Fragmente zu einer Physiognomie des Politischen I: Aus der südwestdeutschen Provinz

Die völlig verschobene Realitätswahrnehmung sei etwas, was alle Rechten auszeichne und die Unterschiede seien nur graduell, nicht qualitativ – so kommentierte @klagefall diesen Tweet. Ich denke, das ist wirklich eine sehr gute Definition dessen, was wir mit der ja immer noch irgendwie politisch gemeinten Bezeichnung „rechts“ aktuell zu beschreiben versuchen. Etwas, das keine politische Haltung ist, sondern eine Weltwahrnehmung, die sich weit bis sehr weit von der Realität entfernt hat, in der viele dieser Menschen trotzdem oft ganz erfolgreich leben. Aber diese Alltagspraxis mit einem top-funktionierenden Staat und einer Verwaltung, die dafür sorgt, dass von der Schule über den öffentlichen Personennahverkehr bis zur Strom- und Wasserversorgung alles funktioniert; dass jeder Tag wie der andere abläuft und man seine Zeit nicht für die Organisation der basalen Alltagsbedingungen wie Wasser, Essen und ein Dach über dem Kopf opfern muss; dass man nicht gewärtig sein muss, dass einem irgendeine pseudo-staatliche Bande Hab und Gut abnimmt; diese Realität kommt im Bewusstsein dieser Leute nicht mehr an, auch wenn sie sich jeden Tag genau darauf verlassen. In meiner Lebenswelt gibt es diese Menschen nur am Rande, aber gerade im Umland Stuttgarts gibt es gar nicht so wenige – wenn ich mal die Wahlergebnisse der AfD für einen gewissen Anzeiger dieser Art Rechtsverwirrnis nehme. Sicher sind die meisten AfD-Wähler nicht so „verrückt“ wie die an Chemtrails und Reptiloiden glaubende IT-Fachfrau mit eigenem Unternehmen oder der Automobilzulieferer-Pensionär, der davon überzeugt ist, dass Angela Merkel mit mehreren jungen syrischen Flüchtlingen in einer Art Harem auf ihrer Farm in Südamerika ihre Ferien verbringt.

An den Rechtsverwirrten, die ich kenne, direkt, genauer, viele flüchtig oder via Bekannten von Bekannten, fällt mir immer wieder eine bestimmte Kombination von sozio-ökonomischen Merkmalen und Verhaltensweisen, eine gewisser Habitus auf: Sie sind meist deutlich über fünfzig, ihr Berufsleben geht so langsam seinem Ende zu, große Karrieresprünge werden sie nicht mehr machen, die ersten jüngeren ziehen an ihnen vorbei, sie sind nicht auf den ganz hohen Hierarchierängen angekommen. Oder sie waren lange in freien Berufen ziemlich erfolgreich, aber nun läuft es nicht mehr so gut wie früher (aber immer noch sehr ordentlich) – oder es fällt ihnen schwerer, sich das eigene Erfolgreich-sein weiter einreden zu können. (Zum Beispiel weil es Konkurrenz gibt oder weil sich das Feld durch Digitalisierung, Automatisierung, Auslagerungen sehr geändert hat.)

Dass jetzt manchmal Frauen und Migranten die Chefs ihrer Kinder sind oder gar ihre Auftraggeberinnen, irritiert sie. Ihre eigenen, meist Old-Boys-Netzwerke funktionieren nicht mehr so reibungslos oder haben ziemliche Löcher bekommen; ihre Vorstellung, was ein ordentliches Leben sei und ihre Vorstellung von kulturellen Werten verlieren massiv an Resonanz im Umfeld – Bekannte, Familie, Arbeit. Was auch auffällig ist: Die Rechtswirren aus meinem Umfeld haben alle eine Vergangenheit mit schulmedizin-kritischen Subkulturen und mindestens einem der drei Vereine: Tennisclub, Reitverein, Rotarier oder Lyons.

Außerdem sind sie anfällig für, nennen wir es mal innovative Finanzprodukte und Steueroptimierung. Ordentliche Zinsen zu garantieren ist für sie eine Staatsaufgabe, der Staat will aber  viel zu viele Steuern von ihnen. Sie leben in Speckgürtel-Städtchen und -Dörfern der Region, in denen die kulturelle und soziale Infrastruktur (Bank, Läden, Ärzte, ÖR, Krankenhaus, Amt) Stück für Stück verschwindet, aber die Immobilienpreise steigen und steigen. Sie sind wenig in das traditionelle Dorfleben involviert, nicht kirchlich gebunden und ihre kulturellen Interessen wie auch ihre kulturelle Bildung sind wenig ausgeprägt. Bewegen sie sich außerhalb ihrer gewohnten Sphären, fühlen sie sich eher unsicher. Aber eigentlich interessieren sie diese Sphären auch nicht – und ihr Desinteresse hat früher gereicht, sie sich auch vom Leib zu halten. Aber diese Zeiten sind vorbei. Und das scheint sie „verrückt“ zu machen.

