. Echte Rassisten sind durchzogen von ihrem diskriminierenden Denken. Das wiederzugeben, was Muslime selbst über sich sagen, ist z.B. kein Rassismus. Es ist nüchterne Analyse und Bericht. Wir messen auch die Einstellung von Katholiken zu gesellschaftlichen Themen und stellen (leichte) Abweichungen zur Mehrheitsposition fest. Die Einstellungen stehen jedoch nicht annähernd in einem Konflikt zur liberalen Gesellschaftsordnung. Es ist nicht Rassismus, diese Unterschiede zu beschreiben.

              Es gibt zahlreiche Gründe, warum Sabine Müller leichter einen Job findet als Ayse Özgün. Ich persönlich finde es kaum erträglich, wenn wir ständig eine Person halb verschleiert gegenübersitzt und dies auch noch mit einem religiösen Symbol versehen ist. Ich fände es schon kaum erträglich, wenn mir jemand tagtäglich mit Kippa gegenübersäße, was aber nicht verkommt. Schließlich suchen Juden meist nur zu ausgewählten Zeitpunkten den Kontakt zu Gott – so erklärte es mir mal ein Israeli.

              Es mag Dir zuwider sein, aber: wie wir uns kleiden ist ein Zeichen des Respekts unseren Mitmenschen gegenüber. Deswegen tragen Männer Anzüge und (in abnehmender Tendenz) Krawatte. Deswegen zwängen sich Frauen in Kostüme, deswegen investieren Frauen manchmal Monate Zeit in die Auswahl des richtigen Brautkleides. Eine Frau mit Kopftuch zeigt mir gegenüber wenig Respekt. Männer mit Badelatschen übrigens auch nicht.

              Ich hatte seit Beginn meiner Karriere ein paar Gespräche, wo mir mein Gegenüber nicht nur signalisierte, sondern deutlich benannte, dass sie für die Position einen Mann suchen. Das war dann der Fall, wenn die Abteilung nur oder überwiegend mit Frauen besetzt war. Und dabei kam der Wunsch nach dem bevorzugten Geschlecht aus dem Team selber. In mehreren Fällen waren es übrigens weibliche Gesprächspartner, die diesen Wunsch übermittelten. Nach der Definition von Stefan, der Du Dich angeschlossen hast, waren das alle Rassisten bzw. Leute, die frauenfeindliches Verhalten zeigten, selbst wenn sie selbst Frauen waren.

              Für mich absurd.

              • Ariane 13. April 2018, 19:27

                In mehreren Fällen waren es übrigens weibliche Gesprächspartner, die diesen Wunsch übermittelten. Nach der Definition von Stefan, der Du Dich angeschlossen hast, waren das alle Rassisten bzw. Leute, die frauenfeindliches Verhalten zeigten, selbst wenn sie selbst Frauen waren.

                Äh, ich weiß weder um welchen Artikel es jetzt geht, noch um welchen Kommentar deinerseits noch um welche Definition von Stefan, der ich mich angeschlossen hab und überhaupt. Also: hä? 😉

                Ich kann dir auf jeden Fall sagen, dass ich dich nicht für einen Rassisten halte und das auch bestimmt nicht irgendwo behauptet habe. Ganz allgemein wäre es ja vielleicht mal eine Idee, dass wir uns gegenseitig versichern, dass ich dich nicht für einen Rassisten halte und du mir nicht ständig vorwirfst, neantertalmäßig mit irgendwelchen Keulen herumzuschlagen. Ist ja doch spaßiger, sich um das jeweilige Thema zu streiten als ständig in diese frustrierenden, gegenseitigen Anschuldigungen abzugleiten 😉

                Es gibt zahlreiche Gründe, warum Sabine Müller leichter einen Job findet als Ayse Özgün. Ich persönlich finde es kaum erträglich, wenn wir ständig eine Person halb verschleiert gegenübersitzt und dies auch noch mit einem religiösen Symbol versehen ist.

                Ja nun, die Diskrepanz gab es allerdings schon, wenn lediglich der Name unterschiedlich war. Das Kopftuch ist mir persönlich zwar auch egal, oder wie oft jemand den Kontakt zu seinem Gott sucht. Mal ganz davon abgesehen, dass ich die Renaissance des Kopftuchs als unreligiöses Modeaccessoire an jedem Bad-Hair-Day durchaus begrüßen würde, unbedeckte Haare machen nämlich ganz schön viele Probleme und vielleicht würden mehr „Kopftuchmädchen“ überall ja einen begrüßenswerten Trend in Gang setzen 😉

                Die Statistik zeigt aber eben, dass Personen die genauso deutsch sind und dieselben Qualifikationen wie Biodeutsche haben gegen einen Nachteil ankämpfen müssen (den sie selbst eben nicht ausgleichen können, Namensänderungen mal beiseite gelassen) und das halte ich für problematisch. Das Problem besteht aber eben nicht darin, dass sämtliche Personalabteilungen von Rassisten unterwandert wurden, sondern dass das gesellschaftliche Bild einer Ayse Özgün der Realität ein Stück weit hinterherhängt und es eben ignoriert, dass heutzutage viele Ayses genauso deutsch sind wie Sabines. Klar ist das relativ normal und man kann die Achseln zucken und in 100 Jahren hat sich das alles von selbst erledigt, aber imo spielt da ein gewisses Bewusstsein durchaus eine Rolle und zwar ohne dass irgendjemand bei irgendwas gleich ein Rassist ist.

