Vom alten Kontinent aus betrachtet ist die Politik der USA immer ein bisschen merkwürdig. Man braucht sich nur die Präsidentschaftswahlkämpfe anzuschauen: nicht nur werden die Stimmen nach einem reichlich undemokratischen Verfahren verteilt, das eine echte Entscheidung auf gerade eine Handvoll Bundesstaaten beschränkt. Nein, da werden dann auch noch die Elektoren gewählt, die dann zu irgendwelchen Konventen reisen und dort offiziell den Präsidenten wählen, der dann drei Monate nach der eigentlichen Wahl – schließlich muss er noch per Kutsche nach Washington kommen – eingeschworen wird. Aber das ist ein harmloses Kuriosum, verglichen mit einigen anderen Elementen der amerikanischen Politik, die in der letzten Zeit für Schlagzeilen gesorgt haben und den gesamten Betrieb dort so aussehen lassen, als sei man in einem Zirkus gelandet, wo allerlei Abstrusitäten zur Belustigung des Publikums ausgestellt werden, nicht aber im Machtzentrum der letzten verbliebenen Supermacht. Und all das hat mit der Demokratie zu tun.
„Was für ein Zirkus?“ werden sich jetzt manche fragen, deren Hobby nicht darin besteht, der amerikanischen Innenpolitik zu folgen. Einige Beispiele:
– Der Vorsitzende des Umweltausschusses des Senats, James Inhofe aus Oklahoma, brachte einen Schneeball in den Senat, schleuderte diesen grob in die Richtung der Democrats und verkündete siegessicher, damit die Theorie des Klimawandels widerlegt zu haben: schließlich erwärme sich die Erde offensichtlich nicht, wenn er draußen einen Schneeball formen könnte.
– Nachdem eine vierte Klasse zusammen mit ihrem Lehrer ein eigenes Gesetz geschrieben hatte, das den Rotschwanzfalken als „offizielles Raubtier New Hampshires“ definiert hätte und zur Debatte dieses Gesetzes in C0ncord angereist war, zerrissen die Abgeordneten das Gesetz vor den Augen der Grundschüler, unter anderem mit den Argumenten „wir haben ohnehin zu viele Gesetze“, „der Rotschwanzfalke tötet seine Beute, indem er sie mit scharfen Klauen festhält und mit einem rasiermesserscharfen Schnabel zerfetzt“ und meinem persönlichen Favorit, dass der Falke allenfalls eine Metapher für Empfängnisverhütung darstellen könnte. Das alles, wohlgemerkt, direkt vor den Viertklässlern und nachdem der zuständige Ausschuss das Gesetz mit Stimmen beider Parteien durchgewunken hatte.
– In Kalifornien können Bürger für 200$ ein Gesetz einbringen, das, wenn es dann rund 375.000 Unterschriften erhält, einer Volksabstimmung unterzogen wird. Aktueller Kandidat: ein Gesetz, das die Todesstrafe für Schwule und Lesben vorsieht. Das Gesetz hätte im Zweifel keine Chance, am Supreme Court zu bestehen, aber die Regierung ist gesetzlich verpflichtet, es durch alle Instanzen laufen zu lassen.
– Ritch Workmann, Abgeordneter des Kongresses von Florida, wollte ein Gesetz gegen das Werfen von kleinwüchsigen Menschen abschaffen, weil „diese ihre eigenen Entscheidungen treffen können“.
– Abgeordnete Sally Kern aus Oklahoma begründete die Initiative zur Abschaffung von Affirmative Action in ihrem Bundesstaat damit, dass sie Schwarze kenne, die nicht so hart arbeiten wie Weiße. Es gäbe also keine Diskriminierung von Schwarzen, wenn diese sich einfach mehr anstrengen würden.
– Ebenfalls in Oklahoma verkündete Abgeordneter John Bennett, dass der Islam ein Krebsgeschwür sei, das aus der amerikanischen Gesellschaft herausgeschnitten werden müsse und dass er zu dieser Aussage stehe, nicht bereit, seine Meinung zu ändern.
– In Massuchesetts wurden drei aufeinanderfolgende Sprecher des Repräsentantenhauses wegen Bestechung angeklagt, und zwar wegen der Art mit dem Geldkoffer und nicht der schwer nachzuweisenden „Job nach erfolgreicher Karriere“-Methode von Gerhard Schröder oder Wolfgang Clement. Eine Abgeordnete, die sich von einem FBI-Undercoveragenten bestechen ließ, stopfte das Bargeld direkt in ihren BH.