(Crossposting von https://tinierklaertsichdiewelt.wordpress.com/2017/10/25/fragmente-zu-einer-physiognomie-des-politischen-i-aus-der-suedwestdeutschen-provinz/)

{ 5 comments… add one }
  • Gerd Heiner 26. Oktober 2017, 05:08

    Na, da hat sich jemand mal so richtig die Vorurteile von der Seele geschrieben. Aecht herrliesch!

    Nur nebenbei: „einem der drei Vereine: Tennisclub, Reitverein, Rotarier oder Lyons.“
    Ich zaehl‘ da vier!

  • bevanite 26. Oktober 2017, 22:21

    Danke für den Einblick! Als Wahl-Sachse mit thüringisch-sachsen-anhaltinischem Migrationshintergrund begegne ich ja wiederum eher dem anderen AfD-Milieu, die vielzitierten Protestwähler, die vorher PDS/Die Linke auf dem Wahlzettel ankreuzten. In den hiesigen Trabantenstädten (Halle-Neustadt, Leipzig-Grünau, Berlin-Marzahn) ist das wahrscheinlich sogar der „typische“ Werdegang, auch wenn mir immer noch zu wenig beleuchtet wird, dass in diesen Gegenden die Wahlbeteiligung weiterhin extrem niedrig ist. Im Kern war die frühe AfD aber auch in Sachsen eher ein Steckenpferd wohlhabender Rotarier und Hausbesitzer im Dresdener Speckgürtel – die Sorte von Menschen, die Flaschensammler als „Asis, die mal arbeiten gehen sollen“ beschimpfen und die EU ernsthaft als neue UdSSR betrachten.

    Wie würdest Du vor dem Hintergrund der baden-württembergischen AfD-Milieus die Person Jörg Meuthen einordnen? Ganz Deutschland schaut ja immerzu auf Gauland, Weidel oder schrille Figuren wie Von Storch oder Höcke. Aber mir scheint Meuthen der eigentliche Chef-Stratege der AfD zu sein. Nach außen gibt er sich vergleichsweise harmlos, fast bieder, und mit seinem ökonomischen professoralem Hintergrund erscheint er auch fürs gepflegte Bürgertum akzeptabel. Ich halte ihn aber für einen ideologischen Blender, denn auf AfD-Parteitagen ist er der lauteste Verfechter einer ganz radikalen Umkrempelei, sowohl in kulturellen als auch in wirtschaftlichen Fragen. Wer wirklich ernsthaft alles, wofür er die „68er“ verantwortlich macht, rückgängig machen will, fordert im Kern einen zutiefst autoritären, wenn nicht gar totalitären Staat. Mich hat es daher nicht überrascht, dass er die treibende Kraft hinter dem Putsch gegen Petry war, der sich jetzt auch ganz unverhohlen für Höcke als Vorstandsmitglied ausspricht. Anders als die intellektuell minderbemittelten Völkischen à la Poggenburg ist er auch viel besser bei den Wirtschaftseliten des Landes vernetzt. Kurz: er ist der fleischgewordene Traum von Ideologen wie Kubitschek-Buddy André F. Lichtschlag vom Magazin eigentümlich frei, der schon vor zehn Jahren von einer Allianz aus Nationalkonservativen und Libertären sinnierte. Vom Mythos des „liberalen“ oder „moderaten“ Meuthen halte ich jedenfalls nichts.

    • Erwin Gabriel 27. Oktober 2017, 10:55

      @ bevanite

      Ihrer Einschätzung zum Background der AfD-Wähler kann ich schon deutlich eher nachvollziehen.

      Und ich teile Ihre Meinung über Meuthen: Eher ein Wolf im Schafspelz. Ich kann nicht sicher beurteilen, ob er wirklich die Meinungen vertritt, die er auf den Parteitagen rauslässt, oder ob er das nur aus opportunistischen Gründen tut; aber letztendlich macht es keinen Unterschied.

      Was halt langsam auch anderen dämmern sollte, ist, dass Frauke Petry nicht die Nazi-Braut ist, als die sie immer dargestellt wurde. Typischer Fall von „Crying Wolf“: Man hat im Übereifer solange „Nazi“ geschrien, dass der Warnruf jetzt, wo sich die Rechtsextremen in der AfD durchsetzen und die Konservativen verdrängen, zur Floskel verkommen ist und keinen mehr wirklich juckt.