                • Stefan Pietsch 13. April 2018, 19:59

                  Äh, ich weiß weder um welchen Artikel es jetzt geht, noch um welchen Kommentar deinerseits noch um welche Definition von Stefan, der ich mich angeschlossen hab und überhaupt. Also: hä?

                  Typische Frauenantwort. 🙂 Es ging um den Rassismusbrokkoli.

                  Ich kann dir auf jeden Fall sagen, dass ich dich nicht für einen Rassisten halte

                  Das weiß ich doch. Mir ging es darum, dass man danach so vorsichtig sein muss, dass einem nicht rassistische Merkmale zugeschrieben werden. Schau‘, das ist wie mit anderen Sachen, auch bei „armutsgefährdet“ hört heute jeder nur „arm“. Das ist am Ende das Gleiche. Ich bescheinige mir selbst, nicht den geringsten Anflug rassistischer Gedanken noch frauenfeindliche Betrachtungen zu haben.

                  Ja nun, die Diskrepanz gab es allerdings schon, wenn lediglich der Name unterschiedlich war.

                  Das stimmt, allerdings waren die Unterschiede zwar statistisch signifikant, jedoch weit geringer als der Abstand zwischen ohne und mit Kopftuch. Zieht man noch die statistische Fehlertoleranz ab und die Ungenauigkeit dadurch, dass schließlich nicht die exakt gleichen Unternehmen angeschrieben werden konnten, bleiben die Unterschiede überschaubar.

                  Klar fängt bei einem ungewohnten Namen das Kopfkino an. Sicher wird ein Bewerber mit Namen George Clooney tendenziell häufiger eingeladen als Alfred Müller. Das Erste, was Du als Entscheider siehst, ist der Name. Und das Bild. Danach wird der Lebenslauf gescannt, das dauert insgesamt so 1-2 Minuten, danach ist eine erste Entscheidung gefallen, jemanden einzuladen oder abzusagen. Ja, mag sein, dass mancher bei einem unaussprechlich erscheinenden Namen abgeschreckt wirkt, ich selbst habe vor so etwas Bammel, da mein Namensgedächtnis miserabel ist und die Fähigkeit, komplizierte Begriffe auszusprechen, nicht viel besser.

                  Das Kopftuch ist vielleicht für draußen ein Modeaccessoire, aber nicht für die Bürostunden. Es ist ja auch absurd, in jedem Büroratgeber Leuten zu empfehlen, sich im Arbeitsalltag seriös und zurückhaltend zu kleiden, kurze Hosen für Männer und Miniröcke für Frauen zum No-Go zu erklären und gleichzeitig zu protestieren, wenn ein Kopftuch auf einem Bewerberfoto zur Ablehnung führt. Das ist wieder dieses Denken, dass Muslime sich aus irgendwelchen Gründen mehr herausnehmen dürfen sollen.

                  • Floor Acita 15. April 2018, 09:44

                    „Ich bescheinige mir selbst, nicht den geringsten Anflug rassistischer Gedanken noch frauenfeindliche Betrachtungen zu haben.“

                    Interessant. Wie machen Sie das? Ich kann das von mir selbst nicht sagen – da ~90% allen Rassismus/Sexismus unterbewusst ist, wie kann man zu irgendeinem Zeitpunkt absolut sicher sein? Meine erste Reaktion auf einen Vorwurf in der Richtung wäre eher „inwiefern“ und es kann immer sein, dass ich nach der Erläuterung sage „interessant, hab ich nie drüber nachgedacht, danke, werde ich in Zukunft beachten.“

                    „Klar fängt bei einem ungewohnten Namen das Kopfkino an. […] Das Erste, was Du als Entscheider siehst, ist der Name. Und das Bild. Danach wird der Lebenslauf gescannt, das dauert insgesamt so 1-2 Minuten, danach ist eine erste Entscheidung gefallen, jemanden einzuladen oder abzusagen.“

                    Und diesen schnellen, notwendigerweise auch unbewussten Vorgang der Entscheidungsfindung halten Sie für absolut fehlerunanfällig? Bei institutionellem Rassismus geht es ja gerade nicht um individuelles Handeln, sondern um das Resultat aus hunderten und tausenden individuellen Entscheidungen, das Mustern zu folgen scheint die in keiner der individuellen Entscheidungen tatsächlich eine Rolle gespielt hat. Ist genau wie Studien zur Tatsache, dass sich Menschen durch bestimmte Atmosphären, Düfte, oder Getränke beeinflussen lassen – das Resultat ist signifikant, obwohl kein einziges Individuum, nach dem Grund Ihrer Entscheidung gefragt, mit Atmosphäre, Duft oder Getränk antworten würde.