– Dominic Ruggerio, Senator in Rhode Island, wurde von der Polizei betrunken wegen Ladendiebstahls einiger Kondome angehalten. Sein Kollege Frank Ciccone hielt daraufhin an und drohte den Polizisten, dass Ruggerio ihre Rente gekürzt habe und sie noch viel krasser kürzen werde, wenn er wieder im Kongress sei, nachdem die Polizei ihn angehalten habe.
– In einem Wahlwerbespot verspricht Richter Kenneth Ingram, dass er der einzige Kandidat sei, der Angeklagte zuverlässig zum Tode verurteile. Dasselbe Versprechen wird von Michael Oster gemacht, während Kandidatin Paula Manderfield in ihrem Spot einen Ausschnitt aus einer Urteilsverkündung zeigt, indem sie verkündet, es sei „mein Privileg, Sie zu lebenslanger Haft ohne Bewährung“ zu verurteilen. Willie Singletary, Bewerber für das Amt des Verkehrsrichters, sammelte Wahlkampfspenden bei Motorradclubs mit dem zugkräftigen Slogan, sie alle bräuchten ihn vor Gericht. (Alles hier)
Und wir sind noch gar nicht bei den Absurditäten von wählbaren Ämtern wie Sheriffs oder Hundefängern.
Vielleicht lese ich nur zu selektiv, ich weiß es nicht, aber mir scheint es, als ob solcher Quatsch in Deutschland nicht passiert. So langweilig Parteitage, Parteilisten und die Ochsentour auch sein mögen, sie schließen effektiv aus, dass irgendwelche cranks den politischen Prozess kapern und zugunsten von extremen Positionen drehen. Woher also kommt es, dass in den USA offensichtliche Rassisten in den Parlamenten sitzen, Vorsitzende von Umwelt- oder Wissenschaftsausschüssen mit dem logischen Verständnis von Kleinkindern argumentieren und Richter sich damit profilieren, die härtesten Strafen auszuteilen oder aber ihre Spender nachlässig davonkommen zu lassen? Zwei Faktoren spielen hier die entscheidende Rolle: Basisdemokratie und parteipolitische Polarisierung, und beide verstärken sich gegenseitig.
Bekanntlich sind die USA bei der Wahl ihrer Vertreter wesentlich demokratischer aufgestellt als wir, sofern man „demokratisch“ mit „wählbar“ gleichsetzt. In Vorwahlen werden die jeweiligen Parteikandidaten für die verschiedenen Parlamente, Bürgermeister, Gouverneure und das Präsidentenamt ausgewählt. Richter und andere Ämter des exekutiven und judikativen Bereichs werden ebenfalls in Wahlen besetzt. Zudem gibt es in vielen Bundesstaaten einfache Pfade zum Plebiszit, vor allem in Kalifornien. Nun könnte man das prinzipiell gut und progressiv finden, wenn doch nur ein Problem nicht wäre: die Wahlbeteiligung.
Denn die USA sind keine Ausnahme von dem Trend, der sich auch in Europa feststellen lässt: je kleiner und unbeachteter die Wahl, desto weniger Menschen gehen wählen. Landtagswahlen haben eine geringere Beteiligung als Bundestagswahlen, Landtagswahlen eine größere als Kommunalwahlen, und so weiter. Die Wahlbeteiligung von Volksabstimmungen überschreitet selten die 50%-Marke. Im Normalfall aber gehen vor allem zwei Arten von Menschen regelmäßig wählen: die Gebildeten und Wohlhabenden auf der einen und die Polarisierten auf der anderen Seite. In Deutschland haben der große Allparteienkonsens, der Allmedienkonsens und Merkels „assymetrische Demobilisierung“ dafür gesorgt, dass die wenigsten Wahlen wirklich große Bedeutung haben: es geht eher um Details als um große Richtungsentscheidungen. In den USA aber ist das anders. Hier gibt es starke radikale Flügel (wenngleich rechts derzeit mehr als links), die versuchen, die Wahlen zu beeinflussen. Und da die Radikalen eher zur Wahl gehen als die Gemäßigten und eher bereit sind, Zeit und Geld zu investieren, sind sie bei den entscheidenden Vorwahlen der ausschlaggebende Faktor (bei den tatsächlichen Wahlen relativiert sich das dann wieder, aber da ist es zu spät).
Die meisten Menschen sind keine sonderlich aufmerksamen Beobachter des politischen Prozesses und wissen meist nur rudimentär Bescheid, was gerade läuft, das ist auch im vom Mehrheitswahlrecht geprägten Land of the Free and the Brave nicht anders als hierzulande. Wahlentscheidungen werden daher oft anhand von Parteiloyalitäten getroffen, die auch in den USA – entgegen den weit verbreiteten Vorurteilen – sehr stark sind. Während Parteilisten hierzulande größtenteils von den Parteifunktionären bestimmt werden, können in den USA unter den richtigen Bedingungen durchaus nicht vernetzte, radikale Außenseiter die Arena betreten. Diese landen später zwar selten in entscheidenden Positionen, verschieben aber die Gewichte und vor allem die öffentliche Debatte und können bei entsprechender Bedeutung die „seriösen“ Kandidaten in ihre Richtung zwingen. Dies konnte man beispielhaft bei Romneys Wandlung vom „moderate Republican“ zum „severe conservative“ 2012 betrachten.