      Wie dämlich.

      • Stefan Sasse 27. Oktober 2017, 11:14

        Erkläre mir mal bitte, was bei Frauke Petry an großartigen gesellschaftlichen Immunabwehrreaktionen verbraucht wurden, die jetzt irgendwie nicht mehr zur Verfügung stehen.

        Warum gilt dieses Argument immer nur bei rechts, aber nie bei Links? CDU und FDP haben sich nie entblödet, die DDR wiederauferstehen zu lassen wenn die SPD die Rente von 65 auf 64 senken wollte. Das hat irgendwie nie eine schlechte Wirkung, Linke kannst du immer angreifen soviel du willst. Nur die rechten Snowflakes muss man immer mit Samthandschuhen anfassen. Gauland und Meuthen sind noch größere Problemfälle als Petry, aber das macht Petry nicht harmlos.

  • Erwin Gabriel 27. Oktober 2017, 10:43

    @ Tini on 25. Oktober 2017

    Sehr unterhaltsame Klischeesammlung, mit viel Liebe zusammengestellt – offensichtlich. Selbst wenn nicht alles falsch ist, greift vieles deutlich zu kurz. Könnte nicht das Dümpeln in den traurigen Lebensabend der gemeinsame Nenner sein, sondern die gegenüber Jüngeren größere Lebenserfahrung? Die von Ihnen angesprochenen Punkte zielen nicht nur auf die von Ihnen wahrgenommenen Probleme, sondern enthüllen genau so deutlich auch auf den Standpunkt des Betrachters.

    Der oder die eine oder andere mag sich erinnern, wie man mit 18 vor seinem Vater stand und ihm die Welt erklärte; der eigene Kopf gab es her, wofür brauchte man Erfahrungen. Irgendwann sitzt man aber am anderen Ende des Telefons und hält seinen Kindern ähnliche Vorträge wie die, die man in der Jugend selbst gehört hat – und damals wie heute schert sich die Jugend nicht wirklich. Das ist halt so, das muss halt so sein, wenn man jung ist oder älter wird.

    Die von Ihnen beschriebenen Effekte oder Verhältnisse (man rutscht immer weiter über die 50; man hat, wie niedlich formuliert, „Konkurrenz“; das Berufsleben neigt sich langsam dem Ende zu; man strebt nicht mehr mit Macht in die nächsten Etage, sondern versucht, sich in seiner zu halten; die Welt verändert sich subjektiv immer schneller) waren schon immer so – bei meinen Eltern, auch bei meinen Großeltern. Mein Vater brachte seinen Vater mit Rock’n’Roll zur Verzweiflung, ich meinen mit Led Zeppelin und Pink Floyd; ich wiederum kann mit Techno, HipHop und Rappern nichts anfangen, und warte neugierig auf das, womit meine Enkel mich bei meinen Kindern rächen werden.

    Auch erinnere ich mich an harte Auseinandersetzungen und Kämpfe meines Vaters in seinem damaligen Unternehmen; alles, was Sie als „Auslöser“ oder Gemeinsamkeit beschreiben, gab es in der einen oder anderen Form schon früher. Doch wenn das irgendwie immer schon so war, warum haben dann vor 20, 30, 50 Jahren diese Leute nicht in vergleichbaren Massen eine Partei wie die AfD gewählt?

    Dafür sehe ich zwei offensichtliche Gründe: Entweder hatte die von Ihnen beschriebene Gruppe schon immer diese Meinungen und Standpunkte und wählte auch entsprechend. Nur wurden diese Standpunkte früher von den Volksparteien abgedeckt, was jetzt offenbar nicht mehr der Fall ist.

    Oder es gibt eine neue Art von Problemen (z.B. EU-/Euro-Problematik oder der enorme Flüchtlingszuzug), die es damals nicht gab, und man wählt diese neue Partei, weil die diese Probleme am offensten anspricht.

    Beides gute, nachvollziehbare Gründe.

    Was ich jedoch nicht wirklich glaube, ist, dass das Gros der „weißen, älteren Männer“ seit 2015 plötzlich auf die Idee gekommen ist, ihre Midlife-Krise durch die Wahl einer rechten Partei auszuleben.

    Erheiterte Grüße
    E.G. (weiß, mit spürbar über 50 bereits in der Nachspielzeit der beruflichen Karriere; ohne Vereinszugehörigkeit, wenn man die ersten 14 Jahre meines Lebens als mitglied der katholischen kirche aussen vorlässt; außer meiner Zeit bei der Bundeswehr keine schulmedizinisch kritische Subkultur-Historie, und nur dann mit Interesse an „innovativen“ Finanzprodukten, wenn man den Euro dazu zählt).

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