                    „Es ist ja auch absurd, in jedem Büroratgeber Leuten zu empfehlen, sich im Arbeitsalltag seriös und zurückhaltend zu kleiden, kurze Hosen für Männer und Miniröcke für Frauen zum No-Go zu erklären und gleichzeitig zu protestieren, wenn ein Kopftuch auf einem Bewerberfoto zur Ablehnung führt.“

                    Nichts davon ist notwendigerweise alternativlos. In den USA ist es nicht nur verboten Bewerberfotos zu schicken oder zu verlangen, sondern es gibt auch regelmäßig Aufstände gegen Kleiderordnungen die Frauen die Rock- oder Ärmellänge vorschreiben wollen. Neulich gab es gerade einen prominenten Fall in dem eine Militäruniversität nicht verbieten durfte religiöse Kleidung aber auch z.T Kopfbedeckungen (und da ging es sowohl um Kippa als auch Kopftuch/Hijab) unter oder zusätzlich zur Uniform zu tragen, falls keine sachilichen Gründe dagegen sprechen. Gleiches gilt für Kopftuch tragende Verkäuferinnen, Bänker etc. Da sind wir in Deutschland schon noch ein paar Jahrzehnte hinterher…

                    • Stefan Pietsch 15. April 2018, 13:22

                      „Ich bescheinige mir selbst, nicht den geringsten Anflug rassistischer Gedanken noch frauenfeindliche Betrachtungen zu haben.“
                      Interessant. Wie machen Sie das?

                      Durch eigene Vollkommenheit.

                      Es gibt zwei Maßstäbe, zu einem solchen Urteil zu kommen. Die Simpelste ist die eigene Bewertung, das eigene Werturteil. Das Andere sind die allgemeinen Regeln. Nach den Buchstaben und dem Sinn des Grundgesetzes bin ich weder ein Rassist noch ein Frauendiskriminierer, nicht im Ansatz. Ich muss mich nicht auf die Liege legen, ich muss mich nicht Ihrem oder Stefans Urteil aussetzen, damit dies feststeht. Wie Sie das bewerten, ist allein Ihre Sache. Und nur Ihre. Wenn Sie mir gegenüber so etwas behaupten, ist es in der moderaten Variante Meinungsfreiheit, aber sehr leicht üble Nachrede mit Rufmord. Das zeigt die Dimension, mit der einige hier federleicht hantieren. Das selten Sie durchaus bedenken.

                      Und diesen schnellen, notwendigerweise auch unbewussten Vorgang der Entscheidungsfindung halten Sie für absolut fehlerunanfällig?

                      Darüber habe ich kein Wort geschrieben. Ich habe geschrieben, wie es (allgemein) gemacht wird. In der ersten Stufe eines Auswahlprozesses werden eingehende Bewerbungen nach Stichworten gescannt, bevor man sich überhaupt intensiver mit den Dokumenten beschäftigt. Machen Sie übrigens auch nicht anders. Egal ob Sie ein Auto kaufen, sich in Inseraten für eine Wohnung interessieren oder nur einen Computer kaufen wollen – sind nicht binnen Sekunden bestimmte für Sie wichtige Kriterien erkennbar, beschäftigen Sie sich nicht weiter. Und umgekehrt schreibt eine hohe Zahl von Bewerbern Unternehmen an, ohne nur Minuten in die Recherche verwandt zu haben. Und so gehen sie oft in ein Gespräch. Darüber hinaus ist meines Wissens nicht überliefert, dass Assessmentcenter bessere Ergebnisse erbringen.

                      Ein Foto liefert einer Bewerbung etwas Persönlichkeit mit. Und darum geht es am Ende: Sie stellen nicht eine Maschine mit den besten Eigenschaften ein, sondern eine Persönlichkeit. Und schon anhand des Lebenslaufs und des Schreibstils können Experten sehr viel ablesen, bis hin, welches Geschlecht in welchem Alter dahintersteckt. Das sind immer Gesetzesideen von Amateuren für Fachleute. Geht auch häufig schief.

                      Schon witzig: Sie wollen ernsthaft gelockerte Kleidungsvorschriften wegen einem Kulturkreis erproben, der für ein besonders konservatives Verständnis von Bekleidung steht? Das hat schon Ironie, oder? Interessant auch, dass Sie das Plädoyer allein in Bezug auf Frauen begründen, wo ich explizit (auch) von Männern schrieb. Während Frauen sich im Sommer locker im Büro kleiden dürfen, ist das Männern nicht erlaubt. Da bleibt es im Zweifel bei der langen Hose, den geschlossenen Schuhen und dem Anzug. Gerade aus den USA sollten Sie das kennen, kurze Hemden sind ein No-Go und noch immer gelten im Business weiße und blaue Hemden als angesagt. Wenden wir uns doch ab und zu jenen zu, welche die Mehrheit stellen. Und nicht immer nur den Minderheiten.