Mehr Demokratie ist nicht immer hilfreich, um ein für die Gesamtbevölkerung repräsentatives oder im gesamtgesellschaftlichen Sinn progressives Ergebnis zu bekommen. Der politische Zirkus der USA zeigt deutlich, dass zu viel Demokratie auch schädlich sein kann. Entscheidungen werden immer von denen getroffen, die da sind. Und das sind nach der Lage der Dinge immer diejenigen, die sich am meisten für Politik interessieren, und das wiederum nach Lage der Dinge nicht immer die, von denen man will, dass sie die Hebel der Entscheidung in der Hand halten. Man sollte das bedenken bevor man sich das nächste Mal begeistert in Ideen von Basisdemokratie, Volksabstimmungen und offener Kanzlerkandidatenkür stürzt.
Siehe auch hier:
http://www.theatlantic.com/politics/archive/2015/03/why-you-shouldnt-cry-over-spilt-state-regulations/388214/
Volle Zustimmung zum Artikel!
Nur mit einer Aussage kann ich mich nicht so recht anfreunden:
Hier gibt es starke radikale Flügel (wenngleich rechts derzeit mehr als links), die versuchen, die Wahlen zu beeinflussen.
Du schraenkst Das Statement, auf beiden Seiten gaebe es „radikale Fluegel“, zwar sofort wieder ein. Aber dennoch entsteht der Eindruck, das Problem sei ein Konflikt zwischen einer „radikalen Rechten“ mit einer „radikalen Linken“. Eine „radikale Linke“ existiert aber in den USA nicht. Hier gibt es keine auch nur im marginalen Bereich bedeutende Partei, die etwa der DKP oder der MLPD aehneln wuerde. Selbst eine moderat linke Opposition, wie die Partei Die LINKE in Deutschland, ist in den USA nicht-existent. Alle populaeren Politiker der Demokraten, die ansatzweise nach links neigen, wie etwa Elizabeth Warren, Nancy Pelosi oder meinetwegen auch Bernie Sanders, sind absolut mittig und wuerden sich in Deutschland im mittleren Spektrum der SPD wiederfinden. Noch nicht einmal bei den Sozialdemokraten waeren sie also am linken Rand. Haben die Demokraten ihre Propagandamedien, die etwa dem entsprechen, was Fox News fuer die Republikaner ist? Ja klar, haben sie. Die Demokraten haben MSNBC. Aber MSNBC ist einseitig. Nicht politisch radikal. Das ist eben nicht das selbe. In den USA gibt es folglich nicht einen Konflikt zwischen der extremen Linken und der extremen Rechten, sondern einen Konflikt zwischen einer moderaten Mitte und der extremen Rechten.
„Radikal“ ist immer eine relative Beschreibung. In einem vergleichsweise rechten Land wie in den USA sind Linksradikale daher eher unsere linken SPD-Leute, die hier noch Mainstream sind. Aber: der linke Flügel der Democrats hat auch deutlich mehr Einfluss als er nach Popularität und Verbreitung seiner Positionen haben sollte. Iowa ist auch für Democrats stets ein ideologischer Lackmustest.
Ein Punkt fehlt noch: Die Abgeordneten, besonders die der Republikaner, werden vor der Wahl auf oft extreme Positionen eingeschworen, sonst gibt es keine Unterstützung. Und ohne Unterstützung kein Mandat. Nach der Wahl werden sie dann systematisch beobachtet, ob sie sich bei Abstimmungen auch daran halten.
Wenn man blauäugig genug ist, kann man das auch als ein Element der direkten Demokratie ansehen, als eine Form des imperativen Mandats.
Exakt. Ich habe das nicht mehr explizit erwähnt, aber du hast natürlich Recht. Gerade Norquists „Anti-Tax-Pledge“ ist da ein tolles Beispiel dafür.
Die Basisdemokratie ist ein zwiespältig Ding. Sie grenzt an Volksempfinden.
Eine letzte Schranke gegen diese bildet übrigens die Verfassung: GG Art. 1 unterbindet Rübe-Runter-Plebiszite.