                    • Floor Acita 15. April 2018, 14:09

                      Selbstverständlich will ich Kleidungsvorschriften auch für Männer auflockern…

                      Und Danke, dass Sie jetzt mit nicht nur 1 Wort auf den Kern meines Beitrags eingegangen sind – dass Handlungen nämlich nicht nur gewollte, sondern auch ungewollte Auswirkungen haben und es mir darum geht das bewusst zu machen und Handlungsweisen und -strategien zu identifizieren mit denen wir die von allen Seiten betont ungewollten Auswirkungen minimieren können, insbesondere wenn es systematische Konsequenzen für ganze Gruppen von Menschen und ohne die Möglichkeit dieser Menschen selbst darauf Einfluss zu nehmen gibt.

                      Stattdessen machen Sie wieder so als hätte jemand Ihre Intention in Frage gestellt oder Ihre Moral angegriffen obwohl ich jetzt schon mehrmals betont habe, dass mich moralische Fragen nicht interessieren.

                      Und übrigens SIND sowohl Rassismus als auch Sexismus vom Grundgesetz her in den meisten Fällen als freie Meinungsäußerung geschützt. Es ist ein typischer Strohmann der Linken eine juristische Strategie unterstellen zu wollen, während Konservative Teile der freien Meiunungsäußerung (Werbung für eine Abtreinbungsklinik) unter dem Verweis auf Ihre Religion (nicht meine, nicht die aller, nicht die Weltanschauung der Atheisten) tatsächlich unter juristische Strafe stellen wollen.

                      „Policing speech“ wird Kritikern an eigenen Aussagen vorgeworfen und Leuten die frohe Feiertage statt frohe Weihnachten sagen wollen, Schaumkuss statt Negerkuss und Wintermarkt statt Weihnachtsmarkt – also Entscheidungen freier Marktteilnehmer. Währenddessen will man tatsächlich Gesetze, Polizei und Gerichte nutzen um einem selbst unliebsame Sprache unter dem einzigen Verweis auf die eigene Weltanschauung zu verbieten. Irony meter at 11/10.

                    • Stefan Pietsch 15. April 2018, 14:25

                      Selbstverständlich will ich Kleidungsvorschriften auch für Männer auflockern…

                      … aber widmen Ihre ganze Argumentation nur den von Frauen. So weiß ich zwar, dass Sie für Miniröcke und Kopftuch sind, nicht jedoch für kurze Männerhosen und umfangreich beharrte Männerbeine samt Badelatschen. Ich denke ein Ja dürfte ihn Ihrer Wahlheimat als kaum vertretbar durchgehen. 🙂

                      Und Danke, dass Sie jetzt mit nicht nur 1 Wort auf den Kern meines Beitrags eingegangen sind

                      Und das mit Absicht. Warum, das hatte ich wiederum wortreich erläutert. Es steht Ihnen schlicht nicht zu, mir solche Tendenzen zu unterstellen. So hart ist das zu formulieren. Denn Sie haben kein irgendwoher geleitetes Recht dazu. Und daneben bin ich kein technischer Sensor, der jede noch geringste Schwankung aufnimmt. Die meisten Menschen übrigens auch nicht.

                      Und übrigens SIND sowohl Rassismus als auch Sexismus vom Grundgesetz her in den meisten Fällen als freie Meinungsäußerung geschützt.

                      Das kommt eben sehr darauf an. Wir dürfen auch sagen, dass Soldaten potentielle Mörder sind. Wie würden wir jemanden bezeichnen, der so etwas sagt?

                      (..) während Konservative Teile der freien Meinungsäußerung (Werbung für eine Abtreibungsklinik) unter dem Verweis auf Ihre Religion (..) tatsächlich unter juristische Strafe stellen wollen.

                      Werbung ist keine freie Meinungsäußerung. Nicht im rechtlichen Sinne und nicht im Volksmund.

                      Leuten die frohe Feiertage statt frohe Weihnachten sagen wollen

                      Ich wünsche auch frohe Feiertage. Ich verwende das synonym. Daran können Sie erkennen, wie hypersensibel manche heute sind.

                    • Floor Acita 16. April 2018, 03:15

                      „Und das mit Absicht. Warum, das hatte ich wiederum wortreich erläutert. Es steht Ihnen schlicht nicht zu, mir solche Tendenzen zu unterstellen.“

                      Nur dass der Kern meiner Aussage war, niemandem irgendetwas zu unterstellen, aber wir sprechen wohl mittlerweile tatsächlich 2 unterschiedliche Sprachen. Welche Tendenzen habe ich Ihnen denn unterstellt?

                    • Stefan Pietsch 16. April 2018, 08:25

                      Ich kann das von mir selbst nicht sagen – da ~90% allen Rassismus/Sexismus unterbewusst ist, wie kann man zu irgendeinem Zeitpunkt absolut sicher sein? Meine erste Reaktion auf einen Vorwurf in der Richtung wäre eher „inwiefern“ und es kann immer sein, dass ich nach der Erläuterung sage „interessant, hab ich nie drüber nachgedacht, danke, werde ich in Zukunft beachten.“

                      Was Sie damit meinten, ist Takt. Taktgefühl ist aber etwas gänzlich anderes als rassistische oder frauenfeindliche Untertöne. Wer das in Kontext rückt, liegt falsch. Ich nenne einen Schaumkuss „Negerkuss“, im Privaten, wenn ich ihn kaufe und ausschließlich gegenüber Weißen. Würde ich an einen Kiosk mit einem dunkelhäutigen Verkäufer kommen, würde ich ihn sehr wahrscheinlich „Schaumkuss“ nennen. Das ist der Unterschied zwischen rassistischen Elementen und Taktgefühl.

                      Nochmal: mit so ausgrenzenden und die Reputation angreifenden Begriffen muss vorsichtig umgegangen werden. Denn am Ende erkennen wir vor lauter Feuerrufen die echten Rassisten nicht mehr. Ich wiederhole mich: ich kenne Rassisten, die zeichnen sich aber nicht dadurch aus, mal etwas „Deplatziertes“ zu sagen und sonst ganz anständig zu reden.

                    • Stefan Sasse 16. April 2018, 14:46

                      Du meinst, wie wenn man bei einem Mindestlohn von 7,50€ „Sozialisten!“ oder „Planwirtschaft!“ oder „Abschaffung der Freiheit!“ schreit? Ungefähr so vorsichtig? ^^

                    • Floor Acita 16. April 2018, 09:53

                      Mir ging es nicht um das konkrete Verhalten, sondern prinzipiell darum, dass Handlungen Auswirkungen haben können, die gerade NICHT der eigenen Intention geschuldet sind, sondern sich durch Akkumulation etlicher individueller Handlungen als gesellschaftliche Phänomene manifestieren.

                      Rassismus ist in diesem Fall kein indivisuelles Fehlverhalten, sondern Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse. Das Ziel meiner Argumentation ist nicht „verheimlichtes Fehlverhalten“ aufzudecken, sondern gesellschaftliche Mechanismen zu identifizieren (und das ist ergebnisoffen, ich habe oft keine genaue Feststellung wie sich das genau manifestiert) die zum Resultat haben, dass Individuen sich mit Urteilen oder auch Hürden auseinandersetzen müssen die nicht in individuellem (Fehl-)verhalten begründet sind, sondern aufgrund der Hautfarbe, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, geschlechtlicher Identität, Herkunft, Religion etc. bestehen.

                      Jemandem dem so viel an Reputation gelegen ist, sollte doch eigentlich die Sichtweise von jemandem verstehen können, der sich mit so etwas auseinandersetzen muss und qua Geburt nie die Chance bekommt „sich zu beweisen“? Darum geht es mir, diesen gesellschaftlichen Effekt nenne ich Rassismus, Sexismus, Bigotterie etc. Individuelles Fehlverhalten, ob offen oder verdeckt, die Rassisten von dennen Sie sprechen, sind nur ein sehr kleiner Teil des insgesamt doch viel größeren Problems, da es eben weit schwieriger ist systematische Probleme aufzuarbeiten als individuelles Fehlverhalten zu kritisieren.

                    • Stefan Pietsch 16. April 2018, 10:18

                      Ich verstehe Ihren Punkt nicht. Die meisten, die diskriminieren, tun das wissentlich und wollend. In einem meiner angeführten Beispiele wollten die Entscheider explizit einen Mann als Teamleiter, da hilft auch keine Debatte mit allen Beteiligten, ob nicht die oder jene Kandidatin vielleicht doch auch ganz gut wäre. Und muss es mich interessieren, wenn irgendein dunkelhäutiger Mitmensch in Iserlohn sich an dem Begriff des Negerkusses stört, den ich in einer gänzlich anderen Gegend im Privaten verwende?

                      Vor kurzem erzählte mir eine erfolgreich selbständige Trainerin, dass sie vor einigen Jahren in Gesprächen mit einem Unternehmen war. Dabei wurde ihr gesagt, sie bekäme den Auftrag, wenn sie 10% unter dem Preis eines männlichen Konkurrenten bliebe, da bei ihr ein erhöhtes Ausfallrisiko bezüglich Schwangerschaft bestände.

                      Oh, ich sehe Sie schon völlig empört. Eine Frechheit! Sie lehnte den Auftrag ab. Dabei war ihr die Offenheit des Verhandlungspartners sehr recht, denn somit wusste sie, warum sie einen Auftrag nicht erhalten hatte und dass dies nichts mit ihrer Qualifikation zu tun hatte.

                      Heute wollen wir solche Dinge nicht mehr wissen. Wir begnügend uns mit nichtssagenden Begründungen, ein anderer sei halt in Tickelchen besser gewesen, hätte besser gepasst etc. Wir berauben uns mit dieser political correctness sowohl der Möglichkeit, auf eigenes Fehlverhalten reagieren zu können – weil uns dies keiner mehr sagt, als auch unseren Frieden zu finden, wenn wir nicht erfolgreich waren wegen Gründen, die wir nicht verantworten konnten.

                      Mein Problem mit der heute populären Political Correctness ist, dass sie die Welt nicht besser macht, sondern die Menschen nur zwingt, ihre wahren Absichten zu verschleiern und uns selber zu belügen.