Ist auch gegen die US-Verfassung, deswegen würde der Supreme Court das ja im Zweifel kassieren. Mein Punkt ist eher der:
Wir haben in Deutschland solche Extrempositionen nicht innerhalb seriöser mehrheitsfähiger Strömungen.
Schöner Artikel^^ Ich bin auch kein Fan direkter Demokratie, allerdings halte ich unser deutsches Listensystem auch nicht für ganz perfekt, dadurch gibts zwar viele seriöse Mitte-Politiker, aber für neue Gesichter und Ideen ist wenig Platz. Beide Vorgehensweisen scheinen sich immer zu den Extremen zu neigen, entweder hat man eine Überzahl an Cranks und radikalen Verrückten oder es ist so langweilig und glattgewaschen, dass es erstarrt. Schade.
Das ist das Problem – ein perfektes System gibt es nicht. Jedes System hat seine Nachteile, jedes seine Vorteile. Aber perfekt – is nicht.
Jep, ich meine ich mag das eigentlich an den USA. Ich bin zwar kein Fan direkter Demokratie, aber sie setzen das schon sehr lange sehr konsequent um. Diese Systematik haben sie ja nicht erst gestern eingeführt. Von daher ist es für mich auch die Frage, ob diese Radikalisierung jetzt ein dauerhafter Prozess ist oder vielleicht nur ein kurzer Ausdruck des „Volksempfindens“ Die Polarisierung in den USA ist momentan ja total extrem, da könnte es natürlich sein, dass es sich irgendwann auch wieder in die andere Richtung bewegt.
Die direkte Demokratie machen sie seit den späten 70er Jahren (Primaries), verstärkt aber IMHO seit den 1990er Jahren. Und in dem Zeitraum geht auch die Polarisierung immer weiter hoch. Scheint mir schon ein Zusammenhang zu bestehen.
Ich finde ein demokratisches System ist immer nur so gut, wie die allgemeine Identifikation der Bürger mit eben dem System. Wenn es in einer Demokratie ein wahlmüdes Volk gibt, dem der demokratische Prozess zu anstrengend ist – bedeutet es doch sich eine Meinung zu bilden, eine Position zu beziehen und diese per Wahl kund zu tun – dann wird jedes demokratische System eben seine Defizite zeigen.
Das Grundgesetz sieht für die Parteien die Aufgabe vor, an der politischen Willensbildung mitzuwirken – aber eben jene Parteien haben sich die politische Willensbildung unter den Nagel gerissen. Warum: Weil es kaum noch politisch interessierte Bürger gibt, die jenseits von Parteien sich in den politischen Prozess einbringen – Wahlhelfer, Wahlvorstände setzen sich zum Beispiel im überwiegenden Teil aus Parteiangehörigen zusammen und mündige Bürger entziehen sich aus Bequemlichkeit Ihrer Kontrollfunktion.
Ich fände es auch gut, wenn wir Bürger deutlich mehr Mitsprache hätten, bei der Besetzung öffentlicher Ämter, aber die demokratische Reife, die dafür notwendig wäre, ist aktuell nicht vorhanden.
Lösungsrezepte habe ich auch nicht, außer immer wieder bei sich selber anzufangen und bei sich selbst , in der Familie und im Freundes und Bekanntenkreis zu werben sich politisch zu engagieren. Wählen gehen wäre ein Anfang, Verantwortung im politischen Prozess zu übernehmen, ein weiterer Schritt. Man muss ja nicht direkt einer Partei beitreten.
Klar. Das ist genau das, worauf ich rauswill – wenn sich die Leute überwiegend nicht für Politik interessieren, stärken diese ganzen Demokratisierungsansätze nur diejenigen, die es ohnehin schon tun und verzerren damit gerade das Demokratische am Prozess. Wenn sich die Leute aber massiv interessieren und einbringen brauchen wir die Prozesse nicht, weil die Parteien viel stärker auf sie zu hören gezwungen sind.
Du bist ja selbst Lehrer: Wie bewertest Du die Möglichkeit das Schule hier stärker aktivieren kann, bzw. was würdest Du hier aus der Gesellschaft erwarten.
Von den Parteien wird hier natürlich nicht viel kommen – aber es gibt ja noch andere breite gesellschaftliche Gruppen (Medien, Verbände, Gewerkschaften, etc.) Wäre hier eine übergreifende Initiative sinnvoll?
Zu welchem Ziel aktivieren? Mehr Interesse an der Politik? Mehr Partizipation? Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie viel Einfluss die Schule hier überhaupt haben kann.
Ich habe diesen beeindruckenden Beitrag, der vom 30.03.2015 stammt, heute, am 08.02.2017 durch Zufall gelesen. Schade, dass offenbar zu wenige wahlberechtigte US-Amerikaner ihn rechtzeitig gelesen haben.