                      Meine Schwägerin ist 100% körperlich behindert und mit mir gleichaltrig. In den Achtzigerjahren fand sie in der Privatwirtschaft keine Anstellung, da sie durch die staatlichen Maßnahmen schlicht unberechenbar teuer war. Sie wurde letztendlich im Justizwesen beschäftigt, doch obwohl sie seit Jahrzehnten die wenigsten Fehltage aufweist und eine hohe Arbeitsqualität abliefert, ist sie tariflich unten eingestuft und wurde nie verbeamtet.

                      Die Methode „Wir haben uns alle lieb“ ist nur oberflächlich und darunter oft grausam.

                    • Floor Acita 16. April 2018, 11:34

                      Sie gehen nach wie vor aus der Perspektive der handelnden Person aus um richtig oder falsch, moralisch oder unmoralisch zu beurteilen. Darum geht es mir aber nicht. Individuelle Entscheidungen und auch individuelle Schicksale sind eine Sache – wenn ich aber eine gesellschaftlich relevante Diskrepanz feststelle – Menschen mit dunklerer Hautfarbe finden weniger oft einen Job als Weiße, weniger gut eine Wohnung – das sind nur völlig aus der Luft gegriffene Beispiele um klar zu machen – wenn ich signifikant, statistisch nachweisbare Unterschiede feststelle woraus folgt, dass Menschen Hürden zu nehmen haben oder weniger Chancen im Leben haben aufgrund von Charakteristika die sie a) nicht ändern können oder b) nichts mit Ihren bewussten Entscheidungen zu tun haben, registriere ich ein Problem. Das ist der Ausgangspunkt/Anlass meines politischen Handelns (im Falle dieser sozialen Fragen). In den allermeisten Fällen liegt diesem gesellschaftlichem Effekt keine direkte Diskriminierung, kein offener Rassismus oder Sexismus zu Grunde. Und dennoch trifft es signifikant eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe, ich versuche also rauszufinden, welche impliziten Vorbehalte, welche gesellschaftlichen Verhaltensweisen, welche Teile der Kultur zu diesem Ergebnis führen und versuche Menschen darauf hinzuweisen und darüber zu diskutieren wie wir uns hier verbessern können mit dem einzigen Ziel die Gesellschaft dorthin zu entwickeln die Möglichkeiten im Leben wirklich nur vom eigenen Streben und den eigenen Entscheidungen abhängig zu machen. So dass niemand qua Geburt mehr oder weniger Chancen hat.

                      Es geht mir persönlich nicht um Fehlverhalten sondern um problematische Realitäten, unabhängig davon wer jetzt genau daran Schuld trägt. Das gilt unabhängig des Themas – obwohl ich davon überzeugt bin, dass der Mensch am derzeitigen Klimawandel die Hauptschuld trägt, bin ich der Meinung wir haben eine Verantwortung unser Überleben und das zukünftiger Generationen zu schützen und den Klimawandel zu bekämpfen selbst wenn wir 100% sicher wären wir wären nicht daran Schuld. Und so geht es mir eben auch mit der Frage der geschlechtlichen Identität. Selbst wenn ich davon ausgehe diese sei 100% von der Biologie bestimmt gibt es real Menschen die sich nicht den gesellschaftlichen Zuschreibungen unterwerfen wollen – das kann eine Laune der Natur sein oder an gesellschaftlicher Beeinflussung liegen – ich bin so oder so der Meinung wir müssen diesen Menschen erlauben ihr eigenes Leben zu leben, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen etc.

                      Und so geht es immerzu fort, gleich welchem Thema – mir geht es um Lösungsansätze für die Zukunft, nicht darum aufzuarbeiten wer sich genau wann falsch verhält oder verhalten hat.

                      So wie ich im corporate Umfeld ja auch nach neuen Systemen und neuen Organisationsformen suche und gleichzeitig jedem Mitarbeiter inklusive Betriebsrat und Vertrauenskörper wenn es sein muss 20,000 mal versichere, dass es gerade nicht um Schuldzuweisungen geht oder darum „falsches“ Verhalten in der Vergangenheit aufzudecken, sondern tatsächlich einfach nur darum, besser zu werden.

                    • Stefan Pietsch 16. April 2018, 20:39

                      @Stefan

                      Kannst Du da echte Zitate liefern?

                    • Stefan Pietsch 16. April 2018, 21:09

                      Ich begründe vor allem mein eigenes Verhalten moralisch. In Bezug auf andere argumentiere ich anhand von Normen und Studien.

                      Ich habe zwar Einzelbeispiele genannt, aber aus typischen Gründen. So wollten wir Schwerbehinderte besonders schützen, weil wir sie als normale Bürger betrachten. Das ist bereits ein Widerspruch. Im Ergebnis haben wir der Mehrheit das Leben erschwert um es einer kleinen Minderheit zu erleichtern.

                      In die exakt gleiche Richtung ging das AGG: wir haben nur erreicht, dass professionelle Entscheider Bewerbern nicht mehr offen begegnen. Den Schaden haben Millionen von Bewerber, die keine Informationen mehr erhalten, wie sie ihren Auftritt verbessern könnten, weil jeder Hinweis Ansätze zu einer Klage gibt. Sehen Sie nicht so, bestreiten Sie, ist aber die Realität auf dem Arbeitsmarkt.

                      Das Interessante an dem Versuch der Journalisten war nicht das Ergebnis. Das hätte kaum jemand anders erwartet. Das Interessante wäre gewesen, dies mit einem gleichen Experiment von vor 20 Jahren zu vergleichen. Doch solches Vergleichsmaterial ist nicht vorhanden. Der Glaube, jedes Problem vollständig lösen und jeden Missstand vollständig beseitigen zu können, würde Unternehmen ruinieren. Es würde auch Gesellschaften ruinieren. Unsere Lebenszeit reicht nicht für Perfektionismus und im Zwischenmenschlichen ist Perfektionismus schlicht nicht erreichbar. Das Streben danach folglich auch nicht wünschenswert.

                      Es geht mir persönlich nicht um Fehlverhalten sondern um problematische Realitäten, unabhängig davon wer jetzt genau daran Schuld trägt.

                      Ich dachte, Sie wären nicht mehr so jung. Erfolgreiches Arbeiten, das Verbessern, hat mit der Benennung von Verantwortlichkeiten zu tun. Im Unternehmerischen gab es diese Philosophie auch eine Zeitlang, es hat sich als nicht sinnvoll erwiesen. Eine andere Frage ist, wie wir mit Verantwortlichkeiten umgehen, mit Fehlern. Wenn wir Menschen vernichten, weil sie in Verantwortung Fehler gemacht haben, brauchen wir uns über Drückebergertum nicht zu wundern. Egal ob für Geschäftsführerpositionen oder Bürgermeisterposten, wir haben zunehmend Schwierigkeiten, Menschen dafür zu gewinnen, Verantwortung zu übernehmen.

                      Ihr Ansatz funktioniert nicht, denn Menschen vermuten hinter der Suche nach dem Warum auch immer die Suche nach Verantwortlichkeiten. Das ist immer so, der Versuch, dies zu vermeiden, somit zum Scheitern verurteilt.

                    • Floor Acita 17. April 2018, 15:32

                      Ich kann Verantwortung für die Zukunft übernehmen, aber wenn etwas schief geht, kann ich das nur in sehr engem Rahmen persönlich verantworten und ich hielt diese Zuschreibung schon immer für übertrieben. Für Erfolg und Misserfolg sind immer eine Vielzahl an Konditionen verantwortlich – und nicht nur der schlechte Trainer oder CEO.

                      Aber ein so komplexes Thema wie institutioneller Rassismus oder Sexismus, das sich über Jahrhunderte dynamisch als Aktion, Reaktion, Gegenreaktion entwickelt und zu tief sitzenden als „normal“ verankerten, assymetrischen Verhaltensweisen, Bräuchen, Sprichwörtern, Redewendungen systematisiert haben – mit dennoch eindeutigen Konsequenzen für alle von der „Norm“ abweichenden – ist eine Schuld- (oder wenn Ihnen das lieb er ist Verantwortungs-) Zuschreibung in den meisten Fällen unmöglich.

                      Ich leite gerade ein Digitalisierungsprojekt in einem Großunternehmen. Ich muss dazu an verschiedenen Standorten, in verschiedenen Abteilungen und Gruppen Workshops durchführen und Anregungen für Umstrukturierungen geben. Eines ist mir immer besonders wichtig: Mich interessiert nur wie wir besser werden können, wie wir Bürokratie abbauen können, nicht ob Betriebsrat oder Abteilungsleitung verantwortlich sind, wie wir bessere Systeme entwickeln, nicht wer für die alten verantwortlich war oder ob sie eine Chance gehabt hätten bereits vor Jahren besser aufgestellt gewesen zu sein, welche Positionen wir schaffen müssen, wer wohin wechseln sollte um eine bessere Organisation zu schaffen, nicht was der Bereichsleiter oder die dezentrale Personalstelle verbockt haben, wie swir flexibler werden können, nicht was der Betriebsrat oder Vertrauenskörper bisher blockiert hat. Nein, nein, nein, nein, nein – das alles interessiert mich nicht, ist mir sch…egal – ich will in die Zukunft schauen, neue Wege gehen, Lösungen für existierende und erwartbare Probleme finden OHNE mit dem Finger auf Kollegen zu zeigen. Gleichzeitig MÜSSEN die Schwachpunkte an sich eben aufgedeckt werden – ohne Ansehen der Person – sonst werden wir auf keinen Fall die effizientesten und nachhaltigsten Lösungen finden.

                    • Stefan Pietsch 17. April 2018, 18:04

                      Ich kann Sie sehr gut verstehen und Ihr Verhalten ist selbstverständlich absolut richtig. Für schwierige Projekte müssen zu Beginn alle maßgeblichen Leute gewonnen werden. Das gelingt nicht, wenn man mit Schuldzuweisungen beginnt. Aber, wir reden im Unternehmerischen von der persönlichen Ansprache. Das unterscheidet sich vom Politischen.

                      Ich war und bin darüber hinaus oft in der Position, Entscheidungen vorzubereiten, Verantwortlichkeiten benennen und Fehlentwicklungen durch Konfrontation entgegenwirken zu müssen. Es sind unterschiedliche Situationen.

                      Rassismus hat sich nicht über lange Zeit entwickelt. Rassismus ist in uns drin und hat eine Schutzfunktion. Unser Körper und unser Gehirn schützt uns vor möglichen Gefahren. Ein Weißer ist nicht gegenüber einem Weißen rassistisch, ein Schwarzer nicht gegenüber einem Schwarzen. Kluge Menschen lassen gegenüber Fremden ein hohes Maß an Skepsis walten. Ein einfacher Mechanismus ist Rassismus.

                    • Floor Acita 18. April 2018, 04:50

                      “ Ein Weißer ist nicht gegenüber einem Weißen rassistisch, ein Schwarzer nicht gegenüber einem Schwarzen.“

                      Und ohne persönliche Kritik, aber hier unterschätzen Sie gewaltig gesellschaftliche Mechanismen und Vorurteile. Obwohl es in den USA in den letzten Jahren eine Reaktion auf potentielle muslimische Einwanderer gibt, hatten Türken Jahrzehnte lang keine der institutionellen Nachteile (zB eine Wohnung zu finden, einen Job zu finden, nicht im Gefängnis zu landen etc.). Selbst im heutigen Klima nehme ich nicht an, dass es für Türken und Syrer statistisch relevant ist – in Deutschland hingegen sieht es ganz anders aus. In der Türkei gibt es ein massives anti-kurdisches Problem – das gibt es als explizit ant-kurdisch soweit ich weiss in keinem anderen Land. In den USA gelten hingegen „spanish“ (hauptsächlich Latino) als „eigene Rasse“ und haben unter systematischen Nachteilen zu leiden – nicht so in Europa. Schwarze werden gar von einer Mehrheit der Bevölkerung als älter und muskolöser wahrgenommen als sie objektiv sind und im Vergleich mit jeder anderen Bevölkerungsgruppe, eventuell gibt es hier Tendenzen ausserhalb der USA, aber nicht in dem Ausmaß.

                      Jesse Jackson hat einmal den Satz gesagt „Das Schlimmste am Rassismus ist, dass wenn ich nachts über die Straße laufe, mir jemand folgt, ich ein Gefühl der Angst bekomme und wenn ich mich umdrehe und sehe, dass es ein Weisser ist erleichtert bin“. Die Vorurteile / Vorbehalte bestehen gegen Schwarze, nicht gegen Weisse, sie wohnen sehr wohl auch in Schwarzen wie in allen anderen. Deshalb ist es mir ja immer so wichtig vom Opfer auszugehen und keine Schuldzuweisungen zu verteilen. Schwarze in den USA sind Opfer von Überreaktionen der Polizei, der Justiz und von Selbstjustiz – das ist statistisch messbar. Für die Täter (und die nenne ich nur so im Falle direkter, unangemessener Gewaltanwendung) sind dagegen keine statitisch relevanten Unterschiede messbar – will heißen, es sind natürlich mehr Weiße als Schwarze, aber nicht gemessen am Bevölkerungsanteil. In einigen der öffentlich am heftigsten diskutierten Fälle (Travon Martin, Philando Castile) war der Täter nicht weiss, im Philando Castile Fall schwarz. Aber die Opfer sind eben statistisch messbar weit überwiegend Schwarze, in Deutschland auch, aber abgemildert, dafür vor allem Türken und Araber, in Frankreich Algerier.

                      Das ist die Rassismus Diskussion, darum geht es – nicht darum Weiße, Deutsche oder Europäer anzugreifen.

                    • Stefan Pietsch 18. April 2018, 09:31

                      Wenn Sie den Begriff Rassismus so weit auslegen, dann verliert das Argument an Präzision. Im engeren Sinne geht es bei Rassismus um die Diskriminierung wegen einer Rasse.

                      Es ist ein Phänomen der Neuzeit, des modernen Staates, dass wir vor Fremden durch das Rechtssystem geschützt sind. Wenn uns jemand physisch oder im Vermögen schädigen will, so bietet uns der Rechtstaat umfangreiche Möglichkeiten, dagegen vorzugehen oder dies zu verhindern. Das funktioniert aber noch nicht sehr perfekt.

                      Nicht umsonst warnen wir unsere Kinder, nichts von Fremden, insbesondere Männern, anzunehmen oder gar mit ihnen mitzugehen. Es gibt eine Reihe solcher Verhaltensmaßnahmen gegen zu große Vertrauensseligkeit, ohne dass dies mit „Rassismus“ charakterisiert würde. Ein Merkmal war in früheren Zeiten die Rasse, jemand, der nicht „dazugehörte“. Vor diesem hatte man sich in Acht zu nehmen.

                      Ich hoffe, damit ist zumindest dieser Punkt klar geworden.

    • Stefan Sasse 13. April 2018, 12:52

      Wir haben hier im Blog ja schon öfter gesehen welche Reaktion es gibt, wenn man Rassismus als ein allgemeines Problem begreift, das auch gebildete und/oder bürgerliche Schichten betrifft.

      • Ariane 13. April 2018, 13:17

        Die Hölle sind halt immer die anderen, ne?^^